MamM – Mährchen an meine Mutter Nr 621 bis 640

 

 

 

 

Überblick MamM 621 bis 640

 

   621  Lehrers Wetter {i124} (*16.4.2011)

   622  Nachtmeister Stropp und der Fall Osterhase {s45} (*20.-21.4.2011)

   623  Des Lebens {i125} (*28.4.2011)
   624  Wo liegt denn Emmaus? {i126} (*4.-5.5.2011)
   625  Sold? {i127} (*12.-13.5.2011)

 

   626  Die Blume Lügenfroh {i128} (*20.5.2011)
   627  Augen der Freude {i129} (*26.-27.5.2011)

   628  Drehen und wenden {i130} (*9.6.2011)
   629  Siewalt und Erwine {i131} (*16-17.6.2011)
   630  Fürstlicher Segen {i132}

 

   631  Haben {i133}
   632  Ausgefallene Berufe {i134}
   633  Nachtmeister Stropp und der Fall Palumbina {s46} (*14.-15.7.2011)
   634  Nachtmeister Stropp und der Fall Tigertim {s47} (*21.-22.7.2011)
   635  Nachtmeister Stropp und der 2. Fall Tigertim {s48} (*29.7.2011)

 

   636  Wechsel auf das Leben {i135}
   637  Nachtmeister Stropp und der Fall Turnélda {s49}
   638  Nachtmeister Stropp und der Fall Makel {s50}
   639  Nachtmeister Stropp und der Fall Tigertomate {s51} (*25.-26.8.2011)
   640  5 Brüder {i136}

 

 


MamM 621  Lehrers Wetter

„Also, was da heute aus der Schule entlassen wird“, beschwerte sich Don Kollerino, „das taugt zu gar nichts!
     „So?“ schien es der Alte von der Halbinsel als Neuigkeit aufzunehmen.
     „Nehmt nur meinen neuen Lehrjungen“, belegte der Besucher seine These mit einem ihm einleuchtenden Beispiel, „der kann gar nichts –“
     „Warum hast du ihn dann eingestellt?“ wunderte sich der Alte.  „Fordert er dein –“
     „Es galt eben, gewisse Rücksichten zu nehmen“, rechtfertigte sich Don Kollerino.  „Sein Vater hat mir einmal –“
     „Vetternwirtschaft“, folgerte der Alte.  „Was beklagst –“
     „Nun, mit Samthandschuhen brauch' ich ihn nicht anzufassen“, goß der Besucher Wasser in den Vorwurf.  „Ich hab’ dem Jungen ganz deutlich meine Meinung gesagt.  Da kenn’ ich nichts!
     „Du hast doch nicht etwa –?
     „Du bist so dumm wie Bohnenstroh“, fuhr Don Kollerino fort.  „Ja, das hab’ ich zu ihm gesagt.  Du weißt nichts, du kannst nichts, und es sollte mich wundern, wenn du einmal die Gesellenprüfung –“
     „– mit dieser Ermutigung bestehen wirst“, ergänzte der Alte und begann zu erzählen:
     In den alten Zeiten war das nicht anders.  Der junge Rinaldo hörte von seinem Lehrer auch immer wieder: „Du kannst ja überhaupt nichts!  Aus dir wird nie etwas!
     Wozu sollte sich Rinaldo da noch anstrengen?  Immer wieder wurde ihm vor Augen gehalten, was er nicht konnte.  Und das mußte anscheinend so wichtig sein, daß niemand mehr von ihm etwas Lobenswertes erwartete.  Mancher ist darunter schon zusammengebrochen.
     Rinaldo gab sich jedoch nicht auf.  Zwar fand er keine Lehrstelle, nachdem er aus der Schule entlassen worden war, aber er brauchte dennoch nicht zu darben.  Er legte sich nämlich darauf, das Stehlen zu erlernen.  Und darin brachte er es bald zur Meisterschaft, ohne irgend jemandem Lehrgeld bezahlen zu müssen.
     Auf dieser Bahn hätte er bis an sein Lebensende weiterlaufen können, wenn – ja, wenn er sich mit Geld und Juwelen begnügt hätte.  Allein – ihm erging es nicht besser als vielen anderen jungen Männern: Sie wähnen, ein Herz erbeutet zu haben, und merken zu spät, selber Beute geworden zu sein.
     Nun, die schöne Ritessa war wirklich nicht zu verachten.  Aus edlem Hause, finanziell unabhängig, ein offener Blick –  Ach ja, ihre Augen!  In die hatte sich Rinaldo verguckt.
     Solche Augen belügen?  Nein, das konnte Rinaldo nicht.  Und wer kann schon vor einer Frau ein Geheimnis verbergen?  Also dauerte es nicht lange, bis Rinaldo sein Gewerbe entdeckt hatte.
     „Und du hast gar keine Gewissensbisse?“ fragte das Mädchen.
     „Gebissen wird nur, wer sich beißen läßt“, tat Rinaldo altklug.  „Was tu ich denn Böses?  Ich nehm’s nur von den Reichen, bin also im Grunde genommen noch ehrbarer denn ein Kaufmann;  denn der bereichert sich sogar an den Armen.  Ich dagegen nehme nur von dem Überfluß wie – ja, wie eine Steuer auf Luxusgüter.  Siehst du da drüben den reichen Kerl über den Markt gehen?  Wie er sich etwas auf seinen dicken Geldbeutel einbildet?  Paß auf, gleich bin ich bei ihm und werd ihn Demut lehren!
     „Und schon war Rinaldo hinübergesprungen, und –  Ach, erspar mir bitte, dir Ratschläge im Stehlen zu geben.
     „Aber es ist doch Diebstahl“, wandte Ritessa ein, als ihr Rinaldo zeigte, was er erbeutet hatte, „und gegen die Gebote.
     „Das sind nur Regeln, von denen es Ausnahmen gibt“, ließ Rinaldo keine Schuld auf sich kommen.  „Ich nehm’s ja auch für die Armen, denn der Geizkragen da gibt bestimmt kein Almosen –“
     „Nein“, bestätigte Ritessa, „aber wir wollen mal sehen, wie er sich schadlos hält.“  Und sie zog eine Glaskugel hervor, sprach einige sonderbare Worte und drehte die Kugel in eine bestimmte Richtung.  Und plötzlich war der Bestohlene in der Kugel ganz deutlich zu sehen.
     Er hatte seinen Verlust inzwischen bemerkt und schimpfte mit der Stadtwache.  Dann ging er in sein Kontor.  Dort warteten schon ein paar Tagelöhner auf ihn, aber er schickte sie wieder weg.  Er sei bestohlen worden und könne sie jetzt nicht entlohnen.
     Staunend mußte Rinaldo erkennen, daß sein Diebstahl wie ein Stein war, der, ins Wasser geworfen worden, immer weitere Kreise verursachte.  Rinaldo hatte den reichen Mann bestohlen, und dieser nahm’s sich wieder – nicht von den Reichen, sondern von denen, die schwächer waren als er.
     „Dann – dann hab’ ich also die ganze Zeit“, konnte sich Rinaldo nicht mehr vor der Wahrheit drücken, „letztendlich die Armen bestohlen?
     „Hast du denn sonst nichts gelernt?“ kürzte Ritessa die Selbstanklage.
     Und Rinaldo erzählte ihr, wie ihn sein Lehrer behandelt hatte.
     „Wie ein Frost in der Frühlingsnacht“, faßte das Mädchen zusammen, „während mir – ja, der gönnt er sanften Regen und warmen Sonnenschein.  Ich konnte auch vieles nicht.  Rechnen, nähen, backen, – darin waren die andern viel besser.   Aber dann bekamen wir eine Lehrerin, die nahm sich Zeit für uns.  Zeit, um in jedem seine besonderen Begabungen zu entdecken.
     „Und was hat sie bei dir gefunden?
     „Das müßte ich eigentlich dich suchen lassen“, lachte Ritessa.  „Aber ich will’s dir verraten.  Ritessa, sagte unsere Lehrerin zu mir, du hast ein gutes Auge für das Wesentliche;  aus dir wird bestimmt einmal eine gute Zeichnerin.  Das hatte ich bis dahin selber gar nicht gemerkt.  Aber nun war ich wie Dornröschen wachgeküßt worden, das Zeichnen machte mir Freude, ich wurde immer besser, und unsere Lehrerin ließ es nicht an Rat, Lob und Ermutigungen fehlen.  Und heute –“
     „Aber wenn du ein so gutes Auge hast“, bewies Rinaldo, daß auch er es noch nicht gelernt hatte, einem weiblichen Wesen unbegrenzt zuzuhören, „welche Begabung siehst du denn in mir?
     „Wenn du andern heimlich etwas wegnehmen kannst“, brauchte Ritessa nicht lange zu überlegen, „dann kannst du gewiß andern auch heimlich etwas geben.  Und da – damit könnte ich dich ganz gut gebrauchen.  Ich zeichne nämlich so nebenbei viele lustige Bilder;  und es gibt so viele traurige Menschen;  da könntest du –“
     „Hirngespinste!“ konnte Don Kollerino nicht mehr länger an sich halten.  „Wenn alle Menschen so dächten!
     „Er hat den Menschen Gaben gegeben“, zitierte der Alte, „einem jeglichen seine eigene Gabe, dem einen so, der andern so“, und er geleitete den Besucher hinaus.
© Stiftung Stückwerken, *16.4.2011, freigegeben am 20.7.2024
Qouz-Note: 3-

 


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MamM 622  Nachtmeister Stropp und der Fall Osterhase {s45}

„Stropp!  Stropp!“ – Das war keine Frage, das war ein Befehl.  Zwar klang die Stimme heiser, aber das tat ihrer Gefährlichkeit keinen Abbruch.  Und in diesem Ton ging es weiter: „Stropp!  Du kommst sofort hierher!
     Nun ja, sofort?  Dieses Wort bedarf der Auslegung, und der eine versteht’s so, der nächste anders, und unser Nachtmeister war Nächster.
     „Wo brennt’s denn?“ meldete er sich endlich.  „Mitten zu tagschlafender Zeit –“
     „Was hast du auch zu schlafen!“ schimpfte der Friedensrichter.  „Ein Nachtmeister hat immer im Dienst zu sein!
     „Und warum heißt er dann Nachtmeister?“ entfuhr es unserem Igel.
     „Frag nicht so dumm!“ drückte sich Reineke vor einer Antwort.  „Während du hier faul deinen Dienst verschläfst, sind dem Osterhasen die Ostereier geklaut worden –“
     „Also – während Ihr fleißig gewacht habt“, versuchte unser Stropp zu begreifen, „ist das passiert?  Ja, warum habt Ihr –?
     „Stropp!“ brüllte der Fuchs.  „Willst du mich auf den Arm nehmen?
     „Wer?  Ich?  Euch?“ wunderte sich der Igel.  „Wollt Ihr denn in den Schlaf –?
     „Stropp!“ brachte der Fuchs Zornesröte voll zur Geltung.  „Du gehst jetzt sofort zum Tatort!  Und wenn du bis zum Sonnenaufgang Täter und Beute nicht gefunden hast, dann kannst du was erleben!
     „Und was?“ fragte Frau Struppe, als ihr der Gatte Bericht erstattete.
     „Das hab’ ich vorsichtshalber nicht gefragt“, wollte unser Nachtmeister nicht den starken Mann spielen, „aber der Tod wird’s schon nicht sein.  Oder läßt sich der auch –?
     „Was mich an der ganzen Sache stutzig macht“, dachte die Eheliebste hörbar, „ist der Osterhase.  Glaubst du etwa an den Osterhasen?
     „Es gibt vieles“, blieb unser Igel bescheiden, „was die Schulweisheit nicht träumt.  Wenn der Herr Friedensrichter meint, es gibt einen –“
     „Meint?“ griff die Igelin auf.  „Er sagt es nur.  Und was Reineke sagt, –“
     „– muß nicht immer wahr sein“, ergänzte unser Stropp.
     „– ist aber immer aus einem ränkereichen Herzen geboren“, setzte Frau Struppe noch eins drauf.  „Wo soll denn dieser Osterhase wohnen?
     „An der Chaussee nach Feldgosse“, antwortete unser Nachtmeister.  „Sagt jedenfalls der Herr Friedensrichter.  Und der Täter sei gewiß auf der Chaussee gekommen.  Und ich soll deshalb da nach Spuren –“
     „Aha“, schien Frau Struppe ein Licht aufzugehen.  „Weißt du nicht, wie gefährlich das ist?  Ach, Stropp, ich seh’ – ich seh’ dich schon in deinem Blute – hmf – hmf – Blute liegen und mich – hmf – hmf – als Witwe – huhuhu –“
     „Was du alles siehst!“ blieb unser Igel nüchtern und bei klarem Kopf.  „Du solltest mal zu Dr. Reigel gehen und deine Augen untersuchen lassen.  Ich will dir sagen, wie es wirklich ist: Vor dir liegt kein Gatte in seinem Blute, sondern er steht in voller Manneskraft vor dir und denkt noch nicht einmal im Traume daran, sich mit seiner Witwe zu –“
     „Aber ich mein’ es doch nur gut mit dir“, rechtfertigte sich Frau Struppe nach der Frauen Weise.  „Reineke führt bestimmt irgend etwas im Schilde –“
     „Dann müssen wir einem Zweikampf eben aus dem Wege gehen“, setzte unser Stropp Klugheit vor Tapferkeit.  „Ich sah eben Reinerle zur Burg seines Vaters eilen.  Ob –?
     „Wir könnten die beiden belauschen –“
     „Wir?  Du in deinen Umständen?“ zweifelte unser Nachtmeister.
     „Aber du kommst gewiß zu spät“, ließ die Eheliebste ihren Glauben an die eigene Unersetzlichkeit nicht wanken.  „Bis du dich auf die Socken machst, –“
     „Vielleicht hat der Herr Friedensrichter noch nach seinem Mäusevieh gesehen“, hoffte unser Stropp, „und nicht den kürzesten Weg nach Hause eingeschlagen.
     Damit lag unser Igel nicht verkehrt.  Und als er selber sich an die Burg des Friedensrichter herangeschlichen hatte, konnte er noch Wichtiges erlauschen.
     „Der Kerl muß weg!“ sagte gerade Reinerle zu seinem Vater.  „Igel sind doch nur ein Landschaden!  Noch nicht einmal fressen lassen sie sich so einfach!  Überall diese widerlichen Stacheln!  Und was sich nicht fressen läßt und uns Füchsen nicht dient, ist ein Schädling!  Nimmt uns Luft, Wasser und Sonne weg, und manche Igel sollen sich sogar an Mäusevieh vergreifen.
     „Na ja“, stiftete der Friedensrichter Hoffnung, „ich denk’, der Stropp wird’s nicht mehr lange machen.  Entweder wird er bis morgen früh überfahren, und bei seiner Trotteligkeit ist das am wahrscheinlichsten;  oder – ich habe eine Handhabe, ihn auszuweisen –“
     „– und die ganze Sippschaft gleich –“
     „Feurio!  Feurio!“
     Nein, dies hatte keine Stimme gerufen, die zur Sippschaft des Friedensrichters gehörte.  Dennoch war die Wirkung gewaltig.  Alle Tiere, die zur freiwilligen Feuerwehr des Heidensteins gehörten, kamen herbeigeeilt und fanden – Richtig!  Unseren Nachtmeister!  Unseren Stropp, wie er versuchte, die Feuergefahr zu bannen.
     Selbst für einen Helden – wie unseren Igel – eine schier unlösbare Aufgabe.  Doch mit vereinten und kundigen Kräften war der Brand bald gelöscht.
     Unser Nachtmeister war der Held des Tages.  Was hätte geschehen können, wenn er den Brand nicht rechtzeitig entdeckt hätte!  Seiner einzigartigen Aufmerksamkeit war der Glimmstengel nicht entgangen, dem beinahe der ganze Bergwald zum Opfer gefallen wäre.
     „Glimmstengel?“ wunderte sich Frau Struppe, als ihr der Gatte Bericht erstattete.  „In der Nähe der Burg laufen doch gar keine Menschen herum.
     „Nein, aber Reinerle“, zeugte unser Stropp von seinem Scharfsinn.
     „Was hat der Sohn des Friedensrichter denn damit zu tun?
     „Och“, stapelte unser Nachtmeister tief, „auf dem Rückweg bin ich noch einmal Reineke begegnet und hab’ ihn so nebenbei gefragt, wie es seinem Sohn gehe.  Schlecht, meinte er;  Reinerle habe sich wohl mit irgend etwas den Magen verdorben.  Wahrscheinlich durch die ganze Aufregung.  Und schuld sei wieder einmal ich!  Was ich überhaupt in der Nähe seiner Burg zu suchen gehabt hätte?  –  Täter und Ostereier, hab’ ich geantwortet;  er selber hätte es mir ja aufgetragen.  Tscha, Reineke hatte mich mal wieder zum Fressen gern, –“
     „– den Retter des Waldes“ ergänzte Frau Struppe.  „Ach, lieber Stropp, ich bin ja so stolz auf dich!  Aber – werden Vater und Sohn sich nicht neue Heimtücke ersinnen?
     „Ach, Struppe“, schnurrte unser Stropp, „solange du bei mir bist, brauch’ ich davor keine Angst zu haben.
© Stiftung Stückwerken, *20.-21.4.2011, freigegeben am 17.6.2024
Qouz-Note: 3

 


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MamM 623  Des Lebens

„Habt Ihr heute schon gelebt?“ fragte Don Fallano.
     „Könnte ich es ändern?“ wich der Alte von der Halbinsel aus.
     „Dann frag’ ich eben: Wann lebt Ihr?“ nahm der Besucher einen neuen Anlauf.
    „Wenn überhaupt“, antwortete der Alte, „dann in der Gegenwart –“
     „Aber was macht dieses Leben aus?  Wie sollen wir leben?
     „Sollen?“ brummte der Alte.  „Nichts sollen wir!  Wir dürfen – leben.
     „Aber es muß dafür doch eine Norm geben –“
     „Was sagen denn die Leute?“ fragte der Alte.
     „Das ist unterschiedlich“, überlegte Don Fallano.  „Der Herr Pfarrer lebt wohl, wenn er gewaltig predigt und ihn die Zuhörerinnen vergöttern.  Die Sängerin lebt wohl in Gesang und Beifall.  Der Arzt, wenn er dem Tod einen Kranken von der Schüppe reißt.  Die Krankenpflegerin –“
     „Und die restliche Zeit?“ dachte der Alte hörbar.  „Sind sie dann tot?“  Und er begann zu erzählen.
     In den alten Zeiten war es Sitte, daß sich ein Mann, sobald er das entsprechende Alter erreicht hatte, eine Frau zur Eheliebsten suchte.  Anderenfalls wurde aus ihm ein mürrischer Hagestolz;  oder ein trübsinniger Pantoffelheld, weil er mit dem vorliebnehmen mußte, was ihm seine Eltern ausgesucht hatten.
     So weit wollte es Prinz Stentano nicht kommen lassen und machte sich deshalb auf den Weg.  Zuerst kam er nach Bestiame, einem großen Stadtstaat, und beschaute sich die Menschen, wie sie dort lebten.
     „Denn“, so sprach er zu sich, „gefällt es dir hier nicht, wird dir die Prinzessin auch nicht gefallen, und du kannst dir den Gang auf das Schloß sparen.
     Und er schaute und lauschte und wunderte sich.  Die Bürger von Bestiame schienen auf nichts anderes erpicht zu sein, als gut zu speisen, gut zu trinken und gut zu schlafen.  Und das alles pünktlich!  Läutete die Stadtglocke zur Mahlzeit, dann wurde jede Arbeit beiseite gelegt, jedes Gespräch beendet.  Und wäre es einem Pfarrer jemals in den Sinn gekommen, weiterzupredigen, er hätte vor einer leeren Gemeinde gestanden.  Aber selbstverständlich kam so etwas dort auch einem Pfarrer niemals in den Sinn.  Essen und Trinken gingen immer vor Und das Schlafen.  Und –
     Stentano verglich das, was er in Bestiame sah, mit dem, was er bisher gekannt hatte, und sprach zu sich: „So lebt bei uns nur das Vieh: Es frißt, es säuft, es verdaut, es schläft, es freit und läßt sich freien.  Nein, das wäre kein Leben für mich.
     Und er wanderte weiter und kam nach Malochien, ebenfalls ein großer Stadtstaat, der sich aber von anderen durch seine vielen Fabriken unterschied.  Auch hier wollte sich Stentano erst einmal die Menschen besehen, bevor er sich für einen Gang auf das Schloß entscheiden könne.
     Dieses Besehen war gar nicht so einfach, denn fast immer waren die Gassen menschenleer.  Die meiste Zeit verbrachten die Menschen nämlich in den Fabriken, und sie gingen allenfalls zum Schlafen nach Hause.  Nach Hause?  War nicht die Fabrik ihr Zuhause?  Manche sahen wochenlang kein Tageslicht;  und waren sie doch einmal im Hellen unterwegs, so waren ihre Augen auf den Boden geheftet und blickten nicht.  Ständig waren die Gedanken darauf gerichtet, in vorgegebener Zeit noch mehr herzustellen oder eine vorgeschriebene Leistung noch schneller zu erbringen.  Die Folge: ein ständiges Hetzen und Hasten, in das bereits die Kinder eingebunden waren und von dem die Alten nicht mehr lassen konnten.
     Und als Stentano einmal einem hastenden Arbeiter im Wege war und beinahe umgestoßen worden wäre, entfuhr es ihm: „Langsam, langsam!  Zu unserer Trauerfeier kommen wir immer noch rechtzeitig.
     Nein, das war kein Leben für Stentano: ohne Frieden, ohne Freiheit, selbst die wenigen Freuden wirkten zerhetzt und verzerrt.
     Also ging Stentano nicht mehr auf das Schloß, sondern wanderte weiter nach Pompone, wieder ein großer Stadtstaat, aber viel prächtiger denn die andern.  Prächtig die Kleidung der Bürger.  Prächtig die Kutschen.  Prächtig die Paläste – wenn sie fertig waren;  aber eigentlich wurden sie nie fertig, denn ständig mußte ausgebessert, ausgebaut und neu gebaut werden.  Jedoch – die ganze Pracht war geborgt oder gestohlen, oder gelogen.  Es kam nur auf den äußeren Schein an.  Jeder wollte mehr gelten als die andern.
     Stentano konnte nur mit dem Kopf schütteln: „Welch ein Schwachsinn!  Da macht sich jeder von der Meinung derer abhängig, die er eigentlich verachtet und die er täuschen will.
     Nein, auch so konnte Stentano nicht leben.  Er verließ die Stadt und wanderte weiter über Wiesen und Weiden und durch Wälder.  Und als ihn dürstete, da suchte er einen Brunnen.
     Und siehe, als er endlich einen Brunnen fand, da saß dort die Prinzessin Fontana.  Und sie schöpfte für ihn und reichte ihm einen Krug voll Wasser des –
     „Blablabla!“ unterbrach Don Fallano.  „Und wenn sie nicht gestorben sind, so –“
     „– leben sie noch heute“, ergänzte der Alte.  „Auf das Heute kommt es an und darauf, nicht zu sterben“, und er geleitete den Besucher hinaus.
© Stiftung Stückwerken, *28.4.2011, freigegeben am 23.7.2024
Qouz-Note: 3-

 


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MamM 624  Wo liegt denn Emmaus?

„Was der getan hat –“, ereiferte sich Don Simulino, „da gibt’s nur eins: Kopf ab!
     „So?“ hielt der Alte von der Halbinsel sein Urteil noch zurück.
     „Hier hat er den Tod verdient, und drüben –“
     „Haben wir den nicht alle vedient?“ verpackte der Alte seine Ansicht als Frage.
     „Ich jedenfalls habe noch niemanden umgebracht –“
     „– und mußt dennoch sterben“, ergänzte der Alte.
     „– um ewig zu leben“, gab sich der Besucher nicht geschlagen.
     „So?“ wunderte sich der Alte.  „Wer stirbt, dem geschieht’s, um ewig zu leben?  Dann wird also auch jener, den du zum Tode –“
     „Nein, das ist etwas anderes“, unterschied Don Simulino.  „So etwas kommt in die Hölle –“
     „So etwas?“ blieb der Alte hängen.  „Ist es gar ein Kind?
     „Wer so etwas getan hat“, entrüstete sich der Besucher weiter, „der hat die Bezeichnung Mensch verwirkt!
     „Du bist stolz darauf, ein Mensch zu sein?
     „Ihr etwa nicht?“ fragte Don Simulino zurück.
     Mal wieder nahm der Alte sein abgegriffenes Buch zur Hand, schlug es auf, blätterte darin und reichte es schließlich dem Besucher: „Hier, wie liesest du?
     „Da ist nicht, der gerecht sei, auch nicht einer.“  Der Besucher hielt inne.  „Ja, das galt den Juden.  Aber wir, wir sind doch Christen und gerecht durch den Glauben.
     „Und wenn jener, den du zum Tode verurteilt hast“, gab der Alte zu bedenken, „auch glaubt?
     „Dann hätte er so etwas nicht getan!“ war sich Don Simulano sicher.  „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!
     „Die falschen Propheten“, ergänzte der Alte, der anscheinend das Sollen dieses Mal überhört hatte.  „Denn sind die Früchte menschlich, ist der Prophet kein Gott, da gebe ich dir recht.  Was aber ist göttlich?“  Und er begann zu erzählen:
     In den alten Zeiten waren die Soldatenwerber nicht zimperlich, wenn es galt, neues Menschenmaterial zu beschaffen.  Und in den Augen der Fürsten, die Krieg führten, war ein Soldat sowieso mehr Material denn Mensch.  So fand sich auch der junge Windmantel eines Morgens in einer Uniform wieder, obwohl er noch tags zuvor für sein Leben ganz andere Pläne gehabt hatte.  Und auf ging es in den Krieg!  Marschieren, gehorchen, funktionieren, – das schien nun sein Lebenszweck zu sein;  wie ein Automat.
     Und was solchen Automaten alles gestattet war!  Sämtliche göttlichen Gebote waren aufgehoben, und niemand galt als schuldig, solange er sich nicht seinen Vorgesetzten widersetzte.
     Doch irgendwann war auch dieser Krieg vorbei, und Windmantel wurde nicht mehr gebraucht.  Und wer nicht mehr gebraucht wird, der erhält auch keine großen Reichtümer zum Abschied.  Ungekämmt und unrasiert, mit zerschlissener Kleidung und schadhaftem Schuhwerk stand Windmantel auf der Straße und wußte nur eines: Das Kriegshandwerk durfte er nicht mehr ausüben.  Was nun?
     Da kam es ihm in den Sinn, daß er als Soldat doch einiges gelernt habe, was ihn anderen Aufgaben empfehlen müsse.  Und weil er in der Ferne den Turm einer Abtei entdeckte, ging er stracks darauf zu und sprach an der Pforte vor.
     Er habe das Gehorchen gelernt, warb er für sich, und könne deshalb dem Kloster gute Dienste leisten.
     „Gute Dienste?“  Der Pförtner meinte, seinen Ohren nicht trauen zu können.  „Du bist Soldat gewesen, an deinen Händen klebt Blut, hast Verbrechen begangen, an die ich gar nicht zu denken wage, und redest von guten Diensten?
     „Aber ich bin doch gar kein Soldat mehr“, wandte Windmantel ein.
     „Die Katze läßt das Mausen nicht“, suchte der Pförtner Hilfe in den Sprichwörtern.  „Nein, nein, wir sind eine fromme Bruderschaft und können einen Massenmörder nicht bei uns aufnehmen.  Zieh’ Er Seine Straße!
     „Aber auch die Kirche hat Kriege –“
     „Darüber mag unser Kirchenoberhaupt befinden;  uns steht darüber kein Urteil zu.  Wir sind friedliebend!  Deshalb fort mit Ihm!  Oder ich lasse die Hunde los!
     „Und ich hatte hier meinen Frieden finden wollen“, brummte Windmantel in seinen Bart.  „Dann will ich eben in der Hölle vorsprechen.
     Und du magst es glauben oder nicht, den Teufeln war er willkommen.  Allerdings – sein Äußeres mußte er grundlegend ändern.  Sein Haar wurde geschnitten, sein Bart abrasiert – bis auf einen Schnurrbart, weil der unfreiwillige Emotionen gut verdecken kann.  Außerdem erhielt Windmantel blaue Augen, um als ehrlich zu gelten, Kleidung und Schuhwerk nach der neuesten Mode der Wohlhabenden, einen Heckpfennig und eine prächtige Kutsche.  Allerdings nur, solange er der Hölle gute Dienste erweise.
     Was waren das aber für gute Dienste?  Nun, Windmantel habe der Hölle neue Seelen zuzuführen.  Nein, selbstverständlich stellte er sich nicht auf den Marktplatz, um für die Hölle zu werben;  denn Offenheit ist keine teuflische Eigenschaft.  Nun, Windmantel wählte ein Gewerbe, das unter den Menschen als ehrbar gilt: Er eröffnete eine Wechselbank.
     Kaum ein Mensch kommt ohne sie aus.  Und so traf auch Windmantel Reiche und Arme, Gutes und Böses, eben jedermann.  Und alle gewannen auf Anhieb grenzenloses Vertrauen zu seinen ehrlichen Augen.  Ja, sie waren süchtig danach, sich im Glanze seines Wohlstandes zu sonnen.
     Obwohl – wer ein Bankgewerbe aufnimmt, beherrscht es damit noch nicht.  Windmantel unterliefen etliche Fehler.  Schwere Fehler.  Aber gerade das kam der Hölle zugute!  Stell dir vor, du vertraust einer Bank alle deine Ersparnisse an, und wenn du sie brauchst, sind sie nicht mehr da.  Oder du hast einen Kredit aufgenommen, und er wird dir vorzeitigt gekündigt, und du weißt nicht, wie du ihn zurückzahlen kannst.  Welch eine Verzweiflung ist die Folge!
     Wer dann einen Schwächeren kannte, der hielt sich an diesem schadlos.  Wer aber selbst der Schwächste war oder zumindest keinen Schwächeren kannte?  Und die Ungerechtigkeit nahm überhand.  Es war wie Krieg, nur ohne Soldaten;  oder?
     „Wo ist Gott?“ fragte mancher.  „Wie kann er so etwas zulassen?
     „Es gibt keinen Gott!“ lautete die Antwort derer, die sich für stark hielten.  „Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner!
     Und Windmantel?  Seltsamerweise galt er weiterhin als ehrbar und angesehen.  Selbst in seinen Augen, bis – er eines Nachts einen besonderen Traum hatte.  Er sah nämlich, wie ein Schuldner, dem der Kredit gekündigt worden war, in seiner Verzweiflung Anstalten traf, seine ganze Familie und dann sich selbst umzubringen.
     „Mein Gott!“ schreckte Windmantel auf.  „So etwas habe ich noch nicht einmal als Soldat getan!  Das ist ja schlimmer als Krieg!  Und so etwas habe ich verschuldet!“  Und er eilte zu dem Familienvater und kam gerade noch –
     „Und was ist daran göttlich?“ konnte Don Simulino nicht mehr an sich halten.
     „Daß Gott nicht aufgibt, nicht verdammt“, antwortete der Alte, „und wir tun gut daran, aufzumerken, wenn er mit uns redet“, und er geleitete den Besucher hinaus.
© Stiftung Stückwerken, *4.-5.5.2011, freigegeben am 23.7.2024
Qouz-Note: 3-

 


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625  Sold?

 

„Ich weiß nicht, wie Ihr darüber denkt“, zeigte sich Don Frontino nicht ganz sicher, „aber ich halte die Sünde immer mehr für eine Erfindung der Kirche.
     „So?“ äußerte der Alte von der Halbinsel seine Ansicht noch nicht.
     „Die dummen Schäfchen werden eingeschüchtert“, wurde der Besucher deutlicher, „und wer eingeschüchtert ist, läßt sich besser –“
     „– was auch außerhalb der Kirche bekannt ist“, ergänzte der Alte.
     „Aber dort wir nicht mit der  e w i g e n  Verdammnis gedroht“, unterschied Don Frontino.
     „– was bei denen, die an kein ewiges Leben glauben, gar nicht nötig ist“, verglich der Alte.  „Die Drohung mit irdischer Verachtung und Ausgrenzung genügt vollauf, sogar bei denen, die ein Leben nach dem Tode nicht ausschließen wollen.
     „– und aufatmen kann nur“, fuhr der Besucher vorsichtshalber fort, „wer die Heilsmittel in Anspruch nimmt, welche die Kirche zur Verfügung stellt.
     „Was Sünde wäre“, urteilte der Alte.
     „Was?  Die Kirche sündigt?“ wunderte sich Don Frontino.
     „Wer gegen das 1. Gebot verstößt“, antwortete der Alte, „und sich für Gott ausgibt, sündigt.
     „Die Kirche eine Sünderin!“ konnte sich der Besucher kaum fassen.  „Das ist ja ganz was –“
     „So habe ich das nicht gesagt“, stellte der Alte richtig, dafür ist mir Kirche ein viel zu mehrdeutiger Begriff.  Mir geht es nicht um Täter, sondern um das Verhalten, die Sünde –“
     „Und was ist Sünde?“ unterbrach Don Frontino.
     „Alles, was von Gott trennt“, antwortete der Alte.
     „Und wer nicht an Gott glaubt“, überlegte der Besucher, „ist der auch ein Sünder?
     „Sünder sind wir alle –“
     „– aber die einen sind zerknirscht und ängstlich“, unterschied Don Frontino, „nämlich, die in die Kirche rennen;  und die andern sind glücklich und frei, nämlich alle, die gar nicht an Gott glauben.
     „Na, da kennst du manchen Vereinsmeier nicht“, lachte der Alte, „der sich in der Kirche emporgearbeitet hat.  Da gibt es etliche, die alles andere als zerknirscht und ängstlich aussehen.  Und wer nicht an Gott glaube, sei glücklich und frei?
     „Wenn er sich durch die Drohungen der Kirche nicht einschüchtern läßt“, ergänzte der Besucher.
     Statt einer Entgegnung nahm der Alte sein abgegriffenes Buch zur Hand, schlug es auf, blätterte und reichte es dann weiter: „Hier, wie liesest du?
     „Denn der Tod ist der Sünde Sold;  Don Frontino hielt inne.  „Wie ist denn das zu verstehen?
     „Ganz einfach!“ antwortete der Alte.  „Wer in den Dienst der Sünde tritt, wird –“
     „– mit dem Tod belohnt?“ zweifelte der Besucher.  „Dann müßten wir ja alle tot sein;  denn Ihr habt selbst eben gesagt, daß wir alle –“
     „Sieh es mal so“, versuchte der Alte zu helfen.  „Wer der Sünde dient, lebt nicht, – soweit er keinen anderen Sold bezieht und dieser in Leben besteht oder sofern ihm niemand das Leben schenkt“, und er begann zu erzählen:
     Beverino aber suchte das Wasser des Lebens, „denn“, so sprach er zu seiner Fee, „wenn ich das finde, wird’s mir an keinem fehlen.
     „Wer suchet, der findet“, freute sich die Fee über dieses Ziel und schickte Beverino auf die Wanderschaft.
     Der erkannte bald, daß zwar alle Menschen immer wieder durstig werden, aber nach dem Wasser des Lebens schien sonst keiner zu suchen.
     Es wurde ja auch viel geboten, vor allem in den Städten.  Allenthalben saßen Händler an den Hauptstraßen und boten ihre Getränke feil.  Obwohl – feil heißt eigentlich käuflich, doch viele Händler priesen ihre Ware als umsonst an.
     Und wer’s annahm, der schien auch gar nichts bezahlen zu müssen, sondern wurde sogar mit Kannen und Kesseln ausgerüstet und als Reisender losgeschickt.
     Beinahe wäre auch Beverino in solche Dienste getreten, doch – war’s die Fee oder ein plötzlicher Gedanke, jedenfalls entschloß sich Beverino, erst einmal abzuwarten.  „Mal sehen, was diese Getränke mit den Menschen machen“, sprach er zu sich und folgte heimlich dem einen oder anderen.  Und sonderbar: Die Wirkungen waren nicht gleich.
     Da gab es einen Trank, der schien den Menschen einen Giraffenhals zu geben, denn sie blickten auf alle anderen hinab.  „Seht her“, sprach jeder Liebhaber dieses Getränks, „ich bin der Größte.  Und wenn auch ihr von diesem Trank zu euch nehmt, könnt ihr ebenfalls groß werden, ja, fast so groß wie ich.“  Und viele scharten sich als seine Anhänger um ihn, verehrten ihn und wünschten sich nur eins: genauso groß zu werden, ja, vielleicht noch ein bißchen größer.  Wer sich aber in den Weg stellte, lief Gefahr, niedergetrampelt zu werden.
     Zunächst mußte Beverino über solche Menschen staunen, doch dann verglich er sie mit den Bäumen und Bergen und konnte nur noch den Kopf schütteln: „Was sind das für Narren!  Dünken sich so groß und sind doch so winzig.  Als ob sie gar nicht bei sich selbst sind.  Ist das noch ein Leben?
     Und Beverino gewahrte, daß solche Menschen weder Heim noch Zufluchtsorte hatten und nur Zutrauen zu ihrer eigenen Kraft, die in Wahrheit immer wieder an ihre Grenzen stieß und Schwäche war.  Hauptsache, der Schein von Stärke wurde aufrechterhalten.  Doch irgendwann kam jeder an einen Graben, übersah ihn, stürzte und stand nicht wieder auf.
     „Warum hilft denen keiner?“ fragte sich Beverino, denn er begann Mitleid zu empfinden.
     Wer hätte überhaupt helfen können?  Etwa die von der anderen großen Gruppe der Trinkenden?  Diese schienen Scheuklappen zu tragen und stur auf den Boden zu schauen.  Selbst wenn sie etwas von ihren Gefäßen ausschenkten, blickten sie niemanden an.  Und wer ihren Trank annahm, wurde genauso.
     Diese Menschen, so gewahrte es Beverino bald, waren zu viel bei sich selbst und hatten ebenfalls weder Heim noch Zufluchtsorte, sondern stießen ständig wie Kegel gegeneinander.  Und fielen sie um, so kümmerte es niemanden, als hätte es sie nie gegeben.
     Und Beverino taten diese Menschen leid.  Deshalb versuchte er, die Quellen ausfindig zu machen, von der die meisten Menschen ihren Trank erhielten.  Allein – es gab keine Quellen, denn für beide Gruppen wurde der Trank aus Zisternenwasser zubereitet.
     „Gibt es etwa gar keine Quelle des Lebens?“ fragte Beverino bestürzt.
     „Doch, Bruderherz“, sprach ihn plötzlich eine Wanderin an.
     Und Beverino blickte auf und entdeckte einen Menschen ohne Giraffenhals und ohne Scheuklappen, der ihn freundlich anblickte und ihm einen Becher frischen Wassers reichte.
     „Und dahinten ist die Quelle“, sprach die Wanderin, „dort findest du auch Krüge.  Und wenn du möchtest, so wollen wir gemeinsam ausgehen und schauen, wem wir noch helfen –“
     „Und wo bleibt der Sold?“ wollte der Besucher nicht länger warten.
     „Sold?“ griff der Alte auf.  „Der wird Söldnern – allenfalls bis zum Tode;  den Kindern aber werden die Gaben und das Leben.“  Und er geleitete den Besucher hinaus.
© Stiftung Stückwerken, *12.-13.5.2011, freigegeben am 23.7.2024
Qouz-Note: 3

 


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MamM 626  Die Blume Lügenfroh

„Ich denk’ immer häufiger daran, die Zeitung abzubestellen“, zeigte sich Don Spruzzatino mit der Wirklichkeit verbunden.
     „So?“ wollte der Alte von der Halbinsel weder loben noch tadeln.
     „Da wird doch nur noch gelogen“, nannte der Besucher einen Grund.
     „Alle meine Entchen –“, stimmte der Alte an.
     „Ja“, lachte Don Spruzzatino, „schwimmen in der Zeitung, und niemand merkt es –“
     „Heißt du niemand?“ fragte der Alte.
     „Viele sind’s jedenfalls nicht“, lockerte der Besucher seinen Pessimismus, „und die Zeitungsleute gestehen ihre Enten auch nicht mehr ein.  Die Wahrheit hat eben keinen Wert mehr –“
     „Dann müßte sie sehr häufig sein“, folgerte der Alte.  „Vielleicht ist sie es ja auch, nur wir bemerken es nicht.“  Und er begann zu erzählen:
     Wenn es wahr ist, so lebte in den alten Zeiten ein junger Mann mit Namen Pagheno.  Und weil schon damals das Manna nicht mehr vom Himmel regnete, mußte er sich irgendwie sein täglich’ Brot verdienen.  Allein – Pagheno war ein sonderlicher Mann: nicht so wie die vielen, die auf den Gassen hasten und hetzen und doch nicht nach Hause kommen.  Und was anders ist, davor haben die Brotherren hierzulande bekanntlich seit alters Angst.  Pagheno konnte also vorsprechen, wo er wollte, niemand gab ihm Arbeit.
     Niemand?  Nun, einer wollte ihn schließlich doch in seine Dienste nehmen;  einer, den die Maler gerne mit Hörnern und Pferdefuß darstellen: Niemand Kainer.
     Dieser Niemand also gab Pagheno eine Blume und sandte ihn aus zu den Menschen: „Und wer dich anlügt, dem schenk diese Blume;  und dann hol dir bei mir eine neue.
     Ob Pagheno seine Blume los wurde?  Nun, wir wollen hören.  Zunächst klopfte er an die Tür eines Zeitungsschreibers.
     „Lügen Sie?“ fragte der jung Mann ohne Umschweife.
     „Wo denkst du hin“, antwortete Dr. Spumando.  „Ich halte mich nur an die Tatsachen –“  Und schon hielt er eine Blume in den Händen.  Und da sie bei seinen Worten gerade aufgeblüht war und lustig anzusehen,  nahm er sie mit herein und stellte sie auf seinen Schreibtisch.  Und sonderbar, er bekam sogleich Lust, einen neuen Artikel zu schreiben, und die Wörter flossen ihm nur so aus der Feder.
     Welche Wörter, willst du wissen?  Führende: Wir, wissen, alle, immer, nie, offensichtlich, muß, genau, man, Mörder, Selbstmörder, Wahrheit –  Und bei jedem dieser Wörter ging ein Wind durch das Zimmer, nahm Samen von jener Blume auf und streute ihn auf das Papier, an dem Dr. Spumando gerade schrieb.  Und mit dem Papier kam der Samen in die Druckerei, dort auf die Zeitungen und mit den Zeitungen unter die Menschen.  Und wo er bereiteten Boden fand und gepflegt wurde, da ging er auf und wuchs zu einer neuen Blume.
    Inzwischen hatte sich Pagheno eine weitere Blume geholt und an die Tür eines Dichters geklopft.  Nun, ein gewöhnlicher Dichter war Herr Büttler nicht, sondern einer, der gleich einer Spinne den Kaufleuten die Werbetexte webt.
     „Lügen Sie?“ fragte ihn Pagheno.
     „Wo denkst du hin“, antwortete Herr Büttler.  „Ich unterrichte nur –“  Und schon hielt auch er eine Blume in den Händen, fand ihre Blüte lustig anzusehen und trug sie auf seinen Schreibtisch.  Und auch er verspürte sogleich Lust, neue Texte zu – weben.
     Welche Wörter ihm aus der Feder flossen?  Nun, er arbeitete für mehrere Kaufleute und mußte da schon gewisse Unterschiede machen.  Aber einige Wörter waren besonders häufig: billig, preiswert, günstig, tiefst, sparen, Qualität, höchst, exklusiv, echt, erlesen, unbedenklich, gesund, sicher, völlig, rundum, sorglos, frisch, natürlich, schonend, muß, dein, Wahrheit –  Und wieder ging ein Wind durch das Zimmer, nahm Samen von jener Blume und streute ihn auf die Texte.  Und mit den Texten kam der Same unter die Menschen, ging auf, wo er Nährboden und Pflege fand, und vermehrte sich.  Und alles sah so harmlos aus!
     Inzwischen hatte Pagheno die 3. Blume abgeholt und an die Tür eines Pfarrers geklopft.
     „Lügen Sie?“ fragte ihn Pagheno.
     „Wo denkst du hin“, antwortete Pfarrer Sidendo.  „Ich verkündige nichts – als die reine Lehre.
     „Nichts“, wiederholte der junge Mann, „als reine Lehre?“ und übergab seine Blume.
     Auch Pfarrer Sidendo fand die Blume, die gerade aufgeblüht war, lustig anzusehen und stellte sie auf seinen Schreibtisch.  Er saß gerade an einer Grabrede und hatte sich mit ihr zuvor sehr schwer getan.  Doch nun flossen und purzelten die Wörter aus seiner Feder wie Zisternenwasser.
     Welche Wörter, willst du wissen?  Herzlich, zutiefst, wir, wissen, gewiß, immer, nie, bleibend, geloben, treu, rein, Hochachtung, ehrlich, man, Himmel, Wahrheit –  Und auch hier streute der Wind Samen jener Blume in den Text hinein.  Und manche Zuhörer nahmen jene Wörter bereitwillig auf und bewegten sie in ihrem Herzen und mit ihnen jenen Samen.
     Und Pagheno?  Der wollte einen neue Blume holen.  Aber unterwegs begegnete ihm ein Mädchen, das ihn wohl beim Pfarrer hatte vorsprechen gesehen.  Und ohne Scheu fragte es, was er beim Pfarrer abgegeben habe.
     „Die Blume Lügenfroh“, antwortete Pagheno, „die darf ich jedem schenken, der lügt.  Lügst du auch?
     „Nun ja“, wand sich das Mädchen, „alles ist nicht immer ganz wahr, was ich sage.  Aber froh macht mich das nicht, weil – weil es irgend etwas zerstört.  Wenn alle lügen, wer kann da noch dem andern glauben?  Ja, wer kann sich selbst noch glauben?  –  Nein, mir ist, als sei sogar der Name deiner Blume eine Lüge.  Komm, wir wollen eine Blume suchen, die –“
     „Sind Eure Mährchen nicht auch lauter Lügen?“ konnte Don Spruzzatino nicht mehr an sich halten.
     „An ihren Früchten kannst du das überprüfen“, schmunzelte der Alte und geleitete den Besucher hinaus.
© Stiftung Stückwerken, *20.5.2011, freigegeben am 26.7.2024
Qouz-Note: 2+

 


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MamM 627  Augen der Freude

„Kann sich ein Reicher in das Himmelreich einkaufen?“ fragte Don Pikkolino.
     „Ich kann es nicht ausschließen“, blieb der Alte von der Halbinsel vorsichtig.
     „Aber –“, begann der Besucher zu brausen, „aber das wäre sehr ungerecht!  Wir kleinen Leute plagen uns im Leben ab und kommen ständig zu kurz, und im Himmel sind wir auch wieder die Dummen?  Seid Ihr etwa auch Anhänger dieser materialistischen und –“
     „Ich habe nicht behauptet“, stellte der Alte richtig, „Reichtum bringe in den Himmel;  zumindest in den, welchen du meinst.  Allein – hier, wie liesest du?  Und er nahm sein abgegriffenes Buch zur Hand, schlug es auf, blätterte darin und reichte es dem Besucher.
     Und dieser las: „Abermals ist gleich das Himmelreich einem Kaufmann, der gute Perlen suchte.  Und da er eine köstliche Perle fand, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie.
     „War dieser Kaufmann arm?“ fragte der Alte.
     „Ist nun das Himmelreich gleich dieser Perle“, flüchtete sich Don Pikkolino in Spitzfindigkeiten, „oder gleich dem Kaufmann?
     „Vielleicht sowohl als auch“, folgte der Alte nicht.  „Auf jeden Fall ist ein Gleichnis nicht gleich einem Bilderrätsel;  ein Mährchen übrigens auch nicht.“  Und er begann zu erzählen:
     Sobald sie geboren wurden, lebten, oder so du willst: wohnten, in Mondanien 3 Menschen, denen es dort anscheinend nicht gefiel.  Denn warum machten sie sich auf den Weg nach Tschelonien?
     Erikko, Don Erikko, war der 1., der an der Grenze ankam.  Er war nämlich in Mondanien zu viel Geld gelangt und nutzte es nun, möglichst schnell vorwärts zu kommen;  zunächst 8spännig, dann in einer Sänfte, und nachdem er die Träger großzügig entlohnt hatte, ging er die letzten 3 Schritte zu Fuß.
     Fest rechnete er damit, erwartet zu werden, doch das Grenztor blieb verschlossen.  Erst als er kräftig anklopfte und „Heda, aufgemacht!  Ich bin’s!“ rief, öffnete sich eine kleine Luke neben dem Tor, und der Torhüter schaute heraus.
     „Was will – der Herr?“ fragte der Torhüter.
     „Na, hinein;  was sonst?“ antwortete Don Erikko ungeduldig.
     „Ich kenne den Herrn nicht –“
     „Was, du kennst mich nicht?“ wunderte sich Don Erikko.  „Ich bin doch der reiche Herr –“
     „Ja, wie ein Herr sieht der Herr auch aus“, bestätigte der Torhüter.  „Das hab’ ich gleich gesehen.  Aber ich kenne den Herrn trotzdem nicht –“
     „Aber ich habe doch eurer Botschaft in Mondanien viel Geld gespendet“, erinnerte der reiche Mann.
     „Das mag sein“, wollte der Torhüter nicht ausschließen, „aber meines Wissens sind unsere Botschafter angewiesen, kein Geld anzunehmen, auf jeden Fall sich nicht kaufen zu lassen.  –“
     „Was?“ verstand der Reiche die Welt nicht mehr.  „Alle meine Spenden sollen umsonst gewesen sein?
     „Das müßte der Herr mit den Botschaftern ausmachen“, wimmelte der Torhüter ab.  „Uns hat der Herr jedenfalls nichts gespendet.
     „Ich will mich nicht lumpen lassen“, glaubte Don Erikko einen Einweg gefunden zu haben, und zog ein dickes Bündel Banknoten hervor.  „Da, nimm!  Und nun laß mich endlich –“
     „Was sollen wir hier mit diesem wertlosen Papier?“ lehnte der Torhüter jedoch ab.  „Es ist in unserem Lande gar nicht gültig.
     „Treibt ihr denn gar keinen Handel?“ wunderte sich Don Erikko.  „Weißt du was, du läßt mich jetzt ein, und dann bring’ ich euch bei, wie ihr am vorteilhaftesten Außenhandel mit Mondanien –“
     „Wir brauchen aber nichts von dort“, blieb der Torhüter ablehnend.  „Und was wir dort an Schulden aufgenommen haben und noch aufnehmen, ist schon längst alles bezahlt.
     „Dann laß mich eben so rein“, begehrte Don Erikko.  „Ich habe reichlich Erfahrungen in der Menschenführung gesammelt und könnte –“
     „Aber wir haben in unserem Reich schon einen Herrn“, biß der Torhüter auch dieses Mal nicht an, „und brauchen deshalb keinen weiteren.  Doch wenn der Herr will, kann er ja nach drüben gehen dort haben etliche ihr eigenes Reich errichtet.  Die hatten auch hier vorgesprochen und sahen ebenfalls aus, als wären sie ein Herr.“  Sprach’s und schloß die Luke.
     Und Don Erikko ging nach drüben zu seinesgleichen.
     Als nächster begehrte Austerino, eingelassen zu werden.  Er hatte eine sehr faltenreiche Stirn, an der die deutlichen senkrechten Linien auf Entschlossenheit, Unbestechlichkeit, aber auch auf Verbitterung hindeuteten.
     Auch ihm öffnete sich das Tor nicht.  Auch ihm sagte der Torhüter: „Ich kenne Sie nicht und kann Sie deshalb nicht –“
     „Aber ich habe doch eurem Reich ein Leben lang gedient“, erinnerte Austerino.
     „Ist mir nicht bekannt, daß Sie in unseren Diensten –“
     „Ich habe in eurem Namen Gefangene besucht“, begann Austerino aufzuzählen.
     „Und was haben Sie ihnen mitgebracht?
     „Mitgebracht?“ glaubte Austerino sich verhört zu haben.  „Sollte ich Verbrechen etwa noch belohnen?  Ins Gewissen hab' ich ihnen geredet!  Zur Buße hab' ich sie aufgerufen! –“
     „In unserem Namen?“ wunderte sich der Torhüter.
     „Ja, im Namen unseres HErrn!“ bekräftigte Austerino.  „Denn demütig sollen wir sein und in der Nachfolge stehen.  Und deshalb hab’ ich auch auf all die glänzenden Angebote dieser Welt verzichtet und mein Leben ganz dem HERRN und seiner Sache geweiht, –“
     „Ach, Sie haben sich selbst geweiht?“ entfuhr es dem Torhüter.
      „– habe mich kasteit“, fuhr Austerino unbeirrt fort, „und meine Habe den Armen gegeben, das Wort verkündigt und das Werk –“
     „Wozu?“ fragte der Torhüter.
     „Um vollen Lohn zu empfangen!“ antwortete Austerino.
     „Und haben es Ihnen die Armen gelohnt?
     „Ach“, bitterte Austerino, „Undank ist der Welt Lohn!  Deshalb laßt mich endlich rein, daß ich –“
     „Aber ich kenne Sie nicht“, ließ sich der Torhüter nicht umstimmen.  „Doch wenn Sie Ihren Lohn haben wollen, dann gehen Sie am besten nach drüben;  da sind schon einige, die haben das gleiche Anliegen.
     Und Austerino ging nach drüben zu seinesgleichen.
     Und nun näherte sich der 3. Wanderer dem Grenztor: Florio, abgerissen und schmutzig – ja, schmutzig wie ein Goldkorn, das in den Kehricht gefallen ist.  Da öffnete sich plötzlich das Grenztor, und jemand trat heraus, lief dem müden Wanderer entgegen und herzte und küßte ihn: „Sei willkommen, mein Kind!  Nun bist du endlich zu –“
     „Aber woran wurde denn dieser Florio erkannt?“ fragte Don Pikkolino.
     „An den Augen der Freude“, antwortete der Alte, „denn er war auf seiner Wanderung stets dort gewesen, wo die Freude seines Vaters auf ihn gewartet hatte“, und er geleitete den Besuch hinaus.
© Stiftung Stückwerken, *26.-27.5.2011, freigegeben am 26.7.2024
Qouz-Note: 2-

 


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MamM 628  Drehen und wenden

„Ach“, seufzte der junge Sereno, „manchmal macht es überhaupt keinen Spaß mehr, Herbergsvater zu sein.
     „So?“ wollte der Alte von der Halbinsel weder zustimmen noch widersprechen.
     „Die Menschen sind so kalt und herzlos, –“, wurde der Besucher deutlicher.
     „Was einer nicht hat“, zitierte der Alte, „das kann er auch nicht geben.
     „Aber auf Wiedersehen kann jeder wohl sagen“, ließ Sereno den Einwand nicht gelten, „das ist doch das –“
     „Und wenn’s gelogen wäre?“ fragte der Alte.  „Vielleicht will er dich gar nicht –“
     „Dann eben tschau –“
     „Ihr Diener?“ übersetzte der Alte.  „Willst nicht du der Diener deiner –“
     „Oder addio“, schlug der Besucher vor.
     „Gott befohlen?“ übersetzte der Alte.  „So viele glauben gar nicht an Gott;  an den Teufel angeblich viel mehr.
     „Dennoch steht fest: Die Menschen sind kalt geworden!“ beharrte Sereno.
     „Die Menschen?“ überlegte der Alte hörbar.  „Also alle?  Du und –“
     „Jedenfalls immer mehr“, bitterte der Besucher.  „Da strenge ich mich an, schau nicht auf die Uhr, versuch', den Gästen so weit wie möglich entgegenzukommen, aber niemand dankt es –“
     „Niemand?“ hakte der Alte nach.
     „Na ja, etliche schon“, räumte Sereno ein, „sonst hätte ich längst alles hingeworfen.  Aber viele, ja, immer mehr, sind – sind noch nicht einmal wie Steine, die wenigstens ein Echo –“
     „Das macht dich göttlich“, überraschte der Alte, „denn dem lieben Gott geht es mit den Menschen nicht anders.  Dennoch gibt er nicht auf.  Also –“
     „Ja, der liebe Gott“, wollte der Besucher sich diesen Schuh nicht anziehen, „der ist allmächtig.  Aber ich –“
     „Manchmal wünsche ich“, unterbrach der Alte, „wir Christen täten uns mehr unserer Wurzeln besinnen.  Den Alten war es nicht fremd, von ihren Göttern besucht zu werden.  Und“, damit nahm er sein abgegriffenes Buch zur Hand, schlug’s auf, blätterte darin und reichte es dem Gast, „hier, wie liesest du?
     „– haben etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt.
     „Und hier?“  Der Alte blätterte zurück.
     „Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich beherbergt“, las Sereno.  „Aber da will ich Euch mit Euren eigenen Waffen schlagen: Wenn mich ein Gott besucht, dann täte es mir bestimmt nicht so kalt entgegenschlagen.  Hier, ich will Euch noch eine Stelle vorlesen: Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete –“
     „Und jetzt könnte ich dich fragen“, lachte der Alte, „ob du auch so mit deinen Gästen redest und weshalb deren Herz nicht zu brennen scheint.  Wir könnten darüber in einen hitzigen Streit geraten, und doch wäre es nicht göttlich.  Aber ich verstehe dich doch: Mir geht’s auch manchmal so, als gäbe es kein Echo.  Aber vielleicht brauchen wir Menschen so etwas, um unsere Gaben noch besser zu entwickeln.  Ständiges Lob kann auch träge machen, und –  Tun dir die kalten Menschen noch weh oder schon leid?“  Aber der Alte wartete eine Antwort nicht ab, sondern begann zu erzählen:
     Ein reicher Mann hätte 3 Söhne und gedachte demjenigen Haus und Hof, Menschen, Tiere und Pflanzen anzuvertrauen, der ihm den größten Schatz vorweisen könne.
     Da gingen die beiden ältesten Söhne hin, zogen durch die Lande und sammelten alles, was da blinkte und glänzte.
     Schwer bepackt, kamen sie wieder zurück und schütteten vor dem Vater ihre Schätze aus.  Ihre vermeintlichen Schätze!  Denn vor dem Vater war alles nichts und ward zu wertlosem Staub.
     Da machte sich auch der jüngste Sohn auf den Weg.  Er brauchte für seine Reise viel länger als seine Brüder, denn –  Nun ja, von Geburt an galt er nicht als besonders klug und verständig, sondern als langsam und zurückgeblieben.  Und so urteilte er auch jetzt nicht nach dem 1. Augenschein, sondern hob die Steine auf, die er fand, drehte und wendete sie und wärmte sie mit seinen Händen.  Da kam manches zum Vorschein, was niemand vermutet hätte,  und es bewahrheitete sich wieder das Sprichwort: Gold bleibt Gold, auch wenn es im Kot gelegen hat und mit Schmutz überzogen ist.
     Allein – ob der Jüngste überhaupt wußte, was Gold war?  Nein, eine so hohe Erkenntnis schien er nicht zu haben, denn er fragte sich lediglich: „Erinnert’s mich an meinen Vater?
     Und welcher Stein auch nach sorgfältigem Behandeln nicht so aussah, nicht so klang und sich nicht so anfühlte, den ließ dieser Tölpel liegen.  Nein, nicht verachtend, dazu war er zu einfältig, sondern er sprach: „Vielleicht ist er noch nicht reif genug;  so will ich ihn erneut prüfen, wenn ich wiederkomme.
     Schließlich kehrte er heim und gab seine Schätze dem Vater.  Und siehe, diese Schätze wurden nicht zu Staub, sondern waren dem Vater so wertvoll, daß er seinem Sohn –“
     „Steine?“ wunderte sich Sereno.  „Wer will so etwas zum Maßstab für eine Erbfolge –“
     „Wer in Steinen nach dem Wesen seines Vaters sucht“, antwortete der Alte, „der wird’s auch bei Pflanzen, Tieren und Menschen tun können.“  Und er geleitete seinen Besucher hinaus.
© Stiftung Stückwerken, *9.6.2011, freigegeben am 1.10.2024
Qouz-Note: 2+

 


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MamM 629  Siewalt und Erwine

„Ihr seid wirklich nie verheiratet gewesen?“ wollte Don Gonnello aus 1. Quelle erfahren.
     „Nein“, sprudelte der Alte von der Halbinsel wenig.
     „Und warum?
     „Da mußt du schon den lieben Gott fragen“, verbarg der Alte seine Abneigung gegen solche Fragen nicht.  „Von der Natur ist’s eben so eingerichtet, daß mehr Knaben denn Mädchen geboren werden.  Somit dürfen etliche –“
     „Dürfen?“ traute der Besucher seinen Ohren nicht.
     „Ja, ich sehe es als eine Gnade an“, lachte der Alte, „in keinen Ehehafen gekapert –“
     „Und warum?
     „Du meinst, warum mich keine Frau gekapert habe?“ deutete der Alte.  „Auch das mußt du den lieben Gott fragen und die Frauen, –“
     „Also kein Zölibat?
     „Nein, nein“, bestätigte der Alte lachend.  „Wer will schon vom Regen in die Traufe fallen?  Wer heiraten will, mag’s meinetwegen tun;  und Gottes Segen dazu.  Und wenn’s friedlich und fruchtbar zum Leben gereicht, wer wollte dem wehren?
     „Und warum habt Ihr –?“ ließ Don Gonnello nicht locker.
     „Allein – manche hätten besser getan“, versuchte der Alte abzulenken, „nicht zu heiraten;  denn weder war die Ehe friedlich, noch brachte sie gute Früchte, noch gereichte sie zum –“
     „Und wer’s gar nicht erst versucht“, fuhr der Besucher dazwischen, „dem gereicht es auch nicht zum Leben.  Es ist genauso sinnlos –“
     „Er hat ein jegliches geschaffen“, faßte der Alte zusammen, „daß es diene.  Und wenn es die Natur einmal so –“
     „Ausrede!“ stempelte Don Gonnello ab.  „Wenn alle so dächten und –“
     „Das wäre nicht verwerflich“, war der Alte anderer Ansicht: „Welche Gaben habe ich empfangen?  Wie kann ich dienen?  Denn nur was einer hat, das kann –“
     „Ihr hättet einer Frau nichts zu geben?“ zweifelte der Besucher.  „Gewiß habt Ihr nicht lange genug gesucht, –“
     „Ach“, seufzte der Alte, „wie viele Mährchen habe ich zu diesem Thema schon erzählt!  Aber wenn’s dich nicht langweilt: Hier das von Siewalt und Erwine.“  Und er begann:
     Ja, ja, der Esel nennt, eh, wird bekanntlich zuerst genannt.  Erwine dagegen war bestimmt kein Esel.  Nein, eine Schönheit war sie: pechschwarzes Haar, feuriger Blick, gewachsen, wie – wie sich’s viele Männer erträumen.  Jedoch, oh Unheil: Sie war auch eine Erzzauberin!
     Heiraten am Jardinisee, so hatte sie es in die Zeitungen setzen lassen, als betreibe sie ein Eheanbahnungsinstitut.  Doch neben dem Text war ihr Bild zu sehen, so daß viele der Männer, die es sahen, nicht an eine Heiratsvermittlung dachten, sondern nur an – SIE.  Und wer nun diesen Gedanken zu stark nachhing, der reiste ihnen hinterher und – ward nicht mehr gesehen.
     Von ungefähr gelangte auch Siewalt an den Jardinisee, frei von irgendwelchen Heiratsabsichten.  Er war ein Freund der Natur und durchstreifte deshalb auf Schusters Rappen das Ufer.
     Dabei fand er sich mit einem Mal in einem wundersamen Garten wieder, ohne daß es ihm bewußt geworden war, irgendein Tor passiert zu haben.  Es war gerade die Zeit der Sonnenwende, die Bäume mit dichtem Grün angetan, die Blumen in voller Blüte und die Luft erfüllt mit zauberhaften Düften.
     Wie in einem Traum schritt Siewalt immer tiefer in den Garten.  Hier und da gewahrte er am Wegesrand sonderbare Statuen: Männer, als sänken sie gerade dem Schlaf in die Arme;  Männer, als labten sie sich gerade an einem köstlichen Male;  Männer, als entstiegen sie gerade dem Bade.
     Und plötzlich – plötzlich hörte Siewalt einen zauberhaften Gesang.  Nein, so konnte kein Vogel locken Neugierig bog Siewalt um ein Gebüsch und – erstarrte.  Vor ihm schickte sich gerade eine, was sag’ ich,  d i e  Schönheit an, ein Bad zu nehmen.
     Rasch versuchte sich Siewalt wieder zurückzuziehen, aber seine Beine wollten ihm nicht gehorchen.  Und – da wurde er auch schon angesprochen.
     „Komm“, lud ihn die Schönheit unbefangen ein und versuchte, ihn mit feurigen Blicken zu entzünden.
     Siewalt stieg bereits das Blut zu Kopfe, da begann mit einem Mal in einem dichten Gebüsch die Nachtigall zu singen.
     „Still!“ zürnte die Schönheit, doch vergeblich suchten ihre Augen die verborgene Sängerin.  Der Bann war vorerst gebrochen, und Siewalt war es, als gewahre er vor sich eine welkende Rose.
     Aber so schnell gab die Schönheit noch nicht auf.  „Geh schon mal ins Haus“, forderte sie den Wanderer auf.  „Ich komme gleich nach.
     Seltsam, diese Stimme!  Siewalt mußte ihr Folge leisten.  Was die Schönheit Haus genannt hatte, entpuppte sich als kunstvolles Parkschlößchen.  Im Speisesaal war der Tisch bereits gedeckt mit duftenden Köstlichkeiten und herrlichen Weinen, und Siewalt wußte gar nicht, was er zuerst zu bestaunen hatte.
     „Du hättest schon zulangen können“, holte ihn eine Stimme aus seinen Betrachtungen.  „Komm, sei mein Gast –“
     Siewalt hatte bereits die Lehne eines Stuhls in der Hand, zog ihn zurück, um sich –  Aber was war das?  Von draußen wehte wieder der Gesang der Nachtigall herbei, und das gab Siewalt in den Sinn, den Stuhl wieder an dessen Platz zu stellen.
     „Danke, nein“, hörte er sich sagen, „ich möchte nicht.
     „Still!“ zischte die Schönheit und meinte damit die Sängerin.  Die verstummte auch sogleich, und die Schönheit wandte sich wieder an ihren Gast: „Du wirst gewiß müde sein und dich ausruhen wollen.  Geh schon mal nach oben –“
     Das wollte Siewalt gerade tun, als auch schon jene Nachtigall erneut zu singen begann.
     „Nein, danke“, hörte sich Siewalt sagen.  „So etwas kann ich mir nicht leisten.“  Und er reichte –
     „– ihr seinen letzten Steuerbescheid“, fuhr Don Gonnello spottend dazwischen.
     „– lenkte damit ab“, schien der Alte zu bestätigen, „schritt ungehindert von dannen und suchte der Erzzauberin einen Gatten, der sie in die Schule nehmen könnte.  Und wenn er ihn gefunden hat – ja, wozu braucht er dann noch zu heiraten?“  Und er führte seinen Besucher hinaus.
© Stiftung Stückwerken, *16.-17..6.2011, freigegeben am 1.10.2024
Qouz-Note: 4

 


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MamM 633  Nachtmeister Stropp und der Fall Palumbina

Da sprach der Alte, Häuptling der Indianer: Wer ist der Beste, der lernt den Beruf!  Da sprach der Alte –“
     „Stropp!“ fuhr eine weibliche Stimme mit einem Mal dazwischen.  „Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?
     „Nein“, gedachte unser Stropp der Friedenspfeife, „wenn sie auch alle gingen, du bleibst mir treu!
     „Ach, Stropp“, konnte sich Frau Struppe einer gewissen Rührung nicht entziehen.  „Aber wie siehst du nur aus!
     „Natürlich wie ich“, war sich unser Nachtmeister sicher.  „Sonst hättest du mich doch gar nicht erkannt.
     „Einfach war’s nicht“, seufzte die Igelin.  „Wozu hast du dich mit all’ den Federn gespickt?  Das ist ja zum Fürchten!
     „Jaha“, sonnte sich der Igel in Überlegenheit, „dein Mann!  Auf den kannst du stolz sein.  Er ist jetzt Häuptling!
     „Häuptling?“ zweifelte Frau Struppe, richtig gehört zu haben.  „Wie ein wild gewordener – eh, wer hat dich denn zum Häuptling ernannt?
     „Stropp!“ – Nein, das war nicht die Stimme unseres Nachtmeisters.  So herrisch konnte er gar nicht sein;  erst recht nicht zu seiner Eheliebsten.  „Stropp!“  –  Nein, so brüllte er nie.  „Wenn du nicht gleich rauskommst, –“
     Oh weh!  Der Friedensrichter!  Da gab’s keine Zeit, sich umzuziehen!  Stropp eilte hinaus, wie er war.
     „Na, end–“  Das Wort blieb Reineke im Halse stecken.  „Wie siehst du denn aus?
     Gleiche Frage, gleiche Antwort, da brauchte unser Igel nicht lange zu überlegen.  Doch was die eine mit Fassung zu tragen wußte, ward dem andern zum zündenden Funken, der die Fassung sprengte.
     „Willst du mich zum Gespött machen?“ begann der Friedensrichter zu toben.  „Mein Nachtmeister treibt mit meiner Gnade Schindluder!  Und das im Dienst!  Im –“
     „Eure Gnade treibt Schindluder?“  wunderte sich unser Stropp.  „Mögt Ihr kein Mäusevieh –“
     „Stropp!“ näherte sich Reineke gefährlich dem Punkt, ab dem ihm seine heisere Stimme versagen mußte.  „Ich will Ihn in einem Kriminalfall –“
     „Das – das sind ja“, meldete sich eine andere Stimme, „Federn von meiner Palumbina!  Wahrhaftig, so ein Kleid hat sie immer getragen.  Schurke, sprich, wo hast du ihr das geraubt?
     „Geraubt?“ stellte unser Igel in Frage.  „Ich hab’ niemandem nichts geraubt!  Die hab’ ich –“
     „Aha“, wollte der Friedensrichter seinen Scharfsinn beweisen, also keine Entführung, Herr Kukuruku, sondern Raub, womöglich noch Schlimmeres –“
     „– gefunden“, beendete Stropp seinen Satz – wirkungslos.
     „Wo ist meine Gattin?“ rief Herr Kukuruku.  „Sprich!
     „Wo ist meine Gattin?“  kam dem unser Nachtmeister sogleich nach.  „Da brauch' ich gar nicht lange zu suchen, meine Struppe ist –“
     „Stropp!“  beachtete der Friedensrichter die Warnhinweise nicht.  Die Folge war ein heftiger Hustenanfall.
     „Darf meine Frau Euch ein treffliches Hustenmittel geben?“ fragte unser Igel hilfsbereit.
     „Hau – eche, eche, eche – mir ab – eche, eche, eche – mit – eche, eche, eche!“  Da er nur noch flüstern konnte, wollte der Fuchs es nun handgreiflich versuchen, machte einen Satz –
     Aber unser Igel war schneller.  „Melde gehorsamst“, sprach er, nachdem er sich in sein Heim verzogen hatte, „bin abgehauen!
     „Herr Friedensrichter, Herr Friedensrichter“, entrüstete sich der Täuberich, „so etwas dürft Ihr nicht zulassen!  Hier ist ein Verbrechen geschehen!  Das weiß ich ganz gewiß!  Niemals gibt meine Frau freiwillig etwas von ihren Kleidern weg.  Ihr dürft den Mörder –“
     „Mörder?“  So etwas ließ Frau Struppe nicht im Hause bleiben.  Unerschrocken trat sie vor die Türe: „Mein Mann ist kein Mörder!  Und nun schert euch fort –!
     „Sachte, sachte, Frau Struppe“, hatte Reineke seine Stimme wiedergefunden und ließ sie nun gefährlich leise schnarren.  „Wenn hier einer zu befehlen hat, bin ich es!  Halten wir einmal fest: Frau Palumbina wurde mir als vermißt gemeldet.  Ich will Ihren Gatten auf diesen Fall ansetzen, doch der weigert sich und trägt Palumbinas Kleidung wie ein Beutestück.  Na, was sagt Sie dazu?
     „Raubmord!“ antwortete Herr Kukuruku an ihrer Statt.  „Auf der Stelle soll er sterben!  Na warte, Stropp, wenn ich dich zu fassen kriege, –!
     „Beweise“, verlangte Frau Struppe.  „Wo ist die Leiche?  Kennt ihr überhaupt den Tatort?
     „Den wird dein Stropp schon kennen“, gab sich der Täuberich nicht geschlagen.  „Und die Leiche hat er bestimmt gefressen!  So etwas kennt –“
     „– kann niemand von ihm sagen“, unterbrach Frau Struppe.  „Allein – ich kann verstehen, daß du erregt bist.  Wenn einem Mann die Frau fortge–, eh, fehlt, dann fehlt ihm alles.  Deshalb mein Vorschlag zur Güte:  Ihr sucht nach deiner Frau, und wir lassen nach ihr suchen;  und in 24 Stunden treffen wir uns wieder hier.
     Um Gesicht und Rechtsstaatlichkeit zu wahren, mußte der Friedensrichter den Vorschlag annehmen, während der Täuberich sich nicht so ohne weiteres beruhigen konnte.  „Gesindel!  Verbrecherpack!“ schimpfte er.  „Diese Sippschaft muß ausgerottet werden!“  Frau Struppe ließ sich nicht einschüchtern, sondern ging wieder in’s Haus und machte die Tür hinter sich zu.  Endlich entfernten sich auch Friedensrichter und Täuberich.
     Und nun ereigneten sich sonderbare Dinge.  Das Rotkehlchen kam und flog wieder weg.  Es kam wieder, blieb einige Zeit und – was war denn das?  War das ein weißes Tuch, mit dem das Rotkehlchen wieder fortflog?  Und warum schien es angestrengt etwas leise zu wiederholen, als sei ihm eine wichtige Botschaft aufgetragen worden?
     Und dann erst die Gerichtsverhandlung!  Als eine solche mußte das vereinbarte Treffen wohl bezeichnet werden;  doch als unser Stropp mit seiner Eheliebsten vor die Tür trat, zeigten die beiden nicht die geringste Spur von Angst.
     Obwohl – Herr Kukuruku wieder sehr ausfallend wurde und nicht nur den Kopf unseres Nachtmeisters forderte, sondern die Bestrafung der ganzen Familie.  Auch wenn er keine seiner Anschuldigungen beweisen konnte, stand für den Täuberich fest: „Diese Igel sind Mörder!  Und ich werde sie überführen!  Ich werde –“
     „Bedarf Er meiner Hilfe, gigigig?“ meldete sich mit einem Mal eine stolze Stimme.  „Ich kann Ihm gewiß die fehlenden Spuren zeigen.  Er braucht nur mit mir nach Hause zu kommen.
     Dazu war auch nur Herr Kukuruku in der Lage;  denn die Einladung kam von Hakengriep, dem Habicht!  Vergeblich bemühte sich unser Stropp, dem Täuberich abzuraten;  er erntete dafür nur Beschimpfungen und Verdächtigungen.
     „Wer nicht hören will, muß fühlen“, faßte unser Nachtmeister es zusammen, als Täuberich und Habicht davonflogen.
     „Wollt Ihr Euch auch einen Häuptlingsschmuck zulegen?“ fragte er augenzwinkernd den Friedensrichter.  „Ich denke, Ihr wißt, wo Ihr die Federn dazu bald finden könnt.
     Wie er das nur wieder gemeint hat?  Unser Stropp ist eben sehr scharfsinnig;  und seine Eheliebste nicht minder.
© Stiftung Stückwerken, *14.-15.7.2011, freigegeben am 17.6.2024
Qouz-Note: 3

 


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MamM 634  Nachtmeister Stropp und der Fall Tigertim

„Was ist eigentlich in der letzten Zeit los mit dir?“ kleidete Frau Struppe ihre Sorgen in Worte.
     „Los?“ begann unser Stropp zu zerpflücken.  „Mit mir?  Nichts.  Bin  i c h  überhaupt –“
     „Eben!“ hakte die Igelin ein.  „Nichts ist mehr mit dir los –“
     „Willst du mich etwa los–“  Unser Nachtmeister wagte nicht, den Satz zu beenden.
     „– Irgend etwas scheint dich zu bedrücken“, fuhr die Eheliebste fort.  „Nun rück schon raus mit der Sprache.
     „Nun ja“, druckste unser Stropp herum, „die Sache mit Herrn Kukuruku liegt mir noch immer schwer im Magen.
     „Dem Täuberich?“ erinnerte sich die Igelfrau.  „Aber den Fall hattest du doch glänzend gelöst –“
     „Eben nicht!“ widersprach unser Nachtmeister.  „Der Täter fliegt frei herum –“
     „Schließlich ist es ja auch ein Habicht“, hielt Frau Struppe dagegen, „den soll festnehmen, wer fliegen kann–“
     „– und Herr Kukuruku ist inzwischen tot“, fuhr unser Stropp fort, „ermordet wie seine Frau, und zwar vom gleichen Täter.  Und ich hab’ ihn auf dem Gewissen –“
     „Unsinn!“ war die Igelin weniger empfindsam.  „Du hast ihn doch sogar davor gewarnt, mit Hakengriep alleine zum Tatort zu fliegen.  Wer nicht hören will, muß eben –“
     „Aber das hab’ ich schon vorher gewußt“, bekümmerte sich unser Nachtmeister weiter, „daß er nicht auf mich hören würde.  Ich hätte also Hakengriep gar nicht zu der Verhandlung einladen dürfen und ihm diesen Floh ins –“
     „Und wärst statt dessen lieber selber in den Tod gegangen“, kommentierte die Eheliebste.  „Typisch mein Gatte!  Typisch!  Und deine ganze Familie mit in den Untergang gezogen;  jawoll!  Du hast doch gehört, was dieser Kukuruku gefordert hatte: die ganze Sippschaft –“
     „Und dennoch ist es nicht in Ordnung“, beharrte unser Stropp auf seinem Standpunkt.  „Den eigenen Kopf aus der Schlinge ziehen und einem anderen dort hineinhelfen.  Der Gerechtigkeit ist damit nicht gedient.
     „Du immer mit deinen Prinzipien!“ bediente sich Frau Struppe einer bewährten Waffe.  „Sieh das doch ganz nüchtern: Deine Familie lebt, du lebst, und dein Ankläger ist – verschwunden.  Du darfst dir nicht immer alles so zu Herzen –“
     „Herr Nachtmeister!  Herr Nachtmeister!“  Dieser Ruf kam von draußen.
     Und da dieses Mal kein herrischer Befehl an seine Ohren drang, hatte unser Stropp genügend Zeit, eine würdevolle Amtsmiene aufzusetzen und vor die Türe zu wandeln.
     „Guten Tag, Herr Nachtmeister“, wurde er sogleich ziemend begrüßt – in 3facher Ausfertigung.
     „Ah, guten Tag, Tschilp“, erwiderte unser Igel – dank seines trefflichen Namensgedächtnisses, „guten Tag, Tschülp;  guten Tag, Tschylptschylp.  Was führt denn euch zu mir?
     „Ja, eh, wir dachten, Herr Nachtmeister“, versuchte sich Tschilp, offensichtlich der älteste der 3 Spatzen, zu sammeln.  „Ihr seid doch immer so scharfsinnig –“
     „Na ja“, konnte sich unser Stropp Bescheidenheit leisten, „ein jeder hat halt seine Begabungen.  Was liegt denn vor?  Ein Mord –?
     „Nicht nur einer“, kürzte Tschilp das Fragen ab, „doch den Täter kennen wir bereits.  Nein, wegen der Aufklärung eines Verbrechens sind wir nicht hier, sondern – wir wollen künftige verhindern.
     „Aha“, war unser Igel hellhörig geworden, „das ist interessant.  Da seid ihr bei mir an die rechte –“
     „Die Sache ist die“, versuchte Tschilp die rechten Worte zu finden,  „wir haben uns ja drüben in Dortwehr in der Bäckerei eingemietet.  Und eigentlich haben wir mit den Bäckersleutchen ein gutes Verhältnis –“
     „Eigentlich?“ hakte Stropps Scharfsinn sogleich ein.  „Aber?
     „Für unseren herrlichen Gesang“, fuhr Tschilp fort, „gibt es an Körnern und Krümlein immer reichlich.  Aber – da habt Ihr richtig vermutet – zur Familie gehört auch Tigertim.  Nun ja, soweit Kater überhaupt zu einer Familie gehören können;  denn sie sind so was von falsch –  Doch verstehe einer Menschen –“
     „Ja, ja“, bestätigte unser Nachtmeister altklug, „die Menschheit will betrogen sein –“
     „Und dieser Tigertim“, kam Tschilp von der allgemeinen Philosophie wieder zu seinem Anliegen, „ist nicht nur falsch, sondern sogar ein Mörder.  Ein Massenmörder!  Und das nicht aus Hunger, sondern aus reiner Mordlust!  Jeden Morgen legt er den Bäckerleuten eine ermordete Maus vor die Türe –“
     „Und die fressen die dann?“ zweifelte unser Igel.
     „I wo!“ verneinte Tschilp.  „Die werfen sie auf den Mist –“
     „Götzendienst also“, hatte Stropps Scharfsinn gleich aufgedeckt.  „Das erklärt vieles.  Dieser Tigertim bringt täglich sein Opfer, und deshalb fühlen sich die Bäckersleute vergöttert und wollen ihm wohl, obwohl er falsch und ein Mörder –“
     „Und von wegen Opfer!  Ha!“  lachte Schilp bitter.  „Der kriegt von den Bäckersleuten genug zu fressen;  und Milch obendrein.  Nein, die Zeche bezahlen die armen Mäuse –“
     „Ja, so ist es immer“, legte unser Stropp eine sozialkritische Ader frei, „von den Armen wird’s –“
     „Und uns stellt er auch noch nach“, ergänzte Tschilp empört.  „Was ist da zu machen?
     „Nun“, brauchte unser Stropp seinen Scharfsinn nicht mehr zu wecken, „wir müssen Tigertim beibringen, welchen Nutzen er von den Mäusen und von euch –“
     „Nutzen?“ glaubte Tschilp sich verhört zu haben.  „Sollen wir etwa mit solch einem Mörder gemeinsame –“
     „Dann müssen wir die Schnecke eben von hinten aufzäumen“, bewies unser Nachtmeister mal wieder, wie beweglich sein Geist war „Wir müssen ihm einreden, welchen Schaden er davon hat, euch und die Mäuse –“
      „Vor allem die Mäuse!“ ließ sich nun eine heisere Stimme aus dem Hintergrund vernehmen.  „Keine Sorge, Leute, laßt das mal euren Reineke übernehmen.  Das mach' ich zur Chefsache.  Der Kerl ist mir schon lange ein Dorn im Auge.  Na, dem werd ich was erzählen!  Alle Mäuse seien an einer Seuche – eh, vergiftet.  Äußerst ansteckend, hahaha!  Nicht erst beim Fressen, sondern schon bei der kleinsten Berührung, ha, bereits der Atem, hahaha!  Der wird keine Maus mehr anrühren!
     „Aber es ist doch gelogen“, kommentierte unser Stropp wenig später für seine Eheliebste.  „Tigertim wird bald herausfinden, daß unserem Friedensrichter die Mäuse nach wie vor gut schmecken –“
     „Das ist Sache der Obrigkeit“, tröstete Frau Struppe.  „Reineke hat eben nicht deinen Scharfsinn.  Und du hast bestimmt bald deinen nächsten Fall.
© Stiftung Stückwerken, *21.-22.7.2011, freigegeben am 18.6.2024
Qouz-Note: 3

 


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MamM 635  Nachtmeister Stropp und der 2. Fall Tigertim

„Ach“, seufzte unser Stropp dankbar, „was für ein herrlicher Sommer!  So viel Regen, überall sauberes Wasser, saftige Früchte, auch keine große Hitze –  Aber eins ist doch etwas schade: –“
     „Und was?“ verhalf Frau Struppe ihrem Gatten gekonnt zu einer belehrenden Rolle.
     „Na, daß ich keine Schnecken mehr jage“, ließ unser Igel seinen Wissensvorsprung großmütig zusammenschmelzen.
     „Die Gärtner hätten gewiß nichts dagegen“, brummte die Eheliebste, und schon war ihr ein Standardkommentar aller Ehefrauen entschlüpft: „Du immer mit deinen Prinzipien!
     Die Tonart des ehelichen Alltages drohte auf die Mollseite zu gleiten, doch da nahte von draußen die rettende Auflösung: „Herr Nachtmeister!“  „Herr Nachtmeister!“  „Herr Nachtmeister!
     Ein Herrscher ruft nur einmal – oder läßt rufen.  Bittsteller jedoch –  Unser Nachtmeister eilte jedenfalls nicht, sondern wandelte nach draußen.
     „Ah, guten Tag, Tschilp!“ grüßte unser Stropp zuvorkommend.  „Guten Tag, Tschülp!  Guten Tag, Tschylptschylp!  Ein herrlicher Sommer –“
     „Er hat wieder zugeschlagen“, unterbrach Tschilp, der Spatzenälteste.
     „Wer hat wieder zugeschlagen?“ schickte unser Igel seinen bekannten Scharfsinn sogleich auf Forscher- und Entdeckerreise.
     „Na, Tigertim“, antwortete der Spatz, als sei dies eigentlich selbstverständlich.
     „Wie das?“ lenkte unser Nachtmeister sein Augenmerk kundig auf Hergang und Motive.
     „Das hab' ich ihn auch gefragt“, antwortete Tschilp.  „Aber aus sicherer Entfernung.  Ihr hättet mal sehen sollen, wie der geschimpft hat!  Der Friedensrichter sei ein Betrüger!  Die Mäuse seien gar nicht vergiftet, denn er habe es mit eigenen Augen gesehen, wie der Friedensrichter weiterhin Mäuse schlachte, als sei nichts gewesen.  Reineke habe ihn wohl auf den Arm nehmen wollen, aber da sei er bei ihm an die rechte Schmiede gekommen!  Heimzahlen werde er ihm das, jawoll!  Und wir Spatzen steckten mit dem Friedensrichter gewiß unter einer Decke!
     „Seit wann hättet ihr eine Decke?“ sah unser Igel im Geiste auf den Kater hinab, in Tiefachtung also.
     „Und jetzt erst recht!“ fuhr Tschilp in seiner Wiedergabe fort.
     „Also doch?“ kam der Fall nach hohem Geistestraben.
     „Er werde das Mäusevolk das Sterben lehren!
     „Ach so“, rappelte sich der Scharfsinn unseres Nachtmeisters wieder auf.  „Das hatte ich mir schon gedacht, daß es so kommen werde.  Lügen haben nur kurze Beine, da kommt selbst ein Igel –“
     „Und da dachten wir“, kam Tschilp endlich zu seinem Anliegen, „ob nicht Ihr, eh –“
     „– den Kater das Entmausen lehren könntet“, half der Igel bescheiden weiter.  „Zumal er die Mäuse auch weiterhin nicht frißt;  oder?
     „Nö“, bestätigten die Spatzen, „die legt er nach wie vor den Bäckersleuten zu Füßen.
     „Hm, hm“, ließ unser Nachtmeister sein Nachdenken hören, „ich glaub’, mir fällt da etwas ein!  Hmhm!  Nur, der Weg ist weit, da brauch’ ich mit der Schneckenpost Tage!
     „Dann nehmt doch die Eilpost der Heupferdchen“, schlug Tschylptschylp vor.
     Aber die ist sehr sprunghaft und hat sehr häufigen Pferdewechsel“, überlegte unser Nachtmeister hörbar, „andererseits ist die Fahrkarte erschwinglich. – Und dann muß ich noch Reineke um Urlaub ersuchen. –“
     Doch als der hörte, daß es um eine Entmausungskur gehe, gewährte er unserem Stropp keinen Urlaub, sondern erteilte ihm einen herrschaftlichen Auftrag: „Der soll mir nicht mehr in’s Gehege kommen!  Und wenn es nicht anders geht, Stropp, dann mach diesen Kerl kalt!  Mach ihn kalt!  Hörst –“
     „Es ist diesen Sommer sowieso nicht sehr heiß“, senfte unser Igel dazu.
     „Willst du mich etwa auf den Arm nehmen?“  Eine Frage, die bekanntlich der eigenen Minderwertigkeit Ausdruck verleiht.
     „Ich?“ nahm unser Stropp weder Schuld noch Argwohn auf sich.  „Wie könnte ich mir so etwas zutrauen?
     Nun – über die abenteuerliche Reise wird wohl noch anderweitig zu berichten sein;  zu viele Verbrechensopfer säumen hierzulande die Landstraßen.  Jedenfalls langte unser Nachtmeister in den frühen Morgenstunden in Dortwehr an, gerade rechtzeitig, um Zeuge des Morgenopfers von Kater Tigertim zu werden.
     Von?  Nein, dieses Verhältniswort ist nicht eindeutig.  Tigertim war der Opfernde, eine arme Maus das Opfertier – in Gestalt ihrer sterblichen Überreste.  Und während Kater Tigertim zufrieden die Opferstätte verließ, wurden jene Überreste wie üblich auf den Mist geworfen und dem Kater ein spöttischer Blick hinterhergesandt.
     Den sah der Kater nicht, denn sein ganzer Unmut ballte sich auf unsern Zaungast zusammen: „Bursche, was willst du denn hier?  Hast wohl nichts zu tun;  oder?
     „Guten Morgen, Herr Tigertim“, vergaß unser Igel seine Freundlichkeit nicht.
     Auch wenn diese überhört wurde und der Kater weiterfauchte: „Willst wohl meine Mäuse jagen?  Wie?  Was?  –“
     „Mäuse?“ zeigte unser Stropp Verwunderung.
     „Tu nicht so scheinheilig“, fachte Tigertim seinen Zorn weiter an.  „Du und dein Friedensrichter denkt doch immer nur an das eine!
     „An Frieden“, gab unser Igel bereitwillig zu, mußte dann jedoch wahrheitsgemäß einschränken: „Zumindest ich.  Und Mäuse jagen, igittigitt!  Wer will denn so etwas fressen?
     „Mir schmeckt das Zeug auch nicht mehr –“
     „Aber warum tötet Ihr dann –“
     „Religion“, brachte der Kater alle Motive auf den Punkt.  „Opfer für Frauchen und Herrchen.“
     „Du dienst Menschen?“  Seine ganze Verachtung legte Stropp in diese Frage.  „Bei Eurer Begabung?  Eurer Stärke?
     „Nun ja“, weidete sich der Kater an diesen Schmeicheleien, „die Menschen zittern sogar vor mir.  Ich brauch’ nur meine Zähne und Krallen zu zeigen, schon haben sie Angst.
     „Und dann bringst du ihnen Opfer?
     „Nun ja“, wand sich der Kater, „ich lasse mich dazu herab.  Vielleicht ist es auch kein Opfer, sondern eine Gnade von mir.  Ich laß sie teilhaben an meiner Beute.
     „Tscha“, erzählte unser Stropp nach seiner Rückkehr zu Hause, „da hab’ ich ihm geraten, am nächsten Morgen die tote Maus vom Mist zu holen, den Bäckersleuten zu opfern und sich dann noch mal umzudrehen und darauf zu achten, wie sehr er wertgeschätzt werde.“  Und einen Morgen später: Zum Glück sei heute ein Nachbar zugegen gewesen, mit dem der Bäcker kräftig über den Kater hergezogen sei.  Was Katzen für Tölpel seien!  Denen regne es wohl in’s Dachstübchen!  –  Nun denn, – seitdem lebten die Mäuse drüben wieder sicherer.
     „Ach, Stropp“, lobte die Eheliebste, „wenn doch alle erkennen würden, –“
     „– was du für eine prächtige Frau bist“, ergänzte unser Stropp, jedoch: „im Rahmen des 6. Gebotes!
© Stiftung Stückwerken, *29.7.2011, freigegeben am 18.6.2024
Qouz-Note: 3-

 


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MamM 639  Nachtmeister Stropp und der Fall Tigertomate

„Es ist doch ein schöner Sommer“, blickte unser Stropp wohlgefällig auf sein Nachtwerk und die Jahreszeit.  „Tropisches Gedeihen, mahnendes Gewitter –“
     „Mahnendes Gewitter?“ griff Frau Struppe auf.
     „Ja“, bestätigte unser Nachtmeister seiner Eheliebsten ein gutes Gehör, „auf daß alle Welt den Pfad der Gottlosen verlasse, in sich gehe und Buße –“
     „Hat dich Reineke inzwischen als Sonntagsschullehrer eingestellt?“ konnte sich die Igelin eines leisen Spottes nicht enthalten.
     „Auch ein schöner Beruf“, sann unser Igel nach und hörbar, „in allen Wesen Kinder zu sehen, in allen an das Gute zu glauben und in allen das Gute –“
     „– und darüber Frau und Kinder zu vergessen“, biß Frau Struppe auf Bärenweise.  „Nee, nee, bleib du nur Nachtmeister, damit deine Familie wenigstens etwas auf dem Tisch hat.  Das Predigen ist nur brotlose Kunst und bestimmt nicht frei von Eitelkeit.  Gar mancher wähnt seinen Nächsten in Übersee und übersieht ihn in seinem eigenen –“
     „Ach, Struppe“, versuchte unser Stropp mit allen Kräften, ein schlechtes Gewissen abzuwenden, „wann habe ich dich jemals –“
     „Wehret den Anfängen!  Wehret –“
     „Stropp!“ drang eine heisere Stimme in das traute eheliche Zwiegespräch.
     „Reineke!“ war Frau Struppe die flinkere im Wort.
     „Ich komme!  Ich komme!“ gab unser Nachtmeister eine lebensnahe Beschreibung seiner Tätigkeit.  „Ich komm’ ja schon! – Ah, Euer Gnaden!  Einen wunderschönen –“
     „Fasel nicht so viel!“ zeigte sich der Fuchs als Mann und Freund der Tat.  „Was faulenzt du herum, während es in meinem Reiche drunter und drüber –“
     „Solange es geht“, wollte unser Igel besänftigen, „geht es –“
     „Stropp!“ herrschte der Friedensrichter.  „Ich hab’ Ihn was gefragt!
     „Wer was fragt“, geriet unser Nachtmeister auf philosophischen Pfad, „dem wird auch was geantwortet.
     „Stropp!“ mutete Reineke seiner Stimme noch größere Strapazen zu.  „Ich habe Ihn gefragt, was –“
     „– faulenzt du“, half unser Stropp gerne.  „Und das im Sommer!  Ja, was nur?  Möglicherweise, wenn Ihr gestatten wollt, ist das gar kein Faulenzen, und die Frage ist falsch –“
     „Strpp!“  Ja, so klingt eine heisere Stimme, die sich schreiend in die höchsten Töne versteigt.
     „Ach, der Herr Friedensrichter“, kam nun auch Frau Struppe herzu.  „Nett, daß Ihr uns wieder einmal mit Eurem Besuche beehrt.  Womit – Ach, ist Euch unwohl?  Darf ich Euch einen Schluck Apfelsaft –?
     „Nein, nein“, winkte der Fuchs ab, kam langsam wieder zur Stimme und befleißigte sich angesichts einer Dame größerer Höflichkeit.  „Drüben in Dortwehr – beim Bäcker – da liegt einer erschlagen auf der Straße.
     „Aber dafür ist doch Euer Sohn zuständig“, wunderte sich Frau Struppe.
     „Eben!“  War das ein Seufzer?  „Sie wissen ja, Söhne, eh, die haben nicht nur was vom Vater, sondern –“
     „– auch zum Glück einiges, ich sage: einiges, von der Mutter geerbt“, ergänzte die Igelin.  „Nicht auszudenken, –“
     „Jedenfalls“, unterbrach Reineke, „weiß er sich wohl noch nicht recht durchzusetzen, und euer Sohn ist ihm da auch keine große –“
     „– kein großes Hindernis“, ergänzte die Igelin mit Korrektur.  „Er ist ja auch noch sehr jung –“
     „Und ich möchte nicht“, ergriff der Friedensrichter wieder das Wort, „daß meinem Sohn ein Mord zur Last gelegt wird.
     „Gibt es da denn gewisse Anhaltspunkte?“ war der Scharfsinn unseres Nachtmeisters plötzlich hellwach.
     „Je nun“, wand sich der Fuchs, „an großen Herren klebt immer üble Nachrede –“
     „Seltsam“, das war tatsächlich unser Stropp mit einem zärtlichen Seitenblick, „an großen Frauen nie –“
     „Deshalb“, kam Reineke vorsichtshalber wieder zur Sache, „will ich dich, lieber Stropp, für ein paar Nächte abkommandieren –“
     „Und ich werde nicht gefragt?“ ließ Frau Struppe im Klang ihrer Stimme ein Unwetter drohen.
     „– damit du mit deinem berühmten Scharfsinn“, schmeichelte der Fuchs wie alle Vorgesetzten, „meinetwegen mit tatkräftiger Unterstützung deiner bezaubernden Gattin auch diesen Fall aufklärst – zu unser aller Zufriedenheit.
     „Hast du auch gehört“, fragte unser Igel später seine Eheliebste, „wie er das Unser so betont hat?
     „Er kann sich eben für seinen eigenen Sohn nicht verbürgen“, folgerte Frau Struppe.
     Über die Reise der beiden mit der Heupferdkutsche und die ersten Untersuchungen am Tatort ist nichts oder wäre nur Graunvolles zu berichten.
     „Tigertim, nicht wahr?“ meldete sich plötzlich ein Naseweis.
     „Tschilp!“ entlarvte unser Nachtmeister sogleich.  „Woher weißt du das?
     „Na, das sieht doch jeder!“ wollte der Spatz nicht zuviel der Ehre.  „An den Streifen.
     Hast du denn schon einen Verdacht?
    „N’türlich!“ gefiel sich Tschilp als Kriminalist.  „Das können doch nur Turnélda und Richard gewesen sein.  Diesen Schuften ist alles zuzutrauen!  Wer hungermordet –“
     „Aber ich dachte“, unterbrach unser Nachtmeister, „die beiden wohnten jetzt hier;  dann ist das doch kein –“
     „Hungermörder bleiben Hungermörder!“ gab sich Tschilp als erfahren.  „Verhör sie nur, und du wirst sehen, wie gehässig die sein können.  Die bringen es gewiß sogar fertig, uns den Mord in die Schuhe zu schieben –“
     „– weil du und dein freches Pack ihn schon in den Schuhen tragt“, rechtfertigte sich plötzlich Richard.  „Herr Nachtmeister, nehmen Sie die 3 fest!  Wenn einer Tigertim umgebracht hat, dann diese da!
     „“Einer ist 3?“ wunderte sich unser Nachtmeister.  „Und 3 sind einer?  Na, dann wollen wir den 3. mal rufen: Tigertim!  Tigertim!
     „Nun ist er ganz und gar verrückt geworden!“ mangelte es Frau Struppe an Respekt.  „Tigertim ist doch tot!  Da liegt –“
     „Nee, nee“, fauchte es nun hervor, „das hätt’ ich mir gleich denken können: Den Nachtmeister Stropp kann niemand reinlegen.
     „Tigertim!“ entfuhr es Tschilp.  „Aber wir dachten, –“
     „Was kann ein Spatzenhirn schon denken!“ spottete der Kater.  „Hättest lieber mich da liegen sehen denn meine Schwester, was?  Wollte mich am Sonntag besuchen.  Achtet nicht auf die Fuhrwerke.  Da hat sie eben ein Huf getroffen.  So ist nun mal das Leben!
     „Wie hast du das nur herausgefunden?“ fragte die Eheliebste auf der Rückreise.
     „Ganz einfach“, blieb unser Stropp bescheiden, „ich werd’ doch noch eine Katze von einem Kater unterscheiden können!
© Stiftung Stückwerken, *25.-26.8.2011, freigegeben am 19.6.2024
Qouz-Note: 3

 


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