Überblick MamM 341 bis 360
341 Regen (*10.6.2005)
342 Nachtmeister Stropp und die Ferienmorde {s007} (*16.-17.6.2005)
343 Nachtmeister Stropp und die Fischverbrechen {s008} (*23.-24.6.2005)
344 Nachtmeister Stropp und die Kriegsdegen
345 Nachtmeister Stropp und die Gier
346 Nachtmeister Stropp und die Schädlinge {Wüstlinge}
347 Retour
348 Zur letzten Einkehr
349 ... damit wird er auch geplagt
350 Nachtmeister Stropp und der tote Baumeister
351 Im Krieg geboren
352 Die Nelkenburg
353 Das Schreibverbot
354 Die Marquise de Senza
355 Ein feste burg ist vnser Gott (*1.+3.10.2005)
356 Das letzte Hemd
357 Das Verhör
358 Mortiver (*4.11.2005)
359 Zu Besuch (*10.+13.11.2005)
360 Ritter Eigenbrot
MamM 341 Regen
Ist es ratsam, nach einer Gefechtspause gleich wieder sein bestes Pulver zu verschießen? Abgesehen davon, daß das Schießen ohnehin
schon abzulehnen ist. Aber auch in Kana ward der gute Wein nicht zuerst vorgesetzt, sondern der
mindere. Und so möchte auch ich aus meinem Märchenschatz nicht gleich das Beste hervorkramen, sondern mit minderer Münze
beginnen.
Ich erzähl' dir kein Geheimnis, daß wer auf den Bergischen Höhen getauft wird, nicht nur einmal im Wasser
badet. Denn an welchem Tage regnet es dort oben nicht! Herr Schruppel hätte ein Lied davon singen können, wenn er sich nicht immer so sehr über dieses Wetter geärgert hätte. Und Ärger mag zwar deftige Worte finden, aber er ist nun mal ein schlechter Komponist.
Du weißt jedoch, daß auf den Bergischen Höhen die Frömmigkeit in vielen Hütten und Häusern als Zugehfrau dient. Herr Schruppel machte da keine Ausnahme und begann eines Tages in sein Morgengebet eine besondere Bitte einzukleiden: „Und gib, daß ich heute
nicht naß werde.“
Daran kannst du sehen, daß Herr Schruppel kein Dummkopf war. Er betete nicht darum, daß es nicht mehr regnen
möge. Denn ohne Regen kein Trinkwasser und kein Gedeihen. Aber konnte es
nicht nachts regnen? Oder zumindest dann, wenn Herr Schruppel nicht unterwegs war?
Herr Schruppel hielt seine Bitte jedenfalls nicht für vermessen und glaubte und glaubte.
Vergeblich? Einige Tage ging es gut, und Herr Schruppel begann bereits, erste Liedfetzen zu
pfeifen, doch da! Tscha, Herr Schruppel wurde mal wieder bis auf die Haut naß und – war wieder auf cis-Moll gestimmt. Hatte er sein Morgengebet vergessen? Eben nicht!
Aber am nächsten Morgen betete er nicht um Trockenheit unterwegs, und – was muß ich sagen – es regnete trotzdem nicht. Was war da zu tun? Überhaupt nicht mehr beten? Das kann nur vorschlagen, wer Tag für Tag in einer Kutsche reist; Herr Schruppel aber
ging zu Fuß und nahm Tag für Tag das Leben aus 1. Hand. Da wäre es doch sehr blöd
gewesen, sich nicht mehr mit dem Schöpfer zu unterhalten. Nur noch in der Kutsche zu fahren? Nein, Herr Schruppel wollte leben, und dazu müssen wir nun einmal zu Fuß gehen.
Allein – endlich hatte es Herr Schruppel gefunden! „Lieber Gott, gib, daß
ich mich nicht mehr über das Regenwetter ärgere“, betete er, suchte sich wasserdichte Regenkleidung, und fortan hast du ihn nie mehr über „schlechtes“ Wetter schimpfen gehört. Er tat’s den Vögeln gleich. Hast du schon mal gehört, was die Amseln machen, wenn es
regnet? Nein? Na, dann laß deine Kutsche beim nächsten Regen mal in der
Remise.
© Stiftung Stückwerken, *10.6.2005, freigegeben am 27.7.2024
Qouz-Note: 3-
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MamM 342 Nachtmeister Stropp und die Ferienmorde
„Wer schreitet so tapfer durch Nacht und Graus? Das ist Nachtmeister Stropp, er
will nach Haus! Links, zwo, 3! Links, zwo, 3! Links, – Nanu! Ruft da nicht jemand um Hilfe? Auf, Nachtmeister, du wirst mal wieder gebraucht!“
Ach, welch ein jammervolles Bild bot sich dem Nachtmeister, als er das Müllenfeld erreichte! Frau Siebenkorn und ihr Gatte rangen um Fassung und konnten sie lange nicht
erlangen. Der Nachtmeister benötigte viel Geduld, um sich nach und nach zusammenzureimen, was sich hier an Schrecklichem ereignet
hatte. Frau und Herr Siebenkorn waren von einer Ferienreise zurückgekehrt, hatten den Droschkenkutscher entlohnt und ahnungslos die
Haustüre geöffnet. Doch kein Töchterlein kam ihnen entgegengesprungen, kein Söhnchen; weder Kinderlachen noch Kinderlied war zu hören; alles war verdächtig still
{wie bei Mucksens}. Vergeblich waren die beiden durch alle Gänge gelaufen, vergeblich hatten sie
nach den Kindern gerufen, und selbst die Großmutter, in deren Obhut sie die Kinder zurückgelassen hatten, war nirgendwo zu finden.
Statt dessen – aber ich will dir dein Essen nicht verderben. Jedenfalls deutete alles darauf hin, daß hier nicht eine bloße Entführung,
sondern ein gemeines Mordverbrechen verübt worden war.
Als Stropp dem Friedensrichter Bericht erstattete, fing dieser an zu toben: „Welche Niedertracht! Das ist
nicht nur feiger Mord, sondern gar Wilddieberei! Stropp, leite Er sofort umfangreiche Ermittlungen ein. Gewiß war es wieder diese Ricke! Na warte, dieses Mal soll es ihr den Kopf
kosten!“
„Verzeihung, Erlaucht“, der Nachtmeister war nicht der schnellste Denker, „wieso wieder? Hatte Frau Ricke
tatsächlich –“
„Red Er keinen Unsinn, Stropp“, unterbrach ihn Reinecke unwirsch, „hätte Er in der Vergangenheit sorgfältiger
gearbeitet, dann hätten wir sie schon längst überführt und hinge-, eh, abgeurteilt. Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß sie hinter
allen Verbrechen steckt, die in meinem Reiche verübt werden. Wer verweigert denn dem Landesherren den nötigen Respekt, he? Wer geht denn sogar mit Läufen auf ihn los, wenn er höchstpersönlich ihr Kind zum Kindergeburtstag einladen möchte, he? Nein, nein, nein, diese Frau ist die Schlechtigkeit in Person. Nur fehlt uns noch der
überzeugende Beweis, der selbst vor einem Reichsstubengericht stichhaltig bleibt. Und diesen Beweis muß Er mir verschaffen,
Stropp. Unbedingt! Und bald!“
Der Nachtmeister sah das alles von einer anderen Warte; doch wollte er den Friedensrichter nicht weiter
erzürnen und zog alsbald diensteifrig von dannen. Diensteifrig? Nun ja,
Laufschritt war das nicht, den er einlegte; aber obwohl er jetzt eigentlich bereits Feiermorgen hatte, entschloß er sich noch zu einem
Dienstgang.
„Sie hat selbst gesagt, sie war’s nicht“, berichtete der Nachtmeister einige Zeit später zu Hause.“
„Das hätte ich dir gleich sagen können“, behauptete Frau Struppe schnippisch. „Du Döskopf, denk doch mal nach, wie sollte Frau Ricke auch in ein Mausehaus kriechen
können! Aber etwas anderes finde ich sehr merkwürdig. Wieso können sich die
Siebenkorns eine teure Ferienreise leisten? Gut, wir haben auch unsere Winterferien, aber wir können lediglich zu Fuß gehen; du verdienst ja nicht so viel. Aber die Siebenkorns – Alle Achtung! Haben die geerbt?“
„Nicht, daß ich wüßte“, antwortete Herr Stropp. „Aber wir wollen lieber Mitleid haben, denn dem schnöden Neide
erliegen. Was haben sie jetzt von ihrem Reichtum!“
Ja, der Reichtum! Konnte es etwa sein, daß der Reichtum das Verbrechen geradezu anzog? Denn in den nächsten Tagen häuften sich ähnliche Klagen wie die der Siebenkorns. Ja, es kam sogar so weit, daß eine große Schar Mäuse zur Burg des Friedensrichters zog und diese belagerte. Sie wollten nicht eher weichen, bis Reinecke endlich etwas gegen diese Serie von Verbrechen unternehme.
Reinecke hätte die Mäuse am liebsten in sein Verlies gesperrt, aber es waren ihrer zu viele; also entlud sich
sein ganzer Zorn auf – Nachtmeister Stropp.
„Und dann“, so berichtete dieser am nächsten Morgen zu Hause, „mußte ich vor die Belagerer treten und von unseren fieberhaften
Ermittlungen berichten.“
„Du hast doch wohl hoffentlich nichts davon gesagt“, fragte Frau Struppe besorgt, „daß du bei Frau Ricke gewesen bist?“
„Doch; selbstverständlich!“ antwortete der
Nachtmeister. „Und niemand hat mich einen Döskopf gescholten! Es gibt eben
noch Tiere, die wissen eine Amtsperson zu schätzen! Und meine Fähigkeiten!“
„Pah!“ lachte Frau Struppe.
„Und bei Herrn Falkone bin ich inzwischen ebenfalls gewesen“, wanderte Herr Stropp in seinem Bericht weiter, „und
auch er hat gesagt, er sei es nicht gewesen. Er sei ein ehrlicher Jäger und breche keinen Hausfrieden.“
„Gibt es auch ehrliche Jäger?“ zweifelte Frau Struppe.
„Also ich traue diesem Kerl überhaupt nicht. Und wenn ich unsere Kinder ausführe und er dann in der Luft seinen Tatterich kriegt, dann
haben sie alle hübsch bei Frau Mutter zu bleiben. Aber das mit dem Hausfrieden nehme ich ihm schon ab. Allein – ich kann immer noch nicht begreifen, wieso sich dieses Mäusepack plötzlich diese teuren Ferienreisen leisten kann.“
„Typisch Frau!“ bemerkte der Nachtmeister.
„Meinetwegen“, ließ sich Frau Struppe nicht beirren, „aber schon oft bin ich mit meinem Gespür weiter gekommen als du mit deinem Döskopf! Mich täte wirklich mal interessieren, was so eine Fahrt mit der Heupferddroschke kostet.“
Nun ja, ob Stropp zu jenen Männern gehörte, die ihrer Frau jeden Wunsch von den Augen ablesen, weiß ich nicht.
Aber eines weiß ich, und das wußte auch unser Stropp: Hatte Frau Struppe einmal einen Wunsch geäußert, so war es sehr ratsam, ihn umgehend zu erfüllen.
Frau Sonne sank hinter den Bergen in ihr Wanderbett, Frau Nacht schickte sich an, in den Abend einzubrechen, und Nachtmeister Stropp
–, der ging auf Streife. Zwar hatte Frau Struppe bereits zu verstehen gegeben, daß ihre Meinung von Jägern keine Höhenluft vertragen
konnte, allein – der Nachtmeister war nicht der Mensch, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Und so hatte er es von den Grünröcken abgeguckt, unbekanntes Gelände stets gegen den Wind zu erkunden. Und solch ein unbekanntes Gelände war der Droschkenplatz. Wie Frau Struppe bereits
treffend bemerkt hatte: Das Amt eines Nachtmeisters warf nicht genügend ab, um sich den Luxus einer Heupferddroschke leisten zu können.
Gerade wollte Stropp rufen, wo denn der Droschkenbesitzer stecke, da – hielt er plötzlich inne: Waren das nicht Stimmen?
Nun ist die Neugier zwar weiblichen Geschlechts, jedoch – der Nachtmeister war im Dienst. Und im Dienst können
sogar Männer Erstaunliches erlauschen!
„Hast du wieder eine Tour zusammen?“ schnarrte eine Stimme.
„So es die Gottheit will und wir leben“, antwortete eine jugendliche
Tenorstimme, „so werde ich morgen abend Herrn und Frau Knabberich abholen dürfen.“
„Und? Was ist mit den Kindern?“ schnarrte die 1.
Stimme.
„Die Gottheit“, kam die Antwort, „hat es Herrn und Frau Knabberich in den Sinn gegeben, ihre Brut in der Obhut einer alten Großmutter zu belassen. Ich denke, Er wird leichtes Spiel haben.“
„Das denke ich auch“, schnarrte es, „aber denk an meine Anweisungen. Hast du meinen Posten passiert, dann
darfst du auf keinen Fall mit dem Pack vorzeitig umkehren. Nicht daß ich mich vor diesem Pack fürchte! Aber Eltern ergeben sich nicht kampflos; und du als friedensliebender Pilger wirst es
gewiß gutheißen, wenn ich unnötigen Kämpfen aus dem Wege gehe. Also bis dann!“
„Die Gottheit sei mit Ihm!“
Was für ein seltsamer Gruß! Nachtmeister Stropp hielt es für ratsam, jetzt nicht beim Droschkenplatz
vorzusprechen, sondern sich unauffällig zurückzuziehen und dann zum Friedensrichter zu eilen.
Bei seinem nächsten Besuch auf dem Müllenfeld wurde Herr Abend durch keine Hilferufe in seinem Spaziergange gestört. Und doch schien jemand in arger Bedrängnis zu sein. Allein – der Tüchtige hilft sich
zunächst selbst, und das nicht ohne einen gewissen Erfolg. Du kannst dir sicherlich gut vorstellen, daß der Friedensrichter beim Hause
der Familie Knabberich einen Hinterhalt hatte legen und Kinder und Großmutter in Sicherheit bringen lassen.
Tscha, und dann machte es plötzlich rätsch, die Falle schnappte zu, aber nicht den Übeltäter. Der sagte ätsch
und entwischte wieselflink in das verlassene Mäusehaus. Markwart und seine
Häscher sahen streng und dienstlich drein, es half ihnen jedoch nichts. Immerhin – als der Friedensrichter mit seinem Gefolge nahte,
beliebte es dem Übeltäter wenigstens, bis an die Türe zu kommen.
Woran erkennst du einen klugen Regenten? Nun, ein kluger Regent befiehlt nur das, was auch befolgt
wird; anderenfalls täte er ja seine Autorität selber untergraben. Und
Reineke war ein kluger Regent! Deshalb befahl er nicht, der Übeltäter solle sogleich herauskommen, sondern spielte den gerechten
Richter.
Er ließ die Anklagepunkte vortragen und mit deren Folgen drohen, und dann gestattete er es dem Angeklagten, sich zu verteidigen. Aber wer war überhaupt dieser Angeklagte? Nun – jedenfalls jemand, der sich seines
Namens nicht schämte.
„Hier steht Hermann Husch“, schnarrte es aus dem Mausehaus, „ ein unbescholtener Bürger, der noch niemals eines
Gesetzesbruches überführt worden ist. Alles, was Hoheit gestattet haben gegen mich vorzubringen, entbehrt jeder Grundlage. Hoheit. Ihr seid belo–“
„Lüge!“ ereiferte sich jetzt Nachtmeister Stropp.
„Lüge! Ich erkenne dich an deiner Stimme. Und, allergnädigster Herr
Friedensrichter, weshalb flieht jemand vor den Hütern des Gesetzes, wenn er sie nicht zu fürchten hat?“
„Das war der Schreck!“ rechtfertigte sich Husch. „Wir
Tiere schweben ständig in Lebensgefahr; da überlebt nur, wer sich geschwind in Sicherheit zu bringen weiß; erst recht, wenn er so schmächtig ist wie ich. Und was, Euer Gnaden, der Herr
Obernachtmeister behauptet, trifft tatsächlich zu. Ich bin wirklich ich und war auch gestern ich. Aber nicht, um ein Verbrechen zu verüben, sondern um einen Verbrecher dingfest zu machen, ja, eine ganze Bande von Verbrechern. Geht dort drüben hin, zu jener Eiche! Dort werdet ihr einen frommen Verein finden,
der all die Verbrechen ausgeheckt hat, die mir zur Last gelegt werden. Mich hat das edle Volk der Mäuse nie gestört. Im Gegenteil, in meinen Augen kann es nicht zahlreich genug sein. Aber jene frommen
Spinner dort drüben, die fühlten sich jede Nacht durch den lieblichen Mäusegesang in ihrer Andacht gestört. Und um das Übel mit der
Wurzel auszurotten, sollten zuerst die Kinder sterben. Deshalb wurden günstige Droschkenreisen angeboten und die Eltern
fortgelockt. Und wenn ihr mich nicht abgehalten hättet, so wären die Schurken gewiß heut abend auf frischer Tat ertappt
worden.“
„Glaubst du das?“ raunte der Friedensrichter zu seinem Nachtmeister.
Du! Wie konnte Stropp da streng bleiben!
„Erlaucht, wollen wir gerecht sein“, beeilte er sich, „so müssen wir vor einem Urteil auch die Gegenseite unter das Monokel nehmen. Am
besten, wir stellen über Husch den Hausarrest und vernehmen jenen frommen Verein.“
Der Friedensrichter war es zufrieden, beorderte den Häher vor das Mausehaus, und dann begaben sich die Arme und der Mund von Recht und Gesetz zur Spinnereiche.
Allein – mag die Stimme von Recht und Gesetz weit zu vernehmen sein, der Arm des Gesetzes reicht nur so weit, wie er reicht; bis zu den Spinnern reichte er jedenfalls nicht hinauf. Die behaupteten, sie seien
geistlich, ihr Territorium sei reichsunmittelbar und Reinecke habe ihnen nichts zu sagen. „Und wenn ihr da unten noch weiter unsere
Andacht störet“, rief es in jugendlichen Tenorstimmen herab, „so werden wir die Gottheit um ein Machtwort bitten, daß sie euch vom Erdboden vertilge! Und das verdammte Mäusepack obendrein!“
Reinecke steckte ganz häßlich in der Klemme. Einerseits durfte er diese Respektlosigkeit nicht dulden,
andererseits wollte er aber auch nicht das Völkerrecht brechen. Beschämend war es auch, als er seine Gendarmen befragte und diese
eingestehen mußten, nichts ausrichten zu können. Diese frommen Spinner seien unberechenbar und besäßen vergiftete Pfeile.
„Und dann“, berichtete Stropp zu Hause, „hat mich der Herr Friedensrichter gefragt, ob ich Spinner essen möge.
Igittigittigitt, hab’ ich geantwortet. Dann müßten wir die Spinner eben vor dem Reichsstubengericht verklagen; und würdevoll sind wir wieder zum Mausehaus geschritten. Jedoch – Husch war bereits
über alle Berge. Na, da hat sich vielleicht ein Donnerwetter über den armen Markwart entladen! Und morgen früh muß ich eifrig Steckbriefe schreiben.“
„Ja, ja“, klagte Frau Struppe, „diese Männer! Abwesenden drohen sie mit den härtesten Strafen, aber Aug’ in
Auge sind sie feige. Nein, nein, Stropp, mein Gespür sagt mir, mit den frommen Spinnern werdet ihr noch manche Unannehmlichkeiten
haben.“
Ob Frau Struppe recht behielt? Das erzähle ich ein anderes Mal.
© Stiftung Stückwerken, *16.-17.6.2005, freigegeben am 22.7.2024
Qouz-Note: 4
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MamM 343 Nachtmeister Stropp und die Fischverbrechen
Ach, die Menschen sind mit nichts zufrieden! Ist es kalt, klagen sie über die Kälte; ist es warm, klagen sie über die Hitze. Da lob’ ich mir die Tiere; die wissen sich besser einzurichten. Schau dir nur unseren lieben Freund, den
Nachtmeister Stropp, an. Ist es kalt, dann hält er seinen
Winterschlaf; ist es warm, dann verschläft er den Tag und geht erst des Nachts seine Runde, wenn die Bergwinde Kühlung
fächeln.
Allein – auch Tiere könne ihre Sorgen haben; denn: Es kann das frömmste Tier in Frieden nicht leben, wenn es
dem bösen Menschen nicht gefällt. Das mußte eines Morgens auch unser Nachtmeister erfahren, als er
Dr. Reigel begegnete. Dessen Familie hatte seit alters die Fischerei an der
Lene gepachtet und stets pünktlich den Pachtzins entrichtet. Doch nun hatte sich ein Mensch zur
Johannesbucht geschlichen und rücksichtslose Fischwilderei begonnen. Und das nicht aus Hunger und
Not, sondern aus Vergnügen am Verbrechen.
Unschuldige Regenwürmer raubte er von den Weidegründen der Amseln, tarnte mit ihnen seinen scharfen Dolch und warf diesen ins Wasser. Mancher Fisch, der gerade Anlaß hatte, einen Jubeltag zu feiern, sah in dem Regenwurm ein großzügiges oder verdientes Geschenk, schnappte nach
der Gabe und – hing am Dolche von Baul Bauschemann. Hast du schon mal herzhaft auf einen Knochen oder ein Steinchen im Schwarzbrot
gebissen? Der Schmerz ist nichts dagegen, was so ein Fisch erdulden muß.
Denn der hängt fest; und je heftiger er versucht, sich zu befreien, desto schlimmer wird die Wunde.
Nun ja, das Sterben ist selten eine angenehme Angelegenheit, aber nun schau dir diesen Baul Bauschemann an!
Gelassen zieht er den Fisch an Land, prüft Größe und Gewicht; und wenn er damit unzufrieden, dann wirft er den verletzten Fisch wieder
ins Wasser – ohne Verarztung. Und das nicht bei den eigenen Fischen, sondern bei denen von Doktor Reigel!
„Ja“, so beklagte sich der edle Doktor, „er droht mir sogar! Droht mit Tod oder Verbannung! Und kein Gericht will mir Recht sprechen!“
„Joa“, tat der Nachtmeister altklug, „die Gerichte! Um da zu deinem Recht zu kommen, da brauchst du 1. Geld,
2. Zeit, 3. einen, der sich auskennt, 4. einen, der wie meine Frau so reden kann, daß er immer recht hat, und 5. einen guten Schlaf;
denn sonst ärgerst du dich kaputt. Nee, nee, am besten ist, du spielst selbst den Richter. Du hast doch studiert; oder?“
„Aber du siehst ja“, jammerte Dr. Reigel, „was ich ausrichte. Ich kann das Urteil nicht
vollstrecken.“
„Tscha“, sonnte sich Stropp ein wenig, „du mußt es eben machen wie Reinecke, der hat seinen Nachtmeister dafür. Wenn es auch nicht immer ganz einfach ist, aber in aller Bescheidenheit darf ich wohl sagen, daß es, eh, meiner Wenigkeit gelungen ist, eh, daß,
eh, hier Zucht und Ordnung herrschen.“
„Ja, wenn das so ist“, Dr. Reigel war kein kleiner Dummkopf, „dann könntest du ja auch mein Urteil vollstrecken. Also ich verurteile hiermit dieses Untier dort drüben an der Johannesbucht zu Verbannung auf –“
„Nein, nein, nein“, beeilte sich unser Nachtmeister, „das geht nicht! Ich kann doch nicht 2 Herren dienen. Nicht auszudenken, wenn das Reinecke erfährt! Aber – ich hab’ gehört, die Bremsen fliegen wieder. Vielleicht kannst du die als Vollstreckungsbeamte vereidigen.“
Der Doktor bedankte sich für den Rat, jedoch – nicht jeder Rat kann sich auf rechte Taten reimen. Und so hatte
sich Dr. Reigel am nächsten Morgen wieder zu beklagen. Ja, er habe die Bremsen gefragt, aber in
jenem Volke sei es um Nächstenliebe und Nachbarschaftshilfe schlecht bestellt. Die Bremsenmänner seien faul und träge und von Hause aus
Blumenzüchter. Die Bremsenfrauen seien zwar blutdürstig und sehr kriegserprobt, aber sie hätten eine ausgeprägte Abneigung gegen Vögel
und wollten diesen keinen Diensteid leisten.
Da war guter Rat wieder teuer, aber Stropp gab ihn nach kurzem Nachdenken dennoch gratis: „Dann täte ich an deiner Stelle mal bei Quacks anklopfen. Die sind zwar etwas aufgeblasen, aber ansonsten gutmütig. Wenn du ihnen ein wenig schmeichelst, helfen sie bestimmt.“
Doch am nächsten Morgen hatte sich der Doktor noch immer nicht entsorgt.
Quacks hätten zwar ihre Hilfe zugesagt und die ganze Nacht ein Strafkonzert gegeben, aber dieses Untier sei nicht gewichen, sondern habe nur gelacht. Außerdem hätten sich Frau Ammeritz und Herr Zilpbold darüber beklagt,
daß sie die ganz Nacht über kein Auge hätten zutun können.“
„Tscha“, überlegte der Nachtmeister angestrengt, „was machen wir da? Was machen wir da?“
„Hah“, prahlte Stropp zu Hause, „und dann hatte dein kluger Gatte plötzlich einen Gedankenblitz. Und so werden
jetzt gerade 2 Schnecken mit einem Schnapp geschlagen. Und weil du niemals auf so etwas gekommen wärst, will ich es dir
verraten. Doktor Reigel hat ja studiert, und deshalb hat er auch das Lesen und Schreiben gelernt. Und du erinnerst dich vielleicht noch an die frommen Spinner, die es auf unsere Mäuse abgesehen hatten. Siehste, und die sind nämlich sogar zu etwas gut! Wenn schon Reinecke denen aus dem
Wege geht, dann wird auch dieses Untier keine gute Nachbarschaft halten wollen. Und deshalb haben wir bei der Spinnereiche eine große
Tafel aufgestellt, auf der geschrieben steht:
Achtung
Spinner
Lebensgefahr!!!
Entweder sind wir jetzt dieses Untier los oder bald diese Spinner; oder gar –“
„Uns alle zusammen!“ ereiferte sich Frau Struppe.
„Ja, bist du denn von allen guten Geistern verlassen! Konntest du dir gar nicht ausmalen, was geschehen wird? Na?“
„Ich weiß gar nicht, was du hast“, wunderte sich unser Nachtmeister. „Ich dachte, du wärest jetzt stolz auf
mich.“
„Pah!“ spottete Frau Struppe. „Wir sind ja unter
uns, da kann ich dir mal sagen, was ich von dir, Trottel, denke. Trottel, was sag’ ich, der Ausdruck ist noch viel zu
harmlos! Umbringen wirst du uns mit deinem Schwachsinn!
Ausrotten! Was machen denn die Menschen, wenn ihnen ein Tier im Wege ist?
Na?“
„Sie erschießen es“, antwortete Stropp, „oder sie stechen es ab.“
„Und wenn sie das nicht können“, fragte Frau Struppe, „weil die Tiere zu klein oder zu viele sind?“
„Ja, dann“, überlegte Stropp, „dann, dann streuen sie Gift.“
„Also?“ versuchte Frau Struppe weiter, auf die Sprünge zu helfen. „Glaubst du, daß nur die Spinner von dem Gift fressen werden? Nein, bestimmt auch
Mäuse und Schnecken. Und wem dienen die als Fleischlieferant?“
„Reinecke“, fiel es Stropp sogleich ein.
„An meine Kinder denkst du wohl gar nicht, du Menschenvater!“ schimpfte Frau Struppe. „Ich ahne Unheil, großes Unheil!“
Frau Struppe hatte sich nicht getäuscht. Bereits am nächsten Morgen
berichtete Stropp, daß die Wege bei der Spinnereiche abgesperrt und weitere Warntafeln aufgestellt worden seien.
„Na, dann werden sie auch bald mit dem Gift anrücken“, prophezeite Frau Struppe.
„Aber was soll ich denn nur machen?“ jammerte Stropp.
„Zum Friedensrichter gehen“, Frau Struppe unterdrückte ein Schmunzeln, „und deinen Schwachsinn beichten.“
„Aber dann bin ich ja verloren!“ Stropp war verzweifelt. „Er wird mich davonjagen. Diese Schan–“
„Wir werden wohl alle auswandern müssen“, malte Frau Struppe in schwarzen Farben, „denn hier ist bald alles verseucht. Es sei denn, –“
„Es sei denn, –“, schöpfte unser Igel neue Hoffnung.
„Es sei denn“, wanderte Frau Struppe fort, „du hörst auf deine Frau. Denn die hatte ja schon längst gespürt,
daß es mit den frommen Spinnern Unannehmlichkeiten geben könnte. Und so hab’ ich mich mal umgehört, ob denn angesichts der Spinner alle
Tiere solche Angstmenschen sind wie mein Gatte oder dessen Dienstherr.“
„Ich und Angst!“ protestierte Stropp.
„Ja, du und die Angst“, Frau Struppe ließ sich nicht beirren, „ihr tretet oft gemeinsam auf, als wäret ihr miteinander verheiratet. Jedenfalls wurde mir gesagt, da gebe es einen gewissen Herrn Gauchler. Nicht sehr beliebt und als jemand beleumdet, der seine Kinder gerne in fremde Obhut gebe. Und er sei ein Spötter. Aber gerade dieser Spötter sei allen Frömmlern ein Meister,
auch jenen frommen Spinnern. Also, Stropp, eil dich und such sofort den Herrn Gauchler auf! Wenn einer helfen kann, dann er!“
Oh, weh! Da war’s vorerst nichts mit dem verdienten Morgenschläfchen. Aber Stropp eilte, als gäbe es weder Müdigkeit noch Hitze. Denn zu Schanden wollte er
nicht werden und auswandern erst recht nicht. Allein – Frau Struppe hatte recht gehabt: Herr Gauchler war nicht sehr
beliebt! Und unser Held mußte manche schnippische Antwort wegstecken, wenn er nach des Spötters Wohnung fragte. Insbesondere wer ein Federkleid trug, war nicht gut auf die Gauchlers zu sprechen.
„Gauchler?“ schimpfte Herr Zilpbold. „Der hat bei
mir Hausverbot. Und wenn ich wüßte, wo der wohnt, dann tät’ ich ihm den Garaus machen!“
Und Frau Rotfrack seufzte tief und ergeben: „Bitte, erinnert mich nicht an jene schlimme Zeit, als Frau Gauchler
mein Nest besuchte. Nein, nein, ich weiß von nichts.“
Nur das fromme Rotkehlchen wollte weiterhelfen, denn es gab in Reineckes Reich nicht nur die falsche Frömmelei, sondern auch echte
Herzensbildung: „Ach ja, der Herr Gauchler! Es sei ihm und seinen Frauen vergeben, denn sie wissen
nicht, was sie tun. Fliegt mir nur nach, ich werde Euch geleiten.“
„Fliegt?“ wiederholte Stropp. „Halt, halt, ich
kann doch gar nicht –“
Aber endlich gelangte der Nachtmeister doch an sein Ziel und konnte sein Anliegen vortragen.
„Ha“, lachte Herr Gauchler, „ich soll dir helfen? Ha,
seit wann gehöre ich zu den barmherzigen Schwestern. Aber ich will dir sagen, warum ich dennoch mitkomme: Das wird nämlich ein
Mordsgaudi geben. Spinner, hah! Prozessionsspinner, das wird ein
Spaß! Und ausnahmsweise will ich mich gleich auf den Weg machen. Aber nicht
weil du es gesagt hast. Nee, sondern weil mir sonst mein Essen verdorben wird. Da hat deine Frau schon recht: Wenn wir erst einmal die Menschenseuche im Lande haben, können wir nur noch auswandern.“
„Und es war tatsächlich bereits höchste Ameisenbahn“, konnte Stropp zu Hause berichten. Kaum war der letzte
Spinner ins Lager geflogen worden, da kam auch schon dieses Untier an, sogar mit 2 Mann Verstärkung. Aber weil von den Spinnern nichts
mehr zu sehen war, haben die andern beiden dieses Untier ausgelacht. Der einzige Spinner, den es hier weit und breit gebe, sei er wohl
selber. Und als er den andern dann noch seinen Angelplatz gezeigt hat, da ist Herr Gauchler herbeigeflogen und hat ihm heimlich ein
paar Spinner zwischen Hals und Kragen fallen lassen. Na, der kommt bestimmt nicht wieder.“
„Und wem hast du das zu verdanken?“ wollte Frau Struppe triumphieren.
Allein – Stropp segelte noch voll im Winde: „Und dann hat mir Herr Gauchler sein Lager gezeigt. Also so was
hast du noch nicht gesehen! Weißt du, was er mit den Spinnern gemacht hat?
Er hat sie gleich zur Prozession aufmarschieren lassen. Und nachdem alle auf unbedingte Folgsamkeit eingeschworen waren, hat Herr
Gauchler dem Anführer immer wieder Hindernisse in den Weg gelegt und ihn schließlich so weit abgedrängt, daß dieser plötzlich auf den letzten gestoßen ist. Und jetzt geht die ganze Prozession im Kreis. Das halte das Fleisch schön zart, meint
Herr Gauchler. Aber wie der mit seine Frauen umgeht! Nee, da kannst du von
Glück sagen, daß du so einen guten Mann abgekriegt hast!“
„So?“ zweifelte Frau Struppe.
Auch wenn unser Nachtmeister kein Wetterfrosch war, ein Gespür für ein nahendes Unwetter hatte er doch;
insbesondere wenn er seine Aufmerksamkeit dem Ehehimmel widmete. Also beeilte er sich: „Na ja, also ich möcht’ auch nicht mit Herrn
Gauchler tauschen. Ach Struppe, ich weiß schon, was ich an dir habe. Ich
geb’s ja zu, ohne dich wäre ich nicht die Hälfte wert.“
„Und das wäre nicht viel!“ hatte Frau Struppe das letzte Wort.
© Stiftung Stückwerken, *6.8.2004, freigegeben am 20.9.2024
Qouz-Note: 2-
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MamM 355 Ein feste burg ist vnser Gott
Gewiß – wenn ich dieses Phantasiestück in meine Sammlung „MamM – Märchen an meine Mutter“ aufnehme, werde ich nicht das Wohlwollen der Gelehrten und
der Gotteswörtler auf mich ziehen. Erstere werden es tadeln, daß ich Religion zum Thema eines Märchens mache; letztere werden in die gleiche Kerbe hauen, nur lauter. Allein – weshalb sollte es
mich verdrießen? Erstlich ist ein Kerbholz ohne Kerben ein schlechtes Ding.
2. können die Gelehrten die Eitelkeit in ihrer Kritik nicht leugnen. 3. wird sie von den Gotteswörtlern zwar geleugnet, doch ist ihnen
die Tarnkappe nicht zur Hand, weil sie die Märchenwelt verachten. Und 4. kann einem Mährchenerzähler Schlechteres begegnen denn dieses:
daß alle Welt über seine Werke spricht.
Nun denn – wenden wir uns unserem Phantasiestück zu, das wir und ich Mährchen nennen, zumal es sich noch nicht so zugetragen hat und wir die Hoffnung nicht aufgeben
wollen, daß uns solch ein Schaden und Schrecken nie begegnen möge. Nein, du solltest mich besser kennen – mit Schaden und Schrecken ist
nicht die Gräfin Ophelia gemeint. Ich kämpfe nicht gegen Menschen der
Wirklichkeit. Sicher – wer SIE zum 1. Mal sah und wen selber jeden Morgen im Spiegel ein Mausgesicht anlächelte, der hätte schon in
Ängste geraten können. Auch wenn jene, welche den Menschen mit Affen in Verwandtschaft setzen wollen, eines Besseren belehrt worden
wären, so müssen wir zugeben – Ja, so muß ich leider zugeben, daß die Vermutung nicht von der Hand zu weisen war, in der Ahnenreihe der Gräfin habe es etliche Eulen gegeben. Und das ist ja hierzulande ein großes Lob, gilt doch dieser Vogel als Sinnbild der Weisheit, der unbedingt im Lande gehalten werden muß und nicht
nach Griechenland getragen werden darf.
Jedenfalls (bevor ich noch weiter abschweife) – weil die Gräfin von Kindesbeinen an jedem Morgen ihr Gesicht im Spiegel gesehen
hatte, gab sie eines Tages alle Scheu auf und hielt sich fortan für klug. So kann es dich nicht mehr überraschen, daß sie klug
heiratete, klug ein kluges Kind zur Welt brachte und bald es klug in ein kluges Internat gab.
Eigentum verpflichtet! Dies war für Gräfin Ophelia keine leere
Redewendung, sondern Aufgabe. Was konnte sie für ihre Klugheit? War diese
nicht eine Begabung? Was konnte sie für ihr dichterisches Talent? Auch
hierfür fühlte sie sich zu Dank verpflichtet. Und hieran kannst du wieder sehen, wie klug sie war! Denn weil sie für ihr dichterisches Talent dankte, schloß sie daraus folgescharf, daß sie es auch besaß. Darauf muß eine erst kommen! Aber mit dem Dank in Wörtern ließ sie es nicht bewenden,
nein, sie schritt auch zur Tat. Doch welchen Acker sollte sie mit ihrem Werkzeug bearbeiten? Draußen vor dem Fenster goß es wie aus der Gießkanne. Der Himmel war grau, und der
Bergwald probierte einen Schleier nach dem anderen an. Wohl dem, der an einem solchen Tag vor die Türe gehen und sich ein neues
Mährchen ausdenken kann! Und wer sich dafür als zu klug dünkt und in seinem Schreibkabinett bleiben muß? Wohl der, die dann ein fröhliches Liedlein auf den Lippen hat! Liedlein? Da lag ja das Gesangbuch! Gräfin Ophelia schlug es auf, und ihr Blick fiel über: Ein feste burg ist vnser
Gott! Nun wußte Gräfin Ophelia endlich, wie sie ihre Dankesschulden abtragen könne.
Wie konnte eine kluge und begabte Christin solch ein Machwerk unbearbeitet lassen! Schon das 1. Wort war
grammatikalisch falsch! „Eine“ hätte es heißen müssen, nicht „ein“! Daß dieses vor ihr noch niemandem aufgefallen war! Aber diese Kantoren waren ja alles
Männer, und Männer haben bekanntlich Tomaten auf den Augen. Die Gräfin begann also zu ändern: Eine feste Burg –
Burg? Wem bot eine Burg heutzutage noch Schutz? Heute, im Zeitalter der Kanonen! Heute, wo jede Burg zu einem Schloß umgebaut wurde,
wenn dort überhaupt noch jemand wohnen wollte! Nein, dieses Bild war nicht mehr zeitgemäß! Also änderte die Gräfin in: Ein sich’rer Schutz ist unser –
Unser? Ja, war das die rechte Einstellung? Als ob Gott irgend jemandem gehörte! Zu deinem, eh, zu Gott sollst du demütig kommen! Also: Ein sich’rer Schutz – Ach, erst
jetzt fiel ihr auf, daß ihr etwas gelungen war, was in ihren Augen eine Alliteration zu nennen sei. Schade, daß nur wenige sie zu
würdigen wissen würden! Also – Ein sich’rer Schutz der –
Wieso eigentlich der? Schon ihr großes dichterisches Vorbild (leider
ein Mann) sagte: die; die Gottheit! Und hatte nicht kürzlich der
Schloßprediger noch gesagt: Gott sieht dich in jedem Menschen an? Und wen sah die Gräfin häufiger
denn sich selbst! Also gelang ihr der 1. Vers: Ein sich’rer Schutz die Gottheit ist.
Ja, so war es recht, so war es gekonnt, so war es zeitgemäß! Innig dankte sie – der Gottheit. Ja, wären auch Wahrheit und Glaube Thema dieses Phantasiestücks gewesen, so hätte ich Antwort geben müssen; Antwort geben auf die Frage, ob SIE sich selbst dankte. Aber diese Untersuchung
wollen wir den Gelehrten und Gotteswörtlern überlassen, nicht aber unseren Glauben und unser Bemühen um die Wahrhaftigkeit.
Vers für Vers durchpflügte nun Ophelias Dichtergaul das alte Kirchenlied, so daß es nicht mehr wiederzuerkennen war. Mit dieser „môdernen“ Version will ich dich aber jetzt nicht langweilen oder gar zum Abfall vom Glauben bewegen. Außerdem könnte der Text in falsche Hände geraten und zu neuen Bearbeitungen anregen.
Jedenfalls – Gräfin Ophelia gab den neuen Text ihrem Mann, der natürlich davon sehr begeistert war. Er ließ seine Beziehungen spielen,
pries den Ausdruck neuen Lebens und konnte eines Tages seiner teuren Gattin berichten, daß ihr Text in das neue Kirchengesangbuch aufgenommen werden
solle.
Allein – ganz entwickelte sich doch nicht alles so, wie es die Gräfin glaubte verdient zu haben. Der Rat, der
für die Herausgabe des neuen Gesangbuches zuständig war, bestand nicht nur aus lauter Günstlingen, sondern zu ihm gehörte auch der alte Pastor Ernesto
Eisenstein. Und dieser Hitzkopf wußte die andern dazu zu bewegen, die alte Version nicht durch die neue zu ersetzen, sondern neben der neuen weiterbestehen zu
lassen. „Ist es aus Gott“, so rechtfertigte er sich, „so wollen wir es nicht dämpfen; ist es aber nicht von Gott, so wird es keinen Bestand haben.“
Wohl der Kirche, die noch Hitzköpfe hat!
© Stiftung Stückwerken, *1.+3.10.2005, freigegeben am
30.9.2024
Qouz-Note: 3
***
MamM 358 Mortiver
Wer zählt den Kummer? Wer wiegt das Leid? Wer hört die Klagen?
Anfangs hatte Bruns noch Tränen, als er sorgfältig die Grassoden abhob. Sorgfältig? Nun ja, mit seinen Gedanken war er nicht bei der Arbeit, aber
gelernt ist gelernt. Und tränenblind waren seine Augen auch nicht, denn vor der Wehmutter
hatte er sich noch beherrscht. Vor einer Frau weinen? „Nein!“
Nein? Wer hatte das gesagt? „Warum? – Warum? – Warum SIE?“ Bruns hielt inne. Dann nahm er die Laterne und stellte sie auf die andere
Seite. Weit leuchtete sie heute nicht: die feuchte Erde, der Spaten, die Stiefel. Und dann dieser Nebel. Kein Mond, keine Sterne halfen bei der Arbeit.
„Es ist nicht wahr! – Es kann nicht wahr sein! – Nein, nein, es darf nicht wahr sein. SIE ist nicht tot!“ Doch Bruns glaubte seinen eigenen Worten nicht, sonst hätte er den Spaten hingeworfen und wäre nach Hause geeilt. Nur kurz hielt er inne, als ihm der Gedanke kam, nach Ernstingen zum Doktor – „Nein“, mach dir nichts vor. SIE ist tot! Und kein Gott könnte SIE wieder
lebendig machen.
„Gott? Ha –“ Wenn es einen Gott gäbe, so hätte er das nicht
zulassen dürfen! Bis zu den Knien stand Bruns bereits in der Grube.
„Fluch! Fluch!“ Wie ein Dammbruch kam es nun über ihn. Schneller wurden seine Bewegungen. Und jedes Mal, wenn er den Spaten in das Erdreich
stieß, kam ein Fluch über seine Lippen. Ein Fluch gegen alles, was ihm bisher heilig gewesen war.
„Und der Junge ist an allem schuld! Fluch dir!
– Fluch dir! – Wärst doch du gestorben! Und SIE lebte
noch! – Fluch dir! Wollte Go– Ach, gebe der Teufel, daß er dein
Gevatter sei!“
„Würde er auch mit mir vorliebnehmen?“
Wer war das? Wer sprach da? Entsetzt hob Bruns den
Blick. Wieso war es mit einem Mal so hell? Es konnte doch noch gar nicht
Tag sein. Und wer –?
Mag die Vorstellung von einem Gott auch recht unterschiedlich sein, so gibt es über die Verkleidung des Teufels manche allgemeinen Ansichten: Pferdefuß, Hörner,
Mann! Was sich aber hier vor Bruns Augen erhob, hatte keinen Pferdefuß. Der
hätte in diesen spitzen Stiefeln keinen Platz gefunden. Da waren auch keine Hörner, sondern langes schwarzes Haar. Und das war auch kein Mann. Obwohl die Stimme keinen warmen Klang hatte. Ja, hatte sie überhaupt einen Klang? Wer wenigstens noch ein winziges reines Eckchen
in seinem Herzen hatte, dem mußte es bei dieser Stimme kalt den Rücken herunterlaufen.
„Nun? Was ist? Antworte Er gefälligst! Er traut sich wohl nicht?“
Bruns fand noch immer keine Worte. „Tu’s nicht!“
Wer flüsterte da? Oder war es eine –?
„Mitleid? Mitleid mit dem, der Seiner Frau das Leben gekostet hat? Mit –“
Wildheit und Haß traten in Bruns Augen: „Fluch! Fluch! Fluch diesem Todesbringer!“
„Und ich hätte auch schon einen prächtigen Namen für Seine Brut: Mortiver!“
„Mortiver? Was heißt das?“ rätselte Bruns.
„Nichts Gutes! Also einverstanden?“
„Es sei!“ stieß Bruns hervor, als wolle er alle Brücken hinter sich abbrechen.
„So will ich mir Seine Unterschrift holen!“ Ein leises Knarren. Ein feiner Stich in den Ringfinger; wie von einer Stechfliege. Und doch – die Lippen dieser Frau blieben schwarz. „Und paß Er gut auf! Seine Brut läßt Er nicht in der Kirche taufen, sondern in Seiner Schlafkammer; hört
Er? Und wenn der Pfarrer von Ihm das Gelübde verlangt, den Balg im christlichen Glauben zu erziehen, so laß Er mich das Jawort
sprechen. Und ist der Pfarrer wieder gegangen, so werde ich meinen Segen geben und mein Patengeschenk –“
„Und ich meinen Segen!“ Wütend blickte sich die schwarze Frau um. Wer hatte da gesprochen? Oder war es doch nur ein Echo gewesen? Aber hier ein Echo? Auffälliges war nicht zu entdecken. Nur ein Rotkehlchenhatte sich auf dem Deckel der Laterne niedergelassen. Und jetzt –
jetzt erdreistete es sich sogar zu singen.
„Na warte! Ich dreh’ dir gleich den Hals –“, doch das Rotkehlchen war flinker als die schwarze Frau und setzte
seinen Gesang aus der sicheren Dunkelheit fort.
Die schwarze Frau verschwand. Das Licht, das sie umgeben hatte, verschwand. Und Bruns setzte seine Arbeit fort. Ja, er hatte eine Entscheidung
getroffen. Aber irgend etwas regte sich noch in ihm. Irgend etwas war noch
nicht endgültig. Dieses verdammte Rotkehlchen!
Der Pfarrer hieß den Vorschlag gut, keine große Tauffeierlichkeit zu veranstalten. Aber als er beim
Leichenschmause gebeten wurde, in die Schlafkammer zu kommen und die Taufe vorzunehmen, befremdete dies ihn sehr und erzeugte einen starken Widerwillen, der ihn immer wieder aus dem Konzept
brachte. Und wer war diese verschleierte Gestalt, die ihm als Patin vorgestellt wurde? Malissa – solle er ins Kirchenbuch eintragen. Malissa? Welch ein Name!
Und erst der Name des Täuflings! Mortiver. Mortiver Brunsson! Wer hatte jemals so geheißen?
„Und als ich“, so hielt es der Pfarrer später in der Kirchenchronik fest, „den Vater um das Jawort bat, den Täufling im christlichen Glauben erziehen zu wollen, da war es
mir, als gäbe noch eine 2. Stimme ihr Jawort. Eine weibliche Stimme. Eine
Stimme aus der Ewigkeit. Und ich sagte dies auch dem Vater. Aber sein Herz
war vor des Trostes Worten noch verhärtet!“
Allein – selbst wenn jene Seiten der Kirchenchronik noch aufzufinden wären, was sich hernach in der Schlafkammer zugetragen hatte, hätten sie nicht zu berichten
gewußt. Der Pfarrer hatte nach der Taufe nicht nur gleich die Schlafkammer verlassen, sondern auch das Haus. Als wäre etwas Unheimliches zurückgeblieben. Rasch hatten sich die anderen Gäste
ebenfalls erhoben und verabschiedet. Und mancher legte von seinem eigenen Charakter Zeugnis ab, als er versuchte, sich über die
Zurückbleibenden einen Reim zu machen: eine Patin, die Frau gerade beerdigt, verschleiert –
Keiner der Reimschmiede traf es recht! Denn gar bald stürzte auch die verschleierte Gestalt aus dem Hause, als
sei hinter ihr der – Aber das konnte doch nicht möglich sein. Bruns erschien im Türrahmen, blieb stehen, rief nicht zurück, trat
wieder hinein und schloß die Tür.
Dann legte er sich so, wie er war, auf seinen Strohsack. Bestimmt würde er auch heute keinen Schlaf
finden. Wie war das eben noch gewesen? „Ich wünsche dir“, hatte die
schwarze Frau gesagt, „daß alles, was du mit den Fingern deiner linken Hand berührst, binnen Tagesfrist sterben muß. Das soll mein
Segen sein. Nur deinen Vater sollst du nicht töten können, wollte er seinen Tod auch noch so sehr suchen.“
Aber schon war eine andere Stimme erklungen, rein wie der Quell in den Bergen: „So soll deine rechte Hand dem Sterben Einhalt gebieten, sobald du volljährig geworden
bist. Nie wirst du Gutem schaden können. Ich werde dich leiten. Das ist mein Segen!“ Wer hatte diese Worte gesprochen? Nein, eben nicht Malissa! Die hatte gleich das Weite gesucht. Ein Rotkehlchen hatte gesungen, aber wie sollte das in die Schlafkammer gelangt sein?
Und seit wann konnte ein Rotkehlchen sprechen wie eine junge Frau? Darüber versank Bruns in einen tiefen Schlaf.
Über ein Übermaß an Schlaf konnte sich Bruns künftig nicht beklagen. Für die Tage konnte er mehr schlecht als
recht eine Amme besorgen, die sich immer wieder darüber beklagte, warum die linke Hand des Kindes stets in einem Fäustling stecken müsse und nur vom Vater gewaschen werden dürfe. Das habe der Doktor so angeordnet, log der Vater. In den Nächten jedoch gab es keine
Amme, die das Schreien und Weinen stillen konnte; da war Bruns allein. Und
hätte es nur diese Nächte gegeben, Mortiver hätte nie das Sprechen gelernt.
Aber vielleicht das Fluchen! Nein, dem Knaben fluchte der Vater nur im Herzen; ansonsten strafte er ihn mit Schweigen. Aber dieses verdammte Rotkehlchen! Mit seinem verfluchten Gesang raubte es Bruns stets den Seelenfrieden. Immer wieder
weckte es in dem Vater eine Stimme des Zweifels, ob er richtig gehandelt habe. Er warf nach dem Vogel. Er streute Gift. Er legte Schlingen. Vergeblich! Schließlich verstopfte er seine Ohren und zog sich in sein Inneres
zurück.
Kein guter Stern also, unter dem der Knabe aufwuchs? Von seiner Geburt an? Jedoch – wer sagt denn, daß die Sterne nicht geschienen hätten? Nur waren sie auf der
Erde bei dem Nebel nicht zu sehen gewesen.
Nun darfst du nicht glauben, der Vater habe dem Sohne immer wieder den Tod der Mutter vorgeworfen. Nur einmal
fand der Vater dafür Worte, und die fielen Mortiver tief ins Herz. Er war schuld am Tode seiner Mutter! Für den Knaben war’s wie ein rechtskräftiges Urteil.
„Wer liegt da?“ hatte er ahnungslos gefragt.
„Deine Mutter“, hatte der Vater geantwortet, „die du mit deiner Geburt getötet hast.“ Dann hatte sich
der Vater wieder seiner Arbeit zugewandt.
Auch wenn der Knabe den Tod nicht recht begriff, hatte er zu weinen begonnen. Dann hatte er seine Handschuhe
ausgezogen, den Stein gestreichelt, die Blumen. Am nächsten Morgen waren alle Blumen
verdorrt.
Der Vater erkannte die Ursache mit einem Blick und schimpfte sehr: „Du hast die Blumen angefaßt?“
„Aber ich habe sie doch nur gestreichelt!“ jammerte der Knabe.
„Und hast sie getötet!“ urteilte der Vater.
„Aber du faßt die Blumen doch auch an“, versuchte sich Mortiver zu verteidigen.
„Das ist etwas anderes“, tat der Vater den Einwand ab, „ich töte nicht. Aber du, du bist verflucht!“
Verflucht? Was war das? Mortiver traute sich
nicht, den Vater zu fragen. Seine Erkenntnis wuchs dennoch. Unter
Schmerzen! Gleich am nächsten Tag.
Während der Vater dem Rotkehlchen sehr feind war, hatte Mortiver zu dem Vogel großes Zutrauen. Von Anfang an
war es das einzige Freundliche in seiner Kindheit gewesen. Und das Rotkehlchen mochte ebenfalls Zutrauen zu dem Knaben gefaßt
haben. Nun also, am nächsten Tag, war es ihm wieder einmal gelungen, in das Innere des Hauses zu
dringen, während Bruns auf dem Totenacker arbeitete. Fröhlich sang es seine Lieder, setzte sich zu Mortiver auf den Tisch und ließ sich
von des Knaben Kummer berichten.
„Aber ich hab’s doch nicht böse gemeint“, jammerte Mortiver. „Guck, ich hab’ sie nur gestreichelt. So, so wie dich jetzt. – Rotkehlchen! – Nein! – Nein!
– Nein!“
„Hör auf zu jammern“, schimpfte der Vater, der unbemerkt zurückgekommen war, „um das ist es nicht schade. Du
hast es gestreichelt, nicht wahr? Mit der Hand da? Gut so!“
„Und das Vöglein wird nie mehr singen?“ schluchzte der Knabe.
„Nein“, antwortete der Vater schonungslos, „nie mehr. Du hast es getötet.“
Ach, dieser Tag war jedoch noch nicht das Höchstmaß! Der Vater hatte seinen Sohn zwar in Abgeschiedenheit
aufwachsen lassen, noch nicht einmal zur Dorfschule hatte er ihn geschickt, aber auch er konnte es nicht verhindern, daß er Nachbarn hatte und sein Haus Fenster. Vor einigen Tagen waren drüben Fremde eingezogen, und auch jenes Haus drüben hatte Fenster. Und schon bald erschien an einem dieser Fenster ein Gesichtchen. Der Kopf eine
kleinen Mädchens. Eines Mädchens, das von allen goldig genannt wurde. Und
irgendwann begann dort ein Händchen zu winken. Das Winken wurde erwidert.
Und dann, dann kam jener Tag nach dem Tode des Rotkehlchens.
Der Vater war wieder auf dem Totenacker und mußte vergessen haben, die Türe abzuschließen; denn als es leise klopfte, da konnte diese Türe
(wenn auch mit großer Anstrengung) geöffnet werden.
„Wer bist du?“ fragte, der die Tür geöffnet hatte.
„Ich bin doch die Hanna!“ kam es mit Verwunderung zurück. Wie konnte es jemanden geben, der das nicht wußte! „Und du?“
„Ich bin der Mortiver“, kam es als Antwort – mit deutlich weniger Selbstbewußtsein.
„Frierst du?“ wollte Hanna nun wissen. „Oder hast du
eine schlimme Hand?“
„Ach so, der Handschuh“, Mortiver blickte auf seine Hand. „Hier drinnen müßte ich ihn eigentlich nicht
tragen. Nur wenn ich unter Leuten bin.“
„Wieso?“ die Wißbegierde ließ sich nicht stillen.
„Vater will es so!“ Konnte das als Antwort ausreichen?
„Und wieso will es dein Vater so?“ ging es sogleich weiter.
„Irgend was ist mit meiner Hand –“, Mortiver stockte, „ich glaub’, ach –“; und er schüttete seinen ganzen
Kummer aus.
„Streicheln?“ wunderte sich Hanna. „Du hast die Blümchen
und das Vöglein gestreichelt, sagst du? Was ist das: streicheln? Meine
Eltern haben mich noch nie gestreichelt.“
„Ich könnt’s dir ja zeigen, aber –“, der Knabe zögerte.
„Aber?“ fragte das Mädchen.
„Aber ich habe Angst“, befürchtete Mortiver, „daß du dann auch tot wirst.“
„Bestimmt nicht“, tat das Mädchen den Einwand beiseite, „ich bin doch kein Blümchen und auch kein Vöglein. Komm!“
Ach, Mortiver hatte zu wenig Selbstvertrauen, um auf seinem Einwand beharren zu können.
„Siehst du“, urteilte Hanna später, „mir ist gar nichts widerfahren. Und schön war es auch! Bis morgen!“
Das Morgen kam auch. Aber keine Hanna! Dafür Arbeit für den Vater. „Nur ein Kindergrab“, erzählte der Vater am Abend, „genau
groß genug für – Aber es ist für ein Mädchen. Ich hab’ es noch gestern gesehen. Das hätte meine – Goldig! In der Nacht hat es hohes Fieber bekommen. Und heut morgen schon war es tot. Es trifft immer die falschen. Drüben – im Nachbarhaus.“
„Etwa –“, Mortiver wagte kaum weiterzusprechen, „Hanna?“
„Ja“, wunderte sich der Vater, „so soll es auf dem Kreuz stehen. Du kennst sie? Hast du etwa –?“
„Ja“, schluchzte der Knabe, „gestern. Sie wollte es so.“ Dann brach er zusammen.
In den Erinnerungen eines Menschen müssen die an die Fiebernächte der Kindheit keine schlimmen sein. Besorgte
Blicke. Flüstern. Und wenn die Augen aufgeschlagen wurden, dann sahen sie
am Bett die Mutter. Aber bei Mortiver? Zwar hatte ihn der Vater gleich zu
Bett gebracht, doch dann hatte dieser seinen eigenen Strohsack genommen und sich damit in die Wohnküche verzogen. Und als der Vater
am Morgen in die Schlafkammer zurückkehrte, da lag in seinem Blick nicht Sorge, sondern Enttäuschung. Wieso lebte der da noch? Der lächelte ja sogar im Schlaf! Teuflisch! Und Fieber schien der auch nicht mehr zu haben. Ah, warum eigentlich nicht? Die Geschäfte gingen von Jahr zu Jahr
schlechter. Sollte der da überleben, dann – Schließlich kostete er Geld. Warum sollte sich ein Vater dieses Geld nicht zurückholen? Und das mit
Zinsen! Verflucht war der da ohnehin. Und gäbe es einen Gott, so hätte er es bestimmt nicht zugelassen!
Dem Vater sang kein Rotkehlchen mehr Unruhe und Zweifel in diese Gedanken. Und doch – Irgendwie mußte
eine geheime Macht am Werke sein! Selbst der wortkarge Vater konnte nicht schweigen, als er abends vom Totenacker zurückkehrte: „Denk
dir, jetzt gibt es auch bei uns Leichenräuber. Der Sarg gestern: leer.
Deine Hanna: fort!“
„Ich w–“, Mortiver verbesserte sich, „was ist das: Leichenräuber?“
Dem Vater schien nichts aufzufallen: „Das sind böse Menschen, die nachts die Toten aus den Särgen holen, um sie an die Gelehrten zu verkaufen.“ Dennoch – über eines rätselte der Vater: Wie schnell er sich getröstet hat! Aber er
ist ja verstockt! Verstockt und verflucht!
Allein – was sollte er lange über seinen Sohn nachdenken. Er hatte an sich selbst zu denken, an sein neues
Gewerbe. An die große Glocke konnte er es nicht hängen, Flüsterpropaganda mußte genügen. Doch die Nachfrage übertraf seine Erwartungen bei weitem. Wer sollte auch Verdacht
schöpfen! Kein Stich, kein Schuß, kein Gift, kein Zeichen von Gewalt. Auch
kein Schrecken. Im Gegenteil! Die Opfer erwiderten sogar das Lächeln, wenn
Mortiver an ihr Lager trat. Wie ein Erlöser!
Nur seinen Vater konnte er nicht erlösen. Wollte der das überhaupt? Die Taler rollten, sein Ansehen wuchs, sogar Bürgermeister sollte er werden. Nur
woher der Reichtum kam, darüber blieben alle im ungewissen, – soweit sie nicht zur Kundschaft gehörten. Sicherlich war er in Verbindung
mit hohen Häusern. Vielleicht baute er prächtige Mausoleen. Die
Gerüchteküche brodelte und verbreitete stets angenehme Düfte.
Diese Kutsche flößte ja auch Achtung ein! Es sei zumindest ein fürstliches Wappen auf den Türen, so viel könne
der Schulmeister sagen. Auch wenn ihm ein Rotkehlchen im Wappen bisher noch nicht vorgekommen sei und er ein hohes Haus entsprechenden
Namens nicht kenne. Aber die gnädige Frau sei gewiß eine Prinzessin; das
zeige schon ihre Anmut. Und das kleine Mädchen, das sich scheu am Kutschenfenster zeige, sei wohl ihre Tochter. Eines war jedoch sonderbar: Die Kutsche kam nur, wenn Mortiver allein zu Hause war!
Der Schulmeister hatte Bruns einmal wegen der Kutsche angesprochen, aber der hatte sich wenig auskunftsfreudig verhalten. Er solle abends nicht so viel Wein trinken, hatte Bruns geantwortet und ihn dabei angeschaut, als zweifele er an seinem, des Schulmeisters,
Verstande.
Ansonsten? Schon längst wuchsen auf dem Grabe der Mutter wieder Blumen. Die Rotkehlchen waren nicht ausgestorben, und – Mortiver reifte zu einem verständigen jungen Mann heran. Woher er das nur hatte? Er war doch nie zur Schule gegangen. Allein – es gab Wichtigeres, über das sich Bruns den Kopf zu zerbrechen hatte: neue Aufträge und – die Sache mit den Leichenrauben! Wer von den Auftraggebern nicht aufgepaßt hatte, bekam Schwierigkeiten mit dem Erbe.
War eine Leiche verschwunden, so wurde hier und da verlangt, der Tod müsse bezeugt und amtlich bescheinigt sein. So etwas machte den
Auftrag zwar nicht zunichte, aber teurer und mußte sorgfältig bedacht werden. Eindringlich mußte es der Kundschaft eingeschärft werden,
gleich nach dem „Besuch“ einen Arzt zu rufen, sollten Scherereien und ein kostspieliger „Nachschein“ vermieden werden. Ach ja, selbst
einem Sterbe- und Erbehelfer fiel nichts in den Schoß!
Oder doch? Wieder einmal bezog der Herbst in Bodenhagen sein Quartier: mit seinen Gaben, mit seinen Farben und mit seinem Nebel. In der Nacht waren weder
Sterne noch Mond zu sehen gewesen, aber dennoch näherte sich am Morgen Räderrasseln. Dieses Mal war Bruns zu Hause. Ach ja, er erinnerte sich, der Schulmeister habe von dieser Kutsche gesprochen. Es
gab sie also doch! Welche Bewandtnis hatte es mit ihr? Ein wichtiger
Auftrag? Er solle sich besonders stattlich kleiden? In Ernstingen?
Und dann sogar in der größten Kirche der Stadt! Keine Trauerfeier. Hochzeit! Bruns verstand die Welt nicht mehr. Er selbst an vornehmster Stelle unter den Gästen. Und waren das nicht neben ihm jene
Nachbarn, denen die Tochter so jung gestorben war und die bald wieder fortgezogen waren? Was wollten die denn hier? Wo war überhaupt Mortiver abgeblieben? Nein! Träumte er?
Hanna erkannte er nicht wieder, selbst wenn der weiße Schleier nicht gewesen wäre. Aber als er sich verstohlen
umblickte, erschrak er. War er in das Totenreich geraten?
Nein, das war er noch nicht, aber zurecht fand er sich nicht. Zwar bat er seinen Sohn um Verzeihung,
aber lieben könne er ihn nicht. Eindringlich bat dieser ihn, zu bleiben und ihn bei dessen Heiltätigkeit zu unterstützen: „Du siehst,
am Ende wird doch alles gut!“
„Und deine Mutter?“ stieß der Vater verbittert hervor.
„Die wird sich auch eines Tages finden“, ließ sich der Sohn nicht beirren.
„Aber nicht in diesem Leben!“ war des Vaters Meinung, auch geprägt durch seinem Beruf.
„Was aber ist das Erdenleben“, gab Mortiver zu bedenken, „im Vergleich zur Ewigkeit?“
© Stiftung Stückwerken, *4.11.2005, freigegeben am 28.6.2024
Qouz-Note: 4+
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MamM 359 Zu Besuch
„So, bitte die beiden Herrschaften hier herein.“ Der Gastgeber zeigte sich von seiner besten Seite. „Bitte, Platz zu nehmen. Freut mich, daß es doch einmal geklappt hat. Hatten Sie eine angenehme Reise?“
„Danke der Nachfrage, Herr, eh –“ antwortete der hagere Gast.
„Schiefmaul“, versuchte der korpulente Gast auszuhelfen, „oder besser: Bimbor.“
„Ja“, ergriff der hagere Gast wieder das Wort, „Herr Schiefmaul. Es war nur ein bißchen weit.“
„Sie können ruhig Bimbor zu mir sagen“, bot der Gastgeber zuvorkommend an, der sich zur Ehre des Tages sogar eine blaue Samtfliege vorgebunden hatte.
„Das hört er nämlich lieber“, flüsterte der korpulente Gast, „oder möchten Sie, Herr Stern, immer mit Schiefmaul
angeredet werden?“
„Das tut nichts zur Sache, Herr Mond“, bemühte sich Herr Stern eifrig, kein Fettnäpfchen auszulassen, „erstens
heiße ich Stern und nicht Schiefmaul; und zweitens ist jeder Mensch mit seinem Nachnamen anzureden.“
„Mensch?“ lachte Herr Mond. „Das könnte als Beleidigung
aufgefaßt werden. Allein – lieber Herr Bimbor, Sie fragten nach der Reise.
Nun ja, der Nebel –“
„Aber Sie hatten doch gesagt, –“ fiel der Gastgeber ins Wort.
„– daß wir nur bei Nebel abkömmlich wären“, ergänzte Herr Mond. „Das ist richtig, und ich wollte Ihnen auch
gar keinen Vorwurf machen. Es stimmt ja: Bei Nebel werden wir beide nicht gebraucht, und kein Hahn kräht nach uns.“
„Darf ich den Herrschaften etwas zu trinken anbieten?“ fragte der Gastgeber.
„Ja, bitte“, antwortete Herr Stern, „Herr, eh, Herr Schiefmaul; aber möglichst eisgekühlt.“
Herr Mond dagegen lachte: „Hahaha, wollen Sie mich bereits vor der Zeit vollmachen, lieber Bimbor?
Sternhagelvoll? Hahaha; und mich aus der Bahn bringen? Also bitte kein Alkohol; aber zu einem guten Leierbacher sage ich nicht
nein.“
Mit den Getränken wußte unser Bimbor Bescheid; jedoch ein interessantes Gespräch in Gang zu bringen, dazu war
er noch etwas zu tapsig. Oder hatte er etwa zu wenig Erfahrung, weil er sich zu selten Gäste einlud? Er versuchte es mit dem Wetter: „Und was meinen Sie, wie wird das Wetter werden?“
„Veränderlich“, antwortete Herr Mond, „Dichter Nebel ist zwar ein träger Geselle, aber ich denke, Frau Sonne wird ihm bald Beine machen. Wird ja auch Zeit! Stellen Sie sich doch einmal vor, lieber Bimbor, Sie wären hier in
Regensdorf der Nachtwächter. Na, und ständig tanzte Ihnen dieser Nebel vor den Augen
herum. Meinen Sie, das täte Ihnen Spaß machen? Nee, am liebsten sind mir
–“
„Das kommt auf den Abstand an, nicht wahr“, fiel ihm Herr Stein ins Wort, „einzig auf den Abstand. Was scher
ich mich um den Nebel! Ich sag’ Ihnen, Herr Mond, und ich weiß, daß ich mich wiederhole, Sie gehen viel zu dicht heran.“
„Ach nein“, versuchte sich Bimbor als Anwalt, „so ein schöner großer Mond, das ist schon was Feines.“
„Danke, lieber Bimbor“, Herr Mond lächelte, „das ist es ja, was ich sagen wollte: Am liebsten habe ich diese klaren Nächte. Und das haben mir schon viele meiner Freundinnen bestätigt. Warten Sie – Ach, leider
habe ich jetzt keinen der Briefe mit. Schade –“
„Briefe?“ wunderte sich Bimbor. „Sie erhalten
Briefe?“
„Ja“, bestätigte Herr Mond nicht ohne Stolz, „sogar Gedichte. Auch mal ein Märchen. Und Musik! Ich hätte dazu inspiriert, wird mir dann geschrieben; und ob ich damit einverstanden sei, wenn mir das Stück gewidmet würde.“
„Menschen!“ War Herr Stern etwa eifersüchtig? „Ich
würde darauf nichts geben. Die reden heute so, morgen so. Nein, wer sich
auf der Menschen Gunst verläßt, der ist verlassen!“
„Nanana, Herr Stern“, Herr Mond konnte dem nicht zustimmen. „Wie es in den Mond hineinscheint, so scheint’s
heraus. Und so ist es auch mit den Menschen. Zeig dich von der heiteren
Seite, dann weckst du auch das Heitere. Ich finde –“
„Und die Spötter?“ fiel Herr Stern ins Wort. „Es mag
Ihnen ja verborgen sein, was alles über Sie geredet wird. Ich jedenfalls ließe mir so etwas nicht bieten.“
„Nun ja, Herr Stern“, ergriff Herr Mond wieder das Wort, „über Sie wird auch geredet. Manche behaupten sogar,
es gäbe Sie doppelt.“
„Eben!“ ließ sich Herr Stern nicht beirren. „Deshalb
halte ich Abstand. Kühlen Abstand! Und habe nichts gemein mit diesem dummen
Pack!“
„Aber gerade die Dummen sind mir viel lieber“, bekannte Herr Mond, „denn diese Gelehrten und Gescheiten. Die
Klugen suchen doch nur nach Flecken und Fehlern und wundern sich, daß sie keine Freude mehr haben. Aber die Dummen, die freuen sich
einfach.“
„Dennoch geht nichts über die Erkenntnis!“ beharrte Herr Stern auf seinem Standpunkt.
„Typisch!“ lachte Herr Mond. „Keinen Zoll von der Stelle
weichen. Sie sollten häufiger auf Wanderschaft gehen, dann sähen Sie die Sache und das Leben anders! Wer hat denn überall unter den Menschen die Lichter angezündet, so daß keiner mehr sich über uns freuen kann? Die Dummen oder die Gescheiten? Also? Und kaum singt ein Kind Der Mond ist aufgegangen, kommt auch schon ein Gescheiter gelaufen und
redet von Quatsch und Unsinn. Nein, Herr Stern, ich wage sogar die Behauptung: Weniger Erkenntnis, und die Menschen sehen wieder mehr
und – freuen sich mehr!“
„Quatsch! Unsinn!“ empörte sich Herr Stern. „So etwas kann nur ein Flattergeist wie Sie in die Welt setzen! Ich aber muß den
Menschen Orientierung geben; und da kann es gar nicht genug Erkenntnis geben! Das muß schon bei den Kindern anfangen!“
„So?“ wunderte sich Herr Mond. „Wären’s denn dann
überhaupt noch Kinder?“
„Ach, mit Ihnen kann ich mich ja gar nicht richtig unterhalten!“ tobte Herr Stern. „Sie stellen ja alles in Frage. Einfach alles! Am besten, ich gehe wieder an die Arbeit. Auf Wiedersehen!“
„Sie wollen schon –“, Bimbor blieb die Sprache weg.
„Lassen Sie ihn“, versuchte Herr Mond zu beruhigen, „wer als Orientierung dient, muß noch lange nicht Ziel sein. Ach, schauen Sie nur, der Nebel scheint sich zu lichten. Und dort drüben am Hang:
Kinder! Kinder mit ihrer Laterne. Na, solch ein Licht laß ich mir
gefallen. Und hören Sie nur, sie singen: Laterne, Laterne, Sonne, Mond und
Sterne. Es ist also noch Hoffnung! Na, da will ich mal gucken,
ob ich den Dichter Nebel zur Seite drängen und den Kleinen noch eine Freude machen kann. Auf Wiedersehen, lieber Bimbor!“
„Leben Sie wohl“, gab Bimbor dem Gaste mit auf den Weg. Als unser Bimbor allein war, trat er an das Fenster
und spähte und lauschte. Tatsächlich! Der Nebel mußte weichen, und am
Himmel strahlte schon bald unter einem dunklen Hute ein freundliches, rundes Gesicht hervor.
„Der Mond! Der Mond!“ jauchzte ein
Kinderstimmchen. Und dann, ja, dann wehte eine neue Weise zu der Gestalt am Fenster herüber: „Der
Mond ist aufgegangen ...“
Es war also noch Hoffnung! Es war noch Hoffnung!
© Stiftung Stückwerken, *10.+13.11.2005, freigegeben
am 28.6.2024
Qouz-Note: 2-
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