MamM – Mährchen an meine Mutter Nr 821 bis 840
Überblick MamM 821 bis 840
821 Bettelleute
822 Da hat der Zimmermann ...
823 Der Lüge Sold
824 Wer Pech angreift, berührt noch keinen Menschen
825 Der Liebreiz
826 Nachtmeister Stropp und der Fall Opa
827 Wer täte denn sein Kind opfern?
828 Edenfried
829 Wahrheit und Wirklichkeit und Wesen
830 Es wird mich schon finden
831 Meiner Füße Spuren
832 König Liebeskind
833 Der Tod ward ein Hirte
834 Aufgehen wie ein Hefeteig
835 Wer unter dem Schirm der Wahrheit
836 Das Gnadenstühlchen (*23.+25.7.2015)
837 Vom Garten des Lebens (*30.-31.7.2015)
838 Lingelinde
839 Nachtmeister Stropp und der Fall auf Abwegen
840 Lise und der verlassene König
MamM 836 Das Gnadenstühlchen
„Wenn es einen Gott gäbe“, beschwerte sich Don Widerhall, „einen gütigen Gott, so würde er doch solches alles nicht zulassen; oder?“
„Zum Beispiel?“ fragte der Alte von der Halbinsel.
„Krieg –“, begann der Besucher aufzuzählen.
„– und Freiheit?“ ergänzte der Alte.
„Wieso sollte er keine Freiheit mehr zulassen?“ wunderte sich Don Widerhall.
„Ich dachte, du wolltest sie abschaffen“, antwortete der Alte, „daß die Menschen nicht mehr zwischen Krieg und Frieden –“
„Ja, in den bösen Dingen“, glaubte der Besucher deutlicher zu werden, „Krieg, Mord, Totschlag –“
„– wie bei Kain und Abel“, half der Alte. „Ja, da hat Gott nur ermahnt, aber nicht eingegriffen, sondern hinterher sogar –“
„Eben!“ sah sich Don Widerhall bestätigt. „Wo war da die
Liebe Gottes?“
„Bei Gott“, förderte der Alte keine Erkenntnis, „und den Menschen.
Berichtet die Bibel von einer langen Leidenszeit des Abel? Hatte Gott ihm ein langes Leben auf dieser Erde versprochen? Kommt nicht manchem alten Menschen der Gedanke, er wäre
lieber als Kind gestorben? Welcher Mensch kann bestimmen, mit wie vielen Jahren ein Menschenleben auf dieser Erde erfüllt
ist? Meinst du, Abel habe sich nach seinem Tode zurückgesehnt auf einen verfluchten
Acker, nach Dornen und Disteln? Und
Kummer dein Leben lang? –“
„Hegt Ihr da nicht eine gefährliche Ansicht?“ gab der Besucher zu bedenken. „Ihr öffnet damit Mord und Totschlag Tür und Tor! Und jeder Mörder könnte behaupten,
er habe es aus Barmherzigkeit –“
„Mörder?“ Ein weiteres Reizwort für den Alten.
„Welcher Mensch hat das Recht, einen andern einen «Mörder» zu nennen? Allenfalls kann sich so selber nennen, der es sich zu einem Beruf
gemacht hat. Nein, ich öffne dem Mörder nicht Tür und Tor, denn ich meine, nur Gott hat das Recht
und das Wissen, von einem irdischen Leben zu sagen, wann es erfüllt ist. Täte ich aber die Existenz Gottes bestreiten und leugnen, wären nicht gerade dann Krieg, Mord und Totschlag Tür und Tor geöffnet? Macht
nicht gerade dein Einwand die Existenz Gottes notwendig? Denn kein Mensch ist gerecht. Also hat auch kein Mensch das Recht, den andern zu richten. Wer aber könnte die
Menschen richten und ausrichten und von ihrem Bösen erlösen denn allein Gott?“ Und er begann zu erzählen:
Severus trug seinen Namen zu Recht. Denn er regierte
sein Volk nicht nur durch Verbote wie ein Gott, sondern durch Gebote wie ein Mensch. Ein Gott will nämlich keine Marionetten vor sich
sehen, die genau so funktionieren, wie er’s ihnen vorzeigt, sondern er will sie vor Schaden bewahren. Deshalb setzt er lediglich
Grenzen, aber innerhalb dieser Grenzen sind seine Geschöpfe frei. Menschen dagegen sind geneigt, die göttlichen Grenzen immer mehr
einzuengen, bis aus Verboten Gebote geworden sind und aus Menschen Marionetten.
Allein – was nützen Gebote, wenn ihre Einhaltung nicht überwacht wird? Also muß das Volk an allen Orten und
Tag und Nacht Aufseher haben. Und was helfen Aufseher, wenn es keine Gerichte gibt? Also muß das Volk Richter haben. Aber diese Richter sind auch nur
Menschen; und deshalb hatten sie einen Oberrichter, der jedes Gerichtsverfahren an sich ziehen konnte. Und dieser Oberrichter war König Severus selber.
Dazu hatte er sich einen gewaltigen Richtstuhl machen lassen, und auf diesem thronte er von morgens bis abends und sprach Recht, wie es ihn recht dünkte.
Und wer da gestohlen hatte, dem lud der König alle Schuld des Diebstahls auf und strafte ihn hart. Und wer da
krank geworden war und im Verdachte stand, diese Krankheit gefördert zu haben, dem lud der König alle Schuld der Krankheit auf und strafte ihn hart. Und wer da in Not geraten war und hätte das Ausmaß dieser Not mindern können, dem lud der König alle Schuld der Not auf und strafte ihn
hart. Deshalb hielt sich Severus auch für einen guten König.
Doch Strafen können ihr Ende finden, und manchem Menschen gelingt es, sich ihnen zu entziehen. Und dann
dürstet manchen danach, Rache zu nehmen – selbst an einem König. So meldete eines Tages dem König ein völlig bestürzter Kämmerer, die
königliche Schatzkammer sei leer und ausgeraubt. Aber diese Nachricht schien sich schon verbreitet zu haben, denn es näherte sich dem
Schlosse ein wilder Haufe, der lautstark forderte, den König zu stürzen. Und da dieser kein Geld mehr hatte, seine Wachen und Diener zu
bezahlen, mußte er noch von Glück sagen, daß er durch geheime Gänge aus dem Schlosse fliehen konnte; doch nicht mit heiler
Haut. Denn durch das viele Sitzen auf seinem Richtstuhl war er das Laufen nicht gewohnt, stürzte und verletzte sich derart, daß sein
Gesicht und seine Haltung die eines alten, gebeugten Greises waren.
Sein 1. Weg führte ihn zu seiner Fee, und er beklagte sich bei ihr bitter, daß sie ihn nicht bewahrt habe, wo er doch so ein guter und rechtschaffener König gewesen
sei.
„Aber was hast du denn für einen Schaden?“ fragte die Fee. „Was ist Geld? Kann es eine glückliche Stunde aufwiegen? Was ist Gesundheit? Zeige mir einen einzigen Menschen, der gesund ist? Und dein Königsamt? Hast du dafür wirklich ausgelernt? Hier habe ich noch ein kleines
Stühlchen. Nimm es mit; du kannst es gewiß gebrauchen. Und für dein täglich’ Brot, dafür laß mich schon sorgen.
Nun ja, täglich’ Brot bedeutete nicht Paläste und Pasteten.
König Severus, eigentlich nur noch Severus, lernte die Armut kennen und wußte manches Mal nicht, was er am anderen Tage essen und wo er ein Obdach finden werde. Denn die meisten Dienstherren hielten ihn für zu gebrechlich und wollten ihm keine Arbeit geben. Und hast du keine Arbeit und kein Geld, dann will dich auch kaum jemand beherbergen.
Und hast du keine Herberge, dann bekommst du erst recht keine Arbeit. Und fängst du deshalb an zu betteln, dann verjagen dich der
Bettelvogt und die anderen Bettler.
Jedoch – war mit dem König auch vieles anders geworden, und wurde er von niemandem mehr erkannt, so war doch eine Neigung geblieben: an Gerichtsprozessen
teilzunehmen. Und da saß er nun manches Mal abseits auf seinem kleinen Stühlchen, von Richter, Ankläger und Zuschauern verachtet – bis
er seinen Mund auftat. Und das wurde ihm bald in jedem Prozeß gestattet.
Denn er sah nun die Angeklagten nicht mehr von oben wie niedriges Ungeziefer, sondern er entdeckte in jedem einen Menschen. Einen
Menschen mit Wahn, mit Krankheiten, mit Schwächen, aber auch mit Wünschen und guten Absichten und Werten.
Und er begann, die Menschen zu lieben und –
„Aber Ihr habt noch immer nicht meine Frage beantwortet“, drängte sich Don Widerhall ungeduldig dazwischen: „Wie kann ein gütiger Gott soviel Ungerechtigkeit und Unglück zulassen?“
„Die Fee aber lobte den Severus“, fuhr der Alte unbekümmert fort, „denn er sei auf dem besten Wege, so zu werden wie sie: die Menschen zu kennen und dennoch zu
lieben. Und sie gab ihm Gesicht und Gestalt und seinen Thron zurück und neues Vermögen. Und er ließ seinen Richtstuhl abbrechen und setzte sich hinfort auf sein Stühlchen, Gnade zu sprechen.“ Und der Alte geleitete den Besucher hinaus.
© Stiftung Stückwerken, *23.+25.7.2015, freigegeben
am 21.6.2024
Qouz-Note: 3+
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MamM 837 Vom Garten des Lebens
„Also dieses Buch ist wirklich das Letzte!“ empörte sich Don Makelsucher.
„So?“ dachte der Alte von der Halbinsel an eine andere Schreibweise. „Tritt der Autor in den wohlverdienten Ruhestand oder ist er gar
–“
„Hoffentlich!“ meinte der Besucher die 1. Alternative.
„So etwas ist doch keine Literatur mehr! Schon das Thema ist erlogen. Wie
kann sich ein erwachsener Mann in ein kleines Mädchen hineinversetzen?“
„Vielleicht glaubt er an Seelenwanderung“, trat der Alte ein, „und war in einem früheren Leben –“
„Und dazu noch ein krankes!“ fuhr Don Makelsucher fort.
„Vielleicht hat es ihm seine Geschichte erzählt“, waltete der Alte weiter an, „irgendwer muß es ja –“
„Nein“, entkräftete der Besucher, „es ist ein historischer Roman. Und außerdem schlecht
vorbereitet. Die Heimat der Prinzessin lag nicht in den Weinlanden, sondern im Norden; jedenfalls stand ihre Wiege im Leinetal. So
etwas Wichtiges darf ein Autor nicht unterschlagen. –“
„War’s denn für den Roman wichtig?“ fragte der Alte.
„Von einem historischen Roman erwarte ich Wahrheitstreue“, antwortete Don Makelsucher.
„Aber es ist doch ein Roman“, verteidigte der Alte weiter.
„Dann soll der Autor eben historische Persönlichkeiten aus dem Spiel lassen“, blieb der Besucher streng, „so wie in Euren Mährchen.“
„Die es auch nicht allen recht machen“, gab der Alte lachend zu.
„Aber immerhin erheben sie nicht den Anspruch, gelehrt zu sein“, nahm Don Makelsucher ein Lob zu Hilfe, „und sie sind nicht so geschwätzig. Wer hat nur diese Unsitte in unsere Literatur eingebracht, sätzelang nach dem richtigen Wort zu ringen und es doch nicht zu finden. Ich werde jedenfalls an unsere Tageszeitung einen Leserbrief schreiben und dieses Buch gründlich zerreißen!“
„Und die Folgen?“ fragte der Alte und begann zu erzählen:
Ob die meisten Märchen von Junggesellen ausgedacht worden sind? Denn normalerweise hören sie mit der Hochzeit
der Prinzessin auf, als sei das, was nun folge, ohne Reiz. Und wie eine Ehe glücklich zu führen sei, das scheint der Erzähler nicht zu
wissen. Nun, – ich weiß es auch nicht, weshalb wir uns besser anschauen, wie es Königin
Valentia gemacht hat.
Sie hatte also ihren Volkwart geheiratet, die Hochzeitstage waren vorüber, die Hochzeitsnächte auch, und nun begann
der Alltag. Die Gelehrten behaupten, dies bedeute: Jedertag und daß sich kein Tag mehr vom andern unterscheide. Muß das aber so sein? Ein armer Mensch, eine arme Familie,
denen ihr ganzes Leben als ein einziger Alltag erscheint! Jedoch wohl den Menschen, denen jeder Tag ein neues Geschenk ist und deren
ganzes Leben aus lauter Fest- und Feiertagen besteht. Freilich – nicht frei von Dienst und Arbeit; zumal eine Königin immer im Dienst ist.
Allein – Königin Valentia hatte es so eingerichtet, daß jeder Tag seine Besonderheit erhielt. Denn jeden Tag
verließ sie mit ihrem Gemahl das Schloß und ging unter die Menschen. Nicht mit Krone und Purpurmantel, auch nicht 7 Herolde vorneweg,
sondern nach außen einfach gekleidet und mit Augen frei von Dünkel.
Zumindest bei der Königin! Volkwart dagegen mußte noch einiges lernen.
„Schau dir diese Bilder an“, machte Volkwart seine Eheliebste auf einen Maler aufmerksam, der auf dem Marktplatz seine eigene Werke
zum Verkauf anbot. „Der kann doch gar nicht zeichnen! Das da sollen wohl
Pferde sein, aber die gleichen doch eher Meeresungeheuern. Das hätte sogar ich noch besser hinbekommen.“
„Und diese Farben?“ gab die Königin zu bedenken.
„Gut! Ja!“ konnte Volkwart nicht
widersprechen. „Darin zeigt er durchaus etwas Talent. Aber dann wäre er
doch besser Anstreicher geworden. Wart, ich will ihm einen guten –“
Doch die Königin hielt ihn zurück, denn in diesem Augenblick gelang es dem Maler, eins seiner Werke zu verkaufen. Und der Käufer sah nicht danach aus, als fühle er sich betrogen, sondern als freue er sich, mehr erhalten zu haben, als gegeben.
„Komm“, schlug die Königin vor, weiterzugehen. „Wenn’s nur eines Menschen Herz erfreut, so wollen wir’s nicht
dämpfen. Sonst hätte ich schon längst abdanken müssen, weil mein Same weniger getragen.“
An einem andern Tag machte Volkwart auf einen Sängerin aufmerksam, die
auf dem Marktplatz Lieder vortug: „Wie schräg die singt! Und den Ton kann sie auch
nicht halten, denn von Strophe zu Strophe rutscht sie tiefer. Und dann der Text! Aua, wenn das ein reiner Reim gewesen ist, dann wäre ein Kohlehaufen künftig weiß wie Schnee zu nennen.“
„Ich weiß nicht“, lachte die Königin, „aber des Nachts sehen Kohlen und Schnee einander sehr ähnlich. Jedoch –
schau nur, mit welcher Begeisterung sie singt –“
„Eben!“ fühlte sich Volkwart bestätigt. „Vergeudete
Kräfte! Ich will hin und ihr empfehlen, besser Marktschreierin –“
Doch die Königin hielt ihn zurück. Denn immer wieder warfen Menschen eine Münze in den Hut der Sängerin und
zogen ihre Straße fröhlicher, denn sie gekommen waren.
Und eines Abends kehrte das königliche Paar in der Ratsschenke ein und ließ sich mit einem Abendmahl bewirten.
Die Vorsuppe ging ja noch, aber als Volkwart den 1. Kürbis gekostet hatte, schob er den Teller von sich: „Nichts für ungut, aber bei Tante
Elli hat der Kürbis wesentlich besser geschmeckt. Wart, ich will gleich mal in die Küche gehen und denen empfehlen, einen
anderen Beruf zu ergreifen. Vielleicht versuchen die es künftig mit Viehfutter; dafür müßten sie besser –“
Aber Valentia hielt ihren Eheliebsten zurück, denn gerade waren Gäste gefragt worden , wie es ihnen geschmeckt hätte.
„Vortrefflich!“ lobten die Gäste. „Ganz wie bei Muttern!“ Und es war ihnen anzumerken, daß sie es auch so –
„Aber das ist doch Schwachsinn!“ fuhr Don Makelsucher dazwischen. „Wenn wir alles gutheißen, ertrinken wir im Mittelmaß! Soll ich etwa –“
„Nichts sollst du“, rieb sich der Alte mal wieder an seinem Reizwort, „aber du brauchst auch niemanden zu zertreten, der da lebt und fruchtet. Wer tut, was er kann, mag’s tun, solange er’s kann. Frost und Dürre gibt es schon
genug; doch sanften Regen und milden Sonnenschein, die brauchen wir zum Leben“, und er geleitete den Besucher hinaus.
© Stiftung Stückwerken, *30.-31.7.2015, freigegeben am 30.7.2024
Qouz-Note: 2-
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