MamM – Mährchen an meine Mutter Nr 641 bis 660
Überblick MamM 641 bis 660
641 Armenhäusler {i137}
642 Gärtnerlehre {i138}
643 Täglich neu {i139}
644 Die Kinderschule {i140}
645 Sonnabend {i141}
646 Nachtmeister Stropp und der Fall Ärgersich (*13.-14.10.2011)
647 Unten durch {i142}
648 Lehrgarten {i143}
649 Der Herr und ein Hirte {i144}
650 Der Ablaß {i145}
651 Im Auge {i146}
652 Nachtmeister Stropp und der Fall Steckbrief (*24.+26.11.2011)
653 Heckenrosen {i147}
654 Überwegs
655 Die Ahnengalerie {i149} (*15.12.2011)
656 Geld reimt sich auf Welt
657 Siebenschön und Siebenzeit
658 Kauz 1: Die Leiche im Armenhaus
659 Kleine Schritte
660 Ein Sinn
MamM 646 Nachtmeister Stropp und der Fall Ärgersich
„Sag mal, bist du krank?“ gab Frau Struppe ihrer Besorgnis Ausdruck.
Nachtmeister Stropp schwieg.
„Sag mal, redest du nicht mehr mit mir?“
„Doch“, wagte sich unser Igel in den einsilbigen Bereich vor, „hörst es ja.“
„Also, was ist?“ versuchte Frau Struppe es wieder im Guten. „Fehlt dir was?“
„Ob mir was fehlt?“ versuchte unser Stropp Zeit zu gewinnen. „Wie kommst du darauf?“
„Weil du nicht richtig ißt!“ ließ die Eheliebste ihren Scharfsinn durchblicken.
„Eß ich denn verkehrt?“ hatte unser Nachtmeister einen Tadel heraus oder hineingehört. „Freilich – in den 1. Tagen unserer Ehe –“
„– hast du mich sogar gelobt“, ergänzte die Igelin rasch, „und hast tüchtig zugelangt. Und inzwischen bin ich
im Essenmachen bestimmt nicht schlechter geworden; im Gegenteil! Mir
schmeckt es jedenfalls. Und wenn es dir nicht schmeckt, dann muß es ja an dir liegen. Du solltest mal zum Arzt–“
„Hör mir auf mit deinem verdammten Arzt!“ platzte es aus unserem Nachtmeister heraus. „Geh mal zum Arzt! Geh mal zum Arzt! Als ob ich –“
„Ich mein’ es doch nur gut mit –“
„– dir“, fiel Stropp dazwischen, „nicht mit mir! Willst ja nur die Krankenschwester spielen und mich mit
deinen Pillen vergiften wie mit deinem – deinem Fraß hier. Jawoll!“
„Stropp!“ Die Stimme der Eheliebsten klang mehr weinerlich denn zornig. „So kannst du nicht mit mir reden!“
„Und ob ich das kann!“ Unser Nachtmeister stampfte sogar mit dem Fuß auf. „Wirst noch sehen, was ich alles kann! Da! Da!“
„Das schöne Essen!“ jammerte Frau Struppe. „Und ich
hatte mir soviel Mühe gegeben!“
„Dann iß es eben alleine auf!“ blieb unser Stropp in Fahrt. „Oder hol dir doch deinen Hausfreund dazu. Gib doch zu, daß du einen hast! Dann – dann will ich euch eben nicht länger im Wege stehen. Besser – besser ich gehe,
als daß ich mich vergiften lasse!“
„Stropp!“
Der war jedoch sogleich nach draußen gestürzt, eilte zur Poststation und – reiste ab. Auf
Nimmerwiedersehen?
Wir sehen ihn diesenfalls im Ewald bei Dortwehr wandeln. Aber ist das noch unser Nachtmeister? Unser berühmter Held? Jener zerknirschte Fußgänger, kann das –? Aber es ist sein Name, mit dem er sich
anredet.
„Stropp, Stropp“, murmelte der Wandersmann und schüttelte immer wieder mit dem Kopf. „Wie hast du dich nur so
hinreißen lassen können? Gestern war doch noch alles in Ordnung! Und im
Essenmachen ist Struppe erstklassig! Aber – irgend etwas war nicht so wie sonst. Irgend etwas hatte sie beim Tischdecken vergessen. Komisch, daß ich mich gar nicht
mehr erinnere, was es war. Gewiß nur einen Kleinigkeit; und doch habe ich
mich derart darüber geärgert. – Mich geärgert? Ich hab mich also
selber geärgert? Was bin ich doch nur für ein Eselmensch! Hab mich selber
geärgert! Und meine liebe Struppe mit!“
„Was bläst du denn da für Trübsal?“ war unser Nachtmeister irgend jemandem nicht gleichgültig.
Verwundert blickte unser Stropp auf. „Tirili, guten
Morgen“, begrüßte er den Sprecher. „Ach, ich Tölpel hab’ mich selber geärgert und – und nicht nur mich!“
„Da bist du wirklich sehr dumm“, bestätigte das Rotkehlchen unberufen. „Wenn ich mich geärgert hab’, sing’ ich
einfach den Ärger fort:
Ärger, ade!
Hau ab und geh!
Gerne vergess’ i-hich dein,
kannst mir gesto-holen sein!
Ärger, ade!
Hau ab und geh! –
Und manchmal sing’ ich es schon, wenn ich den Ärger kommen seh’.“
„Und ich lach’ ihn fort“, meldete sich nun ein Kopfwerker. „Und ich hab’ es mir zum Grundsatz gemacht: Wie
viele Male ich mich ärgere, so viele Male muß ich lachen.“
„Ach, Meister Hämmerle“, seufzte unser Stropp, „wenn’s nur immer so einfach wäre!“
„Und ich fress’ mir den Balg voll“, sprach noch eine Stimme, „dann kann sich der Ärger gar nicht ausdehnen und wird durch den natürlichen Gang – Achtung!“
Johannes Eichhorn und die beiden Vögel brachten sich sogleich in Sicherheit. Unser Nachtmeister war jedoch weder des Fliegens noch des Kletterns kundig und wurde sogleich wütend angebellt.
„Kläff und Kläffo, bei Fuß!“ kommandierte nun eine untierische Stimme. „Was? Ein Igel hier im Wald? Traut sich wohl nicht mehr auf die Chaussee,
hahaha! Also, Kläff und Kläffo, wenn er auf dem Rückweg noch hier ist, dann ist er euch zum Abschuß freigegeben. Hahaha, das wär’ ein Spaß!“
„Ärger, ade!“ sang unser Stropp leise vor sich hin, doch dann gewahrte er, daß noch etwas gegen den Ärger half:
Freunde!
Als das Untier zurückkehrte, war unser Nachtmeister noch immer „im Wege“.
„Kläff, Kläffo, faß! Faß!“ kommandierte das Untier
schadenfroh. „Den werden wir lehren, – Au! Au! Wer wirft da mit – Au! Au! Das ist ja nicht mehr zum Aushalten! – Weg hier! Bloß weg von hier! – Hier gehen wir nie wieder hin!“
„Daß die Untiere keine Eicheln mögen!“ spottete Johannes Eichhorn. „Dabei haben wir doch ganz genau gezielt. Und jetzt auf zu Frau Struppe! Das kriegen wir auch noch hin!“
„Ärger, ade! Hau ab und geh!“ drang es einige Zeit
später in Frau Struppes Kummerhöhle. Ja, Kummerhöhle, – obwohl es gestern noch ein behagliches Zuhause gewesen war. Frau Struppe wußte selbst nicht, warum sie dem Drange nachgab und vor die Türe trat.
Gut, daß sie es tat, denn schon wurde sie mit Gelächter empfangen. Nein, das war kein Auslachen, sondern ein heiteres, ansteckendes
Lachen, gegen das sich die Igelin kaum wehren konnte.
Und nun fragte gar noch einer dreist: „Ist das Essen schon fertig? Euer Gatte hat derart von Euren Künsten
geschwärmt, daß wir dachten, eh, uns selber mal davon zu überzeugen –“
„– und da hab’ ich alle 3 einfach zu uns eingeladen“, meldete sich nun auch unser Nachtmeister aus dem Hintergrund. „Es ist dir doch recht?“
„Stropp!“ entfuhr es der Eheliebsten, die ihr „Na, warte!“
noch rechtzeitig hinunterschlucken konnte. Nein, vor anderen Leuten wollte sie sich keine Blöße geben und als Drachen oder hysterische
Furie verschrien werden.
Und dann wurde getafelt, gelacht und gesungen. Und nachdem sich die 3 Gäste lobend und dankend verabschiedet
hatten, da fand auch Frau Struppe ihren Ärger nicht mehr.
„Gelle, du bist mir nicht mehr bös’?“ raspelte unser Stropp süß. „Du kannst ja gar nicht böse sein.“
„Mit meinem einzigen Hausfreund?“ schmunzelte Frau Struppe. „Aber es fehlt da noch etwas an der Erziehung –“
© Stiftung Stückwerken, *13.-14.10.2011, freigegeben am 19.6.2024
Qouz-Note: 3
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MamM 652 Nachtmeister Stropp und der Fall Steckbrief
„Endlich Winterferien!“ schwelgte Nachtmeister Stropp in Vorfreude. „Schlafen! Schlafen!
Schlafen! Obwohl – so kalt ist es dieses Jahr gar nicht. Und wenn es nicht
–“
„– so kalt ist“, ergänzte Frau Struppe, „gedeiht des Friedensrichters Mäusevieh besonders prächtig –“
„Na, ja“, schränkte unser Igel durch langjährige Erfahrungen ein, „nach harten Wintern gibt es mehr zartes Jungfleisch, so daß –“
„– Reineke so oder so immer Grund zum Klagen findet“, seufzte die Eheliebste.
„Wir müssen eben das Beste daraus machen“, blieb unser Nachtmeister Optimist. „Wenn wir beide zusammenbleiben,
was kann da schon –“
„Herr Nachtmeister! Herr Nachtmeister! Herr
Nachtmeister!“ rief es plötzlich draußen im Terzett.
„Still!“ flüsterte die Igelin. „Wir sind schon in den
Winterferien!“
Allein – wenn jemand seinen Rat oder seine Hilfe brauchte, ließ sich unser Stropp nicht zurückhalten; noch
nicht einmal von seiner besseren – Ganzen.
Schon wandelte er würdevoll hinaus, und Frau Struppe hörte, wie ihr Mann draußen grüßte: „Guten Morgen, Tschilp! Guten Morgen, Tschülp! Guten Morgen Tschylptschylp! Was steht zu Diensten?“
„Wieder dieses Spatzenpack!“ schnaubte Frau Struppe drinnen. „Stehlen uns nur die Zeit! Als ob wir nur für sie da wären – Horch!“
„Tigertim wird gesucht!“ berichtete gerade Tschilp.
„Mit ’nem Steckbrief sogar!“ ergänzte Tschülp.
„Hat seine Gattin Dragona umgebracht!“ wollte Tschylptschylp nicht zurückstehen.
„Wer sagt das?“ behielt unser Nachtmeister einen klaren Kopf.
„Hast es ja gehört“, frechte der Spatz: „Ich!“
„Ein Zeuge genügt nicht“, ließ sich unser Stropp nicht beirren. „Du warst also dabei, als Dragona –“
„Wieso ich?“ konnte Tschylptschylp nicht recht folgen.
„Ich war nicht dabei –“
„Und woher weißt du dann“, hakte unser Igel nach, „daß Tigertim der Täter war?“
„Es – Es steht wohl“, stotterte der Spatz, „auf dem Steckbrief –“
„– daß Dragona ermordet –“
„Die Leiche haben wir sogar gesehen“, schaltete sich nun Tschilp ein. „Die lag auf der Straße.“
„Und Tigertim war der Mörder?“ fragte unser Nachtmeister. „Ist das erwiesen?“
„Alle Kater sind Mörder!“ antwortete Tschilp.
„Fressen die nicht Mäuse?“ meldete sich eine heisere Stimme aus dem Hintergrund.
„Und wie!“ erhoffte sich Tschilp einen neuen Verbündeten.
„Und von diesem Gemensch“, ein verächtlicheres Wort kannte Reineke anscheinend nicht, „läuft eins frei
herum? Was? Wie? Womöglich noch in unserem Reich? Was? Wie?“
„Es hängen jedenfalls überall Steckbriefe“, bot Tschilp als Bestätigung an.
„Stropp!“ hatte der Fuchs einen Sündenbock gefunden.
„Was hast du dazu zu sagen?“
„Ich hab’s auch eben erst erfahren“, entschuldigte sich der Igel.
„Was sagst du da?“ stellte sich der Friedensrichter, als habe er nicht richtig gehört. „Du – hast – es – eben – erst – erfahren? Stropp? Ist Er mein Nachtmeister –?“
„Tigertim?“ kleidete sich unser Stropp in Einfalt.
„Nein.“
„Stropp!“ fauchte Reineke. „Er weiß ganz gut, was ich meine! Stell Er sich nicht so dumm! Wenn Er, Stropp, ich wiederhole: Wenn Er mir diesen
Tigertim nicht bis zum nächsten Morgengrauen herbeischafft, tot oder lebendig, dann, dann – kann Er sich auf was gefaßt machen!
Verstanden?“
„Nö, eh, ja“, wußte unser Igel nicht genau zu unterscheiden. „Aber wir sind doch schon in den Winterferien
–“
„Erstens bist du hier!“ schnauzte der Fuchs. „Und
zweitens bist du immer im Dienst, wenn ich es so will! Verstanden?“
„Das hatte er so laut gebrüllt“, seufzte wenig später die Eheliebste drinnen, „daß auch ich es nicht überhören konnte. Ade, Winterferien! Wo willst du diesen – diesen –“
„Tigertim frißt tatsächlich Mäuse. Also“, kombinierte der bekannte Scharfsinn unseres Igels, „wird er sich
dort aufhalten, wo viele Mäuse sind. Auf die Bauernhöfe kann er nicht gehen, denn dort sind die Reviere bereits aufgeteilt. Also – muß er sich mit irgendeinem Heuschober begnügen, der draußen auf dem Felde steht. Ich werd’ mich mal auf den Weg machen.“
Lange brauchte unser Nachtmeister nicht zu suchen. Sein Scharfsinn führte ihn gleich zur richtigen Fährte und
– War das noch Tigertim, der stolze Kater? Der Liebling aller hochedlen
Katzendamen weit und breit?
„Miau! Miau!“ klagte da ein Häuflein Elend. „Hunger! Hunger!“
„Aber es ist doch noch Herbst“, wunderte sich unser Stropp. „Der Tisch ist reich gedeckt –“
„Von wegen!“ jammerte Tigertim. Weit und breit keine einzige Maus! Und wenn, dann dreht sie mir eine lange Nase!“
„Aber warum bist du dann überhaupt ausgebüxt?“
„Ach, die Menschen sind ja so falsch!“ ließ der Kater seine Lebenserfahrung sprechen.
„Keine Fälschung ohne Original“, war unser Igel nicht weniger lebensweise. „Komm, wir gehen ein Stück und
lassen uns den Trübsinn wegpusten.“
„Und stell dir vor“, berichtete unser Stropp seiner Eheliebsten später, „da kommen wir an so einem Steckbrief vorbei, und da steht gar nichts von einem Mord
drauf. Nee, ein kleines Mädchen weine sich fast die Augen aus vor Sehnsucht nach Tigertim. Wenn er das vorher gewußt hätte, so Tigertim, wäre er nicht davongelaufen. Und
Dragona war gar nicht seine Frau. Er sei zwar vor langer Zeit mal mit der gegangen, aber mit welcher Schönen hätte er das nicht
–“
„Stropp?“ nahm Frau Struppe einen ernsten Ton an. „Du
willst dir doch wohl nicht Tigertim zum Beispiel –“
„Ich und davonlaufen?“ kombinierte der berühmte Scharfsinn unseres Nachtmeisters. „Wo denkst du –“
„Stropp!“ zog plötzlich draußen ein schweres Gewitter auf. „Wo ist dieser Tigertim?“
„Zu Hause, Herr Friedensrichter“, beeilte sich unser Igel.
„Stropp!“ zürnte der Fuchs. „Was hab’ ich dir
gesagt?“
„Er möge geruhen“, kam nun die Eheliebste zur Hilfe, „Euch Tigertim herbeizuschaffen. Und das hat er
getan. Geht nur nach Dortwehr zum Bäcker, dort hat er ihn herbeigeschafft.
Und eigentlich müßtet Ihr meinem Mann dankbar sein, da er Euch das Leben gerettet hat. Denn hätte mein Stropp den Kater zu Euch
gebracht, ich weiß nicht! Ich weiß nicht!“
Nun, Dankesworte fielen von Reineke nicht; desto mehr von unserem Igel: „Ach, Struppe, wenn ich dich nicht
hätte –“
„– hätte ich dich auch nicht!“ ergänzte die Eheliebste.
© Stiftung Stückwerken, *24.+26.11.2011, freigegeben
am 20.6.2024
Qouz-Note: 3
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MamM 655 Die Ahnengalerie
„Was ist Größe?“ fragte Don Historino.
„So?“ war die Gewohnheit des Alten von der Halbinsel anscheinend stärker denn seine Fähigkeit, zuzuhören.
„Wer ist groß?“ versuchte der Besucher einen neuen Zugang.
„Gott“, brauchte der Alte nicht lange zu überlegen.
„Und unter uns Menschen?“
„Niemand.“
„Aber da gibt es doch sicherlich auch Unterschiede –“
„– in der Kleinheit?“ ergänzte der Alte und nahm sein altes, abgegriffenes Buch zur Hand, blätterte darin und
reichte es Don Historino: „Hier, wie liesest du?“
Und dieser las: „Der Größte unter euch soll euer Diener sein. – Seid Ihr also groß? Denn es heißt, Ihr tut sehr viel für andere, Eure Weisheit –“
„Es heißt!“ hielt der Alte fest. „Und was heißt, das ist
nur ein Name und keine Garantie für den Inhalt. Nein, ich bin nur ein Nichts –“
„Ihr ein Nichts?“ zweifelte der Besucher. „Was sollen da
erst andere –“
„Sollen!“ grollte der Alte und hatte anscheinend überhört, was eben vorgelesen worden war. „Niemand soll etwas. Aber du darfst das da einmal vorlesen. Hier, in jedem Vers nur den letzten Teil.“
Inzwischen hatte der Alte weitergeblättert, und Don Historino las: „So wäre ich ein tönend’ Erz oder eine klingende
Schelle. So wäre ich nichts. So wäre mir’s nichts nütze. – Aber immerhin, es steht im Konjunktiv –“
„– und ist nur allzuoft die Wirklichkeitsform –“, ergänzte der Alte, „bei mir. Gewiß, es könnte wohl anders
sein, aber –“ Und er begann zu erzählen:
Prinzessin Vera war überraschend Königin geworden. Für
manche wäre ein Traum in Erfüllung gegangen: in jungen Jahren bereits auf einem Thron sitzen zu dürfen! Vera erschien es aber anders:
Der schwere Thron saß nun auf ihr. Wie konnte sie das alles tragen? War es
überhaupt zu tragen?
Da kam es ihr in den Sinn, daß sie ja nicht die 1. war auf diesem Thron; oder unter diesem Thron, sondern daß
vor ihr schon manch anderer so etwas erlebt hatte. Sogar in diesem Schloß hier, das bereits seit Jahrhunderten als Residenz gedient
hatte.
Ah, die Ahnengalerie! kam es Vera in den Sinn, und sogleich schritt sie dorthin. Da waren also ihre
Vorfahren. In Lebensgröße. Unter jedem Bild waren vermerkt: Name, Titel,
Geburtstag, Todestag, Beginn und Ende der Regentschaft und – das Jahr, in dem das Bild gemalt worden war.
Seltsam – alles Männer. Manche in einer Rüstung, manche – nein, die andern – in Uniform, geschmückt mit vielen
Orden. Die Regenten selbst: leuchtend, als wären sie Lichter; der
Hintergrund dunkel. Als sei das Licht auf die Regenten beschränkt gewesen und hätte keine Kraft gehabt, die Umgebung zu
erhellen; vermutlich auch nicht zu erwärmen. Dennoch sahen die Menschen
stolz drein, in vollem Bewußtsein ihrer Größe.
Menschen? Oder waren es alle nur Personen, die vor dem Maler eine Rolle gespielt hatten? Oder hatte sie gar der Maler zu einer Person gemacht? War es kein Bewußtsein, sondern
Wahn? Oder hatte es ihnen der Maler angedichtet?
Etwas Dichtkunst mußte schon dabei Pate gestanden haben, denn niemand blickte sorgenvoll drein oder verbittert, niemand sah krank aus; alle glänzten und strotzten vor Lebenskraft.
Ein Bild jedoch hob sich von den andern deutlich ab. Es war größer, weil der Regent weder stand noch auf einem
Thron saß, sondern gerade sein Roß sich aufbäumen ließ und nach vorne wies, – als fordere er seine Soldaten auf: „Vorwärts! Folgt
mir!“ Laut Schild unter dem Bild mußte der Regent damals gerade 30 Jahre alt gewesen sein. Und noch etwas stand auf dem Schild: genannt der Große.
Ja, das stimmte: Einer von Veras Vorfahren war so genannt worden; sie erinnerte sich. Er hatte viele Kriege geführt. Er hatte angeblich auch manche Schlacht verloren, aber
die Kriege, die habe er alle gewonnen; so hieß es jedenfalls. Das
Reichsgebiet habe er sogar verdreifacht. Und hier auf dem Bild, – da war er noch jung, voller Pläne, hatte die meisten Erfolge noch vor
sich. Wie mochte er im Alter ausgesehen haben? Glücklich? Stolz auf seine Leistung? Seinen Nachruhm? Oder hatte ihn die Gicht geplagt? Die Blindheit? Schlaflosigkeit? Denn Kriege, – bedeuteten die nicht Tod, Raub, Trauer,
Flüche? Gerne hätte Vera ein Porträt des alten Großen gesehen.
Ah, und hier würde eines Tages ihr eigenes – Nein, da hing ja schon ein Schild. Sogar mit allen Daten,
dem Namen und – dem Zusatz: genannt die Kleine. Ob sich die Nachfahren ihrer geschämt hatten? Aber es mußte von ihr ein Gemälde gegeben haben. Ja, da stand es geschrieben: gemalt
im Todesjahr. Ob es noch irgendwo zu finden war?
Wo hättest du ausrangierte Bilder gesucht? Eben!
Also stieg die neue Königin auf den Dachboden und fand – 2 Bilder.
Das 1. Bild, laut einem Zettel, der an der Rückseite klebte: genannt der Große, gemalt in seinem letzten Lebensjahr. Welch eine Veränderung! Verloren schaute der Große die Betrachterin an. Hatte er vor etwas Angst? Wie ein Todeskandidat in seiner letzten Zelle, der die
Schritte des Henkers nahen hört. „Gerne täte ich dich begnadigen“, kam es Vera in den Sinn.
Und das 2. Bild? Das war also die Kleine?
Querformat! Ein Krankenlager? Das Sterbelager? Auf dem Bild war sie aber noch nicht tot. Das Gesicht dem Maler zugewandt. Ein altes Gesicht. Viele Falten. Besonders an den Augen. Und wie die Augen leuchteten! Ja, das war ein Licht, das wärmte sogar aus dem Bild heraus – ins Herz.
„Geschafft!“ Wer hatte das gesagt? Die
Kleine? Mit Schaudern verließ die neue Königin den Dachboden.
Aber dieses Schaudern währte nicht lange. Irgend etwas war in Vera hineingesunken. In ihr Herz? In ihren Sinn? Es war wie ein Funke, und er mußte Nahrung gefunden haben. Soviel Nahrung, daß er
Vera keine Ruhe ließ; und sie begann, in den Chroniken zu lesen.
Allein – auch für Chronisten gilt: Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’. Und anscheinend hatte der
Chronist für die Regierungsjahre der Kleinen im Sold von deren Erben gestanden. Fast den ganzen Königsschatz habe jene Kleine
verschwendet, hieß es da. Keinen einzigen Krieg habe sie geführt, keine einzige Eroberung gemacht. Statt Kasernen, Paläste und Kirchen habe sie Spitäler bauen lassen; Armenhäuser für
zwielichtiges Gesindel. Die eigene Familie habe sie hintenangesetzt. Statt
Feste zu feiern, habe sie Fastenzeiten eingeführt. Die prächtigen Kutschen ihrer Vorfahren habe sie verkauft. Und statt auf ihrem Thron die Reichen ihres Landes und die Mächtigen der Nachbarländer zu empfangen, habe sie Besuche gemacht. Nicht bei den Reichen und Mächtigen, sondern –
„Wahrscheinlich hatte sie der Liebe nicht“, unterbrach Don Historino, „sonst hätte ihr Chronist doch gewiß –“
„Wenn schon ihr Blick aus einem Bilde Funken sprühte?“ gab der Alte zu bedenken. „Freilich, der Funke muß auf brennbares Material fallen. Für Vera diesenfalls hatte
jenes Bild ein Ziel gesteckt“, und er geleitete den Besucher hinaus.
© Stiftung Stückwerken, *15.12.2011, freigegeben am 22.7.2024
Qouz-Note: 2
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Jüngstes Update:
21.7.2025