Überblick MamM 401 bis 420
401 Septemberfrühling (*29.9.2006)
402 Des Lebens
403 Der Schönheit
404 Vangello
405 Hasenherz und Hasenfuß {i001} (*31.10.+2.+4.11.2006)
406 Der Alte von Lingula {i002} (*7.11.2006)
407 Unser Haus {i003} (*14.11.2006)
408 Keine Angst, es ist eine Mährchen
409 Drei Bau- {i004} (*28.11.2006)
410 Ehrlich? {i005}
411 Malerliebe {i006}
412 Die schöne Puppe {i007}
413 Zum Beispiel ... {i008}
414 Rosa Rüstig, 75 {i009}
415 Veroneo und Merana {i010}
416 Maestra Kiefera
417 Freddilarius
418 Gräfin Miesetraut und die Trottler
419 Der alte Hinrich weckt die Schneeglöckchen
420 Das schwarze Schaf und der falsche Hirte
MamM 401 Septemberfrühling
Gleich und gleich gesellt sich gern? Gegensätze ziehen
sich an? Was denn nun? Möglicherweise sind das gar keine weisen
Wahrheiten, sondern nur Senf, mit dem ein Dritter einen Ehebund würzen möchte. Denn nach der Hochzeit geht es so oder so – himmelab:
Gleich und gleich langweilen sich, und Gegensatz und Gegensatz reiben sich, daß Fetzen und Funken fliegen! Und manchmal kommt alles
zusammen.
Nimm nur Königin Presta und König Walther. Gleich
waren sie sich wohl nur in einem: ihrem hitzigen Temperament. Ansonsten?
Für Presta lag das Gold im Munde der Abendstunde, für Walther im Munde des Morgens. Presta war gerne auf Festen und Feiern, Walther am
liebsten zu Hause und in Frieden. Für Presta mußte jeder Tag mindestens eine Überraschung haben; Walther hatte dagegen lieber alles geordnet und geregelt. Wie konnte so etwas
gutgehen?
Ja, warum hatten die beiden überhaupt einander geheiratet? Nun, fragst du den Volksmund, so wird er dir wieder
mit einem seiner sogenannten weisen Sprüche kommen: Frauen heiraten aus Neugier, Männer aus Müdigkeit. Kein Wunder, wenn sie nach der
Hochzeitsnacht jammern, schlecht geschlafen zu haben, und übellaunig sind. Allein – bei Presta und Walther gab es auch missionarische
Absichten: Sie glaubte sich IHN nach ihrem Bilde erziehen zu können, er sich SIE nach seinem Bilde. Große Hoffnungen, die vom rauhen
Alltag schnell empfingen und ihm lauter Töchter gebaren: Enttäuschungen!
Und dazu ein hitziges Temperament, – da werden die Blicke drinnen mit Zorn und Vorwürfen beladen und wandern nach draußen, suchend und mit neuen Erwartungen. Gab es denn nur Presta? Gab es nicht auch andere, – ebenfalls schön, nur jünger,
achtungsvoller und voll neuer Geheimnisse? Und Walthers suchende Blicke blieben nicht unerwidert. Nur, mußte sich Walther eingestehen: Sicheres Glück gab es nirgendwo. Auch bei einer
jüngeren Geliebten wäre die Schönheit nicht von Dauer. Auch ihre Achtung wäre nicht gegen Schwindsucht gefeit. Und auch bei ihr wäre nicht jedes gelüftete Geheimnis eine Freude für das Herz. Und
schließlich hatte er Presta einst geliebt!
Und Presta? Der war es nicht entgangen, daß sie mehr und mehr die Aufmerksamkeit ihres Mannes verlor, ohne
diesen Schaden von ihm ersetzt zu bekommen. Wen hätte das nicht gekränkt, zumal auch sie ihren Gatten einst geliebt hatte! Schließlich wußte sie sich keinen anderen Rat mehr, als hinaus in den Wald zu gehen und sich der Fee Miramaga anzuvertrauen.
Miramaga ließ sich alles schildern, auch des Königs Eigenarten, zog ihre Stirn in Falten und entließ dann die Königin mit Hoffnung, aber auch mit einem Dämpfer: „Meine
Kur schlägt nicht bei jedem an, sondern nur bei Männern, deren Augen noch sehen und deren Herzen noch nicht verhärtet sind.“
Am anderen Morgen wartete der König an der Frühstückstafel vergeblich auf seine Gemahlin. Gut, ihr verspätetes Erscheinen war nichts Neues für ihn, aber dennoch war er es nicht leid geworden, diese Unhöflichkeit zu tadeln. Im Gegenteil, es war ihm sogar ein Bedürfnis! Und als er sein Frühstücksmahl beendet
hatte und die Königin noch immer nicht erschienen war, begab er sich in ihre Gemächer, um dort seine Vorwürfe und Vorhaltungen abzuladen.
Allein – die Königin war nirgendwo anzutreffen. Das Bett schien über Nacht gar nicht benutzt worden zu
sein. Eine Kleiderschranktür stand offen. Manches war nicht an seinem
gewohnten Platz. Abgereist? Ohne ihm etwas zu sagen? Ohne Abschiedsbrief? Die Zofe wußte von nichts, der Kutscher wußte von nichts, und
niemand hatte in der Nacht Schritte oder Räderrasseln gehört. Der König stand nicht wenig betreten da, denn welcher Gatte gibt schon
gerne zu, von seiner Eheliebsten verlassen worden zu sein!
Und dann gab es da für den König noch eine andere Gefahr: Die Leute dichten dem, den sie beneiden, gerne Laster und Verbrechen an, zu denen sie selber kaum Gelegenheit
haben. Daß der Haussegen beim Königspaar in der letzten Zeit kaum noch gerade hing, hatte vor der Dienerschaft nicht mehr verborgen
werden können. Nun war die Königin spurlos verschwunden. Lag da nicht der
Gedanke nahe, der König könne eine Scheidung ohne Gericht und Anwalt gewählt haben?
Gab es denn wirklich keine Spuren? Walther ging noch einmal zurück in das Schlafgemach der Königin. Nein. Nur eine grüne Ranke lag auf dem Bett. Sonderbar, aber wohl kaum von Bedeutung. Achtlos nahm sie der König mit.
Nun mag es viele Männer geben, die den Lemming im Wappen tragen und ja nicht auffallen wollen; aber zum Glück
gibt es auch Männer mit Eigenarten, und zu diesen Männern zählte der König. Bei ihm war es das Stiefelputzen. Kein Diener konnte ihm das recht machen, und deshalb mußte es eben Walther jeden Morgen selber tun. Auf der Terrasse. Vor dem Fenster seines Arbeitskabinetts. Und damit es auf dieser Terrasse nicht zu wüst aussah, hatte der König eine Schale aufgestellt, über der er die Stiefel auszubürsten
pflegte. Mit der Zeit hatte sich in der Schale Leben entwickelt. Gräser
hatten gekeimt, auch Eich- und Ahornpflänzchen hatten sich an das Licht gewagt, doch zum Gebieter über Tod und Leben hatte sich Herr Wegerich entwickelt. Zwar hatte auch er sich nicht in jeder Schlacht gegen Sonne und Dürre als Sieger erwiesen, doch schließlich hatte er in dem König einen Freund
und Helfer gefunden, der des Regens Stelle bei Bedarf hinreichend vertrat. In diese Schale ward die Ranke gelegt und –
vergessen.
Allein – sie blieb von den Regnungen des Königs nicht ausgeschlossen, und schon nach wenigen Tagen dankte sie es ihm. Der König traute seinen Augen kaum, als er zum Fenster hinaus auf die Terrasse blickte: In der Schale hatte sich eine Blütenknospe
geöffnet. In zartem Rosa. Wie ein – Ach, einfach schön! Der König eilte hinaus. Tatsächlich! Die Ranke! Was er für abgestorben gehalten hatte, war voller Knospen!
Wie achtsam nun der König war! Er versuchte die Ranke zu verwurzeln, schützte sie vor zuviel Sonne, aber auch
vor zuviel Schatten; und er ließ sie niemals dursten. Und jeden Tag öffnete
sich eine neue Blütenknospe; nie mehr als eine!
Wie lange konnte das so weitergehen? Versonnen stand der König eines
Morgens am Fenster. Der Dichter mit Namen Herbstnebel nahm gerade draußen ein Dampfbad, so daß des Königs Gedanken nicht in die
Ferne schweifen konnten. Statt dessen wanderten sie zurück; zurück in die
Vergangenheit.
Hatte er nicht schon einmal ein Pflänzchen gehabt? Doch statt nach Knospen zu suchen, hatte er Blüten
gefordert. Und Früchte! Und alles auf einmal! Und ohne Verwurzelung! Und ohne Pflege! „Ach, Presta!“ seufzte der König sehnlich.
„Ihr wünscht, mein Gemahl?“ Ein sonderbares Echo!
Erstaunt wandte sich der König um. Ein Geist? Aber dieses
Lächeln? Er hatte es einst geliebt. Und – liebte es noch!
„Presta!“ Der König wußte nicht, was er sagen könne.
„Willkommen! Wo kommst du her?“
Nun, schon aus den alten Schriften wissen wir, daß Männer vor einer Frau kein Geheimnis verbergen können; doch
umgekehrt? Was eine Frau nicht sagen will, –
Und Presta wollte nichts verraten. Aber den Ton, der hier eben angeklungen war, ja, den liebte sie und wollte
ihn bewahren. Horch, von fern ein leiser Harfenton! Auch
im späten September konnte es noch einen Frühling geben. Erwachen. Auferstehen. Neu erblühen.
Hättest du das vom September gedacht?
© Stiftung Stückwerken, *29.9.2006, freigegeben am 27.7.2024
Qouz-Note: 2-
***
MamM 405 Hasenherz und Hasenfuß {i001}
Prinzessin Skalessa gebrach es nicht an Schönheit. Prinzessin Skalessa gebrach es
nicht an Verehrern. Prinzessin Skalessa gebrach es nicht an Vermögen oder sonstigen Dingen, nach denen die Menschen jagen. Allein – auch der Überfluß kann unser Glück trüben, und bei Skalessa waren es die vielen Jahre, die sie sich inzwischen vorzählen
mußte.
Nicht vor anderen Menschen! Da hielt sie ihr Alter geheim und sich den Zahn der Zeit vom Leibe. Selbst den Spiegel wußte sie zu täuschen. Aber sich selbst? Da gab es keine Hilfe. Wie wenige Jahre blieben ihr noch, bis in den Blicken der
Männer das 1. Mitleid aufkeimen mußte? Auch konnte sie es vor sich selbst immer schwerer verbergen, wie sie drohte einsam zu
werden. Ihre Altersgenossinnen und Freundinnen waren längst verheiratet und wählten ausschließlich Gesprächsstoffe, mit denen sich
Skalessa nicht kleiden konnte. Und das „Jungvieh“, wie Skalessa die jüngeren Mädchen zu nennen pflegte, war dumm und unerfahren, und –
es waren die Rivalinnen von morgen!
In solch einer mißlichen Lage, so weiß es jede Frau, hilft nur eins: Ein Mann muß her! Aber wer? Nun, die Ratgeber „Vom Mädchen zur Frau in 80 Tagen“ oder „Wie
angele ich den dicksten Fisch“ oder „Leitfaden für einen glücklichen Brautstand“ geizen nicht mit Meßlatten und Empfehlungen. Da das männliche Geschlecht bei sich keine Schönheit findet und diese woanders suchen muß, scheidet dieser Maßstab leider aus. Aber wie steht es mit dem Reichtum? Der Klugheit? Der Stärke und Macht? Und doch lehrt das Leben, daß diese Ratgeber keine Ahnung haben
und anscheinend von alten Jungfern geschrieben worden sind.
Denn auf welchen Mann richten die Frauen ihr Augenmerk? Richtig! Auf den, bei dem sie die meisten Geheimnisse wittern. Bei unserer Prinzessin war es
Graf Rainer von Sasse, der ihr nicht mehr aus dem Sinn ging. War er wirklich so
arm, wie es sein Äußeres vermuten ließ? Gewiß nicht, war sich Skalessa sicher. Bestimmt verbarg er einen unermeßlichen Reichtum! Denn nie sah sie ihn
untätig. Aber mit was verdiente er sein täglich' Brot? Und dann seine sachverständigen Blicke, mit denen er die weiblichen Schönheiten musterte! Woher kam ihm dieses Wissen? Aber nie stand er im Rampenlicht. Nie redete er von sich. Und was andere über ihn redeten, war dürftig und
widersprüchlich. Nein, darum mußte sich Skalessa wohl schon selber kümmern: ihren Wissensdurst zu stillen!
Wie? Als ob ich das den Frauen erst sagen müßte!
Sie spielte zunächst mit ihm das Zufallsspiel: Zufällig kreuzte sie seine Wege; zufällig ließ sie ihn ihre Stimme hören; zufällig ließ sie ihn ihren Duft einatmen. Ihre Köder erregten tatsächlich seine
Aufmerksamkeit! Er biß an! Allein – er ließ sich einfach nicht in den Hafen
ziehen!
Manchmal schien er ihr so nahe, daß sie meinte, ihn gleich mit Händen greifen zu können. Doch schwups – war er
ihr schon wieder entglitten und gewann sicheren Abstand. Das bereitete der Prinzessin manchen Kummer und ließ sie auf immer neue Listen
kommen; auf immer neue Höchstleistungen. Endlich hatte sie ihn derart in
eine Enge gezogen, daß er nicht mehr zurückkonnte. Die Prinzessin triumphierte.
Allein – die Geduld ist zwar in vielen Sprachen weiblichen Geschlechts, jedoch bei dessen Angehörigen zumindest in jüngerem Alter sehr selten. Und Skalessa fühlte sich noch jung genug; jung genug, um den Grafen sogleich in den
Hafen der Ehe zu lotsen.
Graf Rainer hatte jedoch mehr acht auf die Untiefen: „Ich bin ein armer Schlucker“, beteuerte er, „und ohne Vermögen und ohne geregelte Einkünfte.“
„Das ist kein Hindernis“, lenkte Skalessa in die Fahrrinne. „Desto besser läßt sich dein Taschengeld
überwachen.“
„Aber ich habe doch nur Junggeselle gelernt!“ jammerte sich Rainer zu einer neuen Untiefe hin. „Ein Junggeselle liebt alle Frauen ein bißchen. Du brauchst dir ja nur meine
Bildersammlung anzuschauen.“
„Und wer ist die schönste?“ ließ sich Skalessa nicht vom Kurs abbringen. „Natürlich ich! Und ich garantiere dir, du wirst bei mir nur zu schnell erlernen, wie
ein Ehemann sich zu verhalten hat.“
„Aber deine Eltern sind dagegen!“ sträubte sich Rainer zum 3. Mal.
„Na und?“ sah Skalessa auch darin kein Hindernis. „Daran
kannst du eben sehen, wie groß meine Liebe zu dir ist. Weißt du was, du bist ein Hasenfuß und Hasenherz –“
O weh! Das kommt davon, wenn Frauen zu selten Märchen lesen! Denn wäre Skalessa das Märchen vom Froschkönig bekannt gewesen, hätte sie sich gewiß Gedanken über
die Vorgeschichte gemacht. Und sie wäre vorsichtiger gewesen, einen Mann auszuzanken und mit Tiernamen zu bedenken. Nun aber hatte sie die Bescherung: Vor ihr hockte ein – Feldhase! Was tun?
Vor den Altar zerren und trotzdem heiraten? Nein, das hätte sie zum Gespött der Kinder gemacht. Den Hasen davonjagen? Nein, dafür war ihre Liebe zu groß. Aber da gab es doch im See eine kleine Insel.
Konnte Skalessa nicht –? Skalessa konnte! Sie konnte ihn
hinüberrudern. Sie konnte ihn dort aussetzen. Und weil sie diesen Hasen
hier für wasserscheu hielt, konnte sie ihn auf jener Insel auch festhalten.
Nein, darben mußte Rainer hier nicht; aber tätest du dich in einer Hasenhaut wohl fühlen? Und das allein auf einer Insel? Ich kann mir ein schöneres Leben
vorstellen! Diese Langeweile! Und da du bereits weißt, wie sehr Rainer der
Untätigkeit abgeneigt war, wird dich sein neuer Zeitvertreib nicht überraschen: Rainer fing an zu buddeln. Nein, nicht nach Kartoffeln,
auch keinen Kaninchenbau, aber wer nicht schwimmen will, muß sich eben einen Tunnel graben.
Tscha, leicht gesagt, schwer getan! Wenn es auch viele unterschiedliche Ansichten über den Tunnelbau gibt, in
einem Punkt stimmen sie überein: Ein Tunnel ist ein Durchgang, keine Sackgasse! Was half also Rainer die ausgedehnte Wühlarbeit, wenn
er stets wieder auf dem gleichen Wege zurückkehren mußte? Allein – schon mancher hat etwas gesucht und etwas anderes
gefunden. Rainer war ein solcher „Mancher“: Er fand einen großen Schatz!
Eigentlich hätte er nun glücklich sein müssen, denn jetzt konnte er sich endlich eine Frau leisten. Aber damit
hatte gleichzeitig – du erinnerst dich – eine wichtige Ausrede gegen eine Hochzeit ihren Abschied erhalten. Zum Glück blieben ihm noch
2 Verteidigungsreihen übrig.
Jedoch – auch die 2. begann ihre Stärke einzubüßen; hier nagten tüchtig Zeit und Sehnsucht. Was sollte er auch machen! In seinem Landhaus hatte er seine Bildersammlung
gehabt. Und selbst als er sich schon längst in Skalessa verliebt hatte, war er weiterhin seiner Leidenschaft nachgegangen und hatte
Bilder der Schönheit in sein Landhaus geschleppt. Dies und auch den Grund für dieses sonderbare Verhalten hatte er „natürlich“ vor
Skalessa geheimgehalten. Ihre Schönheit war ihm zu mächtig und gefährlich geworden, und um nicht hilflos unter ihre Pantöffelchen zu
geraten, hatte er versucht, Gegenköniginnen aufzubauen; „natürlich“ nur als Bilder.
Doch was halfen ihm diese Gegenköniginnen jetzt auf seiner einsamen Insel? Nichts! Immer mehr verblaßten sie; denn die einzige Schönheitskönigin, die er hier zu Gesicht
bekam, war: Skalessa. Und hatte er sich früher an mancher Gegenkönigin gar schnell satt gesehen, so war bei Skalessa alles
anders. Gut, wenn Skalessa ihn besuchte, wehte auch zuweilen ein kühler Wind, der aber auch sein Gutes hatte: die Überhitzung seiner
Gefühle zu verhindern. Aber kaum war Skalessa wieder fortgerudert, wuchs seine Sehnsucht, wuchs und wuchs!
Blieb also nur noch die letzte Verteidigungslinie. Doch auch der drohte Ungemach. Es hatte sich nämlich der Bischof jener Gegend aus alten Schriften vorlesen lassen und war dabei auf ein
altes Wundermittel gestoßen: Hasenfleisch zu essen, um das Handwerk der Wiegenschreiner zu fördern. Dem mußte gesteuert werden, dachte
der Bischof in törichtem Eifer, erließ ein Verbot und – erreichte genau das Gegenteil! Denn willst du heil an schlafenden Hunden
vorbeikommen, dann darfst du sie nicht wecken!
Nun – der Bischof brauchte die Zeche nicht zu bezahlen, aber viele Hasen mußten es mit ihrem Leben. Und auch
Rainer wollten 2 Menschen zu Hunden werden. Es war nämlich dem Herzog nicht verborgen geblieben,
daß seine Tochter jeden Tag zu jener Insel hinüberruderte. Heimlich war er Skalessa bis zum Ufer gefolgt und hatte dabei jenen Hasen
erspäht. Wäre das nicht ein nützlicher Braten? Noch am gleichen Abend
beratschlagte er sich mit seiner Gemahlin.
Anscheinend steigt mit der Zahl der Ehejahre bei Paaren das Bedürfnis, sich verschiedener Hilfsmittel zu bedienen, um die nächtliche Ehefreuden neu zu entfachen und die
Glut nicht ausgehen zu lassen. Vielleicht kommt aus jener Ecke das Sprichwort: Die Liebe geht durch
den Magen. Denn wie ist es sonst zu erklären, daß die Herzogin ihrem Gatten nicht nur mit Worten zustimmte, sondern ihn
auch tatkräftig zu unterstützen gedachte und sogar zur Eile mahnte? Armer Rainer, dein letztes Stündchen scheint zu
schlagen.
So er sich schlagen läßt! Jedoch – es sah gar nicht gut für Rainer aus, als Herzogin und Herzog die Insel
betraten, letzterer die Flinte im Anschlag, sie – Nun, ich betone, meine Ansicht deckt sich nicht mit der des Herzogs. Er hatte,
stell dir vor, seiner Gemahlin nicht die Rolle der Schützin zugedacht, –sondern die der Treiberin. Diese Geringschätzung ist sicherlich
zu tadeln und zeitigte ihre Folgen. Die Herzogin stand nämlich (trotz ihrer Jahre) noch in voller
Blüte und war noch von keinem Schwiegersohn zum Drachen gemacht worden. Somit konnte sie weder Angst noch Schrecken verbreiten, sondern
– ergriff selbst das Hasenpanier, als Rainer sich plötzlich vor ihr aus seiner Sasse erhob und ausrief: „Bella Donna, welch eine Ähnlichkeit! Darf ich Euch im Bilde festhalten?“
Gerade kam Skalessa des Wassers, und als sie die Todesgefahr für Rainer gewahrte und wie tapfer er dieser getrotzt hatte, gab es für sie kein Halten mehr. Sie sprang an Land, eilte auf den Hasen zu, riß ihn in ihre Arme und hielt in diesen plötzlich den jungen Grafen, der – ja, der ihre Liebkosungen
dankbar annahm und erwiderte.
Und wenn Skalessa kein neuer Tiername eingefallen ist, dann läuteten statt der letzten Stunde bestimmt bald die Glocken Hochzeit.
© Stiftung Stückwerken, *31.10.+2.+4.11.2006, freigegeben am 8.7.2024
Qouz-Note: 3+
{Das 1. belegte italienische MamM arturs vom Jardinisee, obwohl hier der Alte von der Halbinsel direkt noch gar nicht auftritt. Und da es eine Haseninsel zum Beispiel im Gardasee/I gebe, wollen manche Touristenlenkerinnen diesen See als literarische Vorlage deuten.}
***
MamM 406 Der Alte von Lingula {i002}
Die Ausgangslage könnte der Kundige biblisch nennen: Graf Gert von Gerten hatte nicht nur einen Thron und ein Schloß geerbt, sondern ein
ganzes Reich dazu. Bei wem weckte das Erwartungen, bei wem Befürchtungen?
Da waren die jungen Bürger, die hofften, es werde alles anders werden; da waren die alten Bürger, die
befürchteten, es werde alles anders werden. Und da war der Graf, der gar nicht damit gerechnet hatte, so früh auf dem Thron zu
sitzen.
Gut, auch er war nicht mit geschlossenen Augen durchs Leben gestolpert, hatte manches beobachtet, was nicht seinen Beifall fand, und hatte manches einer Verbesserung
würdig gehalten. Doch nun, nun trug er plötzlich Verantwortung, und da gewann vieles neue Ansichten. Regieren – das erschien ihm mit einem Mal wie ein Holzstäbchenspiel, bei dem eine gewollte Veränderung hier eine ungewollte Veränderung dort
hervorrufen konnte. Wäre es da nicht besser, die Verantwortung auf mehrere Schultern zu legen? Also suchte Graf Gert Ratgeber.
Da er selbst noch nicht sehr bejahrt war, verwundert es dich gewiß nicht, wenn er zunächst den Rat der Jungen einholte. Die ließen sich nicht 2mal bitten, sondern die Vorschläge nur so sprudeln. Als erstes
müsse das Wappen geändert werden! Es sei viel zu sehr der Natur nachempfunden und deshalb altmodisch und bäuerisch. Gefragt seien nun gerade Linien, da sie die Herrschaft über alles Leben am besten ausdrückten.
Und dann die alten Schriften und Geschichten! Weg damit! Gefühle, Träume, Phantasie, – die hemmten nur die Tatkraft! Zeitgemäß seien nun
Erkenntnis, Fakten und Nüchternheit!
Und schließlich die Lieder! Diese Gemütsduselei und Harmoniebesessenheit! Wer achte denn da überhaupt noch auf den Text? Nein, Musik müsse wachrütteln, ja, sie
müsse hin und wieder sogar weh tun!
Graf Gert nahm alle diese Vorschläge entgegen; doch statt einer Zusage sicherte er lediglich zu, sich alles
reiflich überlegen zu wollen.
Gern hätte er jetzt auch die Meinungen der Alten gehört, aber – Da gab es die einen, die ihr Mäntelchen nach dem Winde hängten. Sie hatten mitbekommen, wie der Graf die Jungen auf sein Schloß geladen hatte, und versprachen sich Vorteile davon, sich jenen Ansichten
anzuschließen. Und die andern? Die hatten auch die Jungen in das Schloß
strömen gesehen und – hatten resigniert. „Auf uns hört ja doch keiner!“ sprachen
sie unter sich, verstummten und löschten ihre Augen. Wer wollte da noch an dem Siege der Jungen zweifeln!
Einfalt kann gewiß auch eine Tugend sein; allein – sie verträgt sich nicht mit Verborgenem. Und für den Grafen gab es da noch etwas Verborgenes. Denn drüben auf der Halbinsel
lebte damals der alte Monigo, auch bekannt als der Alte von Lingula. Der galt als
unbestechlich und wetterfest, und dessen Ansichten kannte Graf Gert noch nicht. Also wanderte er eines frühen Morgens hinaus nach
Lingula, schilderte dem Alten alle erhaltenen Vorschläge und bat um Rat.
Der Alte hatte aufmerksam zugehört, doch seine Antwort ließ auf sich warten. Schweigend erhob er sich,
bedeutete dem Grafen zu folgen, bestieg mit ihm ein Boot und ruderte hinüber zu einem anderen Ufer.
Dort herrschte ein sonderbares Treiben. Mit Äxten, Hacken und Sägen waren etliche junge Männer dabei, die
Bäume von deren Wurzeln zu trennen.
„Wieso tun die das?“ fragte der Graf verwundert.
„Um die Bäume besser fortschaffen zu können“, lautete die Antwort des Alten. „Jetzt braucht nur noch ein Sturm
zu kommen, und alles wird umgeworfen!“
„Aber“, rief der Graf bestürzt aus, „das wird ja eine ganze Generation dauern, bis hier wieder ein Wald steht!
Es sind sogar Olivenbäume und Zedern darunter!“
„Freilich wird es lange dauern“, bestätigte der Alte, „und wir beide werden es kaum erleben. Und nur bei
sorgfältiger Pflege und guter Witterung wird es wieder schön werden.“
„Herzlos!“ urteilte der Graf. Nachdenklich ließ er
sich zur Halbinsel zurückrudern. „Wolltet Ihr mit dem, was Ihr mir gezeigt habt, sagen, ich solle alles beim alten belassen?“
„So?“ tat der Alte erstaunt. „Hätte ich das
gesagt? Nein. Aber auch wenn Bilder nicht das Leben sind, so können sie uns
zum Leben leiten. Ein Wald besteht nicht nur aus alten Bäumen; auch das
junge Leben will sich entfalten. Und wenn die alten Schutz geben, ohne das Sonnenlicht zu nehmen, und die jungen dem Boden Halt, ohne
die Luft zu nehmen, so wird der Wald gedeihen. Hilf allen deinen Kinder, ihre Gaben zu geben, ohne anderen wegzunehmen, ich achte,
vielleicht wird dir kein Denkmal aus Stein gesetzt werden, aber Besseres kannst du für dein Volk nicht tun!“
Es war aber eine lebenslange Aufgabe –
© Stiftung Stückwerken, *7.11.2006, freigegeben am 6.7.2024
Qouz-Note: 3
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MamM 407 Unser Haus {i003}
Am Jardinisee hat fast jedes Dorf seine Burg oder sein Schloß; und es sind dort davon so viele,
daß sie gar nicht alle in den Reiseführern verzeichnet sind. Woran das liegt? Ich weiß es nicht. Am hitzigen Gemüt der Menschen? Nun ja, gib ihnen Pferd und Wagen, dann wirst du sehen, wie rücksichtsvoll sie sich begegnen; doch meide dann die Landstraßen und wandere nur auf Pfaden, die einer Kutsche unzugänglich sind. Allein – bei 3 Burgen, nun ja, die haben eben ihre besondere Geschichte. Und die will
ich dir jetzt erzählen.
Doch wo fang ich an? Am besten bei Bekanntem!
Erinnerst du dich noch an den Alten von der Halbinsel? Nun, der bekam eines Tages wieder mal Besuch, und zwar doppelt. Das heißt, – so recht
eins waren Besucherin und Besucher nicht; was hätte sie auch sonst zu dem Alten geführt? Jedoch zumindest in einem glichen sich die beiden: Sie waren voller Vorwürfe gegen den andern.
„Stellt Euch vor“, sprudelte es aus Karolina heraus, „da verwende ich Zeit und Geld und will ihn überraschen, und
was sagt dieser Trottel? Ja, schau du nur! Da sagt er doch, er wolle sich
nicht ins gemachte Nest setzen. Hat da eine noch Töne! Die prächtigste Burg
weit und breit, und der Bräutigam will nicht einziehen! Nur weil er sie nicht selbst gebaut hat! Und das Dollste kommt noch! Indessen hat er selber still und heimlich ein kleines
Burgileinchen erwerkelt, und nun erwartet er von mir, daß ich, ich! zu ihm in diese armselige Hütte ziehe! Was sollen da die Leute von mir denken! Hat sich wohl verspekuliert, werden sie sagen
und keine Oliven und keinen Wein mehr von meinen Verwaltern kaufen.“
„Ja, Hochwürden“, kam in einer Atempause endlich Bardo zu Wort, „ und nun ist sogar die Hochzeit in
Gefahr! Denn sie will nicht zu mir ziehen, und ich kann doch nicht zu ihr ziehen. Was sollen da die Leute von mir denken! Aber wir lieben uns doch! Und ein Leben ohne sie, das kann ich mir gar nicht mehr vorstellen!“
„Tscha“, schmunzelte, nein, reichelte der Alte, „wer euch so reden hört, muß denken, ihr wäret schon viele Jahre verheiratet. Dabei ist doch alles ganz einfach! Jetzt ist zwar Herbst, aber wenn der Frühling kommt, dann nistet dort drüben ein Vogelpärchen. Gut, das Nest ist nicht für
die Ewigkeit gebaut und soll nur ein paar Wochen halten, aber – bauen wir Menschen denn hier Nester für die Ewigkeit? Und lernen können
wir allemal von diesem Vogelpaar, denn sie bauen ihr Nest gemeinsam.“
Viel mehr brauchte der Alte nicht zu sagen. Und als zur nächsten Hochzeit geladen wurde, da stand auf den
Karten: Kommt auf unsere Burg – Doch will ich den Namen nicht verraten, denn ich erzähle ja Mährchen, keine Sagen.
© Stiftung Stückwerken, *14.11.2006, freigegeben am 8.7.2024
Qouz-Note: 3-
{Hinter dem Jardinisee, auch Amatensee genannt, vermuten manche Touristenlenkerinnen den
Gardasee/I, obwohl eine Beziehung zu Brenzone sul Garda-Castello-VR/I und Brenzone sul Garda-Castelletto-VR/I oder gar zu Bardolino-VR/I durch keine Fakten oder Sagen wissenschaftlich belegt
werden kann. Auch erscheint die Schreibweise des Namens der Braut sehr unitalienisch.}
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MamM 409 Drei Bau- {i004}
Daß am Jardinisee in fast jedem Dorf eine Burg an alte Zeiten erinnert, habe ich dir bereits erzählt. Es ist, als habe in jener Gegend die allgemeine Bauwut ihren Anfang genommen. Doch
Bauen ist nicht gleich Bauen, und nicht jeder Bauherr ist bereits ein Baumeister. Und – wer nicht ein Haus zu bauen versteht, wird der
ein Reich zu bauen wissen?
Eine Frage, die des Nachdenkens wert ist und die unseren Alten von der Halbinsel bereits beschäftigt haben mußte. Denn als er von dem Grafen Pieva aufgesucht und um einen Rat gebeten wurde, mußte er nicht lange überlegen. Obwohl – obwohl es eine wichtige Angelegenheit war. Der Graf hatte nämlich 3 Söhne,
wollte aber nicht, daß seine Grafschaft aufgeteilt werde und zerfalle. Jedoch – wem durfte er das Reich vererben? Jeder Sohn trug etwas vom Wesen des Vaters in sich.
Der Rat des Alten hierzu war sonderbar: „Setz deinen Söhnen eine Frist von 3 Jahren, in denen sie ein festes Haus bauen mögen; wer darin die größte Meisterschaft beweist, dem vertraue dein Reich an.“
Der Graf wunderte sich nicht wenig; aber da der Alte ob seiner Weisheit bekannt war, ward der Rat
umgesetzt.
Als erster krempelte Stronko, der älteste Sohn, die Ärmel hoch, verließ sein Vaterhaus und – Tscha, was lag
ihm am nächsten? Nein, du wirst es nicht glauben, aber so etwas ist gar nicht so selten: Stronko fing an, die Fensterscheiben seines
Vaterhauses einzuwerfen. „Denn“, so sprach er zu sich, „hier gibt es vieles, was mir mißfällt. Was soll ich also weit laufen!“ Und es blieb nicht bei den Fensterscheiben, auch der
Tür rückte er zu Leibe, und schließlich bewarf er sein Elternhaus sogar mit Schmutz.
Gut, daß am Jardinisee ein mildes Klima waltet; denn du kannst dir gewiß gut vorstellen, daß es auf der Burg
infolge Stronkos Gebaren nicht gerade lustig zu wohnen war. Allein – Sonjoro, den
jüngsten Bruder, focht das alles überhaupt nicht an; der hatte sich in das oberste Turmstübchen zurückgezogen und baute – auf seine
Art. Er lag nämlich Tag und Nacht auf seinem Sofa und träumte und wünschte und träumte und wünschte und – träumte und
wünschte. Und wenn er nicht gestorben ist, dann –
Nun, er starb in den 3 Jahren nicht. Und du kannst bestimmt mit dem Grafen mitfühlen, wie sehnlich er das Ende
der 3 Jahre herbeisehnte. Endlich konnte er dem Alten auf der Halbinsel Bericht
erstatten.
Stronko habe vor lauter Mängelsuche überhaupt nichts zustande gebracht. Obwohl er ja hier und da durchaus
recht gehabt habe; die alte Burg habe tatsächlich ihre Mängel gehabt. Doch
nun sei alles noch viel schlimmer und die Burg so gut wie unbewohnbar.
Dagegen habe Sonjoro keinen Schaden angerichtet, aber vermutlich Schaden an seiner Verständigkeit genommen.
Denn nach Ablauf der Frist habe er den Vater an das Fenster geführt, in die Lüfte gedeutet und dann das herrlichste Schloß beschrieben.
Angeblich hätten ihm das ein paar Feen erbaut. Doch außer etlichen Wolken sei nichts zu sehen gewesen.
Und Albero, der mittlere Sohn? Ach so, ja, der habe in
der Nachbarschaft eine neue Burg gebaut, so – wie er sein Vaterhaus von früher noch in Erinnerung gehabt habe.
Tscha, wie hättest du nun entschieden? Der Alte aber sprach: „So gib Stronko, dem ältesten Sohn, das alte
Haus; mag er es zu seinem eigenen machen. Sonjoro, dem jüngsten Sohn, gib
in deinem Reich das Traumtal; mag er dort nach Herzenslust bauen. Du aber zieh in Alberos neue Burg. Und mach sie zu einem Vaterhaus. Und laß deinen Erben in seine neuen Aufgaben hineinwachsen.“
Und dieser Erbe hieß –
© Stiftung Stückwerken, *28.11.2006, freigegeben am 10.7.2024
Qouz-Note: 3
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