Überblick MamM 881 bis 900

 

   881  Wer wünscht sich so was?
   882  Zeichen
   883  Auf daß  i h r  nicht gerichtet werdet
   884  Antworten
   885  Schattenfrüchte


   886  Ein sonderbarer Räuber
   887  Nachtmeister Stropp und der Fall {83} Grotenswart
   888  Nachtmeister Stropp und der Fall {84} Götzendienst
   889  Nachtmeister Stropp und der Fall {85} Aschenputtel
   890  Unvergleichlich


   891  Des Lebens müde? (*10.9.2016)
   892  Aufgegeben - Aufgaben
   893  Was geht's mich an?
   894  Freiheit auf Kosten
   895  Zerstören oder Aufbauen


   896  Herr oder Herrin oder -
   897  Zurückbleiben
   898  Sehr geehrte Demut
   899  Anders
   900  Kein Bild zu machen

 

 


MamM 891  Des Lebens müde?

„Jetzt geht es den Menschen bei uns so gut, den meisten Menschen“, verbesserte sich Donna Blaurichter, „und dennoch gibt es bei uns so viele Selbstmörder.
     „Was ist denn das?“ schämte sich der Alte von der Halbinsel seiner Unwissenheit nicht.
     „Ein Selbstmörder?“ schien sich die Besucherin vergewissern zu wollen.  „Na, ein Mensch, der Selbstmord begeht.
     „Wie oft?
     „Ha“, lachte Donna Blaurichter über so viel Dummheit, „ich schätze mal, das tut einer nicht mehrmals.
     „Nur einmal?“ schien sich der Alte zu wundern.  „Und dennoch erhält er eine dauerhafte Täterbezeichnung;  so wie Müller und Schuster.  Als wäre es ein Gewerbe –“
     „Aber solch ein Selbstmord ist doch auch eine schlimme Tat, die –“
     „Tat?“ fragte der Alte.  „Oder Schuldspruch?  Was verstehst du unter Selbstmord?
     „Na, daß sich jemand selber umbringt –“
     „Das wäre eine Tötung“, sah sich der Alte mal wieder auf seinem Lehrstuhl.  „Aber Mord?  Da muß der Täter wissen, was er tut;  er muß es wollen;  und er muß aus niedrigen Beweggründen handeln.  Kannst du das alles einem Menschen nachweisen, der sich selber umgebracht hat?  Allein schon die Schuldfrage!
     „Das ist mir zu spitzfindig“, ließ es die Besucherin an sich abprallen.  „Schon die Kirche gebietet: Du sollst nicht töten –“
     „Das ist kein kirchliches, sondern ein göttliches Gebot“, stellte der Alte richtig, nahm sein abgegriffenes Buch zur Hand, blätterte darin und reichte es Donna Blaurichter.  „Hier, wie liesest du?
     Sie aber las: „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet.  Denn –“
     „Ist bei einer Selbsttötung überhaupt ein ordentlicher Gerichtsprozeß möglich?  Mit Befragen des Angeklagten, Rechtfertigungsmöglichkeit, Rechtsbeistand?  Wenn nicht, darf dann irgendein Mensch das Urteil sprechen und vollstrecken?
     „Aber solch ein Mensch bringt oft auch viel Elend über seine Angehörigen“, versuchte Donna Blaurichter umzulenken.  „All der Bestattungskram, Aufräumen, Entrümpeln.  Dann das Spießrutenlaufen.  Ich sag noch zu meinem Roberto: Daß du mir so was ja nicht antust!  Auf der andern Seite: Wenn jemand schwer krank ist –  Ich weiß nicht, wie ich mich da verhalten täte.
     „Ich denke da oft an jene Geschichte vom schönen Annerl, die uns jener Klangzauberer hinterlassen hat: Die Gnade kam nur wenige Augenblicke zu spät“, und der Alte begann zu erzählen:
     Nein, schöne Tage waren es nicht.  Seltsam, daß dahinter alles andere verblaßt.  Wie eine Sonne, die aufgeht und uns die Sterne nicht mehr erkennen läßt.  Solch eine Sonne wünschte Martin keinem Feind.  Und er hatte Feinde!
     Schon die Männer, die im Hause hämmerten und lärmten und den Abbruch vorbereiteten.  Gut, sie taten ihre Arbeit.  Broterwerb.  Aber die Herren Beamten und Stadträte, die diesen Abbruch veranlaßt hatten, das waren Feinde!
     Solch ein verträumtes Schlößchen!  In einem märchenhaften Park.  Das Geburtshaus vieler Bürgerinnen und Bürger.  Auch seines.  Und jetzt sein Sterbehaus.
     Als die Ärzte IHNEN ihre Diagnose mitgeteilt hatten, waren die Herren wenigstens bereit gewesen, SEINEN Tod abzuwarten.  Und sie hatten sich dabei noch wie gute Menschen gefühlt.  Aber als er, Martin, das vorhergesagte Sterbedatum überschritten hatte und immer noch lebte, da begannen die Herren, anders dreinzublicken.  Sie trügen die Verantwortung, hatten sie ihm beteuert, und müßten an das Allgemeinwohl denken.  Und deshalb schon jetzt dieser Lärm.  Der nächste Schritt wäre, der Kündigung ein konkretes Datum zu verleihen.  Ob sie das wagen würden?
     Er lebte eben zu lange.  Und im Nachttischschränkchen lag die ganze Zeit die Tablette.  Angeblich solle sie ihn friedlich einschlafen lassen.  Vielleicht.  Denn von denen, die so eine Tablette genommen hatten, konnte keiner mehr einen Erfahrungsbericht schreiben.  Ob sie Alpträume erzeugte?  Würde sein schwacher Magen sie behalten?  Und wie wäre das, wenn sein letzter Gedanke Reue wäre?  Ach, welcher Mensch kann sich schon auf sich selbst verlassen?
     Dennoch – Martin wollte es heute tun.  Vielleicht nachher, wenn Martha zum Markt gegangen war.  Und wenn sie wiederkäme, wäre er –  Wenn alles gutging!  Für Martha wäre es gewiß eine Erlösung.  Seit 6 Monaten mußte sie schon mit seinem Tod rechnen.  Das war gewiß nicht einfach.  Aber so, wie er seine Frau kannte, gehörte sie zu den Menschen, die vorher mehr leiden denn hinterher.  Und schließlich tat er es vor allem ihr zuliebe.
     Einen kurzen Abschiedsbrief mußte er noch schreiben.  Aber erst, wenn SIE losgegangen wäre;  sonst täte sie ihn noch dabei ertappen oder den Brief zu früh finden.  Dann wäre was los!  Wie er ihr so etwas antun könne!
     Eigentlich (wenn er gerecht wäre) mußte Martin zugeben: Er täte ihr wirklich etwas an.  Auch wenn sie hinterher viel weniger Arbeit hätte.  Endlich könnte sie nachts wieder durchschlafen.  Könnte abends ausgehen oder Besuche machen.  Könnte ihre Freundinnen wieder zu sich einladen.  Allein schon die Freiheit!
     Und finanziell war für sie gesorgt.  Gut, seine Einkünfte fielen dann weg, aber auch seine Ausgaben: für Ärzte, Apotheker, Krankenschwester.  Nein, für SIE wäre es besser.
     Wie langsam die Zeit vergeht, wenn du keine Aufgaben mehr hast!  Immerhin konnte Martin von seinem Bett aus die Wolken draußen sehen.  Ob wirklich jede anders war?  Schon, wenn sie an seinem Fenster vorbeisegelte, veränderte sie ihre Gestalt.  Wer sich so etwas ausgedacht hatte?  Und selbst ein trockenes Jahr brachte immer noch genügend Regen.  Diese Farben!  Ob jeder Mensch Sehnsucht empfindet, wenn er den Wolken nachblickt?  Ob Martin sie bald von oben sehen könnte?  Aber die Erde sei ja eine Kugel!  Und der Weltraum angeblich grenzenlos.  Wo war da oben?
     Und niemand konnte einem sagen, was nach dem Tod komme.  Ob jene geistlichen Herren recht hätten, die behaupteten: Wer töte, komme in die Hölle?  Beweisen konnten sie das nicht.  Es gäbe Träume, die –  Am besten, nicht dran denken.  Bald wüßte Martin mehr.  Und was bliebe?  Sind wir Menschen doch mehr als du, Fliege?
     „Immerhin kann ich fressen, was mir schmeckt“, antwortete die Fliege.  „Das kannst du nicht!  Und ich brauch’ mir um meine Zukunft keine Gedanken zu machen!
     Zukunft!  Wäre sein Leben glücklicher gewesen ohne Zukunft?  Ohne die Gedanken an sie?  Oder noch konsequenter: auch ohne Vergangenheit?  Was wäre, nein, was ist, wenn er nur noch in der Gegenwart lebt?  Könnte er dann überhaupt sterben?  Die Tablette bräuchte er jedenfalls nicht mehr zu –
     „Das ist mir irgendwie zu philosophisch“, konnte sich Donna Blaurichter nicht länger zurückhalten.  „Mit dem Märchen verhindert ihr keinen einzigen –“
     „– keine Selbsttötung“, ergänzte der Alte schnell.  „Aber wenn wir nur noch in der Gegenwart lebten, wären wir wie Gott;  und der ist unsterblich.  Sorget nicht für den andern Morgen – ein Lebenswort!“  Und er geleitete die Besucherin hinaus.  Hatte er wirklich den Schluß seines Mährchens vergessen?  Oder –?
© Stiftung Stückwerken, *10.9.2016, freigegeben am 30.9.2024
Qouz-Note: 3+

 


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