Überblick MamM 361 bis 380

 

   361  Ein Überhälter (*27.11.2005)
   362  Als die Kinder ... (*1.12.2005)
   363  Armfried und Vielmann
   364  Das Weihnachtsgeschenk (*11.12.2005)
   365  Vor der Tür


   366  Der große Preis
   367  Altenstadt – Ein Wintermärchen
   368  Der große Hops
   369  Jardine
   370  Kalaf und Kniesig


   371  Der Tempelsegen

   372  Der Baummeister (*16.2.2006)
   373  Malte, der Maler, oder Das Lächeln des Lebens
   374  Maler Malte und die Frauenzimmer
   375  Nachtmeister Stropp und der große Krieg {s013} (*8.+12.3.2006)


   376  Bratenrock und Kochwäsche
   377  Oh, du liebe Wissenschaft
   378  Ödeneich
   379  Der alte Mann und seine Kinder
   380  Der reiche Bräutigam

 

 


MamM 361  Ein Überhälter

Mit dem Totensonntag ende das Kirchenjahr, sagen manche.  Aber was ist schon ein Jahr?  Ein Meilenstein am Wege?  Wohl nur für die Wegstrecke, die hinter uns liegt;  aber wie lang die Wegstrecke vor uns ist, sagt er uns nicht.  Dazu paßt trefflicher der andere Name jenes Sonntags: Ewigkeitssonntag.  Unendlich.  Zeitlos.  Nicht meßbar.
     Für den glücklichen Jobst war dieser Sonntag jedoch ein Tag der Toten gewesen.  Glücklicher Jobst?  Ja, dieser Beiname war ihm gegeben worden.  Und das in Plagendorf!  Denn Jobst konnte anfangen, was er wollte, stets schlug es ihm zum Glücke aus.  Gut, er war tüchtig;  aber das waren auch andere Schuhmacher und blieben dennoch arm.  Der glückliche Jobst dagegen war fürstabtlicher Hoflieferant und nannte eine große Werkstatt mit vielen Gesellen sein eigen.  Das brachte ihm so viel ein, daß er sogar das Wasserschloß zu Plagendorf kaufen konnte.
     Wer da hat, dem wird gegeben!  In das Schloß zog bald auch eine Eheliebste ein, die nicht nur Weißzeug mitbrachte, sondern auch manchen klingenden Taler für die eiserne Truhe.  Dann kam das 1. Kind, das 2., das 3.;  und damit Lachen und Singen.  Das Glück schien vollkommen zu sein, der Beiname berechtigt.
     Dem Glück mangelte es auch nicht an Dauer.  7 kurze Jahre währte es.  Jedoch – zuerst starb drüben im Schlosse der Fürstabt.  Ihm folgte zwar ein neuer, mit ihm aber auch ein neuer Hoflieferant.  Schnell sprach es sich herum, daß Jobstens Geschäfte schlechtgingen;  und wenn eines Schuhmachers Geschäfte erst einmal schlechtgehen, dann gehen sie bald noch schlechter und dann gar nicht mehr.  Die Gesellen müssen entlassen werden, aber nicht in Not und Elend.  Jobst war von jenem Menschenschlage, der erst an andere denkt.  Niemand sollte ihm vorwerfen können, er habe andere darben lassen, selbst aber in Saus und Braus gelebt.  Also wurden Werkstatt und Schloß weitgehend verkauft und der Erlös an die Gesellen verteilt.  Nur das kleine Torhäuschen blieb in seinem Besitz;  hier zog die Familie ein, und hierhin rettete er einige Werkzeuge für eine bescheidene Flickschusterei.
     So eng es im Torhäuschen auch war, dennoch gab es bereits im November Einquartierung.  Wie gerne hätte Jobst sie abgewendet!  Er bettelte und flehte, und die Einquartierung wurde auch nach wenigen Tagen aufgehoben;  doch anders, als es Jobst gedacht hatte.  Die Krankheit hatte ein Kind nach dem andern besucht;  und als der Totensonntag kam, da stand Jobst drüben auf dem Totenacker auch noch an einem 4. Grab.  Das Sterben der Kinder hatte die Kräfte der Mutter aufgezehrt.
     Trostlos kehrte der arme Jobst in sein einsames Torhäuschen zurück.  Beten konnte er nicht mehr.  Zu wem auch?  Zu einem grausamen, lieblosen Wesen, das unschuldige Kinder aus der Blüte ihres Lebens riß?  Vergeblich hatte der Pfarrer zu trösten versucht, auch mancher der Trauergäste;  das Herz von Jobst hatte niemand erreicht.  Jobst hatte abgeschlossen.
     Hätte am Totensonntag wenigstens die Sonne geschienen!  Hinter den Wolkenvorhängen mochte es auch hell sein, aber davor erschien der Himmel grau und trostlos.  In der Nacht war kein Stern zu sehen, und am nächsten Tag verließ Jobst das Torhäuschen, um –  Nein, zurückkehren wollte er nicht mehr;  Jobst wollte den Tod suchen.
     Aber wo?  Zuerst ging Jobst auf den Totenacker;  denn dort gab es ja die Gräber.  Jobst traf auch jemanden an: den Totengräber!
     Nein, dem Tod sei er auch noch nicht begegnet, erklärte der Totengräber.  Da sei Jobst hier an der falschen Adresse.  Zwar kämen ständig Leichen hier an, aber nicht in Begleitung des Todes, sondern in Begleitung des Schreiners.  Aber vielleicht versuche es Jobst mal drüben im Spital;  dort gehe der Tod bekanntlich ein und aus.
     Jobst bedankte sich für den Rat und befolgte ihn.  Zumindest wollte er ihn befolgen, doch am Eingang des Spitals ward er vom Pförtner aufgehalten.  Ja, der Tod kehre hier häufig ein, gab der Pförtner zu, sei aber oft sehr übellaunig.  Denn ihm habe der Doktor Vitalis schon manchen wieder aus den Armen gerissen.  Jobst versuche es deshalb besser auf der Landstraße;  bekanntlich gebiete dort niemand dem Tode Einhalt.
     Jobst bedankte sich, – oder ist entdanken treffender?  Jedenfalls – er brauchte auf der Landstraße nicht lange zu gehen, da begegnete ihm bereits der Tod.
     „Was willst du von mir?“ fragte der Tod etwas ungehalten.  „Ich bin in Eile.
     „Nehmt mich mit!“ bat Jobst.
     „Nein“, lehnte der Tod barsch ab, „dazu habe ich jetzt keinen Auftrag!
     „Aber unsere Kinder und meine Frau“, klagte Jobst verbittert, „habt Ihr ohne weiteres mitgenommen.
     „Das war etwas anderes!“ rechtfertigte sich der Tod.  „Dazu gab’s einen gültigen Auftrag.
     „Aber sie waren alle 4 viel jünger denn ich“, hielt Jobst dagegen.
     „Na und?“ tat der Tod den Einwand ab.  „Das Alter hat nichts zu sagen.  Reif ist reif;  und Auftrag ist Auftrag!
     „Wo bleibt da die Gerechtigkeit!“ empörte sich Jobst.
     „Du“, mahnte der Tod, „sag das nicht!  Das wird schon alles seine Richtigkeit haben.  Schau mal, der Berg dort drüben!  Siehst du von hier, was hinter ihm liegt?  Nein?  Ja, dazu müßtest du erst einmal hinaufsteigen!  Solange du also noch hier bist, kannst du gar nicht darüber urteilen, was dahinter liegt.
     „Aber ich bin doch auch schon reif“, meinte Jobst.
     „Wärest du reif“, war des Todes Logik, „dann hätte ich einen Auftrag, dich zu holen.  Da ich aber keinen Auftrag habe, kannst du also noch nicht reif sein!
     „Und was soll ich noch hier?“ fragte Jobst in einem Tone, als gäbe es darauf keine Antwort.
     „Das weiß ich auch nicht“, begann der Tod.  „Aber du könntest mir einen Gefallen tun.  Mir ist nämlich in den letzten Jahren aufgefallen, daß unter euch Menschen die Angst vor mir immer mehr um sich gegriffen hat.  Nicht erst, wenn ich komme, geht der Jammer an, sondern bereits viele Jahre vorher.  Und komme ich dann, ist dennoch kaum einer vorbereitet.  Geh du also hin, und zeig den Menschen, daß vor mir niemand Angst zu haben braucht.  Dazu bedarf es gar keiner großen Reden, sondern nur des unerschrockenen Seins.  Gewahren die Menschen, daß du trotz aller Schicksalsschläge nicht zerbrochen bist, sondern dein Leben wieder angenommen hast, ja, dann kannst du gewiß mehr Menschen helfen, als du es zuvor mit all deinem Reichtum jemals vermochtest.  Die Angst, die Angst ist es, die euch das Leben endet;  nicht ich!  Ich bin nur Fuhrmann und Begleiter von einem Reich zum andern.  Aber jetzt muß ich weiter.  Leb wohl!
     Leb wohl! – Ein Gruß, der nicht an einem Ende steht, sondern nach dem es weitergeht.  Es müssen weise Menschen gewesen sein, die es so eingerichtet haben: Auf den letzten Sonntag des Kirchenjahres folgt – das 1. Licht des Advents ...
© Stiftung Stückwerken, *27.11.2005, freigegeben am 29.6.2024
Qouz-Note: 3

 


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MamM 362  Als die Kinder ...

Wer hätte noch nie –  Du willst schlafen, brauchst dringend deine Ruhe, aber was seit kurzem bei euch wohnt, das weint und schreit die ganze Nacht.  Jedenfalls kommt es dir so vor, als hättest du kein Auge zugedrückt.  Du mußt dringend weg, aber es will nicht mit;  und allein zu Hause lassen kannst du es auch nicht.  Es quengelt, will nichts einsehen, macht sich dreckig, schreit, weint, es – ist ungezogen!
     Und dann noch in der Kirche!  Im Dom!  Bischof und Domherren waren ratlos.  Bei diesem Lärmen waren weder Andacht noch Erbauung möglich.  Wer konnte sich da noch auf seine Predigt, auf seine Segnungen konzentrieren!  Zwar wurden die Eltern immer wieder ermahnt, zwar wurden diese Ermahnungen nach damaliger Sitte handfest weitergegeben, aber die Ungezogenheit der Kinder nahm immer mehr überhand.
     Schließlich ließ der Bischof demjenigen eine hohe Belohnung aussetzen, der dem Unheil steuern könne.  Bei manchem Bierkrug wurde auch eifrig über die richtige Lösung gestritten, auf dem Schlosse meldeten sich aber nur 2.
     Der eine war gekleidet, als wisse er selbst nicht genau, ob er jetzt Feldwebel oder Jägermeister sei.  Die Stimme war polternd und laut und die Stirn geprägt von unerbittlicher Strenge gegen andere und häufigem Zorn.
     „Ich mein’“, begann er, ohne sich mit Höflichkeiten aufzuhalten, „Ihr gebt die Kinder mir, und ich mach’ was aus ihnen.  Wer zum Kriegshandwerk taugt, den steck’ ich unter die Soldaten, da lernt er schnell, was Gehorsam ist.  Wer klein ist, kommt ins Bergwerk und lernt da schnell das Stillesein.  Wenn nicht, dann kriegt er eben vorzeitig den Husten und hat bald sein Ende.  Und der Rest?  Arbeiten natürlich!  Und wer nicht spurt –, nun, Hunger ist der beste Zuchtmeister!  Jedenfalls könnt Ihr sicher sein: Alle werden zu etwas Brauchbarem erzogen werden, und Ihr seid sie los.
     Mancher Domherr hatte bei den Wörtern des Fremden beifällig genickt: 2 Fliegen konnten so mit einer Klappe geschlagen werden.  Der Bischof jedoch schien nicht viel von der Fliegenjagd zu halten, denn er bat um Bedenkzeit, entließ den 1. Ratgeber und befahl, den 2. in den Saal zu führen.
     Ratgeber?  Ratgeberin!  Und dies nahm manchen Domherren bereits jetzt gegen sie ein.  Allein – auch wenn’s sich keiner der Herren erklären konnte: Es war, als sei mit Frau Wildtraud die Sonne in den Saal gelangt.  Obwohl – statt glänzendem Schmuck hatten sich einige Blätter im Haare festgesetzt;  und zu häufig wurde dieses strähnige Haar bestimmt nicht gekämmt.  Die roten Wangen zeugten weder von Schminke noch von nächtelanger Arbeit in der Spinnstube.  Und aus den Augen sprach ein Schalk mit unerschütterlicher Zuversicht: „Ich will das, und du machst das jetzt!  Widerworte gibt es nicht!
     Aber auch Wildtrauds Mund sprach ein paar Worte.  Sie habe von der Not in Siebenkirchen gehört und werde deshalb alle Kinder mit sich in den Wald nehmen.  Und sollte es die Herren reuen, so möge der Herr Bischof 7mal Mal des Morgens an den Waldrand kommen und nach ihr rufen.
     Reuen?  Empört blickten sich manche Domherren an.  Sprach nicht St. Paulus zu Recht –
     Der Bischof dagegen war ein vorsichtiger Mann: „Liebe Brüder, wir alle sind immer noch Menschen und können uns als solche irren.  Sollten wir uns also später eines anderen besinnen, so käme dies für manches Kind, das als Soldat gefallen ist oder im Bergwerk verschüttet wurde, gewiß zu spät.  Deshalb nehmen wir das Anerbieten von Frau Wildtraud an.
     Tscha, welcher Domherr wollte schon seinem Bischof widersprechen!  Und so erfolgte bereits am nächsten Tage der Auszug aus Siebenkirchen.  Wer noch nicht laufen konnte, wurde in einem Wägelchen gezogen;  und wer nicht wollte, – na, da genügte ein Blick von Tante Wildtraud!  Und so viele wollten sich auch gar nicht an Mutters Kittelschürze festhalten.  Eine Wanderung in den wilden Wald, das war bestimmt nichts Langweiliges!  Kein Kind blieb zurück!
     Welch eine Veränderung in Siebenkirchen!  Niemand störte mehr im Dom.  Gut, es wurde dort wieder geschlafen, doch damit nahm das zustimmende Kopfnicken wieder zu.  Wer eilig durch die Gassen hetzte, wurde nicht mehr durch spielende Kinder dazu gezwungen, innezuhalten.  Und trafen sich welche auf dem Markte oder zum Kuchenessen, dann waren nicht mehr die Kinder das Thema, sondern Sorgen und Krankheiten.
     Fehlte aber da nicht etwas?  Wer wollte noch etwas wissen, noch etwas lernen?  Für wen war Papa noch der Größte und der Beste?  Wer erzog seine Eltern noch mit seinem unerschütterlichen Vertrauen?  Wer bat noch um etwas?  Wer dankte, ja, wer handelte noch ohne Berechnung?  Wer wußte noch zu staunen?  Zu jauchzen?  Wer zauberte mit seinem unbeschwerten Lachen ein Lächeln auf die Gesichter aller, die es hörten?
     Und als den trostlosen November kein Kinderlied mehr erhellte, da mehrten sich die Briefe, die der Bischof erhielt.  Weihnachten ohne Kinder?  War das überhaupt ein Weihnachten?  Auch der Bischof hatte manches vermißt.  Es sei denn, daß ihr euch umkehret;  jedoch wohin umkehren, wenn da niemand mehr ist und kindlich glaubt?  Niemand?  Was hatte jene Frau noch gesagt?  7mal des Morgens?
     Was war das für ein Weihnachtsfest!  Kein Kind fehlte!  Und niemand störte sich selber, wenn sich ein Kind nicht wie ein dressierter Erwachsener aufführte.  Und irgendwie hatten sich die Kinder verändert: rote Bäckchen, Munterkeit am Tage, Müdigkeit am Abend und in der Nacht.  Niemand wollte mehr ein Stubenhocker sein, sondern künftig liefen jeden Morgen – und das bei Wind und Wetter – Kinderscharen hinaus zu Tante Wildtraud in den wilden Wald und kamen des Abends glücklich heim.

 

Wohl dem wilden Walde jeder Stadt,

die noch eine Tante Wildtraud hat!

 

© Stiftung Stückwerken, *1.12.2005, freigegeben am 29.6.2024
Qouz-Note: 3

 


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MamM 364  Das Weihnachtsgeschenk

Leer!  Da konnte Christoph schütteln und schütteln, nichts klimperte.  Und das gerade jetzt!  Eine Woche vor Weihnachten!  Und gerade vor diesem Weihnachtsfest!
     Der Papa war schon seit Monaten ohne Arbeit, und deshalb war auch das Sparschwein leer.  Und der Papa war immer so traurig;  und die Mutti auch.  Da hätten sie Freude gut gebrauchen können.  Wenigstens eine kleine Freude.  Schließlich waren es ja Christophs Eltern.  Wen hatte er denn sonst noch!
     Für den Weg zur Schule, für die Schulstunden, zum Spielen, da gab es noch einige Kinder.  Es waren weniger geworden, seit er es nicht mehr verbergen konnte, daß Papa keine Arbeit mehr hatte.  Aber auch die, die ihm geblieben waren, konnten ihm kein Mittagessen kochen, bezahlten für ihn nicht die Miete, saßen nicht an seinem Bett, wenn er krank war.
     Gut, nicht alles war zu Hause richtig eingerichtet.  Wann er zu Bett zu gehen hatte, hätte er manchmal gerne selber bestimmt.  Aber dann, das mußte Christoph einräumen, wäre er manches Mal gewiß müde zur Schule gekommen.  Nee, es war schon gut, Eltern zu haben;  Eltern, denen er nicht gleichgültig war.  Eltern, die ihn noch nie im Stich gelassen hatten.
     Und nun hatte er kein Geschenk für sie!  Was jetzt?  Klauen?  Und dann die ganze Zeit Angst haben, daß es rauskommt?  Und Mutti noch belügen, wenn sie fragen täte, woher er das Geschenk hätte?  Nee, bei so etwas ging viel zuviel kaputt.  Und Herr Götz in der Schule sagte oft: „Die Polizei deckt nicht jedes Verbrechen auf, aber sie kriegt jeden Verbrecher;  weil er nämlich nicht aufhören kann.“  Nee, ehrlich müßte es mit dem Geschenk schon zugehen.
     Also basteln!  Aber was?  Und mit was?  Und bei seinem Talent!  Zum Muttertag hatte sich die Mutti zwar bedankt, aber insgeheim war er doch froh, daß bald alles im Schrank verschwunden war.  Meisterwerke waren das nicht gewesen.
     Was gab’s noch?  Versprechungen!  Liebe Eltern, ich will ein ganzes Jahr artig sein?  Igitt!  Wer wußte, auf was er sich da einließ?  Nee, nee, bei aller Liebe!  Deine Eltern sollst du ehren, doch auch manchmal aufbegehren!
     Aber konnte er das nicht irgendwie eingrenzen?  Ja, warum nicht!  Dem Papa schenkte er, sagen wir, 50 Stunden draußen im Garten;  der Mutti 50 Stunden Hausarbeit.  50 Stunden?  Und das mal 2?  Das waren ja 2 Stunden pro Woche?  Nö, das war doch ein bißchen viel!  Abwaschen, Erbsen pulen, Bohnen schnibbeln und all solche Plagereien.  Nö, sagen wir: für jeden 12 Stunden;  das wären dann 2 pro Monat, das könnte mit den Regentagen hinkommen.  Aber Gartenarbeit bei Regen?  Na, vielleicht könnte Christoph an Regentagen im Hause was rausarbeiten.  Und auf jeden Fall war das viel besser, als immer brav sein zu müssen;  und auch besser als Basteln.  Und Mutti müßte nicht noch einmal versuchen, den Leim vom Pullover und der Hose abzukriegen.
     Also schrieb Christoph seine Gutscheine, und das muß dem Weihnachtsmann sehr gut gefallen haben.  Denn er brachte Heiligabend keine Rute, sondern sogar dem Papa die Zusage für einen neuen Arbeitsplatz.
© Stiftung Stückwerken, *11.12.2005, freigegeben am 29.6.2024
Qouz-Note: 3

 


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MamM 372  Der Baummeister

Einstens gab es hierzulande Schriftsteller, die sogar hinter scheinbaren Druckfehlern einen Sinn zu verbergen wußten.  Weshalb dürfen solche Lehrer keine Schüler mehr finden?
     Also komm mit mir in eine Gegend, wo häufiger und länger die Sonne scheint, in eine Stadt, wo die Menschen deshalb fröhlicher und freundlicher sein müßten.  Komm mit auf den Frauenplatz, der so gern den Fremden als sehenswert gezeigt wird.  Doch – auch hier scheint es Bettler zu geben.
     „Ich danke dir, mein Sohn.  Allah möge deine Gabe reichlich lohnen und dich segnen.
     „Ihr seid Moslem?“ fragte der junge Geber.
     „Ich glaube an Gott“, war des Alten Antwort, „und daß er auch dir helfen wird.
     „Woher wißt Ihr –“, der junge Geber war erstaunt.
     „Die Menschen beschränken sich, wenn sie nur das lesen, was gedruckt ist.  Es gibt soviel Wichtiges, was nicht gedruckt wird und doch gelesen werden muß.  So lese ich bei dir, daß du vor einem Scheideweg stehst und nicht weißt wohin.  Kann ich dir helfen, so wollen wir uns in die Sonne setzen, und du kannst deine Sorgen mit mir teilen.
     „Ihr seid nicht vom Fach“, wandte der junge Mann ein, „und –“
     „– kenne deshalb nicht das Leben?“ ergänzte der Alte.  „Muß dem nicht alles dienen? Auch dein Fach?  Aber ich will dir meinen Rat nicht –“
     „Das ist es nicht“, der junge Mann wußte nicht, wie er sich besser ausdrücken könne, „aber –“
     „Du hast nur gelernt, zu geben“, half der Alte weiter, „das Annehmen jedoch noch nicht.  Dann wird es Zeit, daß du damit anfängst.  Komm, hilf dem alten Ben Ibrahim;  und dann erzähle.
     „Ich bin der Clemens“, begann der junge Mann, nachdem die beiden einen sonnigen Platz gefunden hatten, „und habe lange Zeit die Baumeisterei gelernt: das Entwerfen, Zeichnen, Behauen, Mauern, Zimmern, Überwachen.  Und – ich wollte mir eigentlich einen Namen machen mit meiner Kunst und meinem Handwerk.
     „Der erste, von dem ich höre“, unterbrach ihn Ben Ibrahim, „daß er’s zugibt.  Die einen geben vor, einer Sache zu dienen;  die andern, Menschen;  die dritten gar, Gott!
     „Manchmal beneide ich jene, die solches von sich glauben“, gestand Clemens ein, „aber bei mir wär’s gelogen.  Und so bin ich denn nach Unwitz gegangen.  Dort wollten die Stadtväter Wohnungen für die Arbeiter bauen lassen.  Aber was für welche!  Große Kästen, Kasernen, häßliche Hausungen.  Mancher Stall für das Vieh ist schöner als das, was mir vorgegeben werden sollte.  Wenn Wohnen etwas zu tun hat mit Wonne und Zufriedenheit, dann wär’s für die in diesen Kästen untergebrachten Armen kein Wohnen geworden, sondern ein Hausen.
     Ich habe den Auftrag nicht angenommen, sondern bin zum Santenberg gewandert.  Dort wollte ein Baron ein prächtiges Sommerschloß errichten lassen.  Es hätte meinen Namen gewiß in alle Reiseführer einziehen lassen.  Allein – für Schloß und Rasen sollte ein schöner Bergwald niedergelegt werden;  das – dem konnte ich nicht zustimmen.
     Also bin ich weiter nach Hippenstich gewandert.  Hier sollte eine Pfarrkirche derart umgebaut werden, daß sie das Aussehen eines prächtigen Domes gewinne.  Ein hehres Ziel!  Was gibt es für einen Menschen Größeres, denn Gott zu dienen und auf ihn die Gedanken der Menschen zu lenken!  Doch –“
     „– verwechseln wir Menschen zu oft Würde mit Aufgabe“, ergänzte der Bettler, „Schein mit Sein, Wahn mit Streben.
     „Und für wen“, war es Frage? oder war es Verbitterung?  „Jedenfalls ging ich in die Kirche, die umgebaut werden sollte, und hörte mir einen «Gottesdienst» an.  Schon der Gesang der Gemeinde war grauenhaft.  Ich habe nachher den Organisten gefragt, ob seine Orgel verstimmt sei.  Nein, hat er beteuert, diese Disharmonien seien jetzt so Mode und von der Kirchenleitung angeordnet.  Und die Predigt?  Ich habe keinen gesehen, der anschließend seine Straße fröhlich zog.  Es wurde niedergedrückt, statt aufgerichtet;  entmutigt, statt ermutigt;  Ängste wurden vermehrt, statt Zuflucht geboten.  Und diesem Treiben sollte ich mit meinen Kräften dienen?  Nein, einen solchen Namen wollte ich mir nicht machen!
     Da hörte ich von einer Sage aus Richthafen.  Ein Bildhauer wollte für eine Kirche ein einzigartiges Werk schaffen;  aber was er auch anfing, nichts konnte ihn zufriedenstellen.  Schließlich griff er zu einem Verbrechen;  doch was er damit vollendete, war nur seine eigene Verzweiflung.
     „Das ist nicht nur eine Sage“, war die Ansicht des Bettlers, „das ist alltägliches Geschehen.  Ist es kein Verbrechen, Menschen einzupferchen, daß sie keine Freude mehr haben, wenn sie des Abends ihre Quartiere aufsuchen?  Ist es kein Verbrechen, einen Wald in eine Wüste zu verwandeln?  Ist es kein Verbrechen, das Gottvertrauen von Menschen zu täuschen?  Und du hast recht: Glücklich macht ein solches Verbrechen auf Dauer niemanden.
     „Was aber soll ich tun?“ fragte Clemens.  „Was hilft es mir, zu wissen, was ich nicht tun soll?
     „Fast richtig gesprochen“, lobte und tadelte Ben Ibrahim.  „Noch besser: Was will ich tun!  Da du den Weg in eine Kirche gefunden hast, werden dir auch die alten Schriften nicht fremd sein.  Dort ist von einem Garten die Rede, in dem die 1. Menschen zufrieden lebten, – solange sie nicht wissen wollten, was böse ist.  Glaubst du, sie haben dort solche Häuser gehabt wie die Menschen heute in den Städten jenseits Eden?  –  Du brauchst deine Eitelkeit  nicht zu verleugnen;  denn wer kann ohne Anerkennung leben?  Du wirst nicht bauen können, ohne in die Natur einzugreifen.  Du wirst immer wieder etwas zu bereuen haben.  Aber setz dir das Ziel, in Harmonie mit der Natur zu bauen, und du wirst ein erfülltes Leben haben.
     „Werde ich aber davon leben können?“ gab Clemens zu bedenken.
     „Ich habe es eben mit Bedacht gesagt“, antwortete der Bettler: „Du wirst ein erfülltes Leben haben.


–––

 

     „Erkennt Ihr mich noch?“  Es war viele Jahre später auf dem Frauenplatz zu Dattersdal.
     „Ach, der Herr Baummeister!“ war des Alten Antwort.
     „Baummeister?“ wunderte sich Clemens.
     „Du weißt es nicht?“ Jetzt zeigte sich Ben Ibrahim überrascht.  „Die Leute nennen dich so, weil du keinen Baum für ein Haus sterben läßt und deine Häuser nicht die Bäume überragen wollen.
     „Ja, das stimmt“, bestätigte Clemens, „und diese Gedanken habe ich wohl von Euch.  Jetzt habe ich sogar ein Schloß zu bauen, und der Bauherr wollte ringsum freie Sicht haben.  Da hab’ ich ihn gefragt, ob er sich Bilder ohne Rahmen an die Wände hänge.  Er verneinte.  Ob er ein Leben ohne Geheimnisse liebe?  Nein, das wäre langweilig.  Ob er im Winter frieren wolle?  Wieder verneinte er.  Nun überlegen wir, daß wir eine Waldspitze ganz an das Schloß heranführen.  Und nach Süden könnten wir ein Hügel aufwerfen.  Und die Nordseite könnte mit Felswänden verkleidet oder durch eine Böschung geschützt werden, die nur Raum für wenige Fenster läßt und sich im Dach fortsetzt.  Und –“
     „Halt ein!“ lachte der Bettler, „ich merke schon: Dein Beruf macht dir Freude.
     „Und das täglich’ Brot wirft er auch ab“, bekannte Clemens.  „Ihr habt mich auf den richtigen Weg gesetzt;  das kann ich Euch nicht genug danken.  Kann ich Euch irgendwie unterstützen?
     „Nein, nein, nein“, wehrte der Bettler ab, „was ich brauche, das bekomme ich täglich.
     „Aber Ihr müßt betteln“, hielt Clemens dagegen.
     „Müßt?“  Ben Ibrahim sah das anders.  „Ich will und ich darf!  –  Doch, sag, wie steht’s mit deinem Ansehen?
     „Teils, teils“, antwortete Clemens.  „Es sind die ausgeglichenen Menschen, die mich schätzen und sogar weiterempfehlen.  Mit hektischen Menschen, Schwätzern und Opportunisten komme ich nicht zurecht.  Und die Fachkollegen, insbesondere an den Schulen und die berühmten, die belächeln –“
     „Siehst du: Du machst sie schöner!“ lenkte Ben Ibrahim.  „So wollen wir beide weiterleben;  und Leben steckt an.
© Stiftung Stückwerken, *16.2.2006, freigegeben am 6.7.2024
Qouz-Note: 2+

 


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MamM 375  Nachtmeister Stropp und der große Krieg

„Nun?
     „Wir haben alle zugestimmt.
     „Wie bitte?
     „Ja, es gibt Krieg, und dein lieber Gatte soll die Kriegserklärung entwerfen.
     „Männer!  Und du Döskopp machst da auch noch mit?  Ja, seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen?
     „Geistern?“  Unser Nachtmeister konnte nicht ganz folgen und blickte dennoch sehr entgeistert drein.
     „Tu nicht so dämlich!“  Frau Struppe geriet mehr und mehr in Fahrt.
     „Dämlich?  Nee“, da war sich unser Stropp sicher, „das siehst du falsch.  Dämlich sind nur Damen, ich aber bin ein Herr und kann folglich nur –“
     „– unbeherrscht und unüberlegt sein“, ergänzte die bessere Hälfte;  „da bist du leider keine Ausnahme.  Könnt ihr Hampelmänner nicht wenigstens ein bißchen nachdenken?
     „Hohoho, und wie wir nachgedacht haben!“  Stropp schien sich also angesprochen zu fühlen.  „Sollen wir es uns etwa gefallen lassen, wie ein Volk nach dem andern ausgerottet wird?  Die Menschen haben ja angefangen!  Ein Jahr haben sie die Schweine bezichtigt, die Pest zu verbreiten, und die Schweine verfolgt und getötet.  Im nächsten Jahr waren die Hühner dran.  Dann die Kühe, und so geht es immer weiter.  Und wehe, wir stellen die Frage, ob diese Krankheiten nicht ursprünglich von den Menschen kommen und sie sich besser selber abschlachten sollten.  Jedenfalls muß endlich etwas geschehen!
     „Und wie habt ihr euch das geda–, eh, welcher Blödsinn ist euch eingefallen?“  Achtung des Gatten und Zahl der Ehejahre scheinen sich also nicht in die gleiche Richtung zu entwickeln.
     Stropp ließ sich jedoch nicht erschüttern: „Zunächst werden Kundschafter ausgesandt, tagsüber die Falcones, nachts die Grimbarts.  Die sollen genau festhalten, welcher Mensch wann wo geht.  Dann braucht nur noch die Sippschaft vom Spatenpaul und Sämtinger die Wege zu unterhöhlen, und weg sind unsere Feinde.
     „Alle?
     „Öh“, mehr und mehr bereute es unser Nachtmeister, sich auf dieses Gespräch eingelassen zu haben, „jedenfalls mindestens einen werden wir gewiß auf diese Weise unschädlich machen können: diesen Wanderer!
     „Und was hat er euch getan?
     „Nichts“, gab Stropp zu, „aber er ist ein Mensch, und folglich muß er sterben, –“
     „– weil ihr euch an die eigentlichen Schädlinge gar nicht herantraut, ihr Feiglinge!“  ereiferte sich Frau Struppe.  „Diese Schufte sitzen fein in ihren Festungen und lachen sich gewiß in die Pfote, wenn ihr den harmlosen Menschen nachstellt.  Solche werden sie gar noch als Märtyrer hinstellen und erst recht zum Krieg gegen alle Tiere blasen.
     „Dann lassen wir ihnen die Fenster einfliegen und plagen sie mit Wanzen, Mücken und Maikäfern!“  Stropp fühlte sich wie ein Meister der Kriegskunst.
     „Und wenn?  Habt ihr Trottel schon mal darüber nachgedacht, was nach dem Krieg kommt?  Nehmen wir mal an, ihr schafft es, alle Menschen auszurotten, was dann?
     „Dann ist Friede“, war sich unser Stropp sicher.
     „Wirklich?“  Die Sicherheit wurde nicht geteilt, sondern untergraben.  „Und die Hunde und die Katzen, die hier dann überall im Hinterhalt liegen?  Und die Wölfe, die zurückkommen?  Und glaubst du, die Menschen täten sich nicht wehren?  Alles vergiften täten sie!  Und dann der Gestank der Leichen!  Das wäre kein Leben mehr!
     „Das ginge vorüber“, versuchte unser Igel, die Bedenken zu zerstreuen.
     „Und wann?“  Was können Frauen unangenehm fragen!  „Selbst wenn wir beide noch 10 Jahre leben, die meisten unserer Tage wären nicht mehr schön!
     „Und wenn wir uns  n i c h t  wehren“, hielt Stropp dagegen, „dann haben wir erst recht keine schönen Tage mehr!
     „Wer sagt das?“  Erkannte Frau Struppe ihren Gatten nicht mehr?  „Haben die Menschen die Schweine ausgerottet?  Die Hühner?  Die Kühe?
     „Aber die Wölfe!“  wußte unser Igel sich zu verteidigen.
     „Die wurden nur vertrieben“, entkräftete Struppe.  „Und weshalb?  1., weil wir anderen Tiere sie auch nicht mögen;  und 2., weil sie viel dümmer sind als die Füchse.
     „Jaha, wir Füchse!“  unterbrach Reinekes heisere Stimme den ehelichen Wortwechsel.  „Und je mehr uns die Menschen jagen, desto zahlreicher und listiger werden wir!
     „Also!“  ergriff Frau Struppe die Gelegenheit beim Fell.  „Nicht kriegerischer als die Menschen müssen wir sein, sondern listiger.  Immer müssen wir uns als erstes fragen: Wie können wir uns unsere Tage so angenehm wie möglich machen.  Ein Krieg ist da viel zu riskant.  Zunächst müßten auch wir mit Blut und Leben bezahlen;  und was wir dafür am Ende bekommen, wird uns gewiß nicht gefallen.  Weshalb versuchen wir nicht, die Menschen friedlich zu stimmen und auf gute Gedanken zu bringen?  Hier liegt noch Schnee, machen wir daraus einen guten Menschen, den andern zu einem Bilde!
     Das war ein guter Einfall, denn er vereinigte die Tiere zu einer gemeinsamen Arbeit und ließ sie alle Kriegslust vergessen.  Und mancher Mensch freute sich.
     Ein Schneemann halte sich nicht lange?  Na!  Hältst du Frau Struppe für so dumm, daß ihr im Frühling nichts Neues einfallen werde?  Zumal dann alle Tiere ausgeschlafen haben werden.
© Stiftung Stückwerken, *8.+12.3.2006, freigegeben am 28.9.2024
Qouz-Note: 4

 


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