Überblick MamM 301 bis 320
301 Über die Studenten
302 Der Hörleborn (*10.6.2004)
303 Der Puppenprinz (*18.6.2004)
304 Der wunderliche Barbier von Glücksdorf (*26.6.2004)
305 Nachtmeister Stropp und der Kopf am Feldweg {s004} (*2.7.2004)
306 Der gezähmte Gatte (*17.7.2004)
307 Der Buchhalter (*23.7.2004)
308 Nachtmeister Stropp und das Netz des Verderbens {s005} (*29.-30.7.2004)
309 Nachtmeister Stropp und die Wegelagerer {s006} (*6.8.2004)
310 Elserich und Esela (*12.8.2004)
311 Soweit der Himmel ist (*19.8.2004)
312 Die Knochenmühle (*10.+12.9.2004)
313 Das Stockhäuser Tal
314 Der Mathildenspiegel
315 Wie der Irrtum in die Welt gekommen
316 Lieber Schnecken
317 Schwester, Bruder, Vater (*6.11.2004)
318 Wie ein Blatt (*12.11.2004)
319 Tod, wo ist dein Stachel (*21.11.2004)
320 Das Denkmal
MamM 302 Der Hörleborn
Ja, ja, wenn die Sonne sengt und brennt, der Wand’rer nach der Quelle rennt! Allein – nicht jedes Wasser hat die gleiche Wirkung, und –
nicht jedem dient das Wasser auch zum Segen.
Hinter den hohen Nußbergen und abseits der großen Residenzen wär’ einmal eine Gräfin eines
Töchterleins genesen. Und da Mutter und Vater einer Seitenlinie angehörten und keine Hoffnung darauf bestand, je ein großes Reich zu
erben, erhielt das Kindchen auch keinen pompösen Namen, sondern ward schlicht Raune von Rauningen genannt.
Prinzessin Raune war ein aufgewecktes Kind und wollte von morgens bis abends Neues wissen. Gut, daß es Eltern
hatte, die sich noch die Zeit nahmen, zuzuhören, und die ob der immer neuen Fragen nicht die Geduld verloren. Auch ein Kind ist einem
Kruge gleich; wird er nicht gefüllt, so kann er später auch nichts geben oder – sammelt mancherlei Unrat. Den hielten die Gräfin und der Graf jedoch von ihrem Kinde fern und sahen es zu ihrem Wohlgefallen
heranwachsen.
Da kam es dem Grafen eines Tages in den Sinn, die Gaben seiner Tochter auch andern dienen zu lassen. Er hieß
deshalb ein zerfallenes Kloster wieder herrichten, eröffnete dort eine Schule für Töchter höherer Stände und setzte Prinzessin Raune dort zur Lehrerin.
Nun ja, Schulnoten sind keine Erfindung heutiger Tage. Und schon damals war der Glaube weit verbreitet,
Schöntun schöne schlechte Noten in bessere. Um so mehr, wenn es den Schülern unmöglich ist, einen Keil zwischen Lehrer und Schulleitung
zu treiben. So sah sich auch Raune lauter artigen und braven Schülerinnen gegenüber – anfangs!
Denn eines Morgens betrat sie den Klassenraum etwas früher als sonst und unbemerkt. Wie fröhlich die Schülerinnen waren! Aber – ei, das durfte doch nicht wahr
sein! Die machten sich ja über jemanden lustig! Über eine
Jemandin! Und diese Jemandin war – Raune! Schnell zog sich die Prinzessin
wieder zurück; allein – es war, als habe sie Schusterpech berührt und könne es nie mehr loswerden. Hinfort blickten ihre Augen anders; und was ihr bisher Freude gemacht hatte, war ihr
nun vergällt.
Just in jenen Tagen fiel ihr ein altes Sagenbuch in die Hände, in dem sie von einer wundersamen Quelle las: dem Hörleborn. Stell dir vor, kaum eine halbe Wegstunde vom Rauninger Schloß entfernt sollte diese Quelle angeblich zu
finden sein. Und wer von dieser Quelle einen Schluck trinke, der könne einen ganzen Tag hören, was hinter seinem Rücken über ihn geredet wird. Wer 2 Schlucke trinke, könne eine ganze Nacht lang hören, was ein anderer träumt. Und
wer 3 Schlucke trinke, der könne sogar einen ganzen Tag und eine ganze Nacht hören, was die andern von ihm denken.
Sonderbar! Und so sonderbar, um Neugier zu wecken und wachzuhalten.
Prinzessin Raune beschloß, diese Quelle zu suchen und zu erproben. Schaden konnte das bestimmt
nicht; – oder? Und Raune fand den Hörleborn, schöpfte, trank einen Schluck und kehrte zur Schule zurück. Tscha, du wirst es kaum glauben: Das
Wasser tat seine Wirkung; allein – froh war Raune nun nicht. Welch eine
herbe Enttäuschung! Raune hatte gedacht, wenigstens bei der Mehrzahl ihrer Schülerinnen wäre sie beliebt. Was mußte sie aber hören? Es gab keine einzige Schülerin, die nicht etwas an der
Lehrerin auszusetzen hatte – hinter deren Rücken. Und je mehr Raune ihre Enttäuschungen spüren ließ, desto schlechter wurde über sie
geredet – hinter ihrem Rücken. Es war Raunes letzter Schultag. Flehend bat
sie ihren Vater, sie von ihren Lehraufgaben zu entbinden. Lieber wolle sie Schweine hüten.
Nun, Schweine hüten mußte Raune nicht, denn – als wäre es so abgestimmt – sie erbte einen Thron. Na, das war
erst mal etwas Neues! Und zu lernen galt es auch viel; und das machte Raune
bekanntlich ja Freude. Und wie nett die Minister und sonstigen Beamten waren! Wie nett die Zofen und Diener! Wie nett die Untertanen!
Allein – wer einmal aus dem Hörleborn getrunken hat, den dürstet nach ihm wieder. Ach, hätte Raune ihrem
Verlangen doch widerstanden! Wieder war die Enttäuschung groß! Und wehe,
sie bezichtigte jemanden der Heuchelei! Denn welcher Heuchelnde gibt sein Heucheln schon zu! Das Regieren wurde Raune von Tag zu Tag unerträglicher.
Wer sich nicht mehr selbst zu lösen weiß, dem muß ein Erlöser helfen. Für Raune schien dieser Erlöser die
Gestalt des Prinzen Cornelius zu besitzen. Er war nämlich anders als die andern und besaß für Raunes Blicke den rechten Zunder.
Und – er redete auch hinter ihrem Rücken nicht schlecht über die Prinzessin; zumindest nicht an den 3
Tagen, an denen Raune dank des Hörleborns die Probe machte.
Allein – blindlings wollte Raune nicht mehr vertrauen, und so trank sie eines Abends vom Hörleborn nicht nur einen Schluck, sondern
noch einen weiteren. Dann eilte sie zu dem Palais des Prinzen, versteckte sich und wartete in der Dunkelheit. Sie mußte lange warten. Beinahe wäre sie selber eingeschlafen, doch dann,
beim Morgengrauen, da hörte sie endlich des Prinzen Stimme: „Verlaß mich nicht, Fioretta! Verlaß
mich nicht!“
Fioretta? Nicht Raune? Dieser Schuft! Wie ein Reif in der Frühlingsnacht überfiel es plötzlich Raunes knospende Hoffnungen, und es währte
3 Jahre, in denen sie dem Prinzen geflissentlich aus dem Wege ging. Das bedeutete jedoch nicht,
daß der Prinz aus ihren Gedanken verbannt war. Keineswegs! Zunächst suchte
sie herauszufinden, wer diese Fioretta war. Gar bald wurde Raune fündig.
Diese Schurkin! Sie war des Prinzen 1. große Liebe gewesen und hatte ihn schmählich betrogen. Sonderbar, daß Raune eindeutig Partei für den Prinzen ergriff und nicht nach einer Mitschuld fragte. Sonderbar, daß sie sich jedes Mal freute, wenn ihr berichtet wurde: Auch heute habe der Prinz keinerlei Verbindung zu Fioretta
aufgenommen. Sonderbar, daß sie den Prinzen zwar unsichtbar, aber immer enger umkreiste, bis – ja, bis sie es endlich für gut befand,
dem Prinzen vor die Füße zu lau– Na ja, eine Prinzessin läuft nicht, sondern wandelt. Gut, daß dies unter Leuten
geschah! Der Prinz hätte Raune sonst wohl gleich in seine Arme genommen; so
groß war seine Freude! O, er liebte sie also noch immer: Ausrufezeichen!
Ausrufezeichen! Fragezeichen?
Da gab es doch noch eine 3. Wirkung des Hörleborns; oder? Und Raune trank, trank und trank. Es wurde Mittag, die Prinzessin erschien nicht im
Speisesaal. Es wurde Abend, die Prinzessin erschien nicht im Speisesaal. Es
wurde Nacht, die Prinzessin blieb verschwunden. Die ganze Residenz war in heller Aufregung, was auch dem Prinzen nicht verborgen
blieb. Sogleich beteiligte er sich eifrig an der Suche und fand gegen Morgen endlich die
Prinzessin, ohnmächtig unfern des Hörlebornes liegend. Ob er in den Märchenbüchern bewandert war? Jedenfalls gelang es ihm, die Prinzessin wieder an die Macht zu küssen und – zur Beichte. Tscha, wer in einem Reiche ganz oben steht, der liefert vielen Menschen Stoff für ihre Gedanken. Welcher Mensch könnte es ertragen, wenn er hörte, was Hunderte zur gleichen Zeit über ihn denken! Deshalb nahm sich die Prinzessin vor, nie mehr vom Hörleborn zu trinken. Und wenn die
beiden künftig auf das Gute gehört haben, dann werden sie bestimmt glücklich geworden sein.
© Stiftung Stückwerken, *10.6.2004, freigegeben am 24.7.2024
Qouz-Note: 3-
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MamM 303 Der Puppenprinz
Ein frommer Junge sollte er sein, das bestimmten die Eltern, als die gnädige Frau Gräfin zu Schloß Kindelsstraß von einem
Knäblein entbunden wurde. Fromm, reines Herzens und unschuldig. Und damit
der Knabe diese Bestimmung sein Leben lang nicht vergesse, ward er auf den Namen Innozenz getauft.
Allein – es war schon damals so: Unter den frommen Rotkehlchen sucht der Rabenchor nicht nach neuen Sängern.
Die Menschen lieben eher die Raben; denn die sind schon schwarz und können ihre Gesinnung nicht verbergen. Und der Mensch freut sich, wenn er auf andere mit dem Finger zeigen und ausrufen kann: Ich bin besser als diese. Der Fromme aber wird gemieden; denn was ist von ihm zu halten? Entweder er tut nur fromm und heuchelt; oder er ist wirklich fromm und weckt bei den
Menschen Unterlegenheitsgefühl und Eifersucht. Und bei manchem Frommen ist dieses Entweder-Oder ein Sowohl-Als-auch.
Ich kann dir jetzt den Prinzen Innozenz nicht als verderbten Heuchler schildern. Er war anfangs gewiß das, was
gemeinhin „ein guter Junge“ genannt wird. Er war seinen Eltern gehorsam, hütete sich, zu stehlen; ja, er weigerte sich sogar, das Kriegshandwerk zu erlernen. Das brachte ihm von
manchem Junker stolzen Spott ein und den Vorwurf, ein Muttersöhnchen zu sein und ein großer Feigling; dabei waren es doch diese Junker,
die andere zum Töten vorschicken wollten und somit feige waren.
Aber Prinz Innozenz blieb kein Kind. Und als er begann, an dem schönen Geschlechte Gefallen zu finden, da
gerieten die Schutzmauern seiner Frömmigkeit ins Wanken. Ja, hätte er einen Kreis lieber Gespielinnen und Gespielen um sich gehabt,
dann hätte alles noch in die rechten Bahnen gelenkt werden können. Doch wegen seines Namens und Wesens ward er beargwöhnt und gemieden:
ein einsamer Sonderling. Oft lag er heimlich auf der Lauer, um die Schönen mit seinen Blicken zu verschlingen. Gerne hätte er eine von ihnen sein eigen genannt; jedoch – wie das
anstellen?
Da begab es sich, daß der Prinz auf seinem Lauerposten eines Tages von einem liederlichen Landstreicher überrascht wurde. Der wußte gleich Bescheid, denn er war des gleichen Begehrens und anscheinend ähnlicher Erfolglosigkeit. Mit Schadenfreude gewahrte er, wie der Prinz einerseits vor ihm zurückwich, als halte er sich für etwas Besseres, andererseits sich durchschaut
fühlte und durch ein schlechtes Gewissen geplagt wurde. Und boshaft gab er dem Prinzen einen Rat – gegen klingende Münze. Zu des Prinzen Glück? – Sonderbar, daß der liederlich Landstreicher nie mehr in
Kindelsstraß gesehen wurde.
Und sonderbar, daß so manche Schöne auf den Gassen des Städtchens plötzlich nicht mehr gesehen wurde. Auch der
Prinz verließ kaum noch das Schloß. Statt dessen hatte er sich in einem Turmstübchen eingerichtet, zu dem er eigentlich niemandem
Zutritt gewährte; nicht seinen Eltern, nicht einem Diener, nicht einer Magd.
Was dieses Turmstübchen verbarg? Tscha, sei ehrlich; wärest du auf jenem Schlosse Kammerzofe gewesen, so wärest du wohl auch manches Mal unhörbar die Treppe hinaufgerauscht, ja, hinaufgehuscht und –
na? hättest wohl auch versucht, durch das Schlüsselloch zu spähen.
Und? Was hättest du gesehen? Einen Tisch? Ein Bett? Einen Schrank?
Einen Schrank! Sogar mit Glastüren! Und hinter
diesen Glastüren – Tscha, wenn du das hättest wissen wollen, dann hättest du schon durch das Schlüsselloch hindurchkriechen müssen und – wärest gewiß ertappt worden. Und als Schöne hättest du dem Prinzen gewiß gefallen; aber was dann mit dir geschehen wäre, hätte dir ganz und gar nicht
gefallen. Der Prinz hätte ein paar dunkle Worte gemurmelt und hätte dich anschließend zu den andern in den Schrank gestellt. Zu den anderen Puppen. Wozu? – Na, damit du dem Prinzen niemals mehr hättest weglaufen können. Und aus dem Schrank
holte der Prinz nur dann eine Puppe, wenn es ihn darnach verlangte.
Allein – mochte eine Puppe auch noch so schön sein, irgendwann ward der Prinz ihrer doch überdrüssig und stellte sie wieder zurück in den Schrank. Dann holte er entweder eine andere hervor, oder er suchte eine neue Schöne, die er als Puppe seiner Sammlung hinzufügen konnte. Tscha, warum wollen so viele Mädchen so schön wie eine Puppe sein?
Eines Morgens herrschte im Schloßhof große Aufregung. Verwundert blickte
der Prinz hinab. Dort stand eine kleine Kutsche, und aus dieser Kutsche stieg gerade – Ja, gab es überhaupt so etwas! Und wenn ihn seine Augen nicht täuschten, dann hatte ihm die da unten in seiner Sammlung gerade noch gefehlt!
Und wie einfach das alles ging! Der Prinzessin
Sternenfreud brauchte der Prinz nicht nachzuschleichen und dann plötzlich seinen Zauberspruch zu murmeln. Nein, die kam
freiwillig in sein Turmstübchen gestiegen. Die ließ sich freiwillig vor den Schrank mit den Glastüren führen. Allein – welche Redseligkeit der Prinz plötzlich an den Tag legte! Aber diese Augen
luden richtig dazu ein, zu reden; die Wahrheit zu sagen und – nichts zu verschweigen! Diese Augen kannten auch keine Furcht. Selbst als der Prinz begann, die Zauberworte
zu murmeln. Begann! Denn zu Ende kam er mit ihnen nicht, ja, weil die
Prinzessin zu lachen anfing. Kein spöttisches Lachen, das kränkt; nein, ein
kindliches Lachen, das ansteckt. Der Prinz versuchte, dagegen anzukämpfen;
vergeblich! Nun mußte auch er lachen; derart lachen, daß ihm der
Zauberspruch völlig aus dem Sinn ging. Und weil er ihn sich nicht aufgeschrieben hatte, kann auch ich ihn dir nicht mehr
sagen. Pipapopu Puppenschreck! Alle – Nein, Papipupo Peppenschruck
– Nein! Pepapipu Pippenschrick – Nein! Na, bestimmt ist es gut
so, daß ich den Zauberspruch nicht kenne.
Allein – wenn der Prinz nicht mehr zaubern konnte, was sollte aus den Puppen werden, die noch in seinem Schrank standen? Hättest du als Prinzessin dem Prinzen erlaubt, weiterhin mit Puppen zu spielen? Na,
also! Pst! Also – dazu wußte die Prinzessin Rat; aber du darfst es nicht weitersagen, denn sonst könnte damit viel Unfug getrieben werden. Also! Die Prinzessin hatte gehört, daß aus einer Puppe wieder ein Mensch werde, wenn
diese im Kindelsbach 7 Mal untergetaucht und – 7 Mal ausgelacht werde. Und auf das Lachen verstand
sich die Prinzessin ja. Also schlichen sich in der Nacht 2 dunkle Gestalten aus dem Schloß, auf
dem Rücken jeweils einen großen Sack. Einbrecher? Eher
Ausbrecher! Und sehr lustige obendrein! Und seit jener Nacht glauben die
Leute zu Kindelsstraß, bei ihnen könnten sogar die Frösche lachen; denn von wem hätte das Gelächter in der Aue sonst stammen
können? Tscha, und seit jener Nacht behaupten einige Schöne, sie seien Dornröschen, hätten lange Zeit geschlafen und seien dann
wachgeküßt worden; nur hätten sie bei der Dunkelheit nicht genau erkennen können: von wem.
Auf Schloß Kindelsstraß jedenfalls war bald Hochzeit. Und wenn die beiden immer etwas zu lachen hatten, werden
sie sicher glücklich gewesen sein. Gemieden wurden sie künftig bestimmt nicht.
© Stiftung Stückwerken, *18.6.2004, freigegeben am 24.7.2024
Qouz-Note: 3-
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MamM 304 Der wunderliche Barbier von Glücksdorf
Ob es sein richtiger Name war? Welch eine Frage! In seinen Taufschein wird
gewiß niemand Kammino Bartoli eingetragen haben. Allein – er nannte sich so, und
bald wurde er auch so geheißen. Also wird es sein richtiger Name gewesen sein.
Und er paßt auch zu ihm. Er war nicht so verdrießlich wie die meisten Menschen hierzulande, sondern er war
lieber vergnügt. Und wenn die Sonne untergegangen war, dann sah er nicht auf die Dunkelheit, sondern auf den letzten hellen Schimmer
und war fest davon überzeugt, daß die Sonne wiederkam, und – wurde nie enttäuscht. Deshalb hatte er auch seinem Meister Lebewohl gesagt
und sich auf seine eigenen Füße gestellt. Was der kann, das kann ich auch, hatte er gedacht und in seiner Küche etwas Ordnung
geschaffen. Dann hatte er sich auf den Dörfern nach dem umgesehen, was die Leute nicht mehr gebrauchen konnten, und war so günstig an
einen Stuhl und an einen Umhang gekommen. Messer, Kamm und Schere waren auch nicht teuer gewesen. Tscha, und dann war es endlich soweit: Kammino Bartoli gab sich die Ehre, alle Haare in die rechte Form zu bringen; selbst verlorene.
Gut, Glücksdorf war kein sehr großes Dorf; aber wer etwas auf sich hielt,
ging jeden Morgen zum Barbier, um sich den Bart scheren zu lassen, und jede Woche dorthin, um sich die Haare schneiden zu lassen.
Jedenfalls die Mannsbilder. Die Frauenzimmer gingen zwar auch regelmäßig zum Haarkünstler, doch in die Stadt zum früheren Meister von
Kammino. Zu letzterem schienen sie kein Vertrauen zu fassen; die Gründe
hierfür behielten sie für sich.
Desto treuer kamen die Bauern in die Hintergasse. Was störte es sie, daß
es hier in der Küche nicht so aussah wie in einem Kunsttempel! Sie kamen nicht, um anzubeten; sie kamen, um sich den Bart scheren und die Haare schneiden zu lassen; und – sie
kamen, um endlich einmal ihre Meinung zu sagen! Ob Kammino ein Meister der Bart- und Haarkunst war, will ich hier besser nicht
untersuchen; aber eine Kunst beherrschte er meisterhaft: die Kunst des Zuhörens! Er wußte so trefflich zuzuhören, daß sich jeder seiner Kunden bestätigt fühlte. Wo
findet das ein geplagter Familienvater heute noch!
Ach, meinst du, dann hätten die geplagten Familienmütter doch auch den Weg zu Kammino finden müssen?
Neugierig? Du willst also unbedingt endlich den Grund wissen, warum sie woanders hingingen?
Tscha, wart’s mal ab. Eines Tages verirrte sich auch ein fremder Kaufmann in Kamminos Küche, blickte den
Barbier sonderbar an, überließ sich dann aber doch Kamm, Schere und Messer. Nur – am Ende verlangte er, sich einmal im Spiegel
betrachten zu dürfen. Spiegel? An so etwas hatte Kammino bis dahin nicht
gedacht. So etwas lenkte doch nur ab, und außerdem zeigte ein Spiegel ja alles verkehrt. Wer hätte da noch ruhig arbeiten können! Dies legte er auch dem fremden Kaufmann dar
und – erntete Spott, ein „Nimmer Wiedersehen“ und keinen einzigen Groschen Trinkgeld.
Hast du da noch Töne! Jedenfalls hatte Kammino bald einen kleinen Handspiegel. Und wieder verirrte sich ein fremder Kaufmann in die Barbierküche. Doch der wollte
gar nicht erst Platz nehmen. „Blick Er nur selber mal in den Spiegel“, polterte der Fremde los, „dann weiß Er warum!“
Ein guter Ratschlag, meinst du? Nun ja, bis hierhin mag es ja ein gutes Predigtmärlein sein: vom Barbier, der
selber nicht in den Spiegel schaut. Allein – Kammino taugte nichts für die Kanzel, und ich taug’ auch nicht dazu. Die Geschichte will also anderes. Denn Kammino schaute fortan in den Spiegel, gab
Bart und Haaren wieder eine zivilisierte Form und – war nicht mehr der Alte. Statt wie früher darum besorgt zu sein, daß seine Kunden
mit sich zufrieden waren, trug er nun ständig Sorge, ob seine Kunden mit ihm zufrieden waren. Kammino wurde unsicher. Und als er gar einem Bauern ins Ohr schnitt, ward er zur Rede gestellt. Schnell ward
herausgefunden, daß das Übel wohl mit den fremden Kaufleuten zusammenhängen mußte. Und weil gerade ein warmer Sommertag war und das
Fenster offenstand, nahm der Bauer kurzerhand den Spiegel und warf ihn auf die Gasse. Und seitdem kam kein Spiegel mehr in Kamminos
Küche, kein fremder Kaufmann, und – ich achte, auch kein Frauenzimmer. Und wenn Kammino nicht gestorben ist, dann ist er wohl vergnügt
geblieben.
© Stiftung Stückwerken, *26.6.2004, freigegeben am 25.7.2024
Qouz-Note: 3
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MamM 305 Nachtmeister Stropp und der Kopf am Feldweg
O schaurig ist’s, über Land
zu geh’n! Nein! Im
Gegenteil! Für unsern Nachtmeister Stropp schien sein Streifengang ein Vergnügen
zu sein. Hier der helle Gerstenwald, dort rote Mohnbäume und auf dem Wege immer wieder wechselnde Wanderschnecken und – ein
Nachtmeister, der nach einer eigenen Harmonielehre und von Herzen sang:
„Das Wandern ist der Schnecken Gruft,
das Wandern an der frischen Luft,
das Wa-han-dern!
Da-has muß ’ne du-hu-humme Schnecke sein,
de-her niemals fie-hiel da-has Wandern ein,
das Wa–“
Abrupt verstummte der Gesang. „Aber Balthasar, was machst du denn hier?“ wunderte
sich der Nachtmeister. „Herr Böcklin? Sind Sie unter die Soldaten
gegangen? Ja, das kommt davon! Bis zum Kopf eingegraben; und nun werden Sie die fiesen Fliegen nicht mehr los! Na, warten Sie! Ich will diese frechen Vögel mal vertreiben, und dann buddeln Sie sich mal wieder heraus. Was soll denn die gnädige Frau Gemahlin von Ihnen denken? So – hoppla! Ja, was ist denn – Das kann doch nicht – Mordio! Mordio! Balthasar Böcklin ist ermordet worden! Mordio! – Nein, was hab’ ich mich erschrocken! Ruhig, Stropp! Ganz ruhig! Spuren sichern! Verdächtige verhören! Motive ausdenken! Täter festnehmen! Also! Aha! Hier ist
jemand gegangen! Schnüff, schnüff, schnüff! Schweißfüße! Barfuß! Noch ganz frisch.
Keine 5 Minuten alt! Aber – dann hätte ich dem Täter doch begegnen müssen!
Ich bin doch selbst – So ein Blödsinn! Stropp, Stropp, beinahe hättest du dich selber festgenommen! Nee, nee, das darf ich niemandem erzählen! Aber – Ja, wer war am
Tatort? Die Fliegen! Ich hab' sie selbst – Huch!“
„Na, Stropp“, fragte plötzlich eine knurrige Stimme, „noch nicht im Bett? Ja, ja, ein prächtiger Morgen!“
„Ach, Euer Gnaden, der Herr Friedensrichter!“ erwies unser Stropp den nötigen Respekt. „Das trifft sich gut. Seht nur, was uns dieser prächtige Morgen beschert
hat! Einen Mord! Einen mörderischen Mord!“
„Ach“, jetzt gewahrte es auch der Fuchs, „aber ist er auch ganz tot? Ich seh' nur den Kopf.“
„Kann ein Rehbock ohne Kopf noch leben?“ gab Stropp zu bedenken.
„Mäuse jedenfalls nicht, das stimmt!“ Reineke dachte
nach. „Aber bei Rehböcken kenn’ ich mich nicht so aus. Zwar, eh, wollte
ich, eh, als Herr Böcklin noch sehr jung war, eh, diesbezüglich einige naturkundliche Forschungen anstellen, eh, aber seine Mutter hatte, eh, seinerzeit für die Wissenschaft überhaupt kein
Verständnis. Aber von Regenwürmern heißt es, sie könnten auch ohne Kopf leben; hab’ ich jedenfalls mal gehört. Hat Herr Böcklin denn wenigstens noch sagen können,
wo er seinen, eh, das andere, eh, seinen Bauch zum Beispiel, gelassen hat?“
„Nein, Euer Gnaden“, berichtete unser Nachtmeister, „er war bereits mausetot, als ich –“
„Mausetot? So, so, so!“ fiel der Friedensrichter ins
Wort. „Na, da haben wir ja schon die 1. Verdächtigen! Dacht’ ich mir’s doch gleich! Alles Übel kommt von den Mäusen! Also, Nachtmeister! Nehm’ Er einige Mäuse fest, und bring' Er sie auf meine
Burg! Ich werd' dieses Pack strengstens bestrafen! Wehret den Anfängen! Wehret den Anfängen!“
„Aber“, zögerte unser Stropp, „wenn ich Euch zu bedenken geben darf, hehem! Können Mäuse einen ausgewachsenen
Rehbock enthaupten?“
„Gewiß!“ war sich der Friedensrichter sicher. „Wenn er
was Schlimmes verbroch– Ah, Nachtmeister! Da geht mir ein Licht auf!
Vielleicht ist es gar kein Mord. Vielleicht ist Herr Böcklin mit Fug und Recht hingerichtet worden!“
„In der Zeitung, die dort hinten immer in den Graben geworfen wird, stand aber nichts darüber.“ Der Igel
versuchte, sich zu erinnern. „Und – und gehört habe ich auch nichts. Und – und habt denn nicht hierzulande Ihr allein die
Gerichtsbarkeit inne! Habt Ihr etwa –“
„Stropp, Stropp!“ des Fuchses Stimme wurde vorwurfsvoll.
„Ich werd’ doch noch die Prozeßordnung kennen! Nein, nein, bei mir ist alles ordentlich! Es sei denn, es herrscht das Kriegsrecht; wie zum Beispiel bei den Mäusen. Da muß natürlich kurzer Prozeß gemacht werden, und die Urteile sind augenblicklich zu vollstrecken. Aber Rehböcke? Nun gut, sie stören schon mal die Nachtruhe, aber solche Vergehen kann
ich nicht gleich mit einer Hinrichtung ahnden. Nein, nein, hier muß ein anderer die Hand im Spiele gehabt haben.“
„Oder eine andere“, kam es Stropp in den Sinn und über die Lippen.
„Wie meint Er –?“ der Friedensrichter stutzte. „Ja, oder
eine andere! Wenn ich daran denke, wie mich, eh, damals seine Mutter behandelt hat. Mit allen Läufen und, eh, Keulen ist sie auf mich losgegangen. Ja, warum eigentlich
nicht? Gattenmord! Welcher Ehemann wünscht nicht schon mal –“
„Ehefrau, Euer Gnaden“, berichtigte der Nachtmeister, „Ehefrau!“
„Ja, richtig! Ehefrau!“ nahm’s der Fuchs dankbar
auf. „Und wer seine Gattin nicht richtig erzogen und, eh, ihr den nötigen Respekt eingeflößt hat, der lebt gefährlich! Der kann schon mal morgens lebendig einschlafen und abends tot aufwachen! Solche
Mäusefrauen und Unholdinnen soll’s geben!“
„Und bei den Schnecken könnte ich’s mir auch gut vorstellen!“ ergänzte unser Stropp. „Aber Frau
Rieke? Die blickt doch immer so gutmütig drein.“
„Eben!“ Der Fuchs schien auf Erfahrungen zurückgreifen zu können.
„Welche Frau wüßte sich nicht zu verstellen! Also!
Am besten sucht Er jetzt die Witwe auf und – hält die Augen offen! Und wenn sich Frau Rieke irgendwie verdächtig macht oder kein Alibi
hat, dann sogleich festnehmen und auf meine Burg bringen; verstanden?“
„Aber ein ausgewachsenes –“, wollte Stropp einwenden.
„Keine Widerrede!“ kommandierte der Friedensrichter.
„Oder ich muß mich nach einem anderen Nachtmeister umsehen. Tscheck-Tscheck hat kürzlich zu mir
gemeint, der Name seines Geschlechtes leite sich von Ältester ab und er sei deshalb für öffentliche Ämter bestens geeignet. Und nun muß
ich weiter!“
„Ein gewerbsmäßiger Dieb als Nachtmeister! Daß ich nicht lache!“ brabbelte unser Igel vor sich hin. Laut wünschte er jedoch dem Fuchs noch eine angenehme
Tagruhe und brabbelte wieder für sich: „Na, dann will ich mich mal auf die Pranken machen. Immer diese Zusatzaufträge! Oh weh, was wird nur Frau Struppe nachher sagen! Allein – Dienst ist –“
„Fifififie, Herr Stropp, Herr Stropp!“ Das kam wohl aus dem Erdreich. Richtig! Da! „Fifififie,
Herr Stropp, wir haben was geseh–“
„Albernes Mäusepack!“ schimpfte Stropp übellaunig.
„Hättet ihr auch was gehört, dann wüßtet ihr, daß ich es eilig habe. Schön', guten Tag! Die Pflicht ruft!“
Tscha, die Pflicht! Zuweilen ist es besser, nicht nur auf die Pflicht zu hören. Gewiß wäre die Geschichte anders verlaufen, und Herr – Doch ich will nicht vorgreifen.
Nachtmeister Stropp machte sich also auf das, was er Pranken genannt hatte, und – wurde bald mit liebenswürdiger Stimme zu Tisch gebeten.
„Ach, Frau Rieke“, Stropp blickte auf und – wußte nicht recht, wie er mit seinem Auftrag beginnen könne: „Eh, noch
munter?“
„Soll ich etwa schlafen, während mein Mann nicht den Weg nach Hause findet?“
Na ja, dachte Stropp im stillen, zuweilen wäre das für die Männer das beste, wenn die Frauen indessen schon schliefen.
Aber Frau Rieke fuhr bereits fort: „Nichts als Sorgen mit den Männern. Nichts als Sorgen! Habt Ihr nicht meinen Mann gesehen?“
Was konnte Stropp antworten? „Nun ja, eh, seinen Kopf schon, aber –“
„Er wird doch nicht in den Gerstenwald gegangen sein! Wenn das der Bauer Übelacker sieht, na, dann können wir uns auf was gefaßt machen!“
„Der Bauer Übelacker?“ wunderte sich Stropp blöde. „Was
hat der denn mit dem Kopf Eures Gatten zu tun?“
„Nun“, erläuterte die Rehfrau, „der Bauer ärgert sich immer darüber, daß in seinem Gerstenwald die Bäume umgeknickt werden. Das mindere seine Ernte. Dabei richtet er selber ja den größten Schaden
an. Er – und die Hunde. Wer aber wird verdächtigt und
verleumdet? Wir, die Rehe! Dabei gehen wir allenfalls im Haferwald
spazieren, weil der besser zu unserer Sommerkleidung paßt. Na ja, sollte aber der Bauer einmal ein Reh im Gerstenwald erwischen, na,
dann könnt Ihr Euch gewiß ausmalen, was dann passiert. Dann sagt er’s dem Jagdpächter. Dieser Polterprösting hat zwar ständig ein paar Sterne unter dem Gehörn, aber auf 3 Schritt kann selbst der nicht danebenschießen. Und mein Mann war zwar als Junggeselle ein wahrer Raufbold, ist aber durch, eh, in der Ehe richtig zutraulich geworden. Nicht auszudenken, –“
„Doch!“ seufzte Stropp: „Es ist auszudenken. Euer
Balthasar, eh, er starb den Heldentod fürs Vaterland und, eh, mußte nicht lange leiden.“
„Was faselt Ihr da für einen Unsinn?“ ereiferte sich Frau Rieke. „Was ist mit meinem Mann? Sagt! Sprecht!“
„Liebe Witwe“, versuchte sich unser Igel kläglich in einer pietätvollen Rolle, „mein aufrichtiges Beileid.
Tragt es mit –“
„Aber wo ist er?“ fragte die Rehfrau, als könne sie es nicht glauben. „Ihr sagtet doch, Ihr hättet ihn gesehen.“
„Nur seinen Kopf.“ Ach, was fühlte sich unser Stropp unwohl in seiner Haut.
„Nur seinen Kopf?“ die Rehfrau schloß schnell. „Ah, dann
weiß ich, wer das war! Das soll gerächt werden!“
„Aber so wartet doch!“ rief unser Stropp ihr hinterher.
Vergeblich.
„Also, die ist es bestimmt nicht gewesen“, erstattete der Nachtmeister wenig später Bericht: „Diese unschuldigen Rehaugen kennen nichts Böses.“
„Nananaa“, knurrte der Friedensrichter, „ich hab’ solche Rehaugen schon voller Mordlust gesehen. Und ansonsten
keine weiteren Verdächtigen?“
„Nei–, das heißt“, Stropp fiel es wieder ein, „Euer Gnaden waren gerade fort, da wollte mich Kölle Körner davon
abhalten, Euren Auftrag auszuführen.“
„Kölle Körner?“ Der Fuchs dachte scharf nach.
„Kölle Körner, Kölle Körner – Ach, Kölle Körner, der freche Mäuserich! Ja, das ist verdächtig! Hat Er ihn gleich verhaftet und mitgebracht? Wo ist er? Dann können wir gleich ein peinliches Verhör abhalten. Was? Wie? Er hat ihn laufengelassen? Stropp, Stropp, glaubt Er wirklich, daß Er noch der richtige Mann als Nachtmeister ist? Ach, wenn ich nicht alles selber mach'! Los, los! Es ist keine Zeit zu verlieren!“
Die war aber schon verloren! Und verlorene Zeit findest du niemals wieder. Kaum wollten sie aus dem Schutze des Waldes treten, da sahen sie schon die Bescherung!
Da, wo die Rehe auf die Müllwiese zu wechseln pflegten, lauerte ein feister Koloß. Und – der Fuchs hatte sie als erster erspäht: Da hing tatsächlich eine Schlinge.
Jetzt erhob sich der Koloß. Machte sich an seinen Hosen zu schaffen. Hatte
wohl ein dringendes Geschäft zu – Vorsicht!
„Frau Rieke!“ Aber Igel können nun mal nicht laut rufen.
Und dann machte es wumm!
Als Friedensrichter und Nachtmeister sich wieder aus ihrer Deckung erhoben, sahen sie zwar keine Rehfrau mehr, dafür aber einen tanzenden Jagdpächter. Und sehr anständig war der Anblick auch nicht.
„Ja, guckt nur ihr 2“, brach es nun wie ein Unwetter über die beiden herein. „So stellen wir Frauen wieder
Recht und Ordnung her. Meinen nächsten Gatten wird mir dieser Polterprösting
nicht mehr ermorden! Und hättet ihr Mannsbilder so viel Mumm gehabt wie wir Frauen, mein Balthasar wäre noch am Leben! Und nun macht, daß Ihr fortkommt! Sonst – sonst mach’ ich auch mit euch noch kurzen
Prozeß; wegen eurer Mitschuld!“
„Mitschuld?“ wunderte sich der Fuchs auf dem Heimweg.
Nachtmeister Stropp seufzte jedoch: „Und so unschuldige Rehaugen! Wer hätte das gedacht! Oh weh, was wird erst meine Struppe dazu sagen! Und langsamer und langsamer wurden
seine Schritte.
© Stiftung Stückwerken, *2.7.2004, freigegeben am 25.7.2024
Qouz-Note: 3-
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MamM 306 Der gezähmte Gatte
Was Schönheit sei, darüber gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen. Was im vorigen Jahrhundert bewundert wurde, erscheint heute oft
lächerlich. Was eine Frau als anziehend empfindet, kann einen Mann abstoßen. Bedenk nur, wenn eine Frau einen Mann als schön anschmachtet! Und auch von Land zu
Land, von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf stimmen die Schönheitsideale nicht überein.
So war es in Brettendorf Sitte geworden, nur den, die und das schön zu heißen, was mager, flach und platt war wie ein
Brett. Darüber konnten die Bürger von Schänkentrubel nur lachen; denn dieweil bei ihnen sonntags wie werktags der Wein in Strömen floß, galt bei ihnen als schön, was rund war wie eine Kugel.
„Nun ja“, wirst du sagen, „was soll’s! Dann blieben die Dürren eben in Brettendorf und die Dicken in
Schänkentrubel.“
Tscha, wenn das Leben so einfach wäre! Allein – wenn eine Frau in die Jahre gekommen ist und das Verkuppeln zu
ihrem Steckenpferd gemacht hat, nimmt sie da etwa auf das einfache Leben Rücksicht?
„Gegensätze ziehen sich an“, wird sie behaupten und schonungslos die Fäden zusammenknüpfen.
So auch bei Knobulski! Ehe er es sich versah, war er schon nach Brettendorf heimgeführt und unter die Mütze
gebracht! Warum er sich nicht gewehrt hatte? Na, dicke Menschen sind eben
gutmütig, ja, sogar gutmütiger, als es die Polizei erlaubt; während mit dürren Vogelscheuchen eben nicht gut Kirschen essen
ist. So hätte Knobulski eigentlich bei der dürren Doris rasch vom Fleische fallen
müssen, denn das, was ihre Kochkünste auf den Tisch stellten, das ließ bereits beim Anblick jeden Appetit verscheuchen. Aber ob sich
Knobulski durch die Nachbarschaft fraß oder durch Gärten und Wälder, mit ihm ließ sich in Brettendorf einfach kein Staat machen.
Schon die Kinder spotteten:
„Weg da, macht frei die Gass’
für das Knobulskifaß!“
Die Männer lästerten: „Na, Knobulski, willst du nicht heut’ abend in unseren Kuhstall kommen und dir dein Milchzeug melken lassen?“
Und erst die Frauen, die taten so ahnungslos: „Na, Knobulski, guter Hoffnung? Wann is’ es denn soweit?“
Knobulski lächelte dann nur einfältig; aber die dürre Doris, die hätte am liebsten mit den Zähnen
geknirscht. So ist’s nun mal in der Ehe: Wird der Gatte beworfen, so bekommt auch die Gattin etwas ab! Und schuld waren in Doris Augen nicht die Werfer, sondern der Beworfene.
Allerdings – ein Gutes hatte die ganze Angelegenheit doch: Der dürren Doris ging nie der Gesprächsstoff aus.
Und der ist bekanntlich ja bei vielen Frauen der wichtigste Maßstab für eine gute Ehe. Ach, was konnte die dürre Doris bei ihren
Freundinnen jammern und klagen! Wieviel Mitleid durfte sie in ihre Scheuern einfahren! Wie viele gute Ratschläge! Allein – keiner wollte fruchten! Eine Freundin riet sogar dazu, Knobulski regelmäßig nach Schänkentrubel auf den Markt zu schicken, denn Bewegung mache schlank. Jedoch – Knobulski wurde durch diese Gänge noch fülliger; denn er übereilte sich
nicht und nutzte ausgiebig die Gelegenheiten, unterwegs Wurst und Wein tüchtig zuzusprechen. Sollte sich also hier Weiberlist
geschlagen geben müssen?
Mitnichten! Denn die dürre Doris ward endlich an eine Waldfrau und Kräuterhexe verwiesen, die droben auf
Schloß Hölzenstein hauste. Der klagte die dürre Doris nun ihren Kummer und ward zunächst einmal
darinnen belassen. Denn Hilfe sei hier, wie Frau Doris ja bereits sattsam erfahren habe, sehr schwierig und – sehr teuer. Doch wenn Frau Doris keine Kosten scheuen wolle, so könnten ihr vielleicht einige Wunderkräuter zum Vorzugspreise gelassen werden. Die müßten dann als Tee zubereitet werden und dem Herrn Gemahl als heilsamer Schlaftrunk dienen. Die beiden Frauen wurden natürlich handelseinig, Taler und Kräuter ausgetauscht und letztere so zubereitet, wie es die Waldfrau empfohlen
hatte. Ahnungslos nahm Knobulski seinen Schlaftrunk.
Frag mich jetzt nicht, ob unter den Kräutern Baldrian war oder Mohn; es ist sowieso eine Unsitte, daß jede
Frau ihrem Gatten die Frau Doktor und Apothekerin spielen will. Jedenfalls hatte Knobulski einen schlimmen Traum: Er
hatte die Wehen und konnte doch nicht zur Entbindung gelangen.
Überdies hatte die Wehmutter auch noch ihren Spott: „Nun tun Se mal nicht so, als ob das ’ne Krankheit wär’!
Das is’ keine Krankheit nich', das is' die Natur!“
Knobulski dankte für diese wertvolle Erkenntnis nicht und – litt heftig. Im Schweiße gebadet, wachte er
schließlich auf und ward hinfort ein eifriger Jünger des Fastens.
Welchen Rat aber hätte die Waldfrau gegeben, wenn die Doris dick gewesen und aus Schänkentrubel gekommen wäre und Knobulski aus Brettendorf? Vielleicht erzähle ich dir das ein anderes Mal.
© Stiftung Stückwerken, *17.7.2004, freigegeben am 19.9.2024
Qouz-Note: 3-
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MamM 307 Der Buchhalter
Die doppelte Buchhaltung ist eine der schönsten Erfindungen des menschlichen Geistes und ein jeder gute Haushalter sollte sie in seiner Wirtschaft
einführen! So läßt es ein Dichterfürst seinen Leserinnen ausrichten. Ob er Kniebel kannte? Bestimmt
nicht. Allerdings müssen wir es ihm zugute halten: Er sprach von Wirtschaft, nicht vom Leben. Aber welcher Buchhalter kann das schon auseinanderhalten! Kniebel?
Es fing alles ganz harmlos – Nein, harmlos war das nicht; aber wie sich alles entwickeln werde, das
ahnte damals keiner. Ob Kniebel bereits zur Schule ging, als er seine Mutter hergeben mußte, kann ich dir gar nicht sagen. Aber anders wurde für ihn jetzt vieles. Die Mutter hatte noch an ihn geglaubt, ihn in
Schutz genommen, ihm Mut gemacht. Der Vater und die Geschwister dagegen hatten für Kniebel nur Verachtung übrig. Und die Stiefmutter, die richtete sich nach der herrschenden Meinung: Aus dem wird nie etwas Besonderes! Es war, als hätte diese Wörter jedermann auf ein Blatt Papier geschrieben und hielte sich dieses Papier stets vor Augen, um – ja, um Kniebels
Schätze nicht zu sehen.
Und Kniebel, der sah seine Schätze auch nicht. Der suchte nach Halt. Und weil er in sich keinen Halt vermutete, suchte er diesen Halt außer sich. Da war
zunächst das Reich der Zahlen. Deren Gesetze waren nicht einfach zu erlernen; aber wer sich auf sie einließ, der konnte es weit bringen. Der brauchte auch nie an
Grenzen zu stoßen. Der war mächtig! Was läßt sich nicht in Zahlen
ausdrücken! Alles Geld der Menschen läßt sich zu einer Zahl zusammenzählen.
Der höchste Berg läßt sich in einer Zahl messen. Der schwerste Elefant läßt sich in einer Zahl wiegen.
Weitere Regeln fand Kniebel in der Kirche. Weniger in dem, was der Herr Pfarrer das „Neue Testament“ nannte, sondern vor allem im sogenannten „Alten Testament“. Und seine
Zahlenkenntnisse konnten Kniebel hier sogar weiterhelfen. Tage mußten abgezählt werden, um ein besonderes Gewicht zu
bekommen. Schaden mußte bewertet und abgegolten werden, desgleichen Sünden;
ja, und auch der Zehnte mußte berechnet werden. Und als der Vater einmal vom Ernteertrag das Saatgut abziehen wollte, um nur vom
Unterschiedsbetrag den 10. Teil abgeben zu müssen, ei, da hättest du mal Kniebel sehen und hören sollen!
„So steht es nicht geschrieben, sondern so“, trat Kniebel sogar seinem Vater entgegen; was bei diesem ihn
bestimmt nicht liebenswerter machte.
Tscha, und dann kam Kniebel als Lehrjunge in das Kontor eines Kaufmannes und erlernte dort – die doppelte Buchführung. Welch eine Zauberkunst! Und wie trefflich sich ihre Regeln als verläßlicher Maßstab
und Prüfstein eigneten! Bekam Kniebel etwas geschenkt, versuchte er sogleich den Geldeswert zu ermitteln, die voraussichtliche
Nutzungsdauer abzuschätzen und so den Tag zu errechnen, ab dem das Geschenk nichts mehr wert sei.
Allein – Kniebel beschränkte sich nicht nur auf Sachen. Nein, auch für den Vater, die Geschwister und die
Stiefmutter stellte er einen Abschreibungsplan auf. Zum Jahresende trug er dann den planmäßigen Wertverlust in seine Bücher
ein; und war jemand ernsthaft erkrankt, so nahm Kniebel sogar eine außerplanmäßige Abschreibung vor. Kein Wunder, daß Kniebel überall Verfall feststellte und nichts und niemandem mehr Achtung abgewinnen konnte. Außer – dem Gelde und sich.
Tscha, wer also vom weiblichen Geschlecht gut versorgt sein wollte, versuchte Kniebels Aufmerksamkeit zu wecken. Allein – auch in diesen Dingen blieb Kniebel Buchhalter. Wie wird diese Maid, die
heute noch schön ist, in 20, 30 Jahren verwelkt sein, dachte Kniebel bei sich. Und flugs berechnete er für jede Braut Werteverfall,
Nutzen und Kosten und zinste alles auf die Gegenwart ab. Das Ergebnis war immer – negativ.
Sogar bei Staune! Obwohl er bei ihr einen ganz besonders niedrigen Zinssatz zugrunde gelegt hatte. Aber Kniebel mochte rechnen und rechnen, am Ende kam nichts Positives heraus.
Eigentlich schade! Denn Staune schien es nicht auf sein gutes Einkommen abgesehen zu haben, sondern schien ihn selber zu
mögen. Und was sie ihn da alles in ihm selbst entdecken ließ! Nun gewann er
nicht mehr an Selbstwert, weil er seine Mitmenschen abwertete; nun gewann er den Selbstwert aus sich selber.
Schließlich konnte Kniebel nicht mehr umhin und zeigte seiner Freundin seine kläglichen Rechnungen. Ich weiß
nicht, was du sagen tätest, wenn dir dein Mann vorrechnete, du seiest eine Fehlinvestition. Aber gewiß suchtest auch du nach
Rechenfehlern. So auch Staune. Und schnell fand sie einen; einen ganz schwerwiegenden: „Du hat in deiner Rechnung meine Liebe vergessen. Hier,
setz sie ein, und du wirst sehen, es bleibt immer mehr übrig, als es Zeit und Alter abtragen können.“
© Stiftung Stückwerken, *23.7.2004, freigegeben am 19.9.2024
Qouz-Note: 2-
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MamM 308 Nachtmeister Stropp und das Netz des Verderbens
„Im Frühtau zu Tale wir zieh’n,
lalalaa,
vor Ärger und A-harbeit wir fl–“
Schön guten Morgen, Herr Griepenich, alles fleißig im
Staate Dortemark?“
„Na, Ihr habt gut spotten, Herr Nachtmeister“, kam es heiser vom untersten Ast einer Weide herab, „in Eurem Revier wohnen ja kaum Menschen. Aber bei uns drüben in Dortwehr, da ist es nicht einfach, Zucht und Ordnung zu halten. Und es wird Tag zu Tag schlimmer! Stellt Euch nur vor, gestern hat doch jemand Frau
Seidenweber ausgeraubt!“
„Seidenweber? Seidenweber?“ der Nachtmeister überlegte
und überlegte. „Muß ich die kennen?“
„Mir wär’s schon lieb, wenn Ihr sie kennenlernen tätet“, wünschte sich Häher Griepenich, „denn wir wissen drüben nicht mehr weiter. Einfach zu schändlich, eine arme Witwe um ihr ganzes täglich' Brot zu bringen!“
„Äh?“ der Nachtmeister sah nicht viel klarer. „Also
Einbruch? War Eure Dame verreist oder im Schlafe?“
„Nein, nein, nein“, stellte der Häher richtig, „Witwe Seidenweber lebt vom Netzfang. Und als sie am gestrigen
Abend ihre Netze besehen wollte, da waren sie gänzlich ausgeplündert. Es gibt eben weder Treu noch Glauben mehr. Und alles, weil es hier so viele Menschen hat! Schon die Kinder brechen Zweige und
Äste von den Bäumen, schlagen Sträucher und Blumen wund und werfen mit Steinen. So etwas –“
„Ah“, tat der Igel klug, „der Täter war also ein Mensch. Das gibt große Schwierigkeiten mit der
Gerichtsbarkeit! Da werdet Ihr Euch noch manche Feder raufen –“
„Nein, nein, nein“, rätschte der Häher, „ein Mensch ist es gewiß nicht gewesen. Aber schlechte Beispiele verderben gute Sitten! Und wenn unsere Tiere ständig diese schlechten Beispiele
sehen, wen wundert’s, wenn sie abfärben!“
„Wer färbt ab?“
Aber Griepenich ging nicht auf diese Frage ein: „Jedenfalls haben wir den Täter nicht und wissen auch nicht, wer’s war. Und deshalb bin ich ja hier. Könntet Ihr nicht –?“
„Ausgeschlossen!“ beschied unser Stropp sogleich. „Völlig ausgeschlossen! Wie soll ich denn da hinkommen? Nein, nein, nein, das ist zu weit!“
„Es ist sogar drüben in der Marienwann, aber Ihr könntet –“
„Was? Beim Finsterfarn? Wo es noch spuken soll und
Schauder und Schrecken umgehen? Nein, da hab’ ich Ang–, eh, das ist zu weit, viel zu weit!“
„Ihr könntet doch die Schneckenpost nehmen“; der Häher gab nicht auf.
„Das schmeckt, äh, will sagen“, unser Igel beherrschte sich noch rechtzeitig, „dann bin ich morgen früh noch nicht drüben! Und außerdem – außerdem, na, Euch kann ich’s ja sagen: Die haben was gegen uns Igel und wollen uns nicht mehr mitnehmen.“
„Schade!“ der Häher war betrübt. „Wo wir doch alle
unsere Hoffnung auf Euch gesetzt hatten. Wenn hier einer noch helfen kann, dann nur Nachtmeister Stropp!“
„So?“ unser Igel fühlte sich doch geschmeichelt und begann, die Mauern seiner Ablehnung niederzureißen. „Na, ich will erst mal mit meiner Frau sprechen. Vielleicht ergibt sich ja noch eine
Lösung. Macht’s gut!“
Auch Frau Struppe hörte es nicht ungern, mit einem gefragten Manne verheiratet zu sein. Und als der Friedensrichter auf seinem Heimwege noch kurz vorbeischaute, da brauchte die Igelfrau nicht viele Überredungskünste, und schon war
sogar eine Reisegelegenheit gefunden.
„Aber wir müssen uns sputen!“ mahnte Graf Reineke. „Denn
sobald die Menschen aufgestanden sind, wird’s gefährlich. Und Spuren lassen sich dann auch nicht mehr sichern.“
Also ging die Reise sogleich los, so daß es Stropp sogar vergaß, mit seinem Brotherren einen Überstundenzuschlag zu vereinbaren. Herrn Griepenich holten sie von dessen Amtsstube ab, und dann ging es zum Tatort.
„Aber das sind ja nur Spinnennetze!“ war unser Nachtmeister enttäuscht.
„Hatte ich Euch was anderes versprochen?“ tat der Häher gekränkt. „Auch Spinnen sind Tiere! Und jeden, der sich unter meinen Schutz stellt, werd’ ich
beschützen! Soll das Verbrechen etwa überhandnehmen? Nein! Und abermals nein! Jeder Übeltäter muß gefaßt und strengstens bestraft
werden. Erst recht, wenn er einer armen Witwe alle Nahrung raubt!“
„Schon gut“, versuchte der Fuchs zu vermitteln. „Aber sagt, habt Ihr irgendwelche Mäusespuren
bemerkt?“
„Mäusespuren?“ wunderte sich der Häher.
„Ja, was sonst?“ tat der Herr Friedensrichter unwirsch.
„Es ist doch klar, daß der Täter eine Maus gewesen sein muß.“
„Da wär' ich nicht so sicher“, zweifelte der Häher, der gern vorgab, Vegetarier zu sein. „Wie sollte die denn
da hochklettern? Nee, das tät' ich nicht mal einer Haselmaus zutrauen, obwohl das die durchtriebensten Räuber sind, die ich
kenne.“
Auch dem Fuchs schienen Zweifel zu kommen; da er aber nicht gerne einen Irrtum oder Fehler zugab, er war ja
Friedensrichter, versuchte er abzulenken und – den Rückzug einzuleiten: „Komm, Stropp! Wenn’s hier nicht um Mäuse geht, was sollen wir
dann noch hier!“
Allein – Nachtmeister Stropp wollte sich nicht nachsagen lassen, einen Kriminalfall nicht gelöst zu haben: „Herr Griepenich, seid getrost; die Sache liegt in guten Händen. Wir werden uns mal in der Nachbarschaft
umhören; vielleicht gab es ja Zeugen.“
Doch wer 13 Igelmeilen nicht zu Fuß zurücklegen will und deshalb mit seinem Dienstherren reist, ist auf diesen angewiesen. Und so mußte Stropp die Suche auf den Heimweg beschränken. Tscha, und dieser führte
die beiden durch – den unheimlichen Finsterfarn.
Und da, selbstverständlich da, geschah es! Stropp wäre beinahe auf den Rücken gefallen, so hatte er sich
erschrocken! Obwohl er eigentlich damit gerechnet hatte, daß es hier spuken würde.
„Quoak, quoak! – Ich sagte: Quoak, quoak!
Nee, seid ihr unhöflich! Dann behalt ich’s eben für mich, und ihr findet den Täter nie!“
Woher kam das? Ah, da! Da saß doch tatsächlich ein
Frosch! Ein selbstbewußter Frosch! Ein sehr selbstbewußter
Frosch! Na, vor dem hatte unser Held keine Angst.
„Guten Tag, Herr – eh“, erzeigte sich unser Nachtmeister höflich.
„Quackquack! Ich sagte: Quackquack!“
„Also, Herr Quackquack!“ Stropp lernte schnell. „Darf
ich vorstellen: Graf Reineke, unser allergnädigster Friedensrichter; Stropp, Nachtmeister.“
„Ich seh’ aber nur 2“, bemerkte Herr Quackquack altklug. „Egal. Warum nicht gleich so. Höflichkeit ist eine Zier,
doch weiter –?“
Stropp wollte den Frosch sich nicht beschämen lassen und kam gleich zur Sache: „Ihr wißt was von dem Raubüberfall?“
„Natürlich!“ prahlte der Frosch. „Ich weiß sogar, wer’s
war. Ja, ich bin klug und listig und bin der beste Rat; ja, ich bin klug und –“
„Mistig? Mißlich?“ Aufgeblasenheit konnte der Igel nicht
leiden. „Aber nun sagt schon: Wer war’s, Herr Professor?“
„Hh?“ schnell von Begriff war der Frosch anscheinend nicht. „Ach so, ja, es war Frau Zischznack.“
„So? Habt Ihr es mit eigenen Augen gesehen?“ verhörte
Stropp mit Amtsmiene.
Darauf wollte Herr Quackquack nicht direkt eingehen: „Bestimmt! Immer wenn die Sonne scheint, liegt sie hier
am Wege auf der Lauer, harmlose Reisende aus meinem Volk zu überfallen.“
„Ja, das kann ich bestätigen“, kam es nun von einem Zweige, „voll Raubes und Fraßes ist dieses Natterbiest, und alles
Schändliche ist ihr zuzutrauen.“
„Ganz richtig, Herr Pfarrer! Ganz richtig!“ Wer seiner
Meinung war, genoß bei Herrn Quackquack wenigstens ein Mindestmaß an Achtung.
„Herr Pfarrer?“ wunderte sich Stropp.
„Ja, Herr Frösel predigt hier im Mariengrund. Und alle“, lobte der Frosch, „hören ihn gern.“
„So sie unter mein Wort kommen“, schränkte der Dompfaff ein, „was sich ja leider nicht von allen Tieren sagen läßt. Und wohin das führt, zeigt sich ja deutlich an Frau Zischznack.“
„Aber sie war’s ja gar nicht“, krächzte es plötzlich neben ihnen, und ein großer schwarzer Vogel mit listigen Augen ließ sich auf dem Wege nieder.
„Daß dich gleich Hagel, Blitz und Donner erschlagen!“ legte Pfarrer Frösel sogleich los. „Wer hat dich nach deiner Meinung gefragt? Da, an Söndermann könnt Ihr’s auch sehen, wohin es mit einem kommt, wenn er nicht zur Kirche geht!“
„Ja“, lachte der Rabe, „er wird nicht so ein Heuchler wie Er, denn Umgang färbt bekanntlich ab.“
„Da hab’ ich aber“, so Stropp zu Hause zu seiner Liebsten, „ diesem Söndermann die Leviten gelesen! Der
Obrigkeit habe er den nötigen Respekt zu leisten, erst recht der geistlichen! Wo kämen wir denn sonst hin! Nachher lehnten sich gar noch Frau und Kinder gegen ihren Hausfürsten auf!“
„Ph“, lachte die Liebste, „Hausfürstin sei die bess’re Igelin, sonst sei die bess’re Igelin Hausfürstin. Und wen
hältst du jetzt für den Täter?“
„Na, diese Zischznack!“ war sich Stropp sicher. „Wenn
ein Tier falsch und verbrecherisch ist, dann die Schlange!“
„Aber sagtest du nicht, die Spinnennetze hätten etwa 4 Igelmeter über der Erde gehangen?“ gab die Igelfrau zu
bedenken.
„Ja. Und?“ Stropp ließ sich nicht beirren. „Dann hat sie sich eben auf ihren Schwanz gestellt oder ist gesprungen. Auch haben
Schlangen eine lange Zunge.“
„Stropp, Stropp!“ mahnte Frau Struppe. „Erzähl keine
Märchen! Waren die Netze denn zerrissen?“
„Nö“, mußte Stropp zugeben. „Als hätten wir es mit einer ganz besonders listigen Räuberin zu tun. Die Netze sollten weiterhin in Gebrauch bleiben, um – Ah, jetzt geht mir ein Licht auf! Die Täterin will die Netze auch weiterhin nutzen und wird also wiederkommen! Folglich
knobelknobel kombiniert, schon ist die Tät’rin angeschmiert! Wir brauchen uns nur auf die Lauer zu legen und können jene so auf
frischer Tat ertappen! Und ich hatte schon die Glühwürmchen im Verdacht.“
„Die Glühwürmchen?“ wunderte sich Frau Struppe.
„Ja“, rechtfertigte sich unser Held, „natürlich bevor ich von der Anklage gegen diese Zischznack gehört habe. Denn, stell dir vor, schon seit Nächten hab’ ich keine
mehr gesehen. Als hätten die etwas ausgefressen und wären geflohen!“
„Aber du sagtest doch, der Raub sei gestern passiert, wie können es denn da –“
„Daß du immer alles besser wissen willst!“ brauste Stropp auf. „Ich sagte ja, die Glühwürmchen hatte ich im Verdacht, bevor ich darauf kam, daß diese Schlange die Täterin war.“
„Täterin?“ lachte Frau Struppe. „Meine Lebenserfahrung
sagt mir da was anderes. Aber bitte, mein Rat ist meinem Hausfürsten ja nicht genehm. Und überhaupt, ist diese Witwe Seidenweber
wirklich so schutzwürdig? Ist sie nicht sogar viel schlimmer als der Räuber? Ist ihr Gewerbe nicht auf Mord gerichtet? Und frag sie mal, warum sie Witwe
ist! Es sollte mich nicht wundern, wenn sie auch ihren Gatten auf dem Gewissen hat.“
Etwas kleinlaut begab sich Stropp zur Tagruhe. Vor anderen war er gerne stolz auf seine Frau; allein – unter 4 Augen, tscha – da hätte sich unser Stropp gern etwas mehr anschmachten lassen. „Ach“, seufzte er, „wenn nur der Weg nach Dortwehr nicht so weit wäre! Ohne weiteres
hätte ich mir mal einen Tag um die Ohren geschlagen, mich auf die Lauer gelegt, und dann hätte ich es IHR bewiesen, daß es doch diese Schlange ist! Aber selbst den Friedensrichter kann ich wohl kaum noch einmal dazu bewegen, mit nach Dortwehr zu wandern; wenn dem kein Mäusebraten versprochen wird, macht der keinen Schritt zuviel!“
Und doch – noch am frühen Abend waren Nachtmeister Stropp und Friedensrichter Reineke wieder in Dortwehr. Was war geschehen? Frau Zischznack hatte ein Sonnenbad genommen und hatte sich plötzlich von einem Wandersmann beobachtet gefühlt. Erschrocken war sie davongeeilt, hatte sich unter einem Baume versteckt, und gerade das war ihr zum Verhängnis geworden. Denn flink hatten Quackquack und seine Freunde sie dort festgesetzt, und Pfarrer Frösel hatte die ganze Angelegenheit überwacht und dann Häher
Griepenich angewiesen, Reineke und Stropp zu holen. Gewiß – auch in Dortwehr gab es einen Friedensrichter, aber bei Reineke war sich
Frösel sicher, daß das Urteil in die rechte, also gewünschte, Richtung fallen werde. Tscha, welcher Richter wäre nicht für
Schmeicheleien empfänglich! Und Frösel wußte alles derart in guten Händen, daß er die Gerichtsverhandlung vorzeitig verließ. Er habe noch seine Predigt vorzubereiten, entschuldigte er sich.
Dann flog er davon und vertiefte sich in seine Studien. Etwas zu sehr, denn sonst hätte er gewiß ein leises
Flügelschlagen gehört, daß sich entfernte; und wenig später Geräusche, die sich näherten, – auch wenn diejenigen, die da näher
kamen, sehr vorsichtig waren.
„Und dann hatten wir den Täter!“ berichtete unser Stropp zu Hause.
„Frösel; ich weiß“, war Frau Struppe gar nicht überrascht. „Das wollte ich dir ja schon heute morgen sagen, aber der Herr Hausfürst wollte –“
„Schon gut, schon gut“, knurrte der Gatte. „Aber das Urteil konntest du nicht vorhersagen. Zunächst haben wir die Schlange freigelassen, und dann hat mich doch der Herr Friedensrichter gefragt, ob ich mir etwa was aus Geflügel
mache. Igitt, hab’ ich geantwortet und mich vor Ekel geschüttelt. Na, hat
dann Graf Reineke gemeint, dann wollen wir Herrn Frösel zwar zum Tode verurteilen, denn Raub ist Raub, aber ihn anschließend zu ewiger Verbannung begnadigen. Denn 1. hat’s Frösel ja für seine Kinder getan, 2. steht es dem Rufe eines edlen Regenten gut an, gnädig zu sein; und 3. mag ich kein Geflügel, jedenfalls nicht so was Kleines, Mickriges, wo du viel pulen mußt und doch nicht satt wirst. Und stell dir vor, Söndermann ist zum neuen Prediger von St. Marien ernannt worden; er sei wenigstens glaubwürdig. Aber zum Gemeindegesang wird er den 1. Ton wohl
manches Mal zu tief angeben.“
„Und was hast du mir von deiner Reise mitgebracht?“ wollte Frau Struppe wissen. „Andere Hausfürsten tun so etwas.“
Stropp überlegte einen Augenblick, dann gab er die Antwort: „Mich!“
Ob das reichte? – Vielleicht erzähl’ ich’s ein ander’ Mal.
© Stiftung Stückwerken, *29.-30.7.2004, freigegeben am 29.7.2024
Qouz-Note: 3
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MamM 309 Nachtmeister Stropp und die
Wegelagerer
„Hitzefrei! Hitzefrei!
1, 2, 3! 1, 2, 3!
Hitzefr–
Ach, guten Morgen, Herr, eh, Griependa –“
„Griepenich, Herr Stropp!“ sprach es mit leise gekränktem
Unterton vom untersten Aste einer Weide herab. „Griepenich! Sehr gut
scheint Euer Gedächtnis nicht zu sein –“
War es als Aussage gedacht oder noch als Frage, Nachtmeister Stropp nahm’s nicht krumm. Wer groß will gelten,
ist nirgendwo beliebt; und er ist ständig unzufrieden. Deshalb will ich
lieber belächelt denn beneidet werden. So lautete – oder besser: schwieg – des Nachtmeisters Wahlspruch. „Aber ich wußte doch, daß ich Sie schon mal gesehen hatte“, gab er also dem Eichelhäher zum Einräumen.
Doch der nahm’s nicht an, sondern hielt dagegen, das sei binnen Wochenfrist wohl auch kein Kunststück. „Oder habt Ihr seitdem so viele Fälle zu lösen gehabt?“
„Felle?“ wunderte sich unser Stropp. „Felle zu
lösen? Ach so, Ihr meint Kriminalfälle! Nun ja, was darf ich dazu
sagen? Ich denke, es ist gut, daß es mich gibt. Und allein die Zahl der
Kriminalfälle, die ich verhindert habe, ist, eh, nicht mehr zu zählen. Ja, und wie Ihr seht, habe ich viel Arbeit, sehr viel
Arbeit. Und dann diese Hitze!“
„Und Ihr möchtet nicht einen neuen Fall lösen?“ fragte der Häher enttäuscht. „Ich hätte da was für Euch.“
„Ausgeschlossen!“ wehrte unser Nachtmeister ab. „Bestimmt wieder in der Marienwann oder gar im Finsterfarn! Nein, nein, nein! Und das bei dieser Hitze!“
„Aber es geht um Wegelagerer!“ köderte der Häher.
„Wegelagerer?“ fragte eine heisere Stimme zurück. „Das
hört sich intere–, eh, sehr dringend an. Also, Stropp, ich denke, das übernehmen wir. Heute abend kommen wir mal rüber. Angenehme Tagruhe!“
„Angenehme Nachruhe, Herr Reineke“, beeilte sich der Häher, „angenehme Nachruhe. Ihr findet mich in meiner Amtsstube. Bis bald!“
Während es der eine zufrieden war, war’s dem anderen zumaulen: „Also, Herr Friedensrichter, wie kann ich das meiner Frau klarmachen? Und dann verlangt sie neuerdings, daß ich ihr von jeder Reise etwas mitbrin–“
„Still, Stropp!“ gebot der Fuchs. „Dienst ist Dienst! Und Dienst geht vor! Was
meinst du, wie gerne ich mich bei dieser Hitze auf den langen Weg mache! Aber jetzt, wo dieser dumme Häher weg ist, kann ich dir’s ja
sagen, wozu ich dieses Opfer bringen will. Tier, hast du nicht gehört, um was es geht? We-ge-la-ge-rei! Tier, da können wir beide noch was lernen! Jetzt müssen wir uns noch ganze Nächte die Hacken ablaufen, um Speis und Trank zu erja–, eh, zu ernten. Aber als Wegelagerer legen wir uns bequem hin und warten, bis alles auf uns zukommt.“
Es war schon seltsam: Wenn der Nachtmeister seinem Dienstherren zuhörte, erschien’s ihm stets einleuchtend;
kam er aber nach Hause und versuchte für des Fuchses Ansichten eine weitere Jüngerin zu werben, dann ging ihm ein Lichtlein nach dem anderen aus.
„Bist du verrückt geworden?“ Du ahnst bereits, Frau Struppe und Stropp waren nicht mehr ganz frisch vermählt. „Ist dir klar, daß du auch
mich in Schande bringst, wenn du Wegelagerer werden willst? Was denkst du dir eigentlich?“
Keine allzu seltene Frage, die von Kindern und Gatten gerne unbeantwortet gelassen wird – gesenkten Hauptes.
Welche Frau ließe sich solch eine Gelegenheit entgehen!
„Und du gehst heute abend nicht mit dem Fuchs nach Dortwehr!“ gebot Frau
Struppe streng. „Verstanden?“
Verstanden hatte das Nachtmeister Stropp sehr wohl; einverstanden war er damit jedoch noch lange
nicht. Allein – anmerken ließ sich Stropp nichts. Frauen glaubten ja
meistens, alles besser zu wissen; aber alles, alles wissen sie nicht.
Und so wußte Frau Struppe am Abend ihren Gatten auf dem Streifgang. Warum
er aber ein paar Minuten früher losgetrippelt war, das wußte sie nicht. Und wen er da noch rechtzeitig daran gehindert hatte, Frau
Struppe unter die Augen zu kommen, das wußte sie auch nicht. Tscha, und auf welch gefährliches Abenteuer sich ihr tollkühner Gatte
einließ, das wußte sie ebenfalls nicht.
Nur du – du ahnst gewiß schon, daß an jenem denkwürdigen Abend Griepenich nicht vergeblich warten mußte.
„Aufmerksam gemacht hatte mich eigentlich Frau Rorika“, erklärte er seinen beiden Besuchern. „Kommt sie doch gestern ganz aufgeregt zu mir und beschwert sich, ich sorgte nicht mehr für Ruhe und Ordnung. Und das mir! Wo ich doch, eh, wo wir doch, eh, ganz richtig, wo Sie, sehr geehrter
Herr Friedensrichter, jenen Raubüberfall bei Witwe Seidenweber so trefflich aufgeklärt habe.“
„Haben“, verbesserte der Nachtmeister dienstbeflissen, „aufgeklärt haben!“
„Ganz richtig, ja, ganz richtig!“ zollte der Häher der Form Tribut. „Jedenfalls behauptet doch dieses Frauenzimmer, in einen Hinterhalt geraten zu sein, eh, worden zu sein, eh – Ist ja auch egal. Wenn Ihr wißt, was ich meine? Und sie meinte, vor ihr hätten die Wegelagerer angst
gehabt. Weil sie ja so ein großes Tier sei. Aber einem kleinen Tier, einer
Maus zum Beispiel, wäre es gewiß an den Kragen gegangen!“
„Maus?“ hakte der Fuchs ein. „Komm, Stropp, das müssen
wir uns unbedingt anschauen. Wo war das noch mal?“
„Drüben“, erklärte der Häher, „wo es vor einer Woche den Raubüberfall gegeben hat. Am besten, ich komm
–“
„Doch nun lief Stropp zu seiner Bestform auf: „Halt! Wenn wir jetzt alle dort aufkreuzen, dann sind die
Wegelagerer ja gewarnt! Nein, nein, nein, das müssen wir geschickter anfangen. Am besten, ich gehe etliche Igelmeter vor euch; und sollte ich überfallen werden und
umgebracht worden sein, eh, diese Hitze, eh, dann kommt ihr mir zur Hilfe, –“
„– ehe es zu spät ist!“ mußte der Häher seine Überlegenheit schnell noch auf den Scheffel stellen.
Sag, wärst du auch so tapfer wie der Nachtmeister gewesen? Allein – je näher er der gefährlichen Stelle kam,
desto kürzer und desto langsamer wurden seine Schritte. Sonderbar! War das
wirklich mit der Hitze zu erklären?
Aber vielleicht hättest du an dieser Stelle lieber eine ausführliche Wegebeschreibung, wie sie heutzutage bei vielen Schriftentstellern Sitte ist. Also Buchen stehen dort, so und so gewachsen, und vereinzelt Kiefern, so und so alt.
Und gefärbt wie – ja, das muß ich erst einmal über–
Da! Ein gellender Schrei! „Zu Hilfe! Mordio! Ich hänge –“ Stille! Dann wesentlich leiser: „Ach, Sie sind’s nur, Herr Quackquack?“
„Ja, eh“, stotterte der Frosch, „ich hörte Sie schreien und eilte schleunigst, eh, zur Hilfe. Ja, zur
Hilfe. Eh, ist ja eine böse Zeit
heute. Ja, komm, eh, kommen Sie nur, Frau Seidenweber! Es ist der Herr
Nachtmeister; der ist für uns eine Numm–, eh ja, will sagen, sehr geehrter Herr Nachtmeister, nunmehr können wir uns sicher
fühlen. Ach quappenkaulundzuge–, eh, guten Abend, Herr Friedensrichter!
Willkommen! Willkommen! Wollt Ihr endlich Frau Zischznack
verhaften? Ja, ja, die Natter so lang’ zur Quelle kriecht, bis sie zur Strafe ihr Kittchen kriegt! Ich sagte bereits: Es ist eine böse Zeit!“
„Ja, es soll sogar Wegelagerer geben!“ konnte sich der allzu kluge Häher nicht mehr beherrschen, „und –“
„– Idioten“, gab unser Nachtmeister trocken Senf dazu.
„Und Spitzbuben!“ empörte sich plötzlich eine weibliche Stimme. „Herr Friedensrichter, lassen Sie sogleich den Herrn Quackquack festnehmen! Er ist
der Wegelagerer! Heute abend habe ich es genau gesehen! Er lag auf der
Lauer, als der Herr Nachtmeister ahnungslos in die Netze lief, die über den Weg gespannt – “
„Lüge!“ brüllte der Frosch. „Dieses – dieses
heimtückische Rehweib hat alles erstunken und erlogen! Ich kann doch gar keine Netze
knüpfen. Aber, Herr Friedensrichter, ich will Euch sagen, wer hier die Netze über den Weg spannt, es ist – “
„Du niederträchtiger Schuft, du!“ keifte nun die Spinne giftig. „Willst du mich an den Galgen verraten? Na warte! Wer hat denn –“
„Ja, stell dir vor“, erzählte Stropp am Morgen zu Hause, „da hat doch dieser Frosch einfach seine Zunge rausgestreckt, und weg war
die Spinne. Nein, Mord sei das nicht gewesen, hat der Frosch beteuert. Was
könne er dafür, wenn es der Spinne in seinem Bauch so gut gefiele, daß sie nicht mehr hervorkommen wolle? Dort könne sie ihm wenigstens
nicht immer ins Wort fallen, wenn er zu beweisen versuche, daß Frau Zischznack die Wegelagerin sei. Ob wir ihn dennoch bestraft
haben? Nun, Frau Rorika hätte uns bestimmt tüchtig eingeheizt, wenn wir Milde
hätten walten lassen. Aber da niemand von uns Appetit auf eklige Froschschenkel hatte, wurde Herr Quackquack zwar zum Tode verurteilt,
aber mangels Zweifel für den Angeklagten zu ewiger Verbannung begnadigt. Ach, diese Hitze!“
„Sei froh über diese Hitze“, hatte Frau Struppe wieder das letzte Wort; „denn eigentlich müßte ich dir, huah,
ob deines Ungehorsams, huah, noch eine Gardinen–, huah, was bin ich mü–“
Und die Moral von der Geschicht’: Beicht deiner Frau erst, wenn sie gähnt und müd’ ist ihr Gesicht!
© Stiftung Stückwerken, *6.8.2004, freigegeben am 20.9.2024
Qouz-Note: 2
***
MamM 310 Elserich und Esela
Wenn du von Altenstadt nach Dortwehr wanderst und trotz der Sommerhitze nicht den bequemen Weg durch die Lenenaue wählst, dann, ja, dann darfst du nicht
ängstlich sein. Auf die Opiumplantage wirst du dich zwar nicht verirren;
aber wenn Du kurz vor der Grenze an die Haarnadelkurve gelangst, tscha, dann wird es unheimlich.
Links ragen einige tote Bäume trostlos empor, rechter Hand kannst du gerade noch einige umgestürzte Eichen erspähen, soweit sie nicht bereits völlig überwuchert
sind. Gerade vor dir führen einige Treppenstufen empor zu einem schmalen Pfad durch die Wildnis. Dunkelt es schon, dann hörst du es links und rechts immer wieder knacken und rascheln. Vorsichtig muß sich jetzt dein Fuß vorwärts tasten, uneben ist der Steig, Steine haben sich gelockert, und – ja, wer weiß, ob du es überhaupt
noch erkennen kannst: Unter dem Pfad hat jemand Höhlen gegraben, und manche dieser Höhlen ist eingestürzt. Wie es dazu kommen
konnte? Na, das will ich dir ja gerade erzählen.
Du ahnst schon, hier an der Grenze ist es nicht recht geheuer; und mancher könnte sich im Dickicht verstecken,
der mit Steckbrief gesucht wird. Nahen die Häscher von Altenstadt, so wechselt er geschwind hinüber nach Dortwehr; naht von dort Gefahr, so braucht er nur ein paar Schritte zu machen, und schon ist er auf Altenstädter Seite.
Allein – dennoch kann ich dir versichern: Du bist nirgends so sicher wie auf diesem Waldsteig. Jedenfalls
sicherer denn in der Stadt. So du ein reines Gewissen hast! Denn hier haust
Elserich. Elserich – der Berggeist! Manche wollen ihn hier schon als
Eichkater oder Dachs gesehen haben; darüber kannst du dir selbst Gedanken machen. Ich jedenfalls kann mir das nur so erklären: Elserich erscheint als Eichkater den Kindern (damit sie nicht so
erschrecken) und als Dachs den Spaßvögeln.
Wanderer dagegen beschreiben ihn so und so groß und – Nun ja, es sind auch keine Riesenhöhlen, die er sich da gegraben hat. Ein grünes Hemd soll er tragen, eine blaue Tagelöhnerhose und derbe, schmutzige Schuhe. Und wenn es in trockenen Junitagen Raupen von den kahlen Zweigen regnet, dann spaziert Elserich mit einem Schirm durch den Wald; so will es ein Zwillingspaar aus Schwaben gesehen haben. Und freundlich sei er zu den
Wanderinnen, sagen sie.
Zu Wanderinnen! Aber wehe der, die kein reines Gewissen hat! Die seinen Gruß nicht dankt! Die gar Widerworte gibt! Die diesen Frieden stört! Dann ist mit Elserich nicht gut Kirschen essen!
Das mußte auch Frau Biederin erfahren. Diese Frau hätte
eigentlich für schön gelten können. Jedoch – aus irgendeinem Grunde war sie böse auf die Männer, und diese Gesinnung prägt bekanntlich
das Gesicht mürrisch und verdrüßlich. Eine eigene Meinung, einen eigenen Willen schätzte sie bei Männern überhaupt nicht und hatte sich
deshalb einen Wallach zum Reittier auserwählt. Von ihm ließ sie sich über Felder und durch Wälder tragen, und – leider war auch jener
Waldsteig nicht vor den beiden sicher. Zwar erschien es ihr hier als zu gefährlich, im Sattel zu bleiben, aber du kannst dir ja mal
anschauen, welche Spuren die beiden hinterlassen haben. Meist mußte der Wallach an der Außenseite gehen, rutschte immer wieder ab, trat
den Wegrand nieder und versank hin und wieder mit seinen Hufen im Erdreich. Denn auf solche Lasten hatte Elserich seine Höhlen und
Gänge nicht berechnet. Hättest du diese Verwüstungen klaglos hingenommen?
Obendrein gesellte sich zu diesem Ungemach noch die Sorge, die lieben Wanderinnen täten diesen Waldsteig künftig ob seiner Gefährlichkeit meiden. Elserich hoffte auf Einsicht – vergeblich! Reiterin und Wallach kamen
wieder. Deshalb trat ihnen Elserich eines Tages in den Weg, um sie ernsthaft zu ermahnen.
Der Dank bestand aus Widerworten und trotzigen Blicken. Er habe ihr nichts vorzuschreiben, er elender
Giftzwerg!
Elserich erwiderte diese Beleidigungen nicht, sondern blieb dabei, die Strafe zur Bewährung auszusetzen: „Wird Sie mit Ihren Verwüstungen weiter fortfahren, so wird Sie
zu einem Gespött der Menschen werden!“
Allein – die Reitersfrau ging nicht in sich, sondern kam nach einigen Tagen erneut den Waldsteig mit ihrem Wallach heraufgestiegen, bis – ja, bis der Wallach plötzlich
stehenblieb. Wie angewurzelt! Und dann geschah das Unfaßbare: Die Gestalt
des Reittieres veränderte sich! Die Ohren wurden lang und länger, Mähne und Schwanz borstiger, die Haut grau. Nein, ein stolzes Roß war das nicht mehr, eher ein armer, häßlicher – Aber da machte das Tier auch schon kehrt! Auf dem schmalen Steig! Wie hatte das zugehen können? Und noch ehe die Reitersfrau weiter nachdenken konnte, saß sie schon im Sattel, und zurück ging es in wilden Sprüngen.
Frau Biederin wollten Hören und Sehen vergehen. Dennoch vernahm sie, wie es ihr hinterdreindonnerte: „Will Sie
künftig gehorsam sein und diesen Steig schonen?“
Und ehe sie antworten konnte, gelobte bereits das Tier unter ihrem Sattel: „Ia! Ia! Ia!“
Wenn auch am nächsten Morgen der Wallach an der Futterkrippe stand, als wäre nichts gewesen, vergessen sollte seine Reiterin diesen
unheimlichen Ritt nicht. Denn irgend jemand aus dem Dorfe mußte etwas beobachtet haben. Und bald riefen ihr sogar die Kinder hinterher: „Frau Esela, Frau Esela! Ia! Ia!
Ia!“
Und wenn sie keine Abbitte geleistet hat, dann rufen es die Kinder noch heute!
© Stiftung Stückwerken, *12.8.2004, freigegeben am 24.6.2024
Qouz-Note: 4
***
MamM 311 Soweit der Himmel ist
In einer Zeit, als die Priester noch Könige und die Könige noch Priester waren, lebte – Ja, war es wirklich eine schönere Zeit?
Gut, es hört sich schön an: Er trachtete stets danach, Gott wohl zu gefallen. Allein – wo viel
Gläubigkeit, da ist auch viel Wahn; manche Strenge bürdet die Kosten ihrer Ehre andern auf; und mancher hält sich selbst für Gott und herrscht dabei wie ein toller Teufel.
Streng – das war auch König Daniwald zu Lewenhaag; allerdings nicht von der ungerechten Sorte, die da streng mit allen Untertanen, aber voller Nachsicht mit sich selber ist. Nein, er stellte das Recht auch über sich. Allein – die Todesstrafe war in seinem
Reiche nicht abgeschafft, sondern in fleißiger Übung. War das gerecht?
Doch wollen auch wir dem Könige Gerechtigkeit widerfahren lassen und nachforschen, wie es zu solcher Strenge kam. Und irgendwann werden wir zu einer Ursache gelangen, die zunächst ganz harmlos erscheint. Als Daniwald noch seine Kinderschuhe trug, war es im Dome zu Lewenhaag Brauch, die Predigt reichlich mit
Bildern auszuschmücken. Und so ward damals dem Prinzen ein Bild beschrieben, das ihn nachhaltig prägte. Es war wohl Spätsommerszeit oder Herbsteszeit, wenn die Lande nach Obst duften und die Äpfel gesammelt und eingelagert werden. „Und wehe“, so mahnte es von der Kanzel herab, „wenn die faulen Äpfel nicht ausgesondert werden! Sie stecken sonst die andern an, und die ganze Ernte verdirbt!“
Tscha, und als Daniwald nun König geworden war, begründete er mit diesem Bilde oft Verbannung und Todesurteil. So
kann’s gehen, wenn Bilder zu Götzen erhoben werden; sie schlagen ihre Anbeter mit Blendung!
Sogar in der eigenen Familie! Denn als eines Tages Prinzessin
Marfa des Ehebruchs überführt wurde, kannte König Daniwald weder Base noch Gnade, sondern sah nur eine Schuldige und das Gesetz. Und dieses Gesetz schrieb vor: die Todesstrafe! Und wieder war vom faulen Apfel die
Rede, der nicht die andern anstecken dürfe.
Lag es an den lauen Sommerwinden? Jedenfalls konnte der König in der Nacht zwischen Urteil und Hinrichtung nicht schlafen. Einige Zeit wanderte er durch seine Gemächer, bis er
schließlich an seinem Schreibtisch Platz nahm. Und wie es ja damals Sitte war, lag dort das dicke Buch der Bücher stets griffbereit. Der König schlug es auf und begann zu lesen: „Abraham zeugte Isaak. Isaak zeugte Jakob. Jakob zeugte –“
Da hatte er bestimmt keine interessante Textstelle erwischt! Aber dann stutzte er plötzlich: „Salma zeugte Boas von der Rahab –“ Rahab? Wer war Rahab? Und der König wälzte weitere Bücher, bis er fand, was er suchte: Rahab war eine Hure gewesen. Und dennoch war sie Ahnin des Königs David geworden! Wie das Leben doch spielt! Ja, was stand sogar über der Textstelle? „Stammbaum Jesu Christi“ – wer sollte so etwas begreifen!
Und der König blätterte weiter im dicken Buch der Bücher. Da
fiel sein Blick auf die Stelle, wo Jesus am Jakobsbrunnen zu der Samariterin spricht: „5 Männer hast du gehabt, und den du nun hast, der ist nicht dein Mann.“ Und er hat sie dennoch nicht
verdammt!
Und der König blätterte weiter. „Jesus und die
Ehebrecherin“ las er. Als ob das ein Übername wäre, wie Böttcher oder Tischler, und ein Gewerbe! Und was stand da? „So verdamme ich dich auch
nicht.“
„Aber – Nein!“ sprach Daniwald zu sich. „Er
ist der König aller Könige. Wenn er nicht verdammt, so dürfen wir es auch nicht
tun! Und überhaupt, warum werden nur die Frauen angeklagt? –
Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den 1. Stein auf sie!“
Der König trat an’s Fenster. Draußen war es bereits hell geworden. Weiße Wolkenschiffe segelten unter dem weiten Himmel dahin. Da fiel dem König ein
weiterer Spruch aus jenem Buch der Bücher ein: „HERR, deine Güte reicht, soweit der Himmel ist, und deine Wahrheit, soweit die Wolken gehen.“ Soweit der Himmel ist!
Also, wo keine Güte ist, da ist auch kein Himmel mehr –
Die Prinzessin ward noch rechtzeitig begnadigt. Tscha, und wenn sie nicht
gestorben sind, dann – Na, du hast selber Augen und kannst prüfen, wo die Menschen besser aufgehoben sind: unter einer Lage Äpfel – oder im Himmel ...
© Stiftung Stückwerken, *19.8.2004, freigegeben am 23.9.2024
Qouz-Note: 2-
***
MamM 312 Die Knochenmühle
Wo Reichenau genau gelegen haben soll, das haben die Gelehrten bis heute noch nicht herausgefunden. Jedenfalls, nicht wahr, war es eine reiche Stadt. Eine Stadt mit jung und
alt. Mit Menschen, die keine Kinder von Traurigkeit waren. Mit Menschen,
die freiten und ließen sich freien. Mit Handwerkern, mit Kaufleuten, mit
Zeitungsschreibern und Zeitungslesern. Mit viel Müßiggang, mit Langeweile, mit Ausgelassenheit. Denn schon damals sorgte der Paterenus für viel Fröhlichkeit an seinen Ufern; und in manchem fernen Lande ging das Gerücht um, der Paterenus führe nicht Wasser, sondern Wein. Und, soviel läßt sich sagen, Reichenau lag damals am Paterenus.
Tscha, und dann hatte Reichenau auch eine Knochenmühle, zumindest am Anfang. Wozu brauchen die Menschen Knochenmühlen? – Eine gute Frage! Kornmühlen, Ölmühlen, Papiermühlen, da kannst auch du noch etwas mit anfangen. Aber
Knochenmühle?
Und doch schien der Betrieb sich in Reichenau zu lohnen. Nun ja, tagsüber stand das Mühlrad still. Aber so etwa 2 Stunden nach Mitternacht bis zum Morgengrauen, da mußte das Mühlrad mahlen, mahlen, mahlen. Und geliefert wurde – ja, wann eigentlich? Und was?
Spätsommer ist’s. Der Abend zehrt
noch von der Wärme des Tages, Grillen geben ein Abendständchen, da treten 2 Kinder aus dem Schein der Straßenlaternen und schlagen den Weg zur Knochenmühle ein; 2 Kinder, die um diese Zeit schon hätten im Bett sein müssen. Was sie wohl
vorhaben? Wichtiges? Die Gestalt jedenfalls bemerken sie nicht, die sich
hinter den Zöpfen einer Trauerweide verbirgt. Nun verläßt diese Gestalt vorsichtig ihr Versteck, folgt den beiden bis zur
Mühle. Wartet. Wartet bis zum Morgen. Längst hat die Mühle wieder ihr Werk vollbracht und hält Ruhe; aber die beiden Kinder, – die kommen nicht wieder.
Doch – jetzt öffnet sich das Mühlentor. Hastig verbirgt sich die Gestalt. Heraus kommt aber nur ein Eselsfuhrwerk mit Säcken voll Knochenmehl. Leben ist in den
Säcken nicht mehr. Als das Fuhrwerk verschwunden ist, tritt die Gestalt an eines der Fenster. Keine Kinder zu sehen. Nur Müller Schindewulf; und der zählt gerade sein Geld.
Wer damals gute Augen hatte, die auch im Dunkeln sehen können, der hätte noch an manchem Abend jene Gestalt gewahren können und Menschen, die zur Mühle gingen, aber
niemals wiederkamen.
Eines Morgens aber war Besonderes zu bemerken. Die Stadtwache marschierte
zur Knochenmühle und – kam wieder und – führte einen Gefangenen mit sich. Schindewulf! Mag
ein Bösewicht noch so listig sein, hat er Mitwisser, so gelangen seine Schandtaten doch irgendwann an den Tag. Es kam zum
Prozeß.
Heißa, war das ein Fest für die Zeitungsschreiber! Mochte das, was in der Knochenmühle geschehen war, noch so
greulich gewesen sein, die Zeitungsschreiber fanden Wörter, die alles noch greulicher beschrieben. Und wie den Zeitungsboten die
frischen Zeitungen aus der Hand gerissen wurden! Warum nur?
Genugtuung? Da war endlich mal einer, der getan hatte, was die biederen Zeitungsleser nicht tun durften und auch nicht zu tun gewagt
hätten. Neugier?
Wer weiß! Schon bald konnte Schindewulf seine Arbeit wieder aufnehmen. Es gab keine überzeugenden Beweise. Aussage stand gegen Aussage; und unbescholten und ehrlich waren die Zeugen auch nicht. Ja, wenn der Richter jene Gestalt
gefragt hätte! Aber niemand in der Stadt wußte von jener Gestalt. Die
Knochenmühle mahlte also wieder des Nachts, und niemand schien sich daran zu stören; jedenfalls niemand aus der Stadt. Es gab zwar Gerüchte, und diese wurden von den Zeitungsschreibern begierig aufgenommen und weiter ausgeschmückt; allein – diese Artikel kratzten nicht und bissen nicht, sondern kitzelten und lockten.
Das ward den Zeitungsschreibern auch in einem Leserbrief vorgehalten und – sorgte in den Zeitungsstuben für Heiterkeit. „Sind wir etwa die Zuchtmeister der Bürger?“ lachten die Zeitungsschreiber. „Nein, wir wollen nur den Bürgern den Spiegel vorhalten!“
Spiegel verdoppeln! Und mehr Menschen schlichen am späten Abend zur Knochenmühle. Und darunter waren auch Stadtväter. In Geschäften? Ja, was soll ich sagen, bald wurde in Reichenau eine weitere Knochenmühle eingerichtet und noch eine und noch eine.
Und – plötzlich erschien in der Zeitung ein neuer Leserbrief. Den Verfall der Sitten prangerte er
an. Und wer noch Anstand besitze, möge die Stadt innerhalb von 3 Tagen verlassen. Nun lachten nicht nur die Zeitungsleute, nun lachte die ganze Stadt.
Der 1. Tag kam und verging. Der 2.
Tag kam und verging. Der 3. Tag kam und verging. Und ohne daß es ein Unwetter gegeben hätte, trat der Paterenus plötzlich über seine Ufer und suchte sich ein
neues Bett und deckte ganz Reichenau zu.
Solltest du also einmal in jene Gegend kommen und dort in lauen Spätsommernächten unheimliches Gelächter hören, dann hätten die Menschen ihren Frieden noch immer nicht
gefunden.
© Stiftung Stückwerken, *6.8.2004, freigegeben am 20.9.2024
Qouz-Note: 4+, da zu sagenhaft
***
MamM 317 Schwester, Bruder, Vater
Gefroren hat es – nun, heute noch nicht, aber der Wind ist deutlich kühler geworden. Noch ein paar Tage, dann heißt es wieder:
Knirsch, knarsch, knarsch,
der Winter ist in Marsch!
Daß du mir dann ja nicht auf das Eis gehst! Sonst könntest du genauso aus der Wäsche gucken wie – Bienchen.
Und diese Wäsche war sehr naß und kalt. Na, du ahnst es wohl schon! Bienchen war zum Mühlenteich gelaufen. Dagegen
ist nichts zu sagen. Aber dann hatte es einen Schritt gemacht und noch einen; ja, und dann hatte es knirsch und knax gemacht, und dieses „es“ war nicht Bienchen gewesen, sondern das Eis. Ja, und dann ging das Gejammer und Gezeter los. Meinst du etwa, es sei ein Vergnügen,
im Eis eingebrochen zu sein?
Na, die Kerstin kam auch gleich angelaufen, na ja, treffender wäre: anstolziert. Denn sie war nicht nur Bienchens große Schwester, sondern auch von jener Sorte, die ihre Nase hoch und weiß gepudert tragen. Können die sich bücken und dich aus dem Eise ziehen? – Nee, aber Vorhaltungen
können sie dir machen! Und denk dir, genau das macht nun die stolze Kerstin. Das hätte sie gleich gesagt. Das hätte sie alles so kommen sehen. Ihr könnte so etwas nie passieren und-und-und. Besser ging es Bienchen durch die
Schimpfiade nicht.
Gut, daß nun der Karl kam! Gut? Jedenfalls lieb nannte sich der Karl gerne: dein lieber Bruder Karl. Und dieser liebe
Bruder Karl war nun so lieb, daß er mit guten Ratschlägen nicht hinter dem Berg hielt. Dein lieber Bruder Karl rät dir, gut zu
frühstücken, dann kommst du zu Kräften. Dein lieber Bruder Karl rät dir, dich warm anzuziehen; dann frierst du nicht. Dein lieber Bruder Karl rät dir, Kaltes nicht zu hastig zu
trinken. Besser ging’s Bienchen durch die guten Ratschläge nicht.
Gut, daß nun der Vater gelaufen kam. Und das war wirklich ein Laufen. Sogar eine Leiter und ein Seil hatte er mit. Tscha, und der Vater zog nun Bienchen aus dem
Wasser und an’s Ufer! Und dann ging’s im Laufschritt nach Hause. Hinein mit
Bienchen in den Holzzuber mit dem heißen Wasser. Hinein mit Bienchen in das warme Bett. Und Bienchen nahm keinen Schaden. Gut, daß der Vater noch lebte!
© Stiftung Stückwerken, *6.11.2004, freigegeben am 25.6.2024
Qouz-Note: 2-
***
MamM 318 Wie ein Blatt
„Aber Großvater“, jammerte der kleine Werner, „muß ich denn auch eines Tages in die Fremde ziehen wie der Hans?“
„Wenn du groß bist“, antwortete der Großvater bedächtig, „dann wird dir wohl nichts anderes übrigbleiben. Aber
bis dahin ist noch viel Zeit.“
„Ich will aber nicht groß werden!“ und dazu stampfte Klein-Werner sogar mit dem Fuß auf. „Ich will immer bei Mama und Papa bleiben!“
„So?“ tat der Großvater verwundert. „Du willst nicht
groß werden? Das ist aber ganz was Neues! Noch gestern hat da jemand
geklagt: Ach, wenn ich doch schon groß wäre, dann bräuchte ich keine Angst mehr vor den bösen Jungens zu haben! Sollte ich mich derart
verhört haben?“
„Nö“, gab Klein-Werner zu, „aber von zu Hause fortgehen will ich trotzdem nicht!“
„Aber in den Wald kommst du doch jetzt mit?“ fragte der Großvater und stand von seinem Lehnstuhl auf, um sich die
warmen Schuhe zu holen.
„Bei dem Wetter?“ Sehr begeistert klang das nicht.
Aber wenig später wanderten die beiden durch den Wald: der Großvater mit gleichmäßigem Schritt, Klein-Werner wie – ja, wie Kinder so sind. Mal lief er voraus, mal blieb er zurück, mal trat er einen kleinen Ast aus dem Wege, mal wirbelte er Laub auf, mal hob er ein einzelnes Blatt auf
und schickte es auf eine neue Reise, mal rutsche er, mal trat er in eine Pfütze.
Eigentlich hätte der Großvater schon längst schimpfen und ermahnen müssen. Ja, bei seinem Sohn hätte er das
bestimmt getan, aber bei seinem Enkel? Nein, hier wartete er auf etwas anderes. Und da ging es auch schon los!
„Großvater, warum bleiben die Blätter nicht an den Bäumen kleben? Und warum bleiben sie nicht grün? Und warum – ja, warum rascheln sie jetzt so?“
„Gefällt es dir denn?“ fragte der Großvater zurück.
„Das Rascheln? Ja, das ist lustig. Die Farben, ja,
die sind auch hübsch. Aber –“, schränkte Klein-Werner ein, „irgendwie macht es ein bißchen traurig. Und wo heute die Sonne nicht scheint –“
„Na ja, sie scheint schon“, konnte der Großvater das Belehren nicht unterdrücken, „aber sie hat sich in ihre Wolkendecke gehüllt.“
„Vielleicht friert sie“, dachte Klein-Werner laut nach.
„Darauf muß einer erst kommen!“ wunderte sich der Großvater. „Ja, warum sollte nicht auch mal die Sonne frieren!“
„Und die Blätter frieren auch“, dachte Klein-Werner weiter. „Und deshalb gehen sie auf
Reisen. Denn wenn mir im Winter mal kalt ist, sagst du ja auch immer zu mir: Junge, beweg dich!“
„Ja, da könntest du recht haben“, und insgeheim lächelte der Großvater; denn nun war es mal wieder soweit. Und er begann:
Ja, denk dir, hier irgendwo, da wär’ einmal ein Blatt gewesen. Bu-, Buch-, ja, Buchi Buchenblatt, ja, so hieß es; Buchi
Buchenblatt! Den ganzen Winter über hatte es sich zusammengerollt, die Augen fest geschlossen und geschlafen. Geschnarcht? Ob es geschnarcht hat wie dein Papa? Nein, nicht daß ich wüßte. Nein, Blätter schnarchen nicht. Wo war ich noch stehengeblieben? Ja, ja, also – eines Tages nun kitzelte es plötzlich
so hartnäckig – ja, genau! Genau wie deine Mama, wenn du morgens einfach nicht aufstehen willst. Und was tat Buchi Buchenblatt da? Richtig, er reckte und streckte sich und – schlug
die Augen auf!
Nein, was es da alles zu sehen gab! Und so viele Geschwister schlugen ebenfalls die Augen auf. Und drüben die Vettern. Und die Sonne wärmte. Und was es da alles zu erzählen gab! Und die Vögel sangen ihre Lieder. Und des Abends pfiff drunten der Wandersmann vergnügt vor sich hin. Ach, war das ein
Leben!
Doch es gab auch Gefahren! Vor allem diese Unblätter! Die sahen aus wie Blattstiele, aber wollten an keinem Zweige bleiben, sondern krochen vor sich hin und fraßen und fraßen und hinterließen Tod und
Verwüstung. Immer näher krochen sie, immer näher; aber mit einem Mal blitzte es grell vom Himmel herab und schimpfte laut, und
dann goß es wie aus Eimern und riß alle bösen Unblätter mit sich fort. Das war also gerade noch einmal gutgegangen!
Allein – mit der Zeit wurde es stiller im Walde. Die Vögel sangen seltener; und hätte das fromme Rotkehlchen nicht weiter fleißig seine Übungsstunden besucht, wer weiß, wie es mit der Musik weitergegangen wäre! Auch die Schritte des Wandersmannes wurden langsamer, und seine Lieder wiederholten sich. Es mangelte an Neuigkeiten, die Geschwister wußten nichts Neues mehr zu erzählen, die Vettern auch nicht, und – Buchi Buchenblatt lernte eine
neue (wenigstens etwas Neues!) Gesellschafterin kennen: Frau Langeweile. Viel zu schnell wurde er mit ihr bekannt; das ist nun mal so ihre Art; und dann war auch das nichts Neues mehr.
Tscha, und was machen Kinder, wenn sie mit der Langeweile bekannt werden? Richtig! Sie beginnen zu quengeln und zu nörgeln. Ich bin der Größte – so heißt in solchen
Fällen ein beliebtes Spiel. Ich hänge höher als du! Ätsch, ich hänge noch
höher als du! Welch ein Blödsinn: Dir etwas auf dich einzubilden, nur weil du auf andere hinabblicken kannst! Allein – die Menschen sind nicht besser.
Gut, daß der Wind nun hin und wieder heftiger wehte und manchen Prahlhans mit sich in die Tiefe riß. Ja, so
ändern sich die Verhältnisse rasch. Glaub mir, Werner, ich hab' in meinem langen Leben schon manchen Dünkebold stürzen und fallen
gesehen.
Allein – Buchi Buchenblatt war nicht so ein Dünkebold. Doch mehr und mehr weitete sich sein Blick, und er
gewahrte, daß es nicht nur die Geschwister und die Vettern gab. Da waren auch Eichen, Birken und Kiefern. Insbesondere die Kiefern sind ja oft sehr lustig anzuschauen. Manche sieht aus wie
eine Hexe, die auf ihrem Besen reitet; manche wie eine Dirigentin, welche die 3. Strophe anzeigt; manche wie ein alter Opa, der seine Pfeife raucht.
Manchmal brachte der Wind auch Botschaft von ihnen herüber; aber darauf zu antworten, das gestaltete sich als
sehr schwierig.
„Ich muß erst noch in’s Pommernland“, gab der Wind zu bedenken, „und dann wohl noch zur See; ich hab’ so viel
um den Kopf, wie soll ich das so lange behalten! Und wer weiß, wann und ob ich wieder in den Elsenwald komme.“
„Gibt es denn noch etwas anderes als unseren Elsenwald?“ wunderte sich Buchi Buchenblatt.
„Du Dummerchen“, lachte der Wind, denn auch Winde können lachen, „Hunderte, Tausende Wälder gibt es. Und
Wiesen und Felder und Gärten und – das Meer. Da läuft es sich am leichtesten.“
„Laufen?“ fragte Buchi Buchenblatt. „Was ist
das?“
„Schnelles Reisen“, meinte der Wind nach seiner Sehensweise, „lustiges Reisen, immer woanders sein, hui, hui, eilen und le–“ Und schon war er nicht mehr zu
verstehen und weitergehastet.
Na, daß Hasten und Hetzen Leben sei, das will ich heftig bestreiten. Aber Buchi Buchenblatt hatte der Wind
doch einen aufdringlichen und hartnäckigen Floh in’s Ohr gesetzt. Reisen!
Nicht mehr auf einem Fleck festgebannt sein! Neues sehen! Ach, wäre das
schön! Und Buchi Buchenblatt begann zu ziehen und zu zerren. Ja, wer einmal
vom Fernweh angesteckt ist!
Und da, eines Morgens war es soweit! Wieder kam ein Wind herbeigeweht, ungestümer als seine
Vorfahren. Und hast du nicht gesehen, plötzlich war Buchi Buchenblatt los und frei! Und obwohl er noch nie bei einem Tanzmeister Unterricht genommen hatte, konnte er tanzen. Heißa, wie lustig das war! Ade, Mutter! Ade, Brüder! Ade, Vettern!
Nun ja, bis nach Pommernland ging die Reise nicht. Winde sind eben keine treuen Begleiter und lassen dich gar
bald im Stich. Allein – schon bald kommt der nächste, und weiter geht die Reise. Sogar über Mauern und Hecken wurde Buchi Buchenblatt gehoben. Das war nicht
ungefährlich! Denn böse Gärtner gibt es nicht wenige, die da das Laub sammeln und in den Ofen werfen, jedenfalls ihm den Garaus
machen. Und dann die Regenwürmer! Wer weiß, was für ein Blatt schlimmer
ist: die Unblätter im Frühjahr oder die Regenwürmer im Herbst?
Und trotz dieser Gefahren blieb Buchi Buchenblatt vergnügt. Ja, eines Abends gelangte er zu Bäumen, die waren
sehr schlank und leuchteten sogar in der Dunkelheit. Was waren da noch viele Blätter an den Zweigen!
„Kommt mit mir auf die Reise“, rief Buchi Buchenblatt hinauf.
„Nö“, lehnten die Blätter verwöhnt ab, „wir haben keine Lust, wir bleiben lieber bei unserer Mama.“
Tscha, was soll ich dir sagen, noch in der gleichen Nacht senkten sich sonderbare Blätter vom Himmel, kitzlig und weiß wie Watte. Selbst wenn Buchi Buchenblatt bei diesem Wunder wieder eingeschlafen wäre, das laute Krachen am Morgen hätte ihn bestimmt geweckt. Die schlanken Bäume, die ihre Blätter nicht rechtzeitig in die Fremde geschickt hatte, waren unter der weißen Last zusammengebrochen! Ach, war das ein Jammer!
„Und du meinst–“, doch dann hatte Klein-Werner schon einen neuen Gedanken, „aber Buchi Buchenblatt hat doch auch nicht ewig gelebt; oder?“
„Na ja“, gab der Großvater zu bedenken, „vielleicht erlebt so ein Buchenblatt an einem Tag so viel, wie wir Menschen in einem Jahr. Ja, das kann schon sein. Na, und wenn
Buchi Buchenblatt nicht gestorben ist, so müßte er noch
immer leben.“
© Stiftung Stückwerken, *12.11.2004, freigegeben am 25.6.2024
Qouz-Note: 2-
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MamM 319 Tod, wo ist dein Stachel?
Tod – wie lange wird es dieses Wort in unserer Sprache noch geben? Der kleine Klaus vernahm vom Tod zum 1. Mal oben in der Burg. Dort gab es Gemälde von Schlachten, aber
auch von jenem Überfall auf den früheren Herren der Burg, bei dem dieser sein Leben hatte lassen müssen. Angst, Grauen,
schmerzverzerrte Gesichter – nein, der Tod war gewiß kein angenehmer Zeitgenosse. Ja, immer mehr Menschen scheuten sich sogar davor,
von ihm zu sprechen, obwohl – ja, obwohl sie wußten, daß sie der Tod einmal willkommen heißen werde.
Gut, da waren auch Maler, die dem Tode eine Gestalt verliehen: bleiche Knochen, ohne Fleisch, ohne Haut, höhnisches Grinsen, wartend mit der Sense. Als der kleine Klaus solche Bilder sah, wußte er sich keinen Reim darauf zu machen.
Erntezeit war doch eine fröhliche Zeit mit Lachen und Liedern; aber wenn der kleine Klaus mehr über den Tod wissen wollte, lachte
niemand.
Und dann wurde der kleine Klaus eines Tages in die Schlafstube geführt, wo sein Opa lag. Der Tod sei bereits
eingetreten, hieß es; doch war er nirgendwo zu sehen und mußte also schon wieder gegangen sein. Alle waren scheu und leise, und die meisten Erwachsenen hatten rote Augen. Lieder
singen durfte der kleine Klaus nicht, als hätten alle Angst, den Großvater zu wecken. Der lag da, als ruhe er sich von einer schweren
Arbeit aus. Da schlief er gewiß sehr tief und fest; wieso sollte sich der
kleine Klaus so in acht nehmen?
Auf dem Totenacker einige Tage später war es auch nicht lustig. Der Wind wehte kalt von Norden, aber trotzdem
durfte der kleine Klaus nicht rumspringen, um sich warm zu halten. Gesungen wurde zwar, aber lauter traurige Lieder von Schmerz und
Leid. Besonders die Frauen zückten eifrig ihre Taschentücher, um sich über die nassen Augen zu wischen. Sie trügen Leid, wurde dem kleinen Klaus gesagt, und es dauerte nicht lange, da mußte sich auch der kleine Klaus die Augen wischen und Leid
tragen. Aber eigentlich wurde nur ein großer Kasten getragen und in eine Grube versenkt. Da sei sein Opa drin, wurde dem kleinen Klaus gesagt. Daß der das durfte! Als der kleine Klaus sich mal im Bettkasten versteckt hatte, war er hinterher tüchtig ausgeschimpft worden. Und jetzt warfen die Leute auch noch Blumen in die Grube und Asche hinterdrein; auch
da schimpfte niemand. Aber wehe, wenn der kleine Klaus mal auf Mamas Blumenbeeten Sand regnen lassen wollte; da gab es vielleicht ein Gezeter! Und dieser Zirkus hier sollte erlaubt
sein? Auf jeden Fall gefiel dem kleinen Klaus dieses ganze Theater überhaupt nicht.
Auch die nächste Begegnung mit dem Tod war für den kleinen Klaus nicht erfreulich. Das war unten am Bach bei
den Gärten. Ein Stallhase sollte geschlachtet werden; aber der schrie so
erbärmlich, daß der kleine Klaus hinfort kein Hasenfleisch mehr essen wollte.
Und dann mußte der kleine Klaus eines Tages durch einen toten Wald. Kein Vogel sang, kein grünes Blatt
leuchtete, die Bäume standen so starr, als wären sie Pfähle. Und es stank da so abscheulich, daß der kleine Klaus am liebsten umgekehrt
wäre. Doch er mußte ja weiter, obwohl er müde war und einen heißen Kopf hatte. Wovon eigentlich? Die Sonne brannte nicht vom Himmel, und die Hitze kam nicht von
außen.
Endlich gelangte der kleine Klaus an ein großes Tor. Doch nicht das große Tor wurde geöffnet, sondern nur eine
kleine Pforte, und heraus trat ein müder alter Mann. Der fragte den kleinen Klaus, ob er einzutreten wünsche. Allein – der kleine Klaus wollte erst einmal wissen, mit wem er es zu tun hatte.
„Ich – ich bin der Tod“, antwortete der alte Mann.
„Der Tod?“ wunderte sich der kleine Klaus. „Den hab’ ich
mir ganz anders vorgestellt. So wie ein Ungeheuer, das angst macht; oder
wie ein Gerippe. Und was machst du hier?“
„Ich bin hier der Türhüter“, antwortete der Tod.
„Das klingt nicht sehr furchterregend“, meinte der kleine Klaus etwas altklug. „Aber warum haben die Menschen
dann so große Angst vor dir?“
„Nun ja“, der Tod mußte erst überlegen, „es wird eben viel erzählt unter den Menschen; und viel
gelogen.“
„War das mit den Schlachtenbildern auf der Burg denn auch gelogen?“ Und dann erzählte der kleine Klaus, was er
auf jener Burg gesehen hatte.
„Ja, so etwas ist möglich“, gab der Tod zu, „aber es ist doch nicht meine Schuld! Ich würd’ ja auch am
liebsten einschreiten und mir so etwas verbitten, wenn die Menschen hier mir mit Gewalt das Tor aufreißen und andere hineinstoßen. Aber
das machen Menschen! Nicht ich! Ich habe lediglich die Anweisung, niemanden
wieder hinauszulassen. Gut, es kommt schon mal vor, daß jemand eine Sondergenehmigung vorweisen kann und drüben jemanden trösten
darf; aber nur stundenweise, dann muß er wieder zurück. Doch jemanden mit
Gewalt hineinzerren, das tu’ ich nicht. Gewalt ausüben, das tun nur Menschen; obwohl – die meisten haben Angst und klopfen zaghaft an. Dabei braucht doch niemand
vor mir Angst zu haben. Und außer denen mit den Sondergenehmigungen will kaum einer wieder zurück. Sogar die mit Gewalt hier hineingestoßen werden, warum sollten sie zurückwollen?
Hinter diesem Tor haben Kriegsherren und Henker keine Macht mehr. Nur die Menschen, die eine Abkürzung genommen haben, sind
anders. Sie kommen hier nicht müde genug an und reißen selber das Tor auf;
doch kaum sind sie eingetreten, reut es sie, und sie wollen umkehren. Aber so etwas ist nicht gestattet. Halbe Sachen gibt es bei mir nicht. Und die machen mir eigentlich die meiste
Mühe. Ach, weißt du, manchmal sehne ich mich danach, mein Amt wieder zurückgeben zu können. Einmal soll es ja soweit sein; aber wann das sein wird, weiß auch ich
nicht. Hoffen wir: bald!
Und bis dahin – ja, wenn ich dich so anschaue, müde genug bist du eigentlich noch nicht. Also könntest du mir
einen Gefallen tun. Sag den Menschen, sie mögen nicht so übel von mir denken. Sie brauchen sich vor mir nicht zu fürchten. Und wenn sie dich fragen, wie sie sich
mich vorstellen können, dann erzähl ihnen von unserem Gespräch. Ja, eigentlich bin ich nicht viel anders als mein Bruder. Mein Bruder, der Schlaf. Und der möge dich jetzt wieder zurückbegleiten. Auf Wiedersehen; und – lebe wohl!“
Und dann sagte noch eine beruhigende Stimme, die Krise sei jetzt überstanden; doch so genau konnte sich Klaus
später nicht mehr daran erinnern. Aber Angst vor dem Tod hat er nie mehr gehabt.
© Stiftung Stückwerken, *21.11.2004, freigegeben am 26.6.2024
Qouz-Note: 3+
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