Überblick MamM 801 bis 820
801 Romea und Julio (*7.11.2014)
802 Heimgezahlte Zeichnungen (*13.11.2014)
803 Maske oder Leben
804 Gemessenen Schrittes
805 In und außer mir
806 Ich sehe was
807 Im Namen von -
808 Ehre auf Erden
809 Unkräuter
810 Die Spielleute vor Venedig
811 Katja und die Sternblumen
812 Kaninchenhöhlen oder Die glückliche Käthe
813 In die Zeitung?
814 Pilgerleben (*5.2.2015)
815 Soweit deine Liebe reicht (*12.2.2015)
816 Nicht zum letzten Mal
817 Aline, Beline und Celine
818 Nachtmeister Stropp {72} und das Asyl
819 Die verkaufte Braut im Bilde
820 Neila
MamM 801 Romea und Julio
„Eine wahre Meistererzählung!“ lobte Don Plappagenio begeistert. „Als ob der große Engländer sich auf die Prosa gelegt hätte.“
„Meines Wissens hat aber dein Erzähler diesen Vergleich nicht gezogen“, wandte der Alte von der Halbinsel ein. „Und der ihn gezogen hat, der hat wie ein Bär gedient. Es ist ein Jammer, wie oft ein Dichter von seinen Kritikern über den Kamm des Nachahmens geschoren wird, nur weil jene mit ihrer Belesenheit Ehre
–“
„Aber die Ähnlichkeit ist doch offensichtlich!“ verteidigte der Besucher sich und seinen Belesenheit. „Sowohl das Drama als auch die Erzählung enden tragisch –“
„Ja, ja“, seufzte der Alte, „als der Dichter seinen Helden nicht mehr zu helfen wußte, schickte er sie in den Tod.“
„Aber das macht doch gerade den Wert einer Tragödie aus“, sah’s Don Plappagenio orthodox. „Durch den
Selbstmord erschüttert –“
„Sie bringt sich also selber um?“ spottete der Alte.
„Vielleicht rettet das manchem das Leben.“
„Wie das?“
Damit sind wir wieder beim Nachahmen“, schlug der Alte einen willkürlichen Bogen. „Jeder Dichter, der seine Helden
in den Tod schickt, riskiert, daß die Selbsttötung zum Vorbild –“
„Und die vielen, die durch die Ergriffenheit geläutert werden?“ hielt der Besucher dagegen. „Was wäre die Tragödie ohne den Selbstmord –?“
„Selbsttötung!“ verbesserte der Alte. „Denn das war ja
gerade das Anliegen dieses Erzählers: zu zeigen, daß es kein Mord war. Keine niedrigen Beweggründe, keine lang gehegte Absicht, kein
überlegenes Wissen über die Folgen und Zusammenhänge. Keine kühlen Köpfe.“
Und er begann zu erzählen:
Vorgestern, so berichteten die Zeitungen, seien die Leichen eines jungen Mädchens und eines jungen Mannes gefunden worden. In der Nacht zuvor hätten sich die beiden noch auf einer Kirchweih beim Tanze vergnügt und eifrig dem Weine zugesprochen, bevor sie in böser Lust
ihr wildes Liebeslager bestiegen hätten und anschließend gemeinsam in den Tod gegangen seien. Ein warnendes Beispiel für die heutige
Jugend, welche Folgen die Zügellosigkeit unreifer Menschen zeitige!
Und die Zügellosigkeit der sogenannten reifen Menschen? Konnte sie nicht sogar eine Ursache dieser Tragödie
gewesen sein? Doch damit hielt sich keine Zeitung auf, sondern bestieg sogleich den Richtstuhl und fällte ihr Urteil. Ohne den beiden Jugendlichen Gelegenheit gegeben zu haben, sich zu verteidigen. Ohne
nach einer Mitschuld zu suchen. Ohne Gnade! Auch keine Aussetzung der
Strafe auf Bewährung. Noch nicht einmal eine konkrete zeitliche Begrenzung.
Rufschädigung lautete die Strafe. Auf so viele Jahre, wie diese Zeitungsmeldungen in Bibliotheken aufbewahrt werden. Oder darf ich sogar sagen: Rufmord? Vermutlich mit mehr Berechtigung, als die Tat der
beiden „Selbstmord“ und die Täter „Selbstmörder“ genannt wurden.
Wenige Tage später berichteten die Zeitungen in einer Randnotiz, daß aus der Leichenhalle 2 Leichen geraubt worden seien. Sicherlich stecke dahinter eine ausländische Bande, welche die Toten gewissenlos und teuer zur Weiterverwendung verkaufe. Doch auch da irrten die Zeitungen.
Es waren nicht irgendwelche Leichen, die da verschwunden waren, sondern jene beiden jungen Menschen. Und sie
waren auch gar nicht geraubt worden. Ja, Romea und Julio waren gar nicht tot gewesen. Der Tod hatte sie nicht haben wollen.
Diese Erkenntnis lenkte die beiden darauf, nach andern Wegen zu suchen. Ihr Elend war noch genauso groß wie
vor ihrer Entscheidung für den Tod. Julio hatte Schuld auf sich geladen, die Romea ihm nicht ohne weiteres verzeihen konnte. Beider Eltern waren verfeindet und gegen eine Verbindung ihrer Kinder. Und Romea und
Julio hatten weder Arbeit noch Vermögen, um an ihr täglich’ Brot zu gelangen. Ja, sie
mußten sogar damit rechnen, daß sich ihre Lage noch verschlimmern werde.
„Komm“, versuchte Romea ihrem verzagten Freund Mut zu machen, „wenn der Tod uns noch nicht will, so wollen wir einstweilen beim Leben anklopfen und um Herberge
bitten. Hier wollen wir jedenfalls nicht bleiben.“
Also suchten die beiden ihre Kleider zusammen, stahlen sich heimlich aus der Leichenhalle, faßten einander an der Hand und wanderten in die Nacht hinaus.
Es war Herbstzeit. Die Obstbäume trugen reichlich Früchte, und erster
Hunger und erster Durst konnten leicht gestillt werden. Aber immer nur Äpfel, Birnen und Beeren essen?
Das kann schon verzagt machen. Und als die beiden über eine Brücke gingen, da schlug Julio vor, sich gemeinsam
in den Tod zu stürzen.
„Aber wenn uns doch der Tod nicht haben will?“ hielt Romea dagegen. „Wer weiß, vielleicht werden wir zu Krüppeln und können uns gar nicht mehr selber helfen. Aber jetzt können wir’s noch, deshalb laß uns lieber nach einem Ausweg suchen.
– Da, da drüben ist ein einsames Häuschen, vielleicht finden wir dort etwas Besseres als den Tod.“
Das Häuschen hatte Julio in seiner Verzagtheit gar nicht gesehen; und eigentlich hatte seine Freundin ja
recht: Sterben konnten sie immer noch. Also suchten sie auf der anderen Seite nach einem Weg, fanden ihn und gelangten so zu jenem
einsamen Häuschen.
Auf ihr Klopfen öffnete ein steinalter Mann die Türe, bat die beiden herein, setzte ihnen Brot und Wein vor und hörte sich dann ihre
Geschichte an.
„Da habt ihr eine gewaltige Arbeit vor euch“, urteilte der alte Mann schonungslos, „doch will ich euch gerne helfen. Erstlich ist für euer täglich’ Brot zu sorgen. Wenn ihr mir dienen wollt, so will ich es euch geben. Dann fehlen eurer Brücke
zueinander noch ein paar Steine, daß sich das Herz zum Herzen findet. Aber ich achte,
auch das wird sich einstellen. Und wenn ihr einander tragen könnt, dann schicke ich euch zu euren Eltern zurück, daß auch die sich
wieder aussöhnen. Einverstanden?“
Und die beiden dienten dem alten Manne 7 lange Jahre; und nicht nur ihm,
sondern auch ihren Kindern. Und die Brücke ward gebaut und erprobt, und sie hielt. Und als die kleine Familie endlich weiterzog, da gab der alte Mann jedem ein Paar Flügel –
„Was für ein Quatsch!“ konnte sich Don Plappagenio nicht mehr zurückhalten. „Da seht Ihr ja an Eurem eigenen Beispiel, daß solch ein Schluß weder ergreift noch erbaut.“
„Vielleicht hebt er aber den Blick“, wünschte sich der Alte. „Meinst du, es schade jemandem, dieses Leben
nachzugehen? Vergiß nicht, daß deine Seele Flügel
hat!“ Damit geleitete er den Besucher hinaus.
© Stiftung Stückwerken, *7.11.2014, freigegeben am 5.7.2024
Qouz-Note: 2-
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MamM 802 Heimgezahlte Zeichnungen
„Das werde ich ihm noch heimzahlen!“ hielt sich Don Furio für einen Propheten und
dessen Gott.
„Es ist schon ein Jammer“, gab der Alte von der Halbinsel einen Seufzer vor,
„daß wir Menschen uns durch Geschenke gerne überraschen lassen, anschließend aber diese gern in einen Kauf –“
„Von wegen Überraschen!“ schimpfte der Besucher.
„Enttäuschung! Schwere Enttäuschung! Soll ich mir so was etwa bieten
–“
„Soll?“ blieb der Alte mal wieder an seinem Reizwort kleben. „Nichts sollst du. Du darfst, eh, du kannst ein Angebot kaum verhindern, aber du
brauchst –“
„Ihr geht mir mit Eurer Wortklauberei langsam auf die Nerven“, wurde Don Furio hitziger. „Hilf dir selbst, sonst hilft
dir –“
„Verzeih“, unterbrach ihn der Alte, „ich will noch einmal nachhaken: Hättest du dir das Heimzahlen nicht sparen können, wenn du jenes Angebot gar nicht erst angenommen
hättest? Einfach schreiben „Annahme verweigert“ und dann ungeöffnet –“
„Wenn das so einfach wäre!“ sah’s der Besucher anders.
„Wenn’s nur eine Sache zwischen ihm und mir gewesen wäre! Aber er hat es in aller Öffentlichkeit –“
„Und du willst ihm das in aller Öffentlichkeit vergelten?“ folgerte der Alte. „Und dann zahlt er’s dir mit Zinsen zurück und du wieder mit Zinseszins, dann wird noch der große Bruder eingebunden, dann die ganze
Familie; und findet ihr noch Söldner, dann gibt’s Krieg. Macht dich das
etwa glücklich?“
„Soll ich’s denn auf mir sitzenlassen?“
„Nichts sollst du!“ grollte der Alte wieder. „Stell dich
doch hin! Wer auf der Erde kriecht, braucht sich nicht zu wundern, wenn er als Sitzgelegenheit mißbraucht wird. Freilich – verzeihen, gnädig sein, das können nur Königinnen und Könige“, und er begann zu erzählen:
Weshalb ihn seine Eltern auf den Namen Affanasius hatten taufen lassen, erfuhr er nie. Vielleicht hätten sie geantwortet, er solle etwas Besonderes werden; doch besser traf
auf ihn ein anderes, wenn auch ähnliches Wort zu: Affanasius wurde ein Abgesonderter.
Die einen verballhornten seine Namen zu Affe Nasius und hatten ihren Spott, die andern hielten ihn für einen Ausländer und bedrängten ihn mit ihrem Mißtrauen derart, daß
er leicht ins Stottern geriet. Gut, es gab auch solche, die ihm mit Mitleid begegneten und sich wunderten, mit aller Schroffheit
zurückgewiesen zu werden. Affanasius wollte kein Mitleid, sondern Wertschätzung und Aufnahme.
Allein – die herrschende Meinung war gegen ihn; und wer will es sich mit dieser schon verderben? Hier und da die Liebe. Anfangs! Sie wittert Besonderes. Schätze. Gräbt sie sogar aus, aber – sie hat ihre Grenzen. Eine davon heißt
Eigenliebe. Und die geht hin und fängt an, mit den gefundenen Schätzen zu prahlen. Wird sie dann ausgelacht und ist stark, dehnt sie sich so lange aus, bis die eigentliche Liebe keinen Raum mehr findet.
Leider erging’s Affanasius so mit seiner 1. Liebe, mit seiner 2. und mit seiner 3. sowie – mit seiner eigenen Liebe. Derart von der Liebe enttäuscht, zog er sich ganz in sich zurück und sann auf Rache.
Wozu? – Das machte er sich gar nicht klar. Es war ihm, als käme es
von außen, wie ein Befehl, dem er kein Verstehen, sondern Gehorsam schuldete.
Aber nicht blind und träge. Nein, Rachedurst setzt Kräfte frei, weckt sogar Begabungen und treibt den Kopf zu
Höchstleistungen. Bei Affanasius war es das Zeichnen. Er brachte es sich
selber bei und wußte bald meisterhaft Porträts anzufertigen. Die Rache konnte also ihre Früchte austeilen.
Seine 1. Liebe zeichnete er zunächst so vor, wie er sie kennengelernt hatte; doch dann wußte er diesen 1.
Entwurf derart zu verändern, daß sich die blühende Rose, ursprünglich mit Ausdruck und Haltung, in eine welke Blüte verwandelte. Nun
wurde das Bild noch einmal kopiert, zum Drucker gebracht, und eines Morgens lag es als Flugblatt in der Auslage aller Buchhändler der Stadt.
Für seine 2. Liebe begann er ähnlich, doch diese Rose ließ er nicht welken, sondern übertrieb ihre Reize derart, daß ein Vergleich mit dem ursprünglichen Modell für
dieses stets zu einer herben Enttäuschung führen mußte. Auch dieses Bild landete in der Auslage aller Buchhändler der Stadt.
Und die 3. Liebe? Eigentlich war Donata eine gute Seele,
jedoch eben kein Engel. Sie hatte Freundinnen: erstbeste, zweitbeste, drittbeste. Und als die ihren Spott nicht zurückhielten, sie sogar der Affenliebe bezichtigten, da – hatte sie ihren Kampf. Gegen ihre Freundinnen entscheiden? Die sie seit so vielen Jahren kannte? Und was ward ihr dafür? Einsamkeit! Denn ihr war nicht verborgen geblieben, daß ihr Geliebter schon immer ein Außenseiter gewesen war. Wenn er wenigstens Verständnis für ihren Kampf gehabt hätte! Aber sein wachsames
Mißtrauen mußte irgendwie ihre Zweifel gewittert und bereits als Entscheidung ausgelegt haben: gegen ihn!
„Du bist auch nicht besser als die andern“, hatte er geurteilt und sie von sich gestoßen.
Und diese gute Seele verdarb Affanasius zu einer Fratze der Bosheit und setzte diese wieder auf Flugblättern in Umlauf.
Ach, wenn diese Flugblätter alle gleich ihren Weg in den Ofen gefunden hätten! Aber nein, sie wurden in Alben
aufbewahrt und sogar in Bibliotheken gehortet.
Affanasius focht das nicht an, ja, es machte ihm seine Macht bewußt und bestärkte ihn. Er brauchte nur die
leiseste Kränkung zu wähnen, schon bereitete er ein neues Flugblatt vor. Dabei schreckte er weder vor Gelehrten noch vor Künstlern
zurück. Den einen zeichnete er als Zappelphilipp, den andern als schwachsinnigen Tattergreis, wieder einen andern als dünkelhaften
Spießbürger. Wie das auf deren Schriften und sonstige Werke abfärbte! Und
dort haftenblieb!
Doch dann lief ihm eines Tages Donata über den Weg. Unwillkürlich schaute er auf. Sah ihr in die Augen. Das konnte doch nicht wahr sein! Nach allem, was er ihr angetan hatte?
„Du – du verzeihst mir?“ stammelte er ungläubig. „Du –
du liebst mich noch immer?“
Donata nickte stumm, und –
„– Tränen traten ihr in die Augen!“ ergänzte Don Furio theatralisch. „Wen wird solch ein minderwertiger Schund von seiner Rache abhalten?“
„Gibt es auch hochwertigen Schund?“ lachte der Alte.
„Allein – mancher kann erst dann verzeihen, nachdem er erlebt hat, daß ihm verziehen worden ist. Wenn ich nur daran denke, wer mir
schon – Doch muß ich leider zugeben: Dieser Same hätte noch mehr Frucht bringen können!“ Damit geleitete er den Besucher
hinaus.
© Stiftung Stückwerken, *13.11.2014, freigegeben am 5.7.2024
Qouz-Note: 3-
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MamM 814 Pilgerleben
„Im letzten Jahr sei in seinem Bistum kein Gottesdienst ausgefallen“, berichtete Don Flintenkorn.
„So?“ versagte der Alte von der Halbinsel sein Interesse nicht ganz.
„Da ist der wohl sogar noch stolz drauf“, fuhr der Besucher fort. „Aber wie oft für ein einfaches
Kirchenmitglied der Gottesdienst ausgefallen ist, davon spricht keine Statistik –“
„Somit kann sie auch nicht dazu lügen“, versuchte der Alte Positives abzugewinnen.
„Aber dann redet auch niemand drüber!“ sah Don Flintenkorn weiter Schwarzes. „Von Jahr zu Jahr nehmen sich die Herren Pfarrer mehr Urlaub, werden mehr Gemeinden für einen Gottesdienst zusammengezogen, werden die Wege
weiter. Ich seh’ den Tag schon kommen, dann gibt es sonntags nur noch einen Gottesdienst in Rom,
Wittenberg, Konstantinopel, Moskau und Canterbury. Am besten, wir treten alle aus der Kirche aus –“
„Wann?“ fragte der Alte.
„Na, jetzt schon“, antwortete der Besucher, „aus Protest!“
„Teile und herrsche?“ zweifelte der Alte. „Oder: Laßt euch nicht teilen, dann könnt ihr auch nicht beherrscht werden? Verhältst
du dich nicht wie ein Sänger, der aus Protest gegen den schiefen Gesang den Chor verläßt? Draußen kann er noch so laut schimpfen, doch
drinnen hört ihn niemand, weil alle schief weitersingen. Was bessert sich durchs Weglaufen? Gut, wenn sich die Lemminge in den Abgrund stürzen, ist es tödlich, mitzulaufen;
ansonsten aber –“
„Was sollen wir denn tun?“ sah Don Flintenkorn keinen Ausweg. „Diese Ohnmacht –“
„Nichts sollen wir tun“, rieb sich der Alte wieder an seinem Reizwort, „weder heucheln noch Krieg führen; aber
wir dürfen einander Mut machen und unseren Kummer selber vor Gott bringen“, und er begann zu erzählen:
Bernhard – Warum ist dieser Name in unseren Märchen so selten? Bernhard war der Sohn eines Tagelöhners – Wieder etwas Seltenes in unseren Märchen! Nun, Bernhards Eltern waren anscheinend gestorben, und ihn hielt nichts mehr in seiner Vaterstadt.
„Bleib’ ich hier, so sterb’ ich auch hier“, folgerte der junge Mann, „da geh’ ich doch besser fort und suche, ob ich das Leben finde.“
So wanderte er und wanderte und gelangte endlich an eine Weggabelung. Zur Linken führte ein beschwerlicher Weg
weiter hinauf in das karge Gebirge, zur Rechten aber eine bequeme Straße in ein fruchtbares Tal. Welches Ziel war ratsamer?
Schon wollte sich Bernhard nach rechts wenden, da mahnte plötzlich ein Dompfaff: „Gottloses Volk! Gottloses Volk! Geh besser nicht dahin! Geh besser –“
„Und dann haben’s die Menschen dort so gut?“ hielt Bernhard dagegen. „Nein, dort scheint es lustig herzugehen, da will ich auch hin!“
„Dann nimm dir wenigstens ein Weib!“ riet der fromme Vogel. „Nimm dir ein –“
„Ich werd’ mich mal umschauen“, lenkte Bernhard ein, „aber versprechen will ich’s nicht.“
„Komm zurück! Komm zurück!“ rief der Dompfaff noch
hinterher, aber darauf gab Bernhard schon keine Antwort mehr.
Ei, war das ein Trubel dort unten! Hier lag ja eine große Stadt mit viel Lärm, Drängen und Hetzen auf den
Gassen. Es war für Bernhard gar nicht so einfach, sich diesem zu entziehen und erst mal von einem schmalen Seitengäßchen seine
Beobachtungen anzustellen.
Die Leute schienen hier alle sehr wohlhabend zu sein. Sogar Gelächter war zu hören, aber da mußte zuvor
wohl erst einiges an Bier, Wein und Rum geflossen sein. Glücklich, nein, glücklich sah hier niemand aus. Nur die Gesichter auf den Plakaten strahlten, welche zum Besuch der vielen Spielkasinos einluden. Das waren Bernhards 1. Eindrücke.
Mit der Zeit entdeckte er weiteres Erstaunliche. Es gab einen Verweser,
der die Stadt regierte. Und wem es gelang, bei ihm eine Audienz zu erhalten, der kehrte reich gesegnet wieder zurück. Allein – dieser Segen wurde nur allzu oft in die Spielkasinos getragen und floß gleich wieder an den Herrscher zurück, da diesem die Spielhäuser
gehörten.
Und noch etwas Merkwürdiges entdeckte Bernhard: Immer wieder wurden Bürger in den Hafen gebracht, mußten dort ein Schiff besteigen und all ihren Wohlstand
zurücklassen; und niemand kehrte zurück, und niemand wußte, wohin dieses Schiff fuhr.
Nein, das war Bernhard zu unheimlich hier, und er wanderte die bequeme Straße wieder zurück bis zu jener Weggabelung. Dort wurde er schon erwartet.
„Sieh dich vor!“ mahnte der Dompfaff. „Sieh dich
vor! Enttäuschungen erwarten dich! Ungerechtigkeit! Kummer!“
„Wie?“ wunderte sich Bernhard. „Als ich die bequeme
Straße wählte, hast du mich gewarnt; nun ich den steilen Pfad wählen will, warnst du mich wieder? Soll ich denn in meine Vaterstadt –“
„Ich muß dir doch die Wahrheit sagen!“ rechtfertigte sich der Dompfaff. „Nichts sollst du, sondern deinen freien Willen darfst du behalten. Laß dich nicht
aufhalten! Und nimm dir ein Weib!“
„Mal sehen“, brummte Bernhard und stieg den Pfad hinauf. Es war tatsächlich sehr karg hier, und nirgendwo eine
feste Stadt. Doch frisches Wasser gab’s hier und Zeltplätze, wo Nahrungsmittel ausgeteilt wurden.
Bernhard war hier also nicht allein, aber die Menschen hier unterschieden sich meistens kaum von denen, die er in jener Hafenstadt angetroffen hatte. Und es stellte sich heraus, daß viele aus jener Stadt geflüchtet waren – aus Angst, bald jenes Schiff besteigen zu müssen. Und hier, an den Zeltplätzen, fanden sie’s zu eintönig und waren bestrebt, die Sitten jener Stadt einzuführen. Es gab Streben nach Macht und sichtbarem Segen. Vetternwirtschaft, Emporkömmlinge und Zurückgesetzte. Falsche Versprechungen und Enttäuschungen. Und viele Enttäuschte kehrten wieder in
jene Stadt zurück.
Auch Bernhard verließ die Zeltplätze, doch in anderer Richtung und aus anderem Grunde. Ihn dürstete nach
frischem Wasser; und wenn er das an einem Zeltplatz nicht mehr fand, zog er weiter.
Eines Tages kam er an einen Bergsee, von dessen Ufer etliche Pilger einer Ertrinkenden zuriefen: „Schwimm doch! Schwimm doch! Du bist für dich selbst verantwortlich!“
Bernhard jedoch eilte herzu und rettete –
„Aber da beißt sich doch alles in Eurem Bild!“ drängte sich Don Flintenkorn dazwischen. „Wie deutet Ihr –“
„Und am Abend blickten Berenike und Bernhard“, fuhr der Alte unbekümmert fort, „zum Himmel hinauf, an dem gerade
unzählige Sterne zu leuchten begannen. «Komm», machten die beiden einander Mut, «laß uns weiterwandern! Wer so viele Edelsteine mit uns teilt, der – kennt auch uns und
hat uns lieb!»“ Und der Alte geleitete den Besucher hinaus, als sich gerade
der Abendstern zeigte.
© Stiftung Stückwerken, *5.2.2015, freigegeben am 4.7.2024
Qouz-Note: 2
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MamM 815 Soweit deine Liebe reicht
„Bald weiß ich wirklich nicht mehr, was ich glauben soll“, hatte Don Solling die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben.
„Soll?“ rieb sich der Alte von der Halbinsel mal wieder an seinem Reizwort. „Wer soll was glauben?“
„Na, wir, die Gläubigen“, antwortete der Besucher, „so schreibt es die Kirche vor –“
„Im Glauben darf kein Zwang sein“, widersprach der Alte, „so steht es sogar im
Koran. Wer etwas anderes lehrt, macht aus dem Evangelium einen Götzendienst und aus dem
Christentum ein Heidentum –“
„Starke Worte“, urteilte Don Solling, „die Euch bei den Kirchenfürsten gewiß nicht beliebt –“
„Will ich das denn?“ zweifelte der Alte, nahm sein abgegriffenes Buch zur Hand, blätterte darin und reichte es dem
Besucher: „Hier, wie liesest du?“
Dieser aber las: „Wie könnet ihr glauben, die ihr Ehre voneinander nehmet? Und die Ehre, die von Gott allein ist,
suchet ihr nicht. – Zugegeben: auch starke Worte; aber wie soll ich das –“
„Gar nichts sollst du“, schien der Alte seine eigene Widersprüchlichkeit nicht zu gewahren. „Gewiß: Welcher
Mensch ist frei von Eitelkeit und Ehrsucht? Dennoch: Wer sich in geistigen Angelegenheiten nach dem Beifall von Menschen richtet oder
wähnt, bei Gott Ehre einlegen zu können, der ist auf einem Holzweg –“
„– und muß sich ständig korrigieren –“
„– beziehungsweise das, was früher gepredigt wurde“, faßte der Alte mehr, „als Irrtum ausgrenzen –“
„Aber was sollen wir denn tun“, war’s Don Solling keine Hilfe, „wenn selbst
auf die Kirche kein Verlaß –?“
„Gar nichts sollen wir“, rieb sich der Alte heute zum 3. Mal. „Ist glauben etwa einen Leideform? Jeder darf selber glauben und darüber wachen, weil es schon Jesus selbst angedeutet hat, daß in seinem
Namen viele Irrtümer verbreitet werden. – Allein: Der Baum der Erkenntnis ist nicht der des
Lebens. Deshalb ist am wichtigsten: Jeder darf selber leben!“
Und er begann zu erzählen:
Die Königin von Reichvitanien war in die Jahre gekommen, nämlich in das Alter, in dem es ratsam
ist, das Zepter weiterzureichen. Aber an wen?
Kinder hatte sie genug. Die sie auch liebhatte. Jedoch:
Mit einer Nadel läßt sich schwer ein Haus bauen, mit einem Hobel schwer ein Kleid bügeln und mit einem Senkblei schwer die Blumen begießen. Besondere Begabungen hatten alle 3, und die waren auch gefördert worden; aber eine
besondere Begabung zum Herrschen –? Das hätte wohl auch nicht dem Frieden gedient, denn bisher hatte sie selber geherrscht. Doch – wie sahen das ihre Kinder?
Florestan, das älteste Kind, hatte eine Begabung für Farben. Und da ihm eine Leinwand zu wenig Entfaltungsmöglichkeiten gegeben hätte, war er von einem berühmten Malermeister ausgebildet worden.
„Seht her“, konnte Florestan von sich sagen, „wie ich das ganze Land verschönert habe! Holz, Mauerwerk,
schadhaften Putz habe ich übertüncht, und allenthalben strahlen nun Kirchen und Kauf- und Wohnhäuser in frischen Farben.“
Nur – das sah mancher anders und trauerte den Fassaden aus Fachwerk oder Natursteinen nach.
Severa, das 2. Königskind, hatte sich in zahlreiche Gremien berufen lassen, die da Gesetze und Verordnungen und
Richtlinien vorbereiten, an die sich Bürger und Beamte zu halten haben. Eigentlich die ideale Vorbereitung auf das Regieren! Die Königin setzte aber hinter diesen Satz ein Fragezeichen. Braucht eine Regentin
lediglich ein breites Gesäß, um eine gute Landesmutter zu sein?
Ähnlich zweifelte wohl auch Serena, das jüngste Königskind. Sie hatte eine spitze Feder und hatte diese im Privilegierten Hofanzeiger schon manches Mal gegen
Werke ihrer Geschwister eingesetzt. Und da das Kritisieren leichter von der Hand geht denn das Bessermachen und es das Selbstwertgefühl
der Einstimmenden hebt, genoß Serena von allen Königskindern das höchste Ansehen.
„Reicht das aber, um eine gute Königin zu sein?“ fragte die alte Königin ihre Fee. Ihre gute Fee!
„Frag doch mal deine Kinder“, antwortete die Fee, „wer seine Landeskinder liebhat.“
Das tat die alte Königin auch, und alle 3 Kinder waren zum Glück ehrlich. Nein, aus Liebe zu den Landeskindern
hatten sie nicht gehandelt; jedenfalls war das bisher nie ihr Hauptantrieb gewesen.
„Dann wollen wir das von nun an ändern!“ nahmen sich alle 3 vor.
Florestan setzte sich vor seine Leinwand und malte ein wunderschönes Frühlingsbild. Und noch eins. Und noch eins. Na, das würde in diesen grauen Tagen gewiß Freude bereiten! Frohgemut stellte er seine Bilder am Marktbrunnen der Residenzstadt auf und setzte sich daneben.
Doch kaum ein Bürger blieb stehen. Die meisten hatten noch nicht einmal einen Blick dafür, sondern hetzten
stumpfsinnig durch die Gassen. Und wer doch stehenblieb, der tat’s nur, um seine Verachtung auszudrücken: Die Bilder seien ja nach der
Natur gemalt und also minderwertig, weil niemand die Natur wiedergeben könne, wie sie wirklich sei; und Kunst sei es erst recht
nicht.
Serena erging es nicht besser. Sie hatte 3 Gedichte verfaßt und vertont und trug sie nun am Marktbrunnen
vor. Mit ihnen wollte sie in diesen kalten Tagen das Herz durchwärmen.
Jedoch – die meisten Menschen hörten sie gar nicht, sondern waren voll von anderen Dingen – wie ein volles Glas. Und wer dennoch
stehenblieb, verteilte seinen Spott.
Und Severa? Die setzte sich mit 3 Bechern frischen Quellwassers an den Marktbrunnen, denn dieser war nicht
immer frei von Unrat. Aber auch ihre Gaben wurden von den Bürgern verschmäht.
Bis – ja, bis mit einem Mal ein kleines Mädchen an den Brunnen trat, sich herzlich über die Bilder freute, die Lieder aufnahm und
mitsummte und dann auch dankbar das Quellwasser kostete. Und plötzlich brach die graue Wolkendecke auf, und ein warmer Sonnenstrahl
streichelte zärtlich das kleine Mädchen. Und noch ehe die 3 Königskinder recht begriffen hatten, was da gerade sahen, war das Mädchen
wieder verschwunden.
Die 3 seien schon arg enttäuscht gewesen, berichtete die Königin ihrer Fee, aber das Erlebnis mit jenem Mädchen habe sie doch – ja, neu belebt. Und sie wollten weitermachen. Aber damit sei noch immer nicht entschieden, –
„– wer Königin sein soll“, ergänzte Don Solling ungeduldig. „Ihr habt mir auch noch keine Antwort gegeben, was
ich –“
„Die 3 könnten doch gemeinschaftlich regieren“, fuhr der Alte unbeirrt fort. „Ist das nicht königlich, wenn
jeder wirkt, soweit er lieben kann? Und diese Liebe wächst“, womit der Alte den Besucher hinausgeleitete.
© Stiftung Stückwerken, *12.2.2015, freigegeben am 4.7.2024
Qouz-Note: 2-
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