MamM – Mährchen an meine Mutter Nr 1.181 bis 1.200

 

 

 

Überblick MamM 1.181 bis 1.200

 

1.181  Ein Zimmerstreit
1.182  Auf der Augenhöhe
1.183  Das Märchen vom freien Willen
1.184  Des Strandes Sand, der Liebe Wellen
1.185  Prächtingen und Echtingen

 

1.186  Rosinenpicken
1.187  Was bleibt?
1.188  Alibama
1.189  Der Weg der Erkenntnis
1.190  Der Brückenwalt

 

1.191  Engel in Prosopolis
1.192  Der Schwiegervater
1.193  Dementer
1.194  Nachtmeister Stropp im Frühlingserwachen
1.195  Der schwarze Graf

 

1.196  Nachtmeister Stropp im Osterfrieden
1.197  Kommt ein Henker in den Himmel
1.198  Der hohe Turm und das Reich der Sonne
1.199  Nachtmeister Stopp und die Philosophie
1.200  Nachtmeister Stropp in Leidentheil

 

 

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MamM 1.181  Ein Zimmerstreit

„Wißt Ihr, was ich da zu hören gekriegt hab’?“ ereiferte sich Donna Leidegarten.  „Ich denk’, ich fall’ aus allen Wolken!“
     „So?“ schien der Alte von der Halbinsel nicht richtig zugehört zu haben.
     „Haltet Euch gut fest!“ nahm die Besucherin Anlauf: „Die Einlaßkarten seien nur für die aktiven Gemeindemitglieder reserviert.  Nun kommt Ihr!“
     „Vielleicht war passiv nur als lateinische Übersetzung deines Namens gedacht“, baute der Alte eine sehr wacklige Brücke.
     „Wie bitte?“ nahm Donna Leidegarten noch mehr Fahrt auf.  „Wer hat denn Frau Rotscha jeden Sonntag zur Kirche geschoben?  Was?  Wie?  Immerhin mindestens 2 –“
     „Ich nehm’ mal an: du“, schien sich der Alte zu einer Antwort verpflichtet zu fühlen.
     „Aha!“ empfand die Besucherin sich verstanden.  „Die Aktiven hatten in ihren Kutschen dafür keinen Platz und –“
     „– auch keine Zeit“, ergänzte der Alte, „denn die geht ja für die vielen Sitzungen drauf, in –“
     „– denen sie beschließen müssen“, setzte Donna Leidegarten noch einen drauf, „was andere tun sollen!“
     „Kirchliche Arbeitsteilung“, faßte es der Alte zusammen, „die es aber nicht nur dort gibt.  Jaha, Gemeinde sieht anders aus.  Und – das Konzert wurde dir wirklich vorenthalten?
     „Nein“, antwortete die Besucherin.  „Ich hab’ mich beim Herrn Pfarrer beschwert und dann doch noch eine Karte ergattert.  Aber der Genuß war doch sehr getrübt.  Ständig mußt’ ich daran denken, als passives Mitglied abgestempelt worden zu sein.  Ist das etwa gerecht?
     „Verzeih“, schickte der Alte vorsichtshalber voraus, „es ist zunächst einmal dumm, sich selber zu ärgern.  Und dann hattest du ja für das nächste Vaterunser wenigstens etwas, das du vergeben konntest, damit auch dir vergeben wurde.  Allein – bevor du mich zynisch nennst –“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal – eine gute Stube.  Auf dem Lande gibt’s so was ja hier und da noch heute.  Solch eine gute Stube wird im Alltag eigentlich nicht genutzt;  denn im Winter müßte sie extra geheizt werden und im Sommer extra geputzt.  Aber für die Feste, an manchen Orten auch für den Sonntagnachmittag wird die Tür aufgeschlossen.  Erst recht, wenn hoher Besuch kommt.
     So auch bei unserer guten Stube.  Da staunt dann der Besuch, was es da alles zu sehen gibt.  Schwere Vorhänge, die erst einmal zur Seite gezogen werden müssen.  An der Wand ein großes Bild, oft Hirsche, bei uns jedoch: Heimatdorf bei Regenschauer.  Der große schwere Tisch.  Manchmal auch ein Flügel oder zumindest ein Klavier;  bei uns aber nicht, weil der oder das im Winter bestimmt verstimmt wäre.  Das breite Sofa und dazu passende Sessel.  Und setzt sich der Besuch, dann schaut er auf den großen breiten Schrank mit (Der Graf möge mir verzeihen, vermutlich hat’s nichts mit ihm zu tun.) potemkinschen Büchern und biederen Türen und Schubladen, die Schreibkram, Tischdecken, Gläser und geistige Rauschtränke verbergen.  Scheinbar alles in Eintracht und gutem Frieden.
     Scheinbar!  Denn wenn du dir das alles mal vor deine Augen rufst, wirst du bemerken: Fast alles, was sich so in einer guten Stube versammelt, ist männlich.  Spontan fallen mir dazu nur 2 Ausnahmen ein: die Gardine, wohl eine waschechte Französin, und die Standuhr.  Nun kann ich dir zwar aus meiner Erfahrung als Lehrer berichten: Die besten Klassen bestehen fast ausschließlich aus Jungs mit nur wenigen, aber attraktiven Mädchen, die jedoch bereits in festen Händen sind.  Denn da strengen sich die Jungs am meisten an, ohne in Eifersüchteleien zu verfallen.  Jedoch – in unserer guten Stube war die Wanduhr nicht in festen Händen;  und die Gardine, na ja, da hatte sich der Vorhang eine nahe Position erarbeitet und wußte sich bedeutend aufzubauschen, sobald auf Durchzug gelüftet wurde.  Du ahnst sicherlich schon: Hier gab es Hahnenkämpfe!
     „Was wär’ eine gute Stube ohne mich?“ fragte der große Tisch in die Runde.  „Ich will es euch sagen: nichts!  Oder allenfalls ein Germanenlager, wo sich alles auf dem Teppich rumflegelt.“
     „Haha!“ meldete sich der dicke Teppich zu Wort.  „Täte ich mich einrollen, dann bekäm’ mancher von euch kalte Füße.  Ich bin es doch, der dieser Stube hier eine wohnliche Atmosphäre gibt.“
     „Hahaha!“ lachte der Schrank.  „Du bist doch der einzige unter uns, der ständig mit Füßen getreten wird.  Aber ich, ich stehe aufrecht und gebe allem einen Halt.  Auf mich ist Verlaß, und das ist auch gut so, denn ich bin hier der getreue Wächter aller Schätze.“
     „Solange in dir kein Wurm ist“, spottete das große Bild an der Wand, wie es ja so Sitte bei der heutigen Jugend ist: am Rahmen hier und da noch etwas grün, aber kein Respekt vor dem Alter.  Und voller Selbstbewußtsein: „Wartet’s nur ab, bald bin ich mehr wert als ihr alle hier zusammen.“
     „Wenn ihr mich fragt“, setzte nun die Standuhr etwas voraus, was gar nicht vorlag, „dann habt ihr alle sicherlich eine gewisse Existenzberechtigung, aber das Zepter tät’ ich keinem von euch geben, dafür seid ihr mir alle zu unbedeutend.  Deshalb schlage ich vor, daß ich hier den Takt vorgebe, und damit ist dieser Vorschlag angenommen.  Ihr dürft mir nun –“
     „Aber was hat das jetzt alles mit den passiven und aktiven Gemeindemitgliedern zu tun?“ konnte sich Donna Leidegarten nicht länger zurückhalten.
     „Nun ja schmunzelte der Alte, „hättest du jetzt alle die gefragt, die sich bei jenem Rangstreit zu Wort gemeldet haben, so hätte sich jede und jeder zu den Aktiven gerechnet.  Einer aber schwieg.  Unscheinbar und unbeachtet stand er in seiner Ecke.  Aber deswegen fühlte er sich nicht zurückgesetzt, er dachte auch nicht an Streik, um auf sich aufmerksam zu machen, sondern – er wartete einfach ab.  Tscha, und dann kamen stürmische Novembertage und eisige Dezembernächte, und es begann in unserer guten Stube ein Ächzen und ein Klappern, und schließlich zeigte sogar die Standuhr nicht mehr die richtige Zeit an.  Aber da, am Morgen vor Weihnachten, da wurde die Tür zur guten Stube aufgeschlossen, Brennholz hereingetragen, Kohle, und dann ward geheizt;  und nun sang der, welcher bisher geschwiegen hatte, seine leisen Lieder und teilte seine wohlige Wärme aus, daß nun auch der Weihnachtsbaum hereingetragen und geschmückt werden konnte;  und Geschenke und –“
     Aber für die Besucherin war der Ofen wohl zu spät geheizt worden;  sie war bereits gegangen, ohne diese Wärme mitnehmen zu können.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 8.12.2023

Qouz-Note: 3-

 

 

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MamM 1.182  Auf der Augenhöhe

„Da könnt Ihr hinschauen, wohin Ihr wollt“, zählte Don Dünkelmeier eigentlich nicht zu den Liberalen, „überall ist alles, was nach uns kommt, Schrott.  Richtig –“
     „Na, dann wird sich wenigstens der Altmetallhändler freuen“, nahm’s der Alte von der Halbinsel nicht so dramatisch.
     „Was?“ schien der Besucher auch nicht zu den Edelmetallen zu gehören, – zumindest nicht bei der Höflichkeit.  „Jedenfalls kein Respekt mehr vor dem Alter, ohne Disziplin;  das – das seht Ihr schon an deren Wortschatz.  Schatz könnt Ihr das gar nicht mehr nennen, auch das ist nur noch Schrott.  Und –“
     „Na ja“, gab der Alte zu bedenken, „unsere Sprache zeugte damals auch nicht von einer vielseitigen Ernährung.“
     „Aber DANTE, SHAKESPEARE oder GOETHE waren uns doch noch ein Begriff –“
     „Doch wo es an Begriffen fehlet“, war der Alte mehr ein Freund des Anwendens denn des wörtlichen Zitierens, „da stellt ein Wort zur rechten Zeit –“
     „Eben!“ fühlte sich Don Dünkelmeier bestätigt – ahnungslos.  „In unserer Generation ist da noch Substanz –“
     „Wer aber hat die heutige Jugend ausgebildet?“ fragte der Alte nicht rhetorisch, sondern retorisch.
     „Sie wollte aber nichts von uns annehmen“, rechtfertigte der Besucher seine Meinung.  „Und wer nicht will, dem könnt Ihr auch nichts –“
     „Das sieht wohl manch frisch verliebtes Paar anders“, setzte der Alte dagegen und begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein König, der hieß – der hieß Ottokar.  Ein abgedankter König;  denn er war mehr und mehr seiner Regierungsgeschäfte überdrüssig geworden und hatte schließlich auf seinen Thron verzichtet.
     Kinder, Ehefrau, Geschwister hatte Ottokar keine, so daß die Stände einen Sproß aus einem andern Herrscherhaus zum neuen König wählten: Vollmund!  Der war aber in seinem Hause nie der Kronprinz gewesen und deshalb im Regieren nie unterwiesen worden.  Vor die Wahl gestellt zwischen militärischer und geistlicher Laufbahn, hatte er sich kurzerhand für den Ehekrieg entschieden.  Kein Wunder, daß er zwar Thron und Krone angenommen hatte, aber weder im Thronsaal noch in seinem Arbeitszimmer häufig anzutreffen war, sondern die meiste Zeit seiner jungen Familie widmete.  Zwar hatte ihm Ottokar seine Hilfe während der Einarbeitungszeit angeboten, war damit aber nur auf Ablehnung gestoßen.
     Der beste König sei der unsichtbare, hatte es Vollmund begründet, aber nicht die notwendige Voraussetzung dafür bedacht: eine reibungslos arbeitende Verwaltung.  Geschmiert wurde schon tüchtig, jedoch – wenn nach shropshire Art Räder in den Rädern sind, dann bewegen sich schließlich allenfalls Aktenberge und fallen in den Papierkorb.
     An diesem Apparat war ja bereits Ottokar gescheitert und hatte sich mit der Hoffnung verabschiedet: Schlimmer kommt’s nimmer!
     Es war einige Tage nach Weihnachten.  Ottokar war nach seiner Abdankung in ein kleines Palais an der Stadtmauer gezogen, zwar damit an den Rand des Residenzstädtchens, aber dennoch näher zu seinen Bürgern als früher oben auf dem Schloß.  Nah genug, um noch lange nach Mitternacht wach zu liegen, weil verwahrloste Kinder mit ihren Böllern ungehindert die Nachtruhe störten.  So etwas hatte es während Ottokars Regentschaft nicht gegeben, jedenfalls war ihm davon nichts zu Ohren gedrungen.  Mißmutig kleidete sich Ottokar wieder an und verließ Haus und Stadt durch eine geheime Mauerpforte.
     Wie von ungefähr stieg er eine Anhöhe hinauf, die zum Strom steil abfiel.  Das Wasser war hier so breit, daß selbst am Tage das andere Ufer nicht zu sehen war.  Gerade schob der Mond seine Wolkenvorhänge zur Seite, nur halb zu sehen und dennoch den Fuß des einsamen Wanderers davor bewahrend, auszugleiten.  Über das Wasser hatte sich dort unten Nebel gelegt;  es war, als stehe Ottokar über den Wolken.
     Sinnend blickte der alte König in die Ferne.  Wie viele waren bereits hinübergezogen und kamen nicht mehr wieder!  Ob es dort drüben Leben gab?  Aber wenn Ottokar an die eine und den andern dachte, wurde ihm dabei warm ums Herz.  Wo kam das her?  Ob es in der Gegenrichtung auch so war?
     Es gab aber auch andere Auswanderer, da wurde Ottokars Herz nicht warm, wenn er an sie dachte.  Da tat sogar manches noch weh: Enttäuschungen, falsche Unterstellungen, Verleumdungen.  War’s das überhaupt wert, sich damit noch immer zu belasten?  Enttäuschungen beenden Täuschungen.  Falsche Unterstellungen mögen übertreiben, aber welche Tat ist wirklich völlig selbstlos und edel?  Und bei Verleumdungen läßt sich am Ende oft nicht mehr trennen, was von wem stammt, und feststellen, ob jeder wußte, was er sagte.  Und angenommen, Ottokar wäre Himmelspförtner, wüßte er da einen einzigen Menschen, den er nicht einlassen täte?
     Bei Mondschein siehst du der Sterne nicht so viele;  aber als Ottokar wie von ungefähr aufblickte, gewahrte er doch so viele, daß ihm jenes alte Kinderlied in den Sinn kam, das da mit den beiden Versen nachklingt:


kennt auch dich
und hat dich lieb.

 

     „Wie machst du das nur“, flüsterte der alte König: „uns alle zu kennen und dennoch liebzuhaben?
     Auch bei diesem Gedanken wurde es Ottokar warm ums Herz;  und als er nun wieder in sein Haus zurückkehrte, nahm er alles um sich ganz anders –
     „Die heutige Jugend etwa als Gold, Silber und Edelstein?“  konnte sich Don Dünkelmeier nicht länger zurückhalten.  „Was?  Wie?
     „Was?  –  Jedenfalls mehr Rohdiamanten“, antwortete der Alte.  „Und wie?  –  Größer: das Gute.  Kleiner: das Ungute.  Und um diese neuen Eindrücke nicht zu vergessen, schrieb sie der alte König auf.  Und es war ihm, als wäre er auf diesem Wege in ein neues Reich gelangt.  Nein, nicht um dort zu herrschen, sondern – um Brücken zu bauen.  Nicht zu und zwischen allen Menschen, denn zu vielen hatte Ottokar keinen Zugang.  N o c h  keinen Zugang!  Aber wo er einen Zugang erfühlte, da begann er zu bauen.  Und weil Schmeichelei und Lobhudelei schnell zerfallen, verwendete Ottokar diese Steine nicht, sondern nur, was echt und haltbar ist.  Und wenn ich mir nun vorstelle, diese Handwerkskunst steckt an, dann müßten eigentlich bald alle Menschen –“
     Allein – die Brücke zu Don Dünkelmeier war nicht fertig geworden;  n o c h  nicht!  Er konnte ja wiederkommen.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 8.12.2023

Qouz-Note: 3-

 

 

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MamM 1.183  Das Märchen vom freien Willen

„Gibt es einen freien Willen?“ fragte Don Grebenwächter unvermittelt.  „Oder konkreter: –“
     „Ich weiß es nicht“, gab der Alte von der Halbinsel zu, ohne sich dessen zu schämen.
     „– Hat jeder Mensch einen freien Willen?“ fuhr der Besucher fort.
     „Vermutlich nicht“, überlegte der Alte hörbar, „nein;  denn da mein Wille nicht frei ist, ich aber ein Mensch bin, hat –“
     „Ist das nicht ketzerisch?“ schien’s Don Grebenwächter bejahen zu wollen.  „Die Kirche lehrt doch, daß Gott zwar jeden Menschen liebe, aber dessen freien Willen stets respektiere.  Also –“
     „Wenn dieser Wille aber nicht frei ist?“ stellte der Alte dagegen.  „Ob Gott irgendwas über seine Liebe setzt, müssen wir allein ihm überlassen.  Ich halt’ es jedenfalls weder für göttlich noch für pädagogisch klug, wenn Menschen sich befleißigen, Gottes Liebe zu beschränken;  und vergeblich ist es –“
     „Aber die Kirche lehrt“, hatte der Besucher nur beim 1. Satz zugehört, „am Ende der 1000jährigen Regentschaft täten sich sehr viele Menschen für das Böse entscheiden und –“
     „Verführt durch das Böse“, ergänzte der Alte.  „Spricht das hinreichend für einen freien Willen?  Ich denke –“
     „– werden in die ewige Qual verdammt werden“, war Don Grebenwächter zu sehr in Fahrt.
     „Das les’ ich in meiner Bibel nicht“, widersprach der Alte.  „Dort ist von einem feurigen Pfuhl die Rede für solche, die nicht im Buch des Lebens stehen, ob verführt oder nicht, ob aus den letzten Erdentagen oder aus dem vorigen Totenreich.  Und ob sie im feurigen Pfuhl geblieben sind oder irgendwann nachträglich ins Buch des Lebens eingetragen werden, weiß ich nicht.  Wenn du Früchte vom Baume der Erkenntnis essen willst, mußt du schon zu andern Gärtnern gehen;  mir ist der Baum des Lebens lieber“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein Königssohn, der – der hieß Gangold.  Sogar ein Kronprinz.  Doch bevor er Krone und Thron ererben werde, wollte er auf Reisen gehen, weil dies bekanntlich bilde.  Und das wörtlich;  also auf Reisen  g e h e n.  Somit weder bequem in einer Kutsche noch hoch zu Roß, sondern das Leben aus 1. Hand.
     Es ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, wird aber seltsamerweise zu wenig beachtet: Der Beginn einer Reise ist niemals völlig frei, sondern immer davon abhängig, von wo du losgehst.  Und das hat Auswirkungen auf deine Wege und die Dauer deiner Reise;  und manchmal auch auf dein Ziel.
     Gangold ging also los und ging und ging, ganz in Gedanken versunken, vor sich hin.  Und (Du ahnst es bereits) entdeckte nach einiger Zeit, daß er im Kreise gegangen war.  Daraus lernte er was?  Daß es nicht gleichgültig ist, ob ich nach links oder rechts, oder geradeaus gehe;  und daß unsere Orientierung nicht in uns liegt, sondern außerhalb.  Dafür gibt es Wegweiser, Wegekarten, Sonne und Sterne sowie weiteres.
     Daß nicht auf jeden Wegweiser Verlaß ist, erlebte Gangold gar nicht so selten.  Mal hatten die Wegweisersetzer wohl einen blauen Montag gehabt;  mal waren Wege später verändert oder unpassierbar geworden;  mal hatten sich Halbsinnige auf Kosten der Fremden einen Schadenspaß erlaubt.
     Eine Wegekarte hilft nur dem, der sie zu lesen versteht.  Und sie muß eingenordet werden, wozu Gangold einen Kompaß brauchte.  Tscha, und wenn du nicht genügend Licht hast, hilft dir die beste Karte nichts.
     Aber es gibt ja noch den Sternenhimmel.  Was hilft dir der aber, wenn du des Nachts im Walde gehst und das meiste Laub ist noch an den Bäumen oder es sind Nadelbäume?  Und wolkenverhangen darf der Himmel des Nachts auch nicht sein.
     Du ahnst vermutlich schon: Wer unterwegs ist, genießt keine völlige Freiheit;  so er ein Ziel hat.  Er ist von so vielem abhängig.  Und wenn wir am Ende einer Reise an unser Ziel kommen, ist es meistens ein Wunder, das wir gar nicht als solches gewahren.  Also?
     Also nehmen sich manche einen Wanderführer, vor allem auf schwierigen Wegen.  Aber auch die Erfahrung mußte Gangold machen: Nicht jeder Wanderführer kennt sich wirklich aus.  Und dann stehst du plötzlich an einem breiten Strom und kommst nicht weiter;  oder an einem Abgrund;  oder am Ende eines Holzweges.  Und glimpflich, wenn dein Wanderführer dabei nichts Böses im Schilde führt!
     Das gilt auch für Reisegefährten.  Sie können deine Reise sicherer machen, solange sie es redlich meinen.  Und wenn dich ein Wanderführer enttäuscht hat, dann kannst du mit einem Weggefährten durchaus zufriedener sein.  Oder gar einer Gefährtin?
     Und plötzlich war sie da!  Wer?  Liebetraut!  Ob sie seinen Schutz suchte?  Und Gangold?  Sie hatte ein Laiblein Brot, das nahm nicht ab, wenn sie’s mit Gangold teilte.  Und einen sonderbaren Becher, der füllte sich, wenn die beiden Wandersleute aus ihm trinken wollten.
     „Das wollen wir aber von Anfang an so vereinbaren“, sprach Liebetraut: „Es darf kein Bezahlen zwischen uns sein, sondern wenn das eine gibt, ist Freude genug, wenn’s das andere annimmt;  und noch mehr Freude, wenn’s das andere mit weiteren teilt.“
     Ja, das war sehr weise gesprochen, das mußte Gangold zugeben.  Denn das unselige Bezahlen hatte er auch erlebt, wo einer den andern zu übervorteilen gedenkt und am Ende doch nicht zufrieden ist.  Bezahlen zu müssen, das ist nämlich eine Pflicht, und Pflichten sind wie eine Last, die dir aufgebürdet wird und dich behindert.
     Die Enttäuschungen mit den Wanderführern hatten Gangold mißtrauisch gemacht;  Mißtrauen aber läßt die Augen erstarren, daß sie sich sogar aus den bunten Frühlingsfarben noch das Leichenweiß des Winters und das Schwarz des Todes saugen.  Aber mit Liebetraut erlebte Gangold anderes: Es war ihm, als gehe ihm das Herz auf und jemand befreie seine Augen von der Starre, daß sein Blick wieder frei –
     „Aber was hat das jetzt mit dem freien Willen zu tun“, konnte sich Don Grebenwächter nicht länger zurückhalten, „und der ewigen Verdammnis?
     „So viel wie jene Bäume im Paradiese“, antwortete der Alte.  „Die Lehre vom freien Willen ist mir wie eine Frucht vom Baume der Erkenntnis;  Gott schmecke ich nicht darin, aber die Forderung des Menschen nach Respekt.  Das gleiche gilt für die Lehre von der ewigen Verdammnis.  Wer immer dies vertritt, unterstellt, daß etwas mächtiger sei denn die Liebe Gottes, nämlich das Böse.  Vom Baum des Lebens genieße ich dagegen die Freude: Nur durch seine Liebe ist Gott wirklich allmächtig;  und kennt auch mich und hat mich dennoch lieb;  und kennt auch dich und –“
     – hat auch Don Grebenwächter dennoch lieb, obwohl dieser vorzeitig gegangen war.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 29.11.2023

Qouz-Note: 4

 

 

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MamM 1.184  Des Strandes Sand, der Liebe Wellen

„Wer hätte das gedacht!“ verneinte Donna Rekler nur das, nicht aber ihr eigenes Denkvermögen.  „Angeblich soll er sogar als Erzbischof gehandelt worden –“
     „Ein kirchliches Amt als Ware“, sann der Alte von der Halbinsel, „oder gar ein Mensch?
     „Na ja, sie sagen ja immer, es sei göttliche Fügung“, widersprach die Besucherin nicht ohne Skepsis, „und basiere auf göttlicher Eingebung;  – nun ja, wir müssen es halt glauben.  Ich war damals ja noch ein Kind, aber unser Bischof war mir eine Respektperson.  –“
     „Person?“ blieb der Alte hängen.  „Also ein talentierter Schauspieler?
     „Ganz im Gegenteil!“ konnte sich Donna Rekler dem ganz und gar nicht anschließen.  „Überhaupt kein Getue.  Rückgrat.  Ich hab’ mir später mal seine Leserbriefe im Abendkurier angeschaut.  Also, ein Opportunist war der bestimmt nicht.  Deshalb sehr schade, daß ihm jetzt so etwas Schändliches nachgesagt wird.  Meint Ihr auch, es stimmt, –?
     „Ich weiß es nicht“, versuchte der Alte abzuwimmeln, „und werde die Wahrheit auf Erden nie –“
     „Ist schon merkwürdig“, mußte die Besucherin einräumen, „daß das alles erst 50 Jahre nach seinem Tod ans Licht –“
     „Ein Prozeß gegen ihn wäre somit nicht gerecht“, folgerte der Alte, „denn er könnte sich nicht mehr –“
     „Und daß es nur ein Einzelfall ist“, fuhr Donna Rekler fort.
     „Aber auch das ist kein hinreichendes Indiz für des Bischofs Unschuld“, gab der Alte zu bedenken.  „Außerdem ist es nicht unwahrscheinlich, daß die anklagende Partei fest davon überzeugt ist, die Wahrheit –“
     „Ich möcht’ jedenfalls nicht in der Haut der Kirche stecken!“  Die Besucherin schüttelte sich.  „Wie es heißt, sei bereits eine Entschädigung gezahlt –“
     „Auch das beweist weder Schuld noch Unschuld“, blieb der Alte hart.
     „Aber was sollen wir denn nun machen?“ war Donna Rekler unzufrieden.  „Selbst der Erzbischof spricht ja von einem dunklen Schatten, der auf das Lebenswerk –“
     „Was wäre typisch Gott?“ fragte der Alte – auch sich selbst;  und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein Grafensohn, der – der hieß Werner.  Der war schon eine Erscheinung!  Nein, kein Riese, auch keine lange Bohnenstange, denn sonst hätte er bestimmt so einen krummen Rücken bekommen wie ich;  aber auch kein Zwerg.  Nein, das prägende war seine Haltung: als habe er einen Ladestock verschluckt.  Weshalb er von Jugend auf der Aufrechte genannt wurde.  So einen Beinamen erhältst du nur, wenn mit deinem Äußeren auch dein Inneres übereinstimmt: Unerschrockenheit, Unbestechlichkeit, aber auch kompromißlos.  So einer gibt seiner Umgebung Halt, jedenfalls denen, die sich bei ihm anlehnen.  Denen aber, die gegen ihn anrennen, ist er ein Prellbock, an dem sie sich blutige Köpfe holen können.
     Daß so einer überhaupt eine Frau gefunden hat!  Gut, ein Christ sei ehrlich, aufrichtig, gewissenhaft und treu;  in der Theorie!  Aber in der Praxis?  Da kann es schon hilfreich sein, wenn Eltern und künftige Schwiegereltern Heiratspolitik betreiben wollen und handelseinig werden, wie’s in Adelskreisen ja angeblich nicht so selten ist.  Und nicht jede so gestiftete Ehe verläuft unglücklich.
     So auch bei Agnes und Werner.  Es herrschte jetzt nicht die große Leidenschaft unter ihnen, aber irgendwie gehörten sie zusammen, und bald war eins ohne das andere nicht mehr zu denken.  Nur Kinder hatten die beiden nicht;  jedenfalls nicht gemeinsam.  Und so blieb’s auch, als Werner die Regierungsgeschäfte in seiner Grafschaft übernahm.
     Wenn Graf Werner des Nachts nicht schlafen konnte, pflegte er, vor der Stadt noch ein wenig spazierenzugehen, also der Kinder Sandmännchen ein paar Schritte entgegen.  Dazu brauchte er weder Schloßtor noch Stadttor zu passieren, sondern konnte sich eines geheimen Ganges bedienen, der Schloß und Vorland verband.  Überhaupt waren in dem alten Schloß manche Zimmer nicht nur durch eine Wand, sondern durch Doppelwände getrennt, zwischen denen weitere geheime Gänge verliefen;  sogenannte Zeugengänge, von denen aus der Kundige manches sehen und hören kann, ohne aus den Zimmern bemerkt zu werden.  Werner war zur Zeit der einzige Kundige, aber hatte davon bisher nur Gebrauch gemacht, um sich im Notfall in den Gängen orientieren zu können, nicht aber um andere zu belauschen;  so etwas wäre nämlich seinem Wesen fremd gewesen.
     Allein – wieder einmal war er eines Nachts vor die Mauern gegangen und wollte gerade wieder in den Gang zurückkehren, als er plötzlich oben im Schloß Schüsse und lautes Geschrei hörte.  War seine Frau in Gefahr?  Rasch eilte er die geheimen Gänge hinauf zu einer Stelle, von der er unbemerkt in das Schlafgemach seiner Gemahlin blicken konnte.  Gerade erhielt diese von Uniformierten Besuch, die ihr berichteten, der Graf wäre gestürzt worden, ja, es sei sehr ungewiß, ob er überhaupt noch am Leben sei.  Die Gräfin brauche sich aber um sich selbst nicht zu besorgen;  sie stehe zwar vorerst unter Hausarrest, aber gleichzeitig unter dem besonderen Schutz der neuen kommissarischen Regentin.
     Neue Regentin?  Kommissarisch?  Du kannst dir gewiß denken, daß Werner in der folgenden Zeit eifrigen Gebrauch von den geheimen Gängen machte.  Nach und nach kam er dahinter, welch ein Komplott da gegen ihn ausgeheckt worden war.  Nun halt dich gut fest!
     Die neue Regentin wolle so lange die Amtsgeschäfte führen, bis ihr Sohn volljährig geworden sei.  Und der Vater?  Das sei Graf Werner, der bedauerlicherweise durch voreilige Gefährten in jener Nacht ums Leben gebracht worden sei.  Da der Leichnam leider sehr entstellt sei, müsse von einer öffentlichen Aufbahrung Abstand genommen werden und die Beisetzung in aller Stille erfolgen.  Eine 7tägige Grafschaftstrauer werde jedoch –
     „Und was hat das alles mit jenem Bischof zu tun?“ konnte sich Donna Rekler nicht länger zurückhalten.
     „Das hängt von den Brücken ab“, antwortete der Alte, „und davon, über welche du gehst.  In der Nacht vor seiner offiziellen Beisetzung verschaffte sich der Graf jedenfalls heimlich Zutritt zum Schlafgemach seiner Eheliebsten.  Und wurde nicht mit Abscheu empfangen, sondern von einem sehnenden Herzen.  Ob der Vorwurf der Untreue nun wahr sei oder nicht, das zählte überhaupt nicht.  Werner, du lebst!  Wir Menschen wähnen viel zu oft, Unrecht und Schuld aufdecken und in Marmor meißeln zu müssen, soweit – es nicht unsere eigene Schuld ist.  Diese möge Gott jedoch in des Strandes Sand zeichnen und durch die nächste Flut austilgen lassen.  Und Gott tut’s, doch nicht nur für dich und mich, sondern für  a l l e  Menschen.  Also?  Also lassen wir besser das Meißeln sein und bauen aus den Steinen Brücken.  Göttlich ist das –“
     Allein – die Besucherin war inzwischen gegangen und schleppte ihren Marmor weiterhin mit sich.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 8.12.2023

Qouz-Note: 3-

 

 

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MamM 1.185  Prächtingen und Echtingen

„Das war am Sonntag eine Predigt!“ staunte Donna Blendnolina noch immer.  „Und spannend!  Da –“
     „Wie eine Kriminalgeschichte?“ senfte der Alte von der Halbinsel, nicht frei von Spott.
     „– kamste von einer Erkenntnis zur andern“, überhörte die Besucherin die Frage, „und das auf äußerst hohem –“
     „Und das Herz?“ gab der Alte zu bedenken.  „Brannte –?
     „– Niveau“, fuhr Donna Blendnolina fort.  „Ich konnt’ gar nicht alles behalten.  Da war – irgend etwas mit der Himmelfahrt  –  Ach so, weil’s ja nicht Himmelgang oder Himmelflug heiße, sondern Himmelfahrt, sei einwandfrei zu folgern: Jesus sei im Wagen gen Himmel gefahren.  So – so wie Elia damals.  Also mit Rossen –“
     „Nicht mit einer Lokomotive?“ schien der Alte dort Platz nehmen zu wollen, wovor bereits der 1. Psalm eindringlich warnt.
     „Die gab’s damals doch noch gar nicht“, tat’s die Besucherin ab.  „Was seid Ihr dumm!  –  Und dann war da irgend etwas mit dem Himmel.  Ach so, selbst wenn der Satan gebunden ist, werden die Menschen weiterhin sündigen und –“
     „Du auch?“ fragte der Alte – ohne Ehrfurcht.
     „Ich doch nicht“, gab sich Donna Blendnolina entrüstet, „sondern die andern.  Die Gottlosen!  Wir haben ja die Zusage, daß uns Gott nie mehr vergessen kann.  Aber wenn ich Euch jetzt so höre, dann kommen mir bei Euch doch erhebliche –“
     „Und betest dennoch zu einem allmächtigen Gott“, war’s mit des Alten Spott vorbei, „der allen Menschen helfen will?  Freilich – der Baum der Erkenntnis ist nicht der des Lebens und viel zu oft einer der Torheit“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein Königssohn, dessen Eltern hatten sich zerstritten und – schließlich getrennt.  Damit war für Prinz Alfried eine Welt zusammengebrochen und sein Elternhaus.  Die Mauern standen zwar noch, die Möbel hatten ihren Platz behalten, auch an Sonnenschein und Heizen hatte sich nichts geändert;  aber irgendwie war nun alles leer, kalt und dunkel.  Und im Innern?  Im Innern von Alfried?  Da klagte die Sehnsucht um etwas, von dem der Verstand behauptete, es sei für immer verloren.  Und dann die Vorwürfe!  Selbstvorwürfe!  Lasten, die ein Kind mit kaum jemandem teilen kann.
     Kind?  So jung war Alfried gar nicht mehr, immerhin schon volljährig;  aber in der Verbindung mit den Eltern bleiben wir immer Kinder.  Doch – ging der Prinz zu seinem Vater, fehlte ihm immer die Mutter;  reiste er zu seiner Mutter, fehlte ihm immer der Vater.
     Somit hielt ihn nichts mehr in seinem väterlichen Schloß und zog ihn keine Hoffnung mehr zur Mutter, sondern er beschloß, sein Glück in der weiten Welt zu suchen.
     Er ließ sich also einen Teil seines Erbes auszahlen, setzte sich in seine Kutsche, und – los ging die Reise!  Am späten Nachmittag war er bereits in Prächtingen, der Hauptstadt eines der angeblich reichsten Länder der Welt.  Als Prinz wirst du dein Obdach selbstverständlich nicht im Armenhaus suchen, sondern beim angesehensten Gasthof der Stadt vorfahren.
     In Prächtingen war das der Gasthof Zum goldenen Löwen.  Schon von außen eine imposante Erscheinung!  In die Fassadentünche war Goldstaub eingemischt worden, und der glänzte nun, als sei er der gerade untergehenden Sonne ebenbürtig.  Wenn die Zimmer drinnen alles hielten, was draußen die Fassade versprach, na, dann mußte das hier ein äußerst angenehmer Aufenthalt werden.  Und dann die Speisen!  Der Wein!  Aber – weshalb eilten keine Bediensteten herbei, das Gepäck hineinzutragen?  Weshalb duftete es hier nirgendwo nach köstlichen Speisen?  Weshalb drangen keine fröhlichen Lieder heraus?
     Verwundert stieg der Prinz aus seiner Kutsche, und dann kam doch jemand herbei.  Jedoch – kein Hausdiener, sondern ein Maler.  Ob sich der gnädige Herr auch wolle konterfeien lassen, wie er bei diesem prächtigen Gasthof abgestiegen sei?  Mit dem Bild könne er im Ausland gewiß Staat machen.  Der kleine Zettel an der Tür käme selbstverständlich nicht mit aufs Bild.
     Erst jetzt bemerkte diesen auch der Prinz.  Wegen Baufälligkeit geschlossen, las er und schüttelte dann den Kopf.  Nein, hier war seines Bleibens nicht länger.  Ob am Hafen –?
     Nein, auch am Hafen fand er sein Glück nicht.  Es lag zwar dort ein prächtiges Schiff vor Anker;  mit leuchtenden Segeln und glänzenden Aufbauten und Planken, soweit es die Ansicht oberhalb des Wasserspiegels betraf.  Aber wer genauer hinsah, konnte aufsteigende Luftbläschen bemerken;  sichere Anzeichen dafür, daß es um die Seetüchtigkeit des Schiffes nicht zum besten bestellt war.  Die Schiffsbesatzung hatte sich in einer Art Fährhaus eingeschlossen und sang grölend lose Lieder.  Nach heftigem Klopfen kam endlich der Steuermann ans Fenster und gab unwirsch Auskunft.  Ja, sie täten bald in See stechen, aber mitnehmen täten sie niemanden.  Das mache zuviel Arbeit.  Basta!  Und schon war das Fenster wieder geschlossen.
     Ähnliches traf der Prinz auch noch auf einer Anhöhe vor der Stadt an: einen prächtigen Ballonkorb, einen groben Ballonfahrer, aber alles völlig untüchtig zur Luftschiffahrt.
     Da hatte Alfried von Prächtingen genug, fuhr von dannen, irgendwann über eine Grenze und bald in einen dunklen Wald, in dem jedes Licht anziehend war wie ein Magnet.  Und der Prinz gewahrte eins!  Er hielt darauf zu, stieg aus und ging die letzten Meter zu Fuß.  Fröhliche Lieder wärmten in sein Herz, köstlicher Duft weckte den Appetit, und auf das Anklopfen –
     „Was hat das alles mit der Sonntagspredigt zu tun?“ konnte sich Donna Blendnolina nicht länger zurückhalten.
     „– ward mit einem Willkommen die Tür geöffnet“, konnte der Alte nicht schnell genug bremsen.  „Ach so, ja, wenn du einen Gottesdienst mit einem Gasthaus vergleichst, dann weiß ich nicht, ob du in Prächtingen satt wirst, Obdach findest und weiterkommst.  Ich vertrau’ mehr den Gasthäusern, wo es mein Herz erwärmt, ich mich satt essen kann und willkommen bin, wie ich bin und sein könnte;  selbst wenn ich mit Prächtingen noch soviel Ehre –“
     Allein – die Besucherin war inzwischen gegangen, gespannt auf die nächste Sonntagspredigt.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 8.12.2023

Qouz-Note: 4

 

 

 

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MamM 1.186  Rosinenpicken

„Und?“ gab sich Großbauer Siebenacker selbstbewußt.  „Seid Ihr ein Gesegneter Gottes?
     „Ohne Gottes Barmherzigkeit“, lenkte der Alte von der Halbinsel, jedoch nicht von dieser ab, „könnt’ ich gar nicht –“
     „Nee, nee“, ließ es der Besucher nicht gelten, „das kann ich auch: Er läßt’s regnen über Gerechte und Ungerechte.  Nein, ich meine, den besonderen Segen, der für alle sichtbar –“
     „Wenn ich am Monatsende feststelle, mehr eingenommen zu haben, als ausgegeben“, zitierte der Alte den weisen Christian, „dann kann ich mich bestimmt nicht zu den Armen –“
     „Ist das was Besonderes?“ fragte der Großbauer verneinend.  „Segen heißt Vermehrung!  Ich hab’ mit 10 Morgen Land angefangen, inzwischen hab’ ich 100!  Und Ihr?  Bei Euch ist’s keine Vermehrung, sondern alles rückläufig.  Nehmt Eure Gesundheit!  Oder – Ihr habt’s noch nicht einmal zu einer eigenen Kutsche gebracht.  Ja, es heißt von Euch, daß Ihr sonntags gar nicht mehr zur Kirche kommen könnt,  Nee, nee, nichts für ungut: Bei Euch ist irgend etwas faul, weshalb Ihr derart gestraft –“
     „War Lazarus ein Gestrafter Gottes?“ zweifelte der Alte sehr.  „Und hätte jener reiche Jüngling den Rat Jesu beherzigt, hätte sein Vermögen nach deinen Maßstäben stark –“
     „So etwas dürft Ihr nicht aus dem Zusammenhang reißen“, wähnte der Besucher entkräften zu können.  „Seht nur unsere kirchlichen Würdenträger: In welch prächtigen Kutschen –“
     „Ich bin deren Richter nicht“, lehnte der Alte eine Stellungnahme ab.  „Wenn sie dennoch die Halbtoten am Wegesrand gewahren und diesen helfen –“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein Königssohn, der – der hieß Rasmino;  also was ganz Besonderes, oder ist dir dieser Name bisher jemals begegnet?  Und so war er denn auch mährsächlich: sonderbar.  Und von Kindesbeinen an anstrengend – für seine Umgebung.  Denn er selber pflegte sich möglichst wenig anzustrengen.
     Gedichte auswendig zu lernen?  Nein, das sah er überhaupt nicht ein, wozu diese Mühe für ihn von Nutzen sei.  Und da er es auch grundweg ablehnte, eine Rolle einzustudieren, konnte er nie auf einer Bühne auftreten, noch nicht einmal in einem Krippenspiel (denn ein Schaf, einen Esel oder einen Ochsen zu spielen, das hielt er für unter seiner Würde).  Wenn so alle dächten!  Der ganze Stand der Kaufleute müßte am Bettelstab gehen, und selbst das tät’ ihnen nichts helfen;  oder glaubst du, das Betteln bedürfe nicht gewisser Grundkenntnisse in der Schauspielkunst?  Tscha, so haben oft kleine Ursachen große Auswirkungen!  Ein Mensch, der keine Rolle spielen, sich also nicht verstellen kann, gilt vielen Leuten als lebensuntüchtig.
     Aber das war ja längst nicht alles!  Gut, lesen zu lernen, das sah Rasmino ein;  denn sonst hätte ihm doch die ganze Welt der Sagen und Märchen nur durch Vorleserinnen vermittelt werden können.  Die Kunst des Schreibens wußte er jedoch erst zu schätzen, als er Ereignisse genau festhalten und sich auch schriftlich zu Wort melden wollte.  Doch, damit ließ sich Macht ausüben.  Und das Rechnen?  Da war’s ähnlich.  Erst als sich Rasmino des Eindrucks nicht erwehren konnte, betrogen zu werden, drang er auch in die Geheimnisse der Rechenkunst ein.  Bekanntlich, aber dennoch nicht allgemein verbreitet, macht diese Kunst unabhängiger.
     Aber zu Fuß zu gehen, nein, das mußte nun wirklich nicht sein.  Mit der Kutsche zu fahren, das war viel bequemer, viel schneller, und es verschaffte auch mehr Ansehen, was du ja noch heute überall beobachten kannst: Wer in der prächtigsten Kutsche vorfährt, hat den obersten Rang inne – im Affentheater.  Eh – du ahnst wohl schon: Was überall Sitte war, das paßte auf die Dauer nicht zu unserem Prinzen.  Er fand auch schon bald die 1. Haare in der Suppe: Bequemlichkeit macht fett, träge und schläfrig.  Sie verkehrt das Leben in ein Dasein, und irgendwann freut dich nichts mehr.  Gut, dem kannst du mit viel Wein begegnen, aber – das entdeckte der Königssohn gar bald: Das Trinken hilft nie auf Dauer, sondern macht alles noch viel schlimmer und dich unfrei.  Und so kam es, daß Rasmino nach und nach am Wandern Gefallen fand und es völlig vereinbar mit seiner obersten Lebensregel: Immer zuerst die Rosinen!
     Ob ihm diese Rosinen eines Tages zu Kopfe gestiegen waren?  Stell dir vor, eines Morgens wanderte er einfach drauf los.  Wohin?  In die weite Welt hinein.  Wozu?  Um das Leben zu finden.  Na, dann ist er bestimmt im Kreise gegangen;  oder?  Nee, und das hatte 2 Ursachen.  Zum einen ihn selber;  denn als Rosinenpicker wählte er immer den Höhenweg, und der führt zwar hin und her und auf und ab, aber nur sehr selten im Kreise.  Zum andern: Sonnja.
     Die traf er nämlich auf einem seiner Höhenwege;  auf einem Bergsattel, seinen Weg kreuzend.  Sie wollte also gar nicht dort oben bleiben, sondern hinab in die finsteren Täler.
     Weshalb? so fragst du dich, und so fragte auch Rasmino.
     Hier oben sei’s zwar ganz nett und zuweilen auch gut, um sich zu erholen, antwortete Sonnja, aber es sei auch recht einsam und kein Leben.
     Kein Leben? wurde unser Königssohn hellhörig.  Er sei gerade auf der Suche nach dem Leben.
     „Na, dann komm doch einfach mit mir“, lud das Mädchen –
     „Und was hat das bitte schön mit Gottes Segen zu tun?“ konnte sich Großbauer Siebenacker nicht länger zurückhalten.
     „Gott segnet durch Aufgaben“, zitierte der Alte einen ausgegrenzten Gelehrten, der Jesu nicht auf dem Wege der kirchlichen Ordnung nachgefolgt war.  „Und dafür gibt er seine Gaben;  nicht für Bequemlichkeit und Dünkel.  Bequem war der Abstieg in die finsteren Täler für jene beiden bestimmt nicht, sondern ging doch sehr in die Beine. Und schattig war’s, sogar kalt.  Aber hier unten wohnten die meisten Menschen, ständig auf der Suche nach einem bißchen Glück.  Doch sie suchten’s auf der Erde, rempelten sich gegenseitig an, und – fanden’s nicht.  Dabei kam mancher zu Fall, aber niemand half ihm;  denn je weniger Konkurrenten, desto –  Niemand?  Nee, dann wär’ ich zu den Pessimisten konvertiert.  Es gab doch Sonnja!  Die suchte ihr Glück nicht im irdischen Staub, sondern darin, Menschen zu helfen.  Aufzuhelfen.  Mit einem Becher frischen Wassers zu erquicken, daß die Augen wieder wacker –“
     Allein – Großbauer Siebenacker konnte ohne fremde Hilfe aufstehen und war inzwischen gegangen;  um – einen neuen Acker zu besehen?
© Stiftung Stueckwerken, freigegeben am 7.12.2023

Qouz-Note: 3

 

 

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MamM  1.187  Was bleibt?

„Am Sonntag war ich nach fast 3 Jahren endlich wieder in unserer Kirche“, erzählte Don Jederle – ohne besondere Nachfreude, „aber – ich weiß nicht, ob ich da jemals wieder hingeh’.  Alles –“
     „So?“ ermunterte der Alte von der Halbinsel zum Weiterreden.
     „Alles so kalt“, tat’s der Besucher.  „Niemand hat sich gefreut.  Niemand hat mich –“
     „Tscha“, zeigte sich der Alte nicht überrascht, „aus den Augen, aus dem Sinn.“
     „Die haben noch nicht einmal meinen Gruß erwidert“, hatte Don Jederle anderes erwartet.
     „Alle?“ zweifelte der Alte.  „Du darfst nicht vergessen, du wirst bei denen inzwischen als passives Mitglied geführt.  Unterste Kaste!  Ein –“
     „Im Christentum?“ wollte es der Besucher trotz seiner eigenen Erfahrung nicht wahrhaben.
     „Der Stifter dieser Religion dachte darüber anders“, gab der Alte zu, „aber seine Jünger bauen lieber Pyramiden denn Brücken und nennen ihr Herrschen Nachfolge.“
     „Aber ist das nicht absurd?“ konnte es Don Jederle nicht begreifen.
     „Freilich“, bestätigte es der Alte.  „In einer Pyramide kannst du aufsteigen, einer sogar bis zur Spitze, aber dann geht’s wieder hinab,  und weiter kommst du da überhaupt nicht;  und in den Himmel erst recht nicht.  Und irgendwann zerfällt –“
     „Aber die Pyramiden in Ägypten stehen noch“, hielt der Besucher dagegen.
     „Noch!“ betonte der Alte.  „Doch der Turm zu Babel ist bereits –“
     „Was aber bleibt denn dann?“ fragte Don Jederle.
     „Gute Frage!“ nutzte der Alte das Lob, um seine Gedanken zu sammeln.  „Neulich wurde ich Zeuge, wie sich einige Geistliche über ein Kirchenlied unterhielten.  Mit dem Namen des Dichters verbanden diese hohen Würdenträger nichts mehr – außer, daß Fürchtegott ein sonderbarer Name sei.  Zu Lebzeiten, nein, Erdenzeiten dieses Dichters war es für bedeutende Komponisten eine Ehre gewesen, seine Lieder zu vertonen.  Tscha, auch für Lieder gibt’s einen Jahrmarkt, und von Jahr zu Jahr drängt Neues auf diesen Markt und verdrängt das Alte, selbst wenn dieses wertvoller ist.  Tscha, was bleibt?“  Und der Alte begann zu erzählen.
     Es wär’ einmal ein König, der – der hieß Rodewin.  Der dachte sein Leben –  Nein, Leben war das noch nicht!  Der dachte während der 1. Etappe seiner Erdenreise: Mach dir einen Namen, der bleibt dir für Zeit und Ewigkeit.
     Tscha, was sich einer in jungen Jahren doch alles so denken kann!  Und von der Ewigkeit keinen blassen Schimmer!  Nun, unser Rodewin begann zu sammeln.  Ist ja nichts Verwerfliches;  nur – es hat alles seinen Preis.
     Also – mir täte bestimmt niemand eine Ehrendoktorwürde anbieten;  denn niemand hätte was davon;  noch nicht einmal ich selber.  Bei Rodewin war das anders;  vor allem, seit er auf dem Thron saß.  Für die Herren Professoren war es eine Ehre, ein Staatsoberhaupt würdigen und sich mit ihm zieren zu können.  Und – es sicherte auch das Wohlwollen eines Herrschers, die Interessen der betreffenden Hochschule zu fördern;  auch durch Geld – treffender: Gelder.  Und so achtete der König darauf, jedes Jahr die Zahl seiner Doktorwürden um mindesten eine zu vermehren.
     Welche Möglichkeiten gab’s noch, sich einen bleibenden Namen zu machen?  Kirche?  Nee, die Protestanten haben’s nicht so mit dem Adel;  und wenn doch mal eine Kirche nach jenem Schwedenkönig benannt wird, dann ist’s eine große Ausnahme und eine sehr wackelige Angelegenheit.  Und bei den Katholiken?  Da sind die beiden Pfade sehr lang und unwegsam.  Entweder du dienst dich bis zum Kardinalshut hinauf, mußt dabei aber den Schein der Ehelosigkeit wahren und hast stets mindestens einen über dir;  und um noch kurz vor deinem Tod Papst zuwerden, müssen sich davon viele einen Vorteil versprechen.  Oder du stiftest ein großes Vermögen, daß dich die Herrschenden lange nach deinem Tode heiligsprechen;  Herrschende, die dich gar nicht gekannt haben, sich an jenes Versprechen also gar nicht gebunden fühlen und es nur einlösen, um andere zum Stiften zu ermuntern.  Also?  Also strengte sich unser Rodewin überhaupt nicht an, sich kirchlich einen Namen zu machen.
     Tscha, was noch?  Eroberungen durch Kriege?  Sicher, spontan fielen Rodewin dazu 5 Männer ein und eine Frau, die diesen Weg beschritten hatten.  Unter diesen wußten die Schulkinder wohl nur noch von einem, und zu dem trichterten es ihnen die Lehrer ein, wieviel Blut jener habe vergießen lassen.  Ob’s wirklich stimmte, war gar nicht so sicher, aber es war zur Zeit die herrschende Meinung und von Vorteil, jenen Regenten rufzutöten, zumal sich dieser nicht mehr wehren konnte.  Nee, auch die Laufbahn eines Kriegsherren war Rodewin zu unsicher.
     Eines Abends ging der König noch einmal hinaus zum nahen Meeresstrand.  Viele Sterne zeigten sich bereits, kein Mond schien, und nur die guten Augen des Königs konnten die Fußspur gewahren, die vor ihm im Sande verlief.  Verlief, Verlaufen?  Bis zum Morgen hätte die Flut gewiß alles wieder ausgelöscht.  Wie von ungefähr kam es dem König in den Sinn, der Spur schnelleren Schrittes zu folgen und den Urheber zu finden.
     Urheber?  Nein, Urheberin!  Sie war stehengeblieben, so daß der König sie bald eingeholt hatte.
     „Lise, du?“ wunderte sich Rodewin zunächst.  „Ach so, ja –“
     „Welch eine Pracht!“ versuchte das Mädchen sein Staunen zu teilen.  „Und wir hier unten so klein und unbedeutend.  Und die Gelehrten sagen, daß die meisten Sterne bereits an einer ganz anderen Stelle sind.  Ja, manche seien längst erloschen.  Seit Jahrtausenden!  Und sie erfreuen uns noch immer.“
     Auch der König war nachdenklich geworden und –
     „Was hat das aber alles mit dieser abstoßenden Kälte in meiner Gemeinde zu tun?“ konnte sich Don Jederle nicht länger zurückhalten.
     „«Wißt Ihr, was noch ein viel größeres Wunder ist?» fragte das Mädchen.“  Hatte der Alte die Frage seines Besuchers überhört?  „«Jene Sterne da oben leuchten zwar, aber wärmen mich nicht.  Wenn ich jedoch an meine Oma denke –  Sie ist vor einigen Jahren, also, es heißt, sie sei gestorben.  Aber sobald ich an sie denke, wird’s mir hier im Herzen warm.  Ob’s gar den Tod gar nicht –»“
     Der Besucher konnte diese Frage nicht beantworten, da er inzwischen gegangen war.  Der Alte aber gedachte seiner alten Gemeinde, vor fast 15 Jahren durch Kriegerische zerrüttet und zerstört, und es wurde ihm dennoch warm ums Herz.  Also?
© Stiftung Stueckwerken, freigegeben am 7.12.2023

Qouz-Note: 3

 

 

 

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MamM 1.188  Alibama

„«Na, wie geht’s denn so?»“ berichtete Donna Randfichtner.  „«Lange nicht mehr gesehen.»  Und – tut mir leid, irgendwie schwang da Schadenfreude mit, weil ich bald 3 Jahre nicht mehr in der Kirche –“
     „Ach, sieh das nicht so streng“, empfahl der Alte von der Halbinsel.  „Immerhin –“
     „Er konnte mich schon vorher nicht leiden“, wollte sich die Besucherin nicht beirren lassen.  „Hat sich sogar über mich lustig –“
     „Und das trägst du ihm immer noch nach?“ wunderte sich der Alte.  „Das muß doch viel Kraft kosten;  laß es doch besser –“
     „Er konnte es wohl nie verzeihen“, blieb Donna Randfichtner bei ihrer Ansicht, „daß ich ihm wiederholt vor versammelter Gemeinde Fehler –“
     „Na, öffentlich blamiert zu werden“, zeigte der Alte Verständnis für – die andere Seite, „baut keine Brücke der Sympathie.  Hättest du es ihm nicht unter 4 Augen –“
     „Nein“, war sich die Besucherin sicher.  „Und überhaupt: Was hab’ ich alles für die Gemeinde –!“
     „Ich weiß es nicht“, schämte sich der Alte nicht.
     „Aha!“ kam’s Donna Randfichtner gelegen.  „Weil ich es nicht an die große Glocke gehängt hab’!  ER aber, bei IHM wußte jeder, was ER Gutes getan hat, weil ER’s immer gleich ausposaunt –“
     „Wer die Musik liebt“, zitierte der Alte spontan einen bedeutenden Komponisten, „kann nie ganz unglücklich werden.
     „Spottet nur“, wünschte sich die Besucherin eigentlich das Gegenteil.
     „Verzeih mir bitte“, liebte der Alte keinen Krieg, „ich wollt’ dich nicht verletzen, sondern deinen Kummer nur entkleiden.  Was du gerade erlebst, ist gar nicht so selten und sehr zerstörerisch“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein Mädchen, das – das hieß Alibama.  Ein sonderbarer Name;  hat irgend etwas mit Kräutern zu tun.  Tscha, durch beides wurde das Mädchen geprägt: sonderbar und Kräuter.  Von Kindesbeinen an galt ihr Interesse den Kräutern;  und schon früh wußte sie über deren Heilwirkungen und Schadwirkungen besser Bescheid denn mancher Apotheker.
     Nun gibt es Menschen, die jagen nach Beute und töten diese.  Und da sie Menschen sind, töten sie selbst dann, wenn sie die Beute gar nicht zur Nahrung nutzen wollen.  Hauptsache, sie können mit ihr als Trophäe prahlen.  Außerdem gibt es die sammelnden Menschen, deren Verhalten sich weiter unterscheiden läßt in das Sammeln aus egoistischer Habgier und das Sammeln, um hinterher zu teilen.  Ganz läßt sich wohl kein Mensch einer dieser 3 Gruppen eindeutig zuordnen, aber –  Gut, lassen wir das Richten und Sortieren.  Bei Alibama war eben das 3. Verhalten besonders stark ausgeprägt.  War jemand krank, war sie gleich zur Stelle und versuchte, mit ihren Heilkräutern zu helfen.
     Du kannst dir gewiß denken, daß so etwas bei den Ärzten und Apothekern gar nicht gut ankam.  Vor allem, wenn sie das 1. Gebot als ihr Recht und als Pflicht für alle andern einforderten: Du darfst keine anderen Götter neben mir haben!  Wie könne jemand Heilkunde ausüben, die’s gar nicht an einer Hochschule studiert habe!  Das sei versuchte Körperverletzung!  Ja, fahrlässige Tötung, denn es verkürze die Lebenszeit!  Gar Mord, wenn jemand nicht davon lassen wolle!  So eine gehöre eingesperrt!
     Unter diesen Reden wurden selbst solche wankend, die durch Alibamas Heilkräuter genesen waren.  Gewiß wären sie ohne diese Heilkräuter noch viel schneller gesund geworden!  Ob das Mädchen etwa eine Giftmischerin sei?  Und schon war dieses Wort in Umlauf!
     Hinzu kam: Erbschleicherei!  Denn zu den Alten schickt der Tod die Krankheiten als seine Herolde wohl am häufigsten.  Und hat der Tod jemanden abgeholt, dann suchen dessen Angehörige oft mehr, als sie finden können.
     Fehlte nur noch: Hexe!  War es nicht merkwürdig, daß Alibama lieber bei den Kranken war, denn Umgang mit Freundinnen zu pflegen?  Und als sie das Spinnstubenalter erreicht hatte, war das noch immer nicht anders.  Gut, jetzt war sie manchen Mädchen eine Konkurrentin, denn trotz ihrer schlichten Kleidung war sie hübsch anzusehen.  Und immer dieses Lächeln!  Aber in den Augen weder Habgier noch eine andere Leidenschaft.  Eine Heilige?  Nein, Heilige gab’s nur im Totenreich!  Also?  Also legten sich ein paar halbsinnige Buben eines Abends in einen Hinterhalt, um diese Heiligkeit – zu überprüfen.  Und – holten sich tränende Augen und blaue Flecken.  Das konnte doch nur das Werk einer Hexe sein;  oder?
     Peinlich befragen ließ sich diese Hexe jedoch nicht, denn sie war am andern Morgen wie vom Erdboden verschwunden;  und blieb es weiterhin.  War sie auf ihrem Besen zum Blocksberg geritten?  Zugetraut wurde es ihr, aber niemandem, das genauer zu untersuchen.
     3 Jahre nach diesem Wendepunkt begab es sich, daß der junge König Ferdinand alleine in einen großen, finsteren Fichtenwald hineinritt und – vor Einbruch der Nacht nicht mehr hinausfand.  Kein Mond schien, und die dichten Zweige hingen so tief, daß der König absteigen mußte, um nicht wie ein Absalom zu enden.  Was hilft’s, wenn ein Pferd im Dunkeln besser sehen kann als ein Mensch, aber weder Reiter noch Roß den rechten Weg wissen!  Aufmerksam spähte Ferdinand nach allen Seiten.  Da!  Ein Licht!  Vorsichtig näherten sich Mensch und Tier.  Ein Jagdhaus?  Eine Räuberhöhle?  Gar ein Hexenhaus?  Eines war der König gewiß nicht: feige!  Er ließ sein Pferd unter den letzten Bäumen zurück und schritt auf das Gebäude zu.  Ein großes Gebäude!  Ein Jagdschloß?  Jedenfalls glaubte der König noch niemals hier gewesen zu sein, zumal er kein Jünger der Diana oder des Hubertus war.  Er zog an der Klingel, aber nicht herrisch, sondern eher zaghaft bittend.  Keine Schritte waren zu hören.  Sollte er –?  Da wurde plötzlich die Türe geöffnet, und eine Blendlaterne auf ihn gerichtet.  Aber nicht, um ihn zu blenden, sondern – langsam wanderte der Schein zu den Füßen des Königs hinunter, von dort zu den Füßen des Laternenhalters, aufwärts –  Ach, eine Laternenhalterin!
     Und sprechen konnte sie auch: „Du hast keine Angst vor mir, und ich hab’ keine Angst vor dir.  Also tritt ein und sei mein Gast.  Du bist allein?  Pst, leise, sie schlafen schon –
     „Aber was hat das jetzt alles mit diesem Heuchler zu tun?“ konnte sich Donna Randfichtner nicht länger zurückhalten.
     „Mit dem?“  fragte der Alte, als wär’s sehr abwegig.  „Nicht mit dir?  Die Schloßherrin war jedenfalls eine junge Frau.  Und die Schlafenden?  Alles Kinder, die keine Eltern mehr hatten, die ihnen sagten: Ich hab’ dich lieb.  Statt dessen war ihnen nachgerufen worden: Mit dir wird es noch einmal ein schlimmes Ende nehmen.  Schau, selbst wenn dich Menschen ausgrenzen und verleumden, gibt es noch immer so viele andere, denen du deine Liebe schenken kannst.  Dann kannst du selbst einem König auf Augenhöhe begegnen, und ich wünsche dir –“
     Freilich – heute schien das Wünschen nichts zu helfen, denn die Besucherin war inzwischen gegangen.
© Stiftung Stueckwerken, freigegeben am 7.12.2023

Qouz-Note: 3-

 

 

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MamM 1.189  Der Weg der Erkenntnis

„Wir sollen glauben“ berichtete Donna Nacht-Rab,  „denn sonst bleibt der Zorn Gottes über –“
     „Wer sagt das?“ fragte der Alte von der Halbinsel.  Hatte er etwa sein Reizwort überhört?
     „Unser Herr Pfarrer“, antwortete die Besucherin, „und der hat’s von seinem Bischof.  Angeblich soll’s sogar in der Bibel –“
     „Und wer hat’s dort gesagt?“ hakte der Alte nach.
     „Ist das wichtig?“ zweifelte Donna Nacht-Rab sehr.  „Die Bibel ist doch das Wort Gottes, also –“
     „«Ich bin reich und habe gar satt und bedarf nichts!»“ zitierte der Alte.  „Das steht auch in der Bibel, sogar angeblich Worte dessen, der sich das A und das O nennt.  Und sie sind eine wahre Beschreibung, aber kein angestrebtes Ideal.  Doch zurück –“
     „Und soweit ich weiß“, war der Besucherin das Zuhören unwichtiger denn das Reden, „steht’s sogar in den Evangelien.  Kann das sein: in Johannes – ?“
     „Ja“, bestätigte der Alte, „es steht im Johannesevangelium, doch nicht als ein Wort Jesu, sondern als ein Wort eines anderen Johannes, nämlich des Täufers.  Er war noch Brückenkopf des Alten Testamentes, wo Strafe und Zorn –“
     „Aber wenn’s doch die Kirche wieder predigt“, hielt Donna Nacht-Rab dagegen, „dann hat sie’s herübergerettet als etwas sehr Wichtiges.  Wollt Ihr etwa behaupten, Ihr hättet eine höhere Erkenntnis denn die Kirche?
     „Nein“, lachte der Alte, „den Handschuh heb’ ich nicht auf.  Der Baum der Erkenntnis ist nicht der des Lebens“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein, ja, ein Königssohn, der – der hieß Ansgang.  Klingt nicht sehr christlich;  und sehr unchristlich war es auch, was diesem Prinzen angetan wurde, sobald er entwöhnt war.  Er wurde nämlich heimlich geraubt und nach Nudistan entführt, wo er als Geisel gehalten wurde, auf daß kein Krieg mehr sei zwischen seinem Heimatland und dem Land seiner Gefangenschaft.
     Grausam!  Keine Erinnerung an die Eltern begleitete den Heranwachsenden: kein Bild, kein Klang, kein Duft, keine Zärtlichkeit.  Boten, Briefe, sogar Zeitungen aus der Heimat wurden vom Prinzen ferngehalten, und Umgang durfte er nur mit Menschen pflegen, die seine Heimat nicht kannten.
     Seine Erziehung als lieblos zu bezeichnen, das wäre nicht le mot juste, das treffende Wort.  Und doch: Die Liebe, die ihm seine Eltern hätten geben können, erhielt er nicht.  Er wuchs auf, als wäre er ein Nudistani und früh verwaist.  Doch nicht in einem Findelhaus, sondern gleich einem Mose, als wäre er des Herrschers Adoptivsohn;  doch nicht der Kronprinz.
     Nun muß ich aber erst einmal ein Vorurteil ausräumen, das sich zu Nudistan immer wieder bildet und einnistet: Die Nudistani liefen nicht nackt herum.  Im Gegenteil: kaum ein anderes Volk legte soviel Wert auf sein äußeres Erscheinungsbild!  Sauberkeit und geschniegelte Haartracht, makellose Kleidung aus erlesenen Stoffen und entsprechendes Schuhwerk sowie auf den 1. Blick dezenter, auf den 2. Blick kostbarer Schmuck waren in jenem Lande an der Tagesordnung und streng einzuhalten.  Und doch – der Name dieses Landes war nicht von ungefähr.
     Zwar nährten sich die Nudistani auch von Brot, Gemüse und Obst, aber regelmäßig kam noch eine besondere Frucht auf den Tisch, die nur in Nudistan geerntet wurde: die Nudistan-Nuß.  Tscha, es bereitete schon einige Mühe, den entsprechenden Baum zu pflanzen, zu pflegen, zu beernten und dann an das Innere der Frucht zu gelangen;  aber in den Augen der Nudistani lohnte sich das auf jeden Fall.
     Tscha, in den Augen!  Denn der Genuß dieser Nuß schärfte den Blick ungemein.  Nun fand ein Nudistani jedes Haar in der Suppe, jeden Flecken auf der Kleidung, jedes Makel an einem Menschen;  freilich – nicht immer auf Anhieb.  Denn nun verstehst du auch, weshalb die Nudistani soviel Wert auf ihr Äußeres legten.  Es herrschte also ein ständiger Krieg zwischen Tünchen und Verbergen auf der einen Seite und Erforschen und Entdecken auf der anderen Seite.  Ob so etwas glücklich macht?  Krieg macht auf die Dauer niemanden glücklich.  Aber – wer will das schon zugeben!  Also gaben sich die Nudistani den Anschein, glücklich zu sein, selbst wenn das Gegenteil immer wieder entdeckt wurde.
     Und Ansgang?  Tscha, der wuchs in dieser Welt auf, machte vieles nach und – fühlte sich dort wie ein Fremder.  Er hatte nämlich einen Spiegel, und dem konnte er einfach nichts vormachen!  Immer, wenn der Prinz dort hineinblickte, gewahrte er: Mängel!  Unterschiede zwischen dem, wie der Prinz war, und dem, wie er hätte sein können;  ein Zurückbleiben, und der Kaufmann täte es Überschuldung nennen.  Und noch etwas war mit dem Blick in den Spiegel verbunden;  das Gefühl: Irgend etwas fehle dem Prinzen;  etwas sehr Wichtiges!
     Eines Morgens schwang er sich auf sein Pferd und ritt davon.  Wohin?  In den Himmel wollte er, denn er hielt’s auf der Erde nicht mehr aus.  Er hatte sich dafür sogar mit einem großen Vorrat jener Nüsse versehen, und mit diesen fütterte er immer wieder sein Pferd.  Das hatte zur Folge, daß das Tier nicht zum Meeresstrand hinunterjagte, sondern –  Na, welchen Weg zum Himmel hättest du –
     „Gar keinen“, faßte die Besucherin diese Frage nicht als rhetorisch auf;  „wer soll diesen ganzen Unsinn –“
     „Niemand soll etwas“, konnte der Alte sein Reizwort nicht noch einmal übergehen.  „Das Pferd jagte jedenfalls den höchsten Berg des Landes hinauf und hätte gewiß die höchste erreichbare Stelle erklommen, wenn Roß und Reiter nicht auf dem Wege eine Sennerin entgegengekommen wäre.  Sennerinnen sind furchtlos, Sennerinnen sind hilfsbereit, Sennerinnen halten sich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf.  So hatte Annagret den Prinzen nicht nur angesprochen und aufgehalten, sondern auch bald dessen Ziel erfahren.  Tscha, und dumm sind Sennerinnen jedenfalls nicht.  In den Himmel wolle der Herr?  Da oben käme er allenfalls in die Wolken, und das nur, wenn’s das Wetter zulasse.  Nein, über den Gipfel hinaus komme er gewiß nicht;  und selbst wenn er dort oben verhungere, verdurste oder abstürze, sei’s sehr ungewiß, daß er in den Himmel komme.  War Annagret etwa eine Nudistani?  Sonderbar, daß sie auf dem Wege ins Tal soviel von einem Lande zu berichten wußte, dessen Kronprinz in jungen Jahren geraubt worden war.  Und merkwürdig, daß Ansgang unterwegs so warm ums Herz wurde.  War es dies, was ihm bisher so sehr gefehlt –?
     Doch die Frage blieb offen, weil die Besucherin inzwischen gegangen war.
© Stiftung Stueckwerken, freigegeben am 7.12.2023

Qouz-Note: 3

 

 

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MamM 1.190  Der Brückenwalt

„Ihr seid doch als ein durchaus nüchtern und vernünftig denkender Mensch bekannt“, schaute dem Dr. phil. Dr. h. c. mult. Skries das folgende Wort dabei bereits durchs Knopfloch, „aber daß Ihr diesen ganzen Zirkus Eurer christlichen Kirchen anscheinend vorbehaltlos glaubt, kann ich einfach nicht –“
     „Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden“, zitierte  der Alte von der Halbinsel. – anpassend, „als deine Schulweisheit sich je zu träumen weiß.“
     „Nehmt doch nur“, war der Besucher nicht zum Zuhören gekommen, „diesen Aberwitz mit diesem – diesem Jesus: angeblich Gottes Sohn und stirbt!  Das ist doch ein Widerspruch in sich: Entweder ist er Gottes Sohn und unsterblich, oder er ist sterblich und nicht Gottes Sohn.  Das zeigt doch, wie naiv das alles ist.  In welcher Religion gibt es so einen Unsinn?  Da sind doch selbst die –“
     „Ich bin jetzt kein Experte“, gab der Alte freimütig zu, „aber wenn ich mich recht erinnere, geht in der germanischen Religion sogar alles zugrunde, selbst die Götterwelt;  da stimmt mich die christliche Religion wesentlich –“
     „Und die Römer und die Griechen?“ hielt Dr. Skries dagegen.  „Die haben ihre Götterwelt wesentlich widerspruchsfreier geschaffen.“
     „Eben!“ sah’s der Alte nicht als Widerspruch.  „Wobei ich hinter das Geschaffen vorsichtshalber ein Fragezeichen setze, weil auch ich nicht alle Wurzeln einer Religion kenne.  Und – spricht es wirklich für eine Religion und einen Gott, wenn sie mit dem menschlichen Verstand faßbar –“
     „Widerspruchsfreiheit ist doch wohl das mindeste, was –“
     „Mir ist“, ging der Alte weiter, „daß unsere Gedanken über den Tod noch zu sehr davon geprägt sind, ihn uns als Person vorzustellen.  Was aber, wenn Tod lediglich eine Verwandlung ist wie bei Raupe, Puppe und Schmetterling?  Kritisiert die christlichen Kirchen doch nicht an ihren Dogmen, die sich weder beweisen noch widerlegen lassen;  kritisiert sie an ihrer Praxis, ob diese der Lehre ihres Namensgebers entspricht, und an ihren Auswirkungen.  Kurz gefaßt: Ist Christus wirklich drin, wo Christus draufsteht“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein – eine Königin, die hieß Wendelinde.  Die meinte am Anfang ihrer Regentschaft, alles alleine machen zu müssen, jedenfalls das Herrschen.  Also: Gesetze erlassen, deren Einhaltung beaufsichtigen, Recht sprechen, Steuern eintreiben, Straßen bauen, Soldaten kommandieren, Kontakte zu andern Königreichen pflegen, und – du merkst schon: Ich kann’s gar nicht alles aufzählen.  So erkannte auch die junge Königin schnell, daß das alles gar nicht von einem Menschen allein zu schaffen war.
     Deshalb beriet sie sich hin und beriet sich her und entschied endlich, ihr Reich in Provinzen aufzuteilen und für jede Provinz einen Vogt zu ernennen.  Nun ja, du als Gelehrter ahnst vermutlich schon: Gib Menschen Macht, so wollen sie mehr davon und – Ehre als Draufgabe dazu.  Es dauerte nicht lange, da waren aus den Vögten Fürsten geworden, für die Wendelinde gleich einer Kaiserin war in fernen Landen.  War nun alles besser?  Auf jeden Fall hatte Wendelinde nun stets einen leeren Schreibtisch.
     Es lebte damals aber in jenem Reich ein wunderlicher junger Mann, der war bestrebt, mit allen Geschöpfen in einem guten Frieden zu leben.  Also niemanden zu töten, das heißt: niemandem dessen Lebenszeit zu verkürzen;  und nicht zu rauben, sondern nur das anzunehmen, was ihm freiwillig gegeben wurde.  Ein ehrenwertes Vornehmen?  Ein lobenswertes?  Nicht unter Menschen!  Gut, Kindern und Jugendlichen mag das schon imponieren;  aber Erwachsenen?  Denen erscheint es äußerst verdächtig, wenn jemand so ist, wie sie selber sein könnten, aber aus Habgier, Eigenliebe und Bequemlichkeit nicht sind.
     Da begab es sich, daß in einem jener Fürstentümer ein schweres Verbrechen verübt wurde.  Da niemand mit einem Geständnis aufwartete und die zuständige Polizeibehörde lange im dunkeln tappte, stellte sie sich schließlich die Frage: Wem ist solch ein Verbrechen zuzutrauen?  Nun ja, wer vor allem bei sogenannten „erfolgreichen“ Krimiautoren in die Schule gegangen ist, hat eine Antwort schnell zur Hand: wahnsinnigen Monstern.  Also?  Also: jeder, der nicht normal, nämlich anders ist.  Schnell geriet auch Krisper, jener Wunderling, in das Visier der Ermittlungsbehörden.  Allein – noch ehe die Obrigkeit zuschnappen konnte, war der Verdächtige wie vom Erdboden verschwunden.
     Aha, also schuldig! folgerten die Fahnder.  Und so sah’s auch das Gericht, das den Flüchtigen in Abwesenheit zum Entzug aller Rechte verurteilte und für vogelfrei erklärte.
     3 Jahre später kam es der Königin jedoch zu Ohren, daß sich die Sache ganz anders verhielte.  Ein Mann hatte nämlich auf seinem Sterbelager und im Beisein von Notar und Zeugen jene Tat eingestanden.  Die Verurteilung jenes Verdächtigen war somit ein Justizirrtum gewesen.
     Darüber war die Königin sehr bestürzt;  denn sie war keine Anhängerin der heute herrschenden Meinung: Ein Justizirrtum sei ein unvermeidbarer Kollateralschaden, der gegenüber den Erfolgen eines streng strafenden Gerichtswesens nicht ins Gewicht falle und deshalb vom Geschädigten am besten ganz alleine zu tragen sei.
     „Ich setze mich nicht eher wieder auf meinen Thron“, sprach Wendelinde, „bis ich diesen – diesen Krisper gefunden und wiedergutgemacht habe, was ihm angetan worden ist.“
     Eine Königin mit Rückgrat!  Eine unerschrockene Frau!  Ihr war klar, daß sie nicht in ihrer Kutsche reisen und sich von Leibwächtern begleiten lassen durfte.  Nein, wenn sie jenen Wunderling finden wollte, mußte sie sich aller ihrer Macht entäußern und lernen, so zu leben und so zu denken wie ER.
     Lernen braucht Zeit;  deshalb dauerte es 4 weitere Jahre, bis Wendelinde endlich ihr Examen bestehen konnte: Sie erhielt nämlich Kunde davon, daß in einer Stadt jemand einen sonderbaren Beruf ausübe: den des Brückenwaltes.  Was war denn –?
     „Noch dringender erscheint mir die Frage“, konnte sich Dr. Skries nicht länger zurückhalten: „Was das alles mit dem Tode von Göttern und dem Christentum zu tun hat?
     „Ist es nicht ein Anliegen des Gottes der Christen und dessen Sohnes“, fragte der Alte bejahend, „Brücken zu bauen?  Krisper hatte jedenfalls schweres Unrecht erfahren und setzte sein Mitgefühl nun für Menschen ein, die ähnliches erlebt hatten.  Du baust keine Brücke, wenn dich nach Rache dürstet, sondern verbreiterst und vertiefst die Gräben.  Aber bei deinen Rechten freiwillig auf Gerechtigkeit zu verzichten und Barmherzigkeit zu denken und zu leben, das verbindet.  Die Königin fand jenen Brückenwalt, als es bereits dunkel geworden war.  Er war gerade mit einem kleinen Licht unterwegs, entzündete daran ein weiteres Licht und reichte dieses dann der –“
     Doch nun gewahrte der Alte, daß ihm mal wieder die Zuhörerschaft abhanden gekommen war.
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Qouz-Note: 4+

 

 

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MamM 1.191  Engel in Prosopolis

„Ist doch schrecklich?“ war sich Donna Scheidewind der Zustimmung sicher.  „Vor allem für das Kind!“
     „So?“ wartete der Alte von der Halbinsel auf Einzelheiten.
     „Erst Mord;  dann Selbstmord!“ lieferte die Besucherin.  „Eine Rabenmutter!  Ein – ein –“
     „Ach so“, fand sich der Alte allmählich zurecht, „das meinst du.  Aber was  w e i ß t  du darüber?
     „Sagte ich bereits“, vermißte Donna Scheidewind die benötigte Wertschätzung: „Erst Mord;  dann –“
     „W e i ß t  du das?“ zweifelte der Alte sehr.  „Ich will dir sagen, was du weißt.  Es gibt 2 Leichen.  Vermutlich ist das Kind vor der Mutter gestorben.  Auch die Todesursache läßt sich einigermaßen sicher feststellen.  Mehr nicht!  Das andere sind Schlußfolgerungen, die sich weder beweisen noch widerlegen lassen.  Was, wenn alles gar nicht beabsichtigt worden war?  Für den Tathergang gibt es keine Zeugen.  Es gibt noch nicht einmal einen Abschiedsbrief.  –“
     „Aber ein Unfall ist doch sehr unwahrscheinlich“, verteidigte sich die Besucherin.  „Und die Polizei sieht das –“
     „Weißt du wirklich, wie die das sieht?“ zweifelte der Alte erneut.  „Du weißt nur, was die Zeitungen darüber berichten;  und deren Auflage steigt nun mal, je ungeheuerlicher die Anschuldigungen –“
     „Aber was sollen wir –?
     „Nichts sollen wir“, rieb sich der Alte an seinem Reizwort.  „Können wir die beiden Tode oder Unglücke ungeschehen machen?  Nein!  Werden wir auf Erden jemals den ganzen Hergang erfahren?  Nein!  Wenn wir den Tathergang aber nicht kennen, dürfen wir da einen Menschen richten und rufmorden?  Nein!  Und selbst wenn deine Vermutungen alle zuträfen und hier wirklich 2 Verbrechen vorlägen, gäbe es dafür eine Alleinschuld?  Nein!  Sind wir als Menschen überhaupt in der Lage, Mitschuld gerecht aufzuteilen, zu gewichten und zuzuweisen?  Zuzuweisen schon, denn wir praktizieren es leider immer wieder;  aber ist’s gerecht?  Nein!  Also?  Also muß ich mich mit dem begnügen, was ich ändern kann;  und das bin eigentlich nur ich selber“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal eine junge Königin, die – die hieß Eva und war die Regentin von Evalistan.  Nun lag aber dieses Reich zwischen 2 anderen Ländern: Ränkistan und Klaristan, und in der Zeit, von der ich dir berichte, waren sowohl Eva als auch die Regenten der andern beiden Länder ledig.  Und da Evalistan kein armes Land war und dessen Königin anmutig und verständig, ahnst du wohl schon, was jetzt kommt.
     Tscha, der Großherzog von Ränkistan war bestimmt nicht auf den Kopf gefallen;  denn um seiner Nachbarin näherzukommen, bot er ihr an, ihr auf eigene Kosten einen neue Hauptstadt zu bauen;  also auf des Großherzogs Kosten oder genauer: die seiner Steuerzahler.  Nun ja, sag selbst: Hättest du solch ein großzügiges Geschenk ausgeschlagen?  Siehst du!  Wer denkt schon daran, daß ein Geschenk den Beschenkten oft teurer kommt denn ein Kauf?
     So wurde also Prosopolis in Windeseile erbaut in aller Pracht und Herrlichkeit: breite Straßen, große Häuser mit blendenden Fassaden und – alles überragend: das königliche Residenzschloß.
     Und der Lohn?  Tscha, der Mann denkt, aber die Frau denkt anders!  Gut, die Einweihung von Stadt und Schloß wurde selbstverständlich gefeiert;  aber bevor am Abend zum Tanz aufgespielt wurde, hatte sich die Königin bereits in ihre Gemächer zurückgezogen.  Ohne den Großherzog!
     Tscha, wenn sich die gegnerische Königin dem Schachmatt geschickt entzogen hat, hast du 2 Möglichkeiten:  aufgeben oder neue Züge ersinnen.  Der Großherzog wählte letzteres.
     Es verging etwa ein Monat, da hielten Musikanten und Sängerinnen in Prosopolis Einzug.  Ein lustiges Volk!  Die waren zwar in Evalistans alten Weisen bewandert, aber spielten und sangen diese in etwas veränderter Form.  Was früher wachgerüttelt und Beine gemacht hatte, wurde nun einschläfernd vorgetragen.  Was früher auf sicherem Fundament gestanden hatte, schien nun auf sumpfigem Untergrund zu fußen.  Und was sich früher in Herzlichkeit entfaltet hatte, wurde nun herzlos abgekürzt.  Die Alten waren zwar anfangs etwas skeptisch, aber die Jugend war begeistert.  Und da diese die Zukunft ist und es das Ansehen fördert, taten auch mehr und mehr Alte so, als teilten sie den jugendlichen Geschmack.  Und bald wurden in Prosopolis nur noch die môdernen Versionen gesungen.  Und daß diesen auch der Text angepaßt worden war, brauch’ ich wohl nicht zu betonen.
     Einen Monat später hielt eine neue Gruppe in Prosopolis Einzug: die Geschichtenerzählerinnen.  Die waren in Evalistans Sagen und Märchen bewandert, erzählten diese aber in etwas veränderter Form.  Angeblich dem zeitgenössischen Sprachgebrauch behutsam angepaßt, doch auch der unter den jungen Leuten herrschenden Meinung.  Die Alten waren anfangs ein wenig skeptisch, aber die Jugend war begeistert und fand sich in den neuen Versionen wieder und verstanden.  Und auch hier bröckelte die Reserviertheit der Alten schnell, und bald waren nur noch die môdernen Versionen in Umlauf.
     Nun, einen weiteren Monat später kam wieder eine neue Gruppe Fremder nach Prosopolis: sogenannte Emanzipatoren.  Wer das ist?  Nein, keine törichten Menschen, sondern Redner, die sich unter ihren Zuhörerinnen Aufgeweckte aussuchen und ihnen dann einreden, diese hätten etwas zu sagen, zu entscheiden und zu bestimmen.  Was?  Na, was die andern zu tun und zu lassen haben.  Diese Aufgeweckten wurden also zu verschiedenen Themen in Gremien zusammengefaßt, um die Königin zu, ja, halt dich gut fest: zu entlasten!
     Auf Eva hatten die Ereignisse der letzten 3 Monate jedoch eine andere Wirkung.  Sie fühlte sich nämlich keinesfalls entlastet, sondern – fremd.  Fremd in ihrem eigenen Land.  Fremd in ihrer Heimat.  Die alten Lieder wurden nicht mehr gesungen, die alten Märchen und Sagen wurden nicht mehr erzählt, und eigentlich war auch kein Leben mehr im Volk.  Denn die sogenannten Aktiven verbrachten ihre Zeit in langen Sitzungen und für deren Vorbereitung, so daß fürs Selbermachen nichts mehr übrigblieb.  Und die Passiven wurden noch verdrossener.
     Darüber wurde die Königin schwermütig, ja, schwermütig bis an den Tod.
     „Aber was hat das alles“, konnte sich Donna Scheidewind nicht länger zurückhalten, „mit jenem Mord und Selbst–?
     „– den beiden Toten zu tun, wolltest du sagen?“ korrigierte der Alte höflich, aber bestimmt.  „Stell dir vor, du bist der Landgraf von Klaristan und hast eine Tarnkappe.  Und du liebst jene Eva und erfährst, daß sie ihres Lebens müde geworden sei.  Was tätest du?  Gewiß wärest du ständig heimlich um sie, um zu verhüten, daß sie sich etwas zuleide tue.  Weshalb heimlich?  Weil du nicht weißt, ob du wiedergeliebt wirst.  Und?  Und du wirst versuchen, der Königin Verluste auszugleichen: die alten Lieder an Evas Ohr bringen, die alten Geschichten.  Und?  Und du wirst versuchen, der Königin Blick auf die Öfen unter den Passiven zu lenken.  Denn Öfen stehen nicht im Rampenlicht, deshalb darfst du von Gremien auch keine Wärme erwarten.  Tscha, und dann beginnt die schwerste Arbeit: selber zu heizen, statt über die Kälte zu klagen.  Und wenn Eva und jener Landgraf sowie wir nicht gestorben sind, so leben –“
     Allein – die Besucherin war inzwischen gegangen;  vermutlich war die Sonne bereits untergegangen oder hatte die Wolken kaum durchdringen können.
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Qouz-Note: 3

 

 

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MamM 1.192  Der Schwiegervater

„Ich weiß gar nicht, ob ich Euch überhaupt besuchen darf“, gab sich Donna Schüchtner unsicher.
     „So?“ mangelte es dem Alten von der Halbinsel an Verständnis.  „Ich hab’s dir jedenfalls nicht –
     „Wo sie doch in der Kirche so vor Euch warnen“, versuchte die Besucherin ihre Unsicherheit zu begründen.  „Ihr währet ein Hexetiker und Ketzer –“
     „Häretiker?“ verbesserte der Alte.  „Ich ein Philosoph?  Und ein Reiner?  Nee, diese Schuhe will ich mir nicht –“
     „Der die Heilige Kirche abschaffen –“
     „Dann bestell liebe Grüße“, widersprach der Alte versöhnlich, „ich könne mich nur wiederholen: Eine Kirche, die herrschen wolle, sei zwar ein Fluch, eine Kirche, die dienen wolle, könne aber ein Segen sein.  Und: Kirche – wer ist das –?
     „– wäret ein Unruhestifter“, fuhr Donna Schüchtner fort, „der zu Ungehorsam und Anarchie aufrufe und nicht ganz richtig im –“
     „Moment!“ verlangte der Alte Einhalt.  „Ich bin bestimmt kein Volkstribun oder Revolutionsführer.  Harmonie unter den Menschen und mit Gott und dessen Schöpfung ist mir sehr wichtig.  Und wenn mir dies wichtiger ist als der Kirche, weshalb wirft sie mir das –?
     „Ihr tätet das Einssein untergraben“, hatte die Besucherin noch Pfeile im Köcher.
     „Mit Gott?  Oder mit herrschenden Menschen?“ fragte der Alte.  „Weil ich Gelübde für gottlos halte?  Weil ich das Gewissen anspreche?  Wenn Menschen vor einer neuen seelsorgerischen Aufgabe geloben müssen, andern Menschen mehr und eher zu gehorchen als dem eigenen Gewissen, kommt es zu etwas sehr Verkehrtem: zum Verlust des Einsseins im Menschen selber“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein König, der hieß – der hieß Ingwin.  Der hatte nur ein einziges Kind: Ingbrit, die einmal Thron und Krone zu erben hatte.  Darauf wurde die Prinzessin auch von Kindesbeinen sattsam vorbereitet;  doch – als sie volljährig wurde, dankte ihr Vater dennoch nicht ab.  Weshalb?
     Nun, er war zu der Erkenntnis gelangt: Wer seine Familie nicht zu regieren wisse, der könne auch kein ganzes Volk zum Guten leiten.  Freilich – die Lebenserfahrung lehrt, daß eine Tochter ihren Vater sehr oft zu regieren und an der Nase zu führen wisse;  das war wohl auch bei Ingbrit anzunehmen;  aber diese bereits bestehende Familie war gar nicht gemeint, sondern eine neue, noch zu gründende.  Und das hat die Natur nun mal so angelegt: Ohne einen Mann geht das nicht!  Also gut: ohne eine Frau auch nicht.  Also?
     Also mußten eine Frau und ein Mann eben zusammengebracht werden;  konkret: Ingbrit und –  Tscha, da mußte der Vater ein Fragezeichen setzen.  Und Ingbrit?  Einen Namen und ein Ausrufezeichen.  Und dieser Name lautete: Krauz!  Basta!  Ach ja, es seufzt wohl mancher Vater über die Ausrufezeichen, die sich im Kopfe seiner Tochter festgesetzt haben.  Ignoriert er sie, läuft er Gefahr, seine Tochter zu verlieren;  gehorcht er ihnen, läuft seine Tochter Gefahr, sich selber unglücklich zu machen.  Also?
     Also machte Ingwin gute Miene zum starrköpfigen Spiel seiner Tochter, bewegte diese dazu, ihren Auserkorenen ins Residenzschloß einzuladen, und – zog dem Eingeladenen entgegen;  und das bestimmt nicht mit Hermelin und Krone.
     Nun wird’s Zeit, das Mährchen vom andern Faden aufzunehmen.  Wie’s der Name bereits ahnen läßt, war Krauz kein gewöhnlicher Prinz.  Eigentlich hatte er sich von Kindesbeinen schon einen anderen Namen erworben: Nö!  Denn dieses Wort hatte er noch eher gelernt als Mama oder Papa.  Und damit ergibt sich für mich schon jetzt ein sehr großes Problem: Wie mach’ ich ihm Beine?  Denn als er die Einladung der Prinzessin erhielt, war seine 1. Reaktion wie?  Richtig!  Nö, da fahr’ ich nicht hin, soll die Prinzessin erst mal zu mir kommen!  Damit sie von Anfang an weiß, wer der Herr im Hause ist!
     Zum Glück war des Prinzen Vater der gleichen Ansicht und machte den Fehler, von der Annahme der Einladung nicht nur abzuraten, sondern sie entschieden zu verbieten.  Nun sah für Krauz plötzlich alles ganz anders aus.
     „Nö“, sagte er stur, ich lass’ mir doch nichts verbieten!  Wo komm’ ich denn dahin?
     Also?  Also ließ er anspannen, setzte sich in seine Kutsche und fuhr los.  Die Küchenchefin hatte ihm noch etliches aus der Vorratskammer mitgeben wollen, aber das hatte er mit seinem Lieblingswort zurückgewiesen.  Lediglich einen kleinen Kanten Brot hatte er sich eingesteckt, weil er darauf von selber gekommen war.
     Als der Prinz etwa 3 Stunden dahingejagt war, kam er an einen Engpaß und – mußte plötzlich anhalten.  Denn mitten auf der Straße saß ein Bettler, in seiner Haltung ebenfalls ein Anhänger von des Prinzen Lieblingswort: Nö!  Nö, er gehe nicht zur Seite, ehe nicht sein Hunger gestillt sei.
     Der Prinz wollte den Weg freikaufen und bot Geld, aber der Bettler blieb bei seinem Nö: Geld könne er nicht essen.  Gut, meinte der Prinz, er habe auch etwas Brot einstecken, aber wenn er’s verschenke, dann habe er ja selber nichts mehr, und wer weiß, ob er sich heute noch neues Brot kaufen –
     „Du brauchst es nicht zu verschenken“, unterbrach ihn der Bettler, „sondern nur zu teilen.“
     Nö, sah’s Krauz nicht ein;  zunächst!  Denn als ihm der Bettler empfahl, es eben bleibenzulassen, tat’s der Prinz dann doch.  Und siehe:  Beide wurden satt, und es blieb sogar noch was übrig!
     Das gefiel dem Prinzen, und nun brauchte der Bettler nur noch zu empfehlen, Krauz möge jetzt weiterfahren;  denn also?  Also stieß das bei Krauz wieder auf die bekannte Ablehnung.  Zwar stellte er zunächst Pferde und Kutsche beim nächsten Bauern unter, aber dann machte er was?  Er ging mit jenem Bettler auf die Walze.  Sonderbar, daß sie dabei beide der Residenz jener Prinzessin näher und näher kamen.  Und sonderbar: Wann immer sie ihr Brot teilten, wurden alle satt, und es blieb übrig.  Ja, noch mehr: Es steckte an!  Freilich – wer’s mit Berechnung tat, den sättigte es nicht;  wer’s aber von Herzen teilte, der erlebte –
     „Was hat das aber jetzt alles mit Euch und der Kirche zu tun?“ konnte sich Donna Schüchtner nicht länger zurückhalten.
     „Was es dir gibt“, antwortete der Alte rätselhaft und sein Gerücht bestätigend.  „Herzlichkeit!  Nicht Berechnung!  Jedenfalls verband jener Bettler unsern Prinzen durch Herzlichkeit mit sich;  und das in seiner doppelten Bedeutung.  Und als nach 3 Monden die beiden in der Residenzstadt jener Prinzessin einzogen, da läuteten wie von ungefähr die Glocken.  Nö, nicht zur Hochzeit, aber Krauz war es, als komme er nach Hause;  auch innerlich.  Und wann immer er später einer Bitte der Prinzessin mit einem Nö begegnen wollte oder einer guten Sache: Kaum dachte er an jenes Heimatgeläut, so ward’s in seinem Herzen warm und fertig zu allem Guten.  Und wenn sie nicht gestorben sind, –“
     Allein – die Besucherin war ihm inzwischen mal wieder abhanden gekommen;  vermutlich kopfschüttelnd und rechnend.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 5.12.2023

Qouz-Note: 3-

 

 

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MamM 1.193  Dementer

„Und wir sollen, so der Herr Pfarrer“, wußte Donna Schlafgut von der letzten Sonntagspredigt zu berichten, „sofort auflegen, wenn die Vergangenheit anruft und uns sprechen –“
     „Sollen?“ kam der Alte von der Halbinsel nicht an seinem Reizwort vorbei.  „Niemand soll etwas;  selbst die 10 Gebote lassen sich –“
     „Aber der Herr Pfarrer hat’s so gesagt“, beharrte die Besucherin, „im Namen Gottes, des –“
     „Was ist alles schon im Namen Gottes gesagt, getan und unterlassen worden!“ seufzte der Alte.  „Du brauchst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht zu mißbrauchen, sondern kannst ohne diesen Mißbrauch viel glücklicher leben.  Kein Wunder, wenn geistliche Würdenträger davor warnen, sich ihrer früheren Predigten zu erinnern.  Ein Aufruf zur Demenz in der Kirche?
     „Also ich muß schon sehr bitten!“ entrüstete sich Donna Schlafgut.  „Das sind ja wahrhaft Lästerworte wider –“
     „Wahrhaft?“ sann der Alte nach.  „Schon das Wort Demenz ist eine Beleidigung, denn es bedeute ursprünglich: Torheit, Unsinn, Wahnsinn.  Und – wer ist: Kirche?  Aber Vergeßlichkeit, – die gibt’s auch in der Kirche, und sie kann schaden, aber auch Gutes bewirken.  Deshalb wollen wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, sondern –“
     „Hat nun der Herr Pfarrer recht?“ wollte es die Besucherin auf den Punkt bringen.  „Oder hat er unrecht?
     „Welche Antwort ist bei Prüfungsaufgaben vermutlich fast immer richtig?“ fragte der Alte und löste selber auf: „Es kommt drauf an“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein Königssohn, der hieß – der hieß Querinus.  Die Querköpfe sind zwar unbequemer, aber mir oft lieber denn die angepaßten Trottel.  So mochten wohl auch des Prinzen Eltern gedacht haben, als sie ihn auf jenen Namen taufen ließen.  Und so ward der Prinz nicht mit dem Rohrstock erzogen, sondern durch Vertrauen und Beispiel und –,  nenn es Liebe, auch wenn die menschliche Liebe ihre Grenzen hat.  Antiautoritär war diese Erziehung gewiß nicht zu nennen, denn Autorität bedeutet: Glaubwürdigkeit.  Zu dieser Glaubwürdigkeit gehört es auch, die eigenen Grenzen einzugestehen und daß auch Eltern nicht mehr geben können, als sie haben.  Also?
     Also schickten Königin und König ihren Sohn auf Reisen, sobald dieser mündig war.  Tscha, ein bißchen besser hätten sie das schon vorbereiten können;  denn wer sich bisher in seinem Nest wohl gefühlt hat, fliegt nicht frohen Sinnes davon.  Gut, Querinus ließ anspannen, bestieg seine Kutsche, ergriff die Zügel, und los ging die Reise!  Los?  Wirklich los?  Nun ja, die Räder rollten, doch langsamer und langsamer.  Immer wieder blickte der Prinz sich um, und schon jetzt band ihn Heimweh.  Die Pferde wußten nicht, was sie von solchem Kutschieren zu halten hätten.  Natürlich waren sie nicht so blöd, gegen einen Baum zu rennen;  aber da der Prinz nicht so richtig achtgab und mit den Zügeln immer wieder fehllenkte, sobald er sich umdrehte, kam es, wie es kommen mußte: Die Kutsche schleuderte in einen Graben und kippte um.
     Querinus kam mit dem Schrecken davon, die Kutsche jedoch mit zerbrochenen Rädern und der Hilfe von Dienern.  So mußte der Prinz nach Hause zurückkehren: beschämt!  Allein – für ein Muttersöhnchen wollte er nicht gelten;  deshalb ließ er am nächsten Morgen ein Pferd satteln, stieg auf und ritt davon, ohne sich noch einmal umzusehen.  Wohin?  Immer der Nase nach!  Mal geradeaus, an einer Gabelung rechts;  und hatte der Weg zu viele Biegungen, so versuchte es der Prinz bei der nächsten Abzweigung wieder auszugleichen.  Erst recht im Wald.  Das Ende?  Kaum wollte die Sonne ihre Tageslaterne auslöschen, da kam dem Prinzen die Gegend sehr bekannt vor: Er war im Kreise geritten!
     Als Eltern und Sohn am Abend den Tag und den vorangegangenen bedachten, lernten sie daraus, einiges anders zu machen.  Die Mutter zeigte ihrem Sohn das Bild von einem Mädchen und fragte, ob ihm dieses gefalle.
     Seltsam, irgend etwas kam Querinus bekannt vor.  Ob so – ob so die Königin kurz vor ihrer Brautzeit ausgesehen habe?
     Nein, lachte die Königin, das Bild zeige nicht sie, sondern die Prinzessin Fioretta;  in fernen Landen und überhaupt nicht mit ihnen, also der Familie des Querinus, verwandt.  Ob er das Mädchen kennenlernen möchte?  Nein, nicht hier, sondern da müsse sich der Prinz schon selber auf den Weg machen.
     Und der König trug Karten und eine Kompaß herbei und lehrte seinen Sohn ihren Gebrauch.  Und weil er mit Kutsche und Pferden keine glücklichen Erfahrungen gemacht hatte, ließ sich Querinus am nächsten Morgen von 2 Braunen des Königlichen Hofschuhmachers tragen.
     Das war eine Wanderung!  Wer das Wandern kennt, weiß: Irgendwann kommt eine Zeit, da möchtest du am liebsten umkehren.  Insbesondere wenn der Himmel seine grauen Vorhänge zugezogen hat und den Farben auf der Erde somit das ungetrübte Sonnenlicht fehlt und Felder und Wälder, Wiesen und Gärten Todestrauer tragen.  Und wenn dann auch noch die Vögel schweigen, kein Bächlein von Geheimnissen murmelt, dann helfen dir nur deine Lieder.  Nicht die Heimatlieder, denn sie bereiten dir nur deinen Heimweg;  nein, die fröhlichen Lieder deiner Kindheit.
     Hast du schon mal mit der Singdrossel um die Wette gesungen?  Mit Meister Specht gelacht?  Die Nachtigall zum Abendlied gelockt?  Nun, Querinus verstand sich darauf;  und ob er nun pfiff oder sang, auf jeden Fall, nein, Gang, zog Freude in sein Herz;  und – neuer Mut.
     Es gab ja auch so viel Neues zu entdecken!  Bisher unbekannte Pflanzen;  bisher unbekannte Tiere;  bisher unbekannte Menschen.  Menschen, die den Prinzen abstießen;  Menschen, zu denen es Brücken gab;  aber auch Menschen, die ihn umgarnen und binden wollten.  Da war es gut, wenn Querinus das Bild seiner Eltern hervorholte;  nicht äußerlich, sondern in seinem Herzen.  Wie sie lebten;  wie sie ihm vertrauten;  wie sie ihm Mut machten, sich nicht vereinnahmen zu lassen.  Aber nicht nur das Bild, sondern auch eine wundersame Stimmgabel.  Denn redete jemand mit dem Prinzen, dann schlug dieser jene Stimmgabel an.  Entstand dadurch ein Mißklang, war Querinus auf der Hut;  verbanden sich die Töne aber in Harmonie, dann faßte unser Prinz –
     „Und was hat das alles mit der Ermahnung der Herrn Pfarrers zu tun?“ konnte sich Donna Schlafgut nicht länger zurückhalten.
     „Machen wir doch aus Gebot und Ermahnung“, schlug der Alte vor, „einen Ratschlag und aus diesem einen Wunsch.  Wir wünschen unserem Prinzen, daß er im Gedenken an seine Eltern nie vergaß, welches Geistes Kind er war, und in seiner Ehe mit jener Prinzessin dieser nie nachtrug, was sie an Lieblosigkeit hatte fallenlassen;  und ähnlich wünschen wir’s auch –“
     Aber der Alte war inzwischen wieder allein und nahm sich fest vor, es niemandem nachzutragen und sich an diesen Vorsatz möglichst stets zu erinnern.
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Qouz-Note: 3-

 

 

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MamM 1.194  Nachtmeister Stropp im Frühlingserwachen

„Was macht eigentlich unser Nachtmeister Stropp?“ werd’ ich immer drängender gefragt.  „Was machen unsere Freunde?
     Immerhin: Ganz vergessen zu sein scheinen sie nicht.  Kennst du sie noch alle mit Namen?  Des Nachtmeisters Eheliebste?  Richtig!  Frau Struppe.  Seine treue Lernkraft, unser kleiner Bär?  Richtig!  Bruhno.  Der Maskierte, der Waschbär?  Richtig!  Wastel.  Und die liebe Schildkröte?  Richtig!  Emma von Nowotny.  Nur beim Friedensrichter muß ich dir wohl ein wenig helfen, denn Füchse regieren – in der letzten Zeit – nur ein Jahr.  Da ist also nicht mehr Reineke XXII. an der Macht, sondern –?  Richtig!  Reineke XXIII.  Jedoch – an der Art des Regierens hat sich kaum –  Nun ja, nehmen wir uns unseren Nachtmeister zum Vorbild;  hat er jemals über die heutige Jugend gejammert?  Das bringt doch nichts!  Freilich – ich weiß es ja aus eigener Erfahrung: Einfach ist es nicht, unter einem jungen Spund zu dienen;  denn dieser ist anfangs meist sehr unsicher und wittert hinter jeder Kritik gleich Aufruhr und Empörung.  Und selbst wenn er so viele Reformen plant, eines will er unbedingt beibehalten: Respekt als einseitiges Schuldverhältnis.  So auch hier und heute!
     In tiefem Frieden saßen frühmorgens unsere 2 Freundinnen und unsere 3 Freunde gerade bei ihrem Spätstück, da wurden sie jäh durch eine heisere Stimme gestört.
     „Was seid ihr nur für ein faules Pack!“ ging die Schimpfkanone los.  „Pack, jawoll!  Seid nicht zu meinen Krönungsfeierlichkeiten erschienen!  Keiner von euch!  Was?  Wie?  Euch, jawoll!  Majestätsbeleidigung!  Hochverrat!  Was sag’ ich –“
     „Blödsinn!“ rutsche es unserem Bruhno heraus.
     „Was?“  Dem neuen Friedenrichter blieb fast die Spucke weg.  „Was hab’ ich da gehört?
     „Jedenfalls keinen Blödsinn“, versuchte Frau Struppe in ruhigeres Fahrwasser zu lenken.  „Möchtet Ihr Euch nicht zu uns setzen und –?
     „Etwa zu Mäusefilet, – erwildert oder gestohlen?  Was?  Wie?  Gestohlen – das ist überhaupt das richtige Stichwort!  Erst meiner Krönung und Thronbesteigung fernbleiben und –“
     „Wir waren doch im Winterurlaub“, rechtfertigte sich unser Stropp.  „Hat’s Euch nicht Euer Vorgänger gesagt, daß das hier so Sitte –“
     „Was geht mich das Geschwätz von gestern an?“ fragte der Fuchs verneinend.  „Es ist Klage an meine Ohren gedrungen, daß der Eierklau wieder umgeht.  Muß ich mich denn um alles selber kümmern?  Kümmern, jawoll!  Wozu haben wir einen Nachtmeister!  Aber ich werde euch noch Beine machen!  Beine machen, jawoll!  Ich geb’ Ihm bis zur Zeitenwende Zeit, diese schändlichen Verbrechen –“
     „Ihm?“ zeigte sich Bruhno etwas übertrieben begriffsstutzig.  „Dem Eierklau?  Und wann kommt die Zeitenwende?"
     „Zeitumstellung“, verbesserte die Igelin.  „Er hat sich versprochen und meint –“
     „Ich habe mich noch nie versprochen!“ nahm’s Reineke XXIII. krumm.
     „Also weder verheiratet noch verlobt“, murmelte die Igelin vor sich hin, doch etwas zu laut.  Noch Junggeselle!  Unerzogen!  Das hat uns gerade noch –“
     Kann sich ein Rotfuchs noch röter färben?  Vor Zorn?  Darauf wollte es unser Igel nicht ankommen lassen und griff zu einer bewährten Taktik: Ablenkung!
     „Wer hat denn den Eierdiebstahl bei Euch gemeldet?“ fragte er.  „Jemand vom Hühnervolk?
     „Nein“, ließ der Friedensrichter das Gefühl der Überlegenheit sich genußvoll ausbreiten, „die haben zuviel Angst vor mir.  Nein, ein gewisser Sör Meckpai, anscheinend heimatvertriebener schottischer Adel –“
     „Kenn’ ich gar nicht“, mußte unser Held zugeben.  „Da sie Eier legen, muß es sich höchstwahrscheinlich um Vögel –“
     „Älteste“, sonnte sich der Fuchs weiter.  „Aber was weißt du kleiner Knirps –“
     „Meint Ihr etwa Elstern?“ war bei unserer Frau Struppe die Hilfsbereitschaft ausgeprägter denn die Neigung, eine beleidigte Leberwurst zu spielen.
     „Sagte ich doch“, besaß Reineke XXIII. anscheinend die große Schwäche, selbst eine kleine Schwäche nicht zugeben zu können.  „Ich versprech’ mich nie!  Also, Stropp, bis Sonntag hat Er den Eierklau unterbunden.  Unterbunden, jawoll!  Oder Er kann stempeln gehen, und zwar im Ausland!“
     Immerhin gelang es unserem Stropp wenigstens, durch geschickte Fragen die angeblichen Tatorte näher einzugrenzen.  Freilich – Elstern sind keine Eulen, sondern pflegen der Nachtruhe.  Deshalb kam es erst am nächsten Morgen zu einer Begegnung mit den mutmaßlichen Opfern.  Dabei stellte sich erheblicher Korrekturbedarf ein.  Die Elstern gaben zwar wirklich vor, zu altem schottischen Adel zu gehören, doch als unser Held sie dann bat, ihren Namen zu buchstabieren, konnte er sich eines Grinsens nicht erwehren und dachte sich sein Teil.  Tscha, außerdem stellte sich heraus, daß die Elstern noch gar keine Eier gelegt hatten, also noch gar nicht bestohlen worden waren.  Das Nest war noch gar nicht fertig.
     Aber jeden Morgen käme der Dieb vorbei, rechtfertigten die beiden Vögel ihre Strafanzeige, und schaue nach, ob er bereits Eier stibitzen könne.  Wehret den Anfängen!  Wenn die armen Kinderchen erst tot seien, könnten sie durch niemanden mehr lebendig gemacht werden.
     Auch hier dachte sich unser Igel sein Teil, da er mit Elstern in all den Jahren so seine Erfahrungen gemacht hatte.  Mißlich war jedoch der Umstand, daß der sogenannte „Dieb“ nicht nachts komme, sondern in den späten Morgenstunden.  Also?  Also bedeutete das für unseren Nachtmeister: kostbaren Schlaf zu opfern.  Auch für Bruhno.  Und für Wastel ebenso;  denn der Weg zum, ja, eigentlich erwarteten Tatort war weit.
     Allein – dem sogenannten „Dieb“ dann zu begegnen, das war gar nicht so schwer;  allerdings nicht auf Augenhöhe.  Denn Johannes Johanssohn traute dem Frieden nicht so recht und war nur bereit, sich von einem Baum aus mit unseren Freunden zu unterhalten.  Und wieder mußte etwas richtiggestellt werden.
     „Stellt euch vor“, erzählte unser Stropp den beiden Damen zu Hause, „das Eichhörnchen hatte sogar vorgehabt, die Eier zu bezahlen.  Wahlweise mit Bucheckern, Zapfen, Eicheln oder Nüssen.  So mache er es auch am Futterhäuschen, das jener Dichter aufgestellt hat und versorgt.  Na ja, die Elstern waren nun nicht gewillt, Bäume auszubrüten;  aber ich konnte wenigstens eine Einigung vermitteln.  Johannes läßt das Nest in Ruhe, und die Elstern verpflichten sich im Gegenzug, selber auch nicht auf Nestraub auszufliegen.“
     „Das ist ein geschickter Kompromiß“, lobte die Eheliebste, „aber – wem ist heute noch zu trauen – außer euch, meine Lieben!“
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 29.11.2023

Qouz-Note: 3

 

 

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MamM 1.195  Der schwarze Graf

„Versteht –“, druckste Donna Engstner herum, „versteht Ihr euch auf das Deuten vorn Träumen?
     „Nein“, schien der Alte von der Halbinsel sich abgrenzen zu wollen, „das wäre mir wesensfremd.  Ich deute keine Gleichnisse, keine sonstigen Bibelsprüche und eben auch keine Träume.  Allein – hast du’s mal bei deinem Seelsorger –“
     „Der meinte nur, ich solle zum Arzt gehen“, konnte die Besucherin kein Erfolgserlebnis berichten;  „als ob ich nicht ganz dicht –“
     „Wenn es dich aber belastet, –“
     „Das schon“, räumte Donna Engstner ein.  „Deshalb bin ich ja zu Euch –“
     „Dann erzähl mir deinen Traum“, ermunterte der Alte, „und wir können uns zumindest darüber austauschen, was er uns gibt.  Bitte –“
     „Also“, sammelte sich die Besucherin schnell, „ich stand vor Gericht.  Als Angeklagte.  Und mein Schuldbuch wurde aufgeschlagen.  Darin war Tag für Tag und Augenblick für Augenblick verzeichnet, wann ich gegen die 10 Gebote verstoßen hatte.  Selbst, wenn ich anderen Menschen Zeit gestohlen hatte.  Oder andern Menschen deren Leben nur um Minuten verkürzt hatte, sei’s durch Kränkung, sei’s durch Ärger.  Aber es ging noch weiter: Auch wo und wann ich andern hätte helfen können, stand dort verzeichnet, und wäre es nur ein Lächeln gewesen, ein Händedruck, ein Gruß.  Aber das war noch nicht alles.  Auch ererbte Schulden waren dort eingetragen;  denn, so wurde mir gesagt, wenn ich von meinen Vorfahren Vermögen geerbt hätte, so hätte ich damit auch ihre Schulden übernommen.  Aber das wußte ich doch gar nicht.  Und kaum etwas, was dort als meine Schulden verzeichnet war, das hatte ich so gewollt.  Ich hatte doch nur getan, was alle tun und die meisten noch viel ärger –“
     „Kam es denn auch zu einem Urteil?“ fragte der Alte.
     „Das weiß ich nicht“, antwortete Donna Engstner, „denn ich bin plötzlich schweißgebadet aufgewacht.  Und nun frag’ ich Euch: Was soll mir dieser Traum –?
     „Nichts soll etwas sagen“, erwies sich der Alte bei diesem Reizwort als schlechter Psychologe.  Denn anstatt weiter geduldig zuzuhören und nachzufragen, begann er zu erzählen:
     Es wär’ einmal eine Prinzessin, die – die hieß Juttata.  Na, du kannst dir sicher schon denken, daß sie kein stilles Mauerblümchen war, sondern ein echter Wildfang.  Da sie aber herzig anzusehen war, konnte jedermann sie gut leiden;  und das sogar wörtlich, wenn sie mal was „versehen“ hatte.
     Nun ereignet sich bekanntlich ja vieles in unserer Kindheit, an das wir uns später nicht mehr erinnern können oder das mit den Berichten anderer verwoben und verändert wird.  Aber ein Ereignis vergaß unsere Juttata nie mehr:
     Im Schloßgarten wurde ein besonderes Fest gefeiert, und viele Vornehme waren geladen und auch gekommen.  Für Juttata waren die alle unwichtig, denn mit ihnen konnte sie nicht spielen.  Das konnte sie aber mit dem Sohn des Schloßgärtners.  Tscha, und dabei geschah es: Der Gärtnerssohn stolperte und – fiel in den Schloßteich;  und das so unglücklich, daß er zu ertrinken drohte.  Aber Juttata konnte nicht helfen, denn das Schwimmen hatte sie noch nicht gelernt.  Deshalb lief sie in Windeseile zum höchsten geistlichen Würdenträger unter den Gästen, dessen Rang ich besser verschweige.
     Weshalb?  Weil er sich zwar sehr repräsentativ, aber auch recht sonderbar verhielt.  Denn statt zum Schloßteich zu eilen und hineinzuspringen, erhob er sich zu voller Größe und begann, ein langes Gebet zu sprechen.  Und zwar streng nach der Reihenfolge, die er auch in seinen Predigten zu lehren pflegte: zuerst ausführlicher Lob und Preis der Allmacht Gottes, dann eine Menge Dankeswörter –
     Aber das wartete unsere Juttata nicht mehr ab, sondern beherzt sprang sie zum obersten Minister unter den Anwesenden.  Der lächelte sogleich lang und breit übers ganze Gesicht, nahm das Mädchen auf den Arm und zeigte sich strahlend den Zeitungszeichnern, um mit einem guten Abbild viel Ehre einlegen und sich als großer Kinderfreund auslegen zu können.  Als aber unsere Juttata auf rasches Handeln drängte, lachte der oberste Minister nur über soviel kindliche Einfalt und versuchte dem Mädchen den Weg der Ordnung zu erklären: Erst müsse ein Antrag gestellt werden, dann sei dieser zu prüfen, und wenn er bewilligt worden sei, dann müßten die entsprechenden ausführenden Kräfte gesucht, geschult und –
     Mehr hörte unsere Juttata nicht mehr.  Völlig verzweifelt rannte sie zurück zum Schloßteich und – brauchte nicht ins Wasser zu springen, obwohl sie’s gewiß getan hätte.  Ihr Spielgefährte stand bereits auf dem sicheren Ufer: sehr naß, aber ansonsten wohlauf.  Der schwarze Graf sei in den Teich gesprungen und habe ihn, den Gärtnersjungen, gerettet;  und das bereits, kurz nachdem Juttata weggerannt sei.  Der Graf sei längst fort, um Decken und Handtücher bringen zu lassen, und dann gewiß weiter, um sich selber –  Aber da kamen auch schon Gärtnerin und Gärtner mit allem Notwendigen gelaufen.
     Der schwarze Graf?  Der hatte dem Jungen das Leben gerettet?  Juttata verstand die Welt nicht mehr.  Einen guten Ruf hatte der ganz und gar nicht!  Er sei ein arger Schürzenjäger, wurde über ihn getuschelt.  Weshalb das etwas Schlimmes sei, konnte die Prinzessin nicht sagen.  Ob er diese Schürzen etwa stahl?  Aber das hatte Juttata doch mitbekommen: Sobald sich der schwarze Graf einer Frau zuwandte, wurde er von dieser angehungert, nein, angeschmachtet hieß das;  indessen die anderen über ihn zischten wie Einweckgläser beim Öffnen.  Und die Männer?  Die mieden den schwarzen Grafen alle wie die Pest, und niemand wollte mit ihm gesehen werden, erst recht nicht, wenn Zeitungszeichner in der Nähe waren.
     Jahre gingen ins Land und schrumpften zu Erinnerungen, ja, wurden für die Prinzessin viel kleiner denn jenes Erlebnis am Schloßteich.  Das lag auch daran, daß sie alle Nachrichten sammelte, die sie über jenen Grafen gewinnen konnte.  Nachrichten!  Denn eine Begegnung mit ihm hatte sie in all den Jahren nicht.
     Doch aus Nicht-Haben wird zuweilen ein Sein.  So auch bei Juttata, die dazu den Weg des Werdens wählte.  Dessen Pforte heißt –?  Richtig!  Wollen!  Unsere Prinzessin wollte so werden wie jener Graf;  nicht wie jener geistliche Würdenträger und erst recht nicht wie jener – jener Hofschranze.
     Tscha, kommt der Meister nicht zu seiner Jüngerin, muß sich die Jüngerin auf den Weg machen;  und das tat sie schließlich.  Dabei kam sie in eine sonderbare Stadt, nämlich die des Todes und des Lebens.  Die dortigen Einwohner waren alle eigenartig geschminkt und gekleidet.  Schien die Sonne, so glänzte, ja, blendete alles an ihnen, wärmte aber nicht.  Wurde es dunkel, so vermochten auch die Leute nicht zu leuchten.  Kurz: Ständig paßte sich ihr Äußeres an ihre Umgebung an.  Dabei war’s Juttata, als gehe von ihnen ein Geruch der Verwesung aus, mochten sie noch so sehr glänzen.  Da aber trat plötzlich mitten unter sie: ER, der schwarze Graf!  Nicht glänzend, nicht blendend, aber wärmend.  Und in allen, die in seine Nähe kamen, belebte sich, was noch nicht verwest war.

     Und nun zu deinem Traum.  Erkenntnis weist Schuld zu und stößt immer wieder an die Grenzen der Gerechtigkeit.  Macht das barmherzig?  Leben ist das jedenfalls nicht.  Leben heißt: werden und – sein.  Ich wünsche dir und –
     Jedoch die Besucherin war inzwischen gegangen und hatte – Ungeduld gesammelt.
© Stiftung Stueckwerken, freigegeben am 4.12.2023

Qouz-Note: 3-

 

 

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MamM 1.196  Nachtmeister Stropp im Osterfrieden


Ostern, das fröhliche Fest, war gekommen!
Kühl wehten die Winde
übers Land;  in Nächten der Frost
oft tat noch bedecken
Täler und Ecken, doch tat die Sonne
munter erwecken
Glockenläuten lieblich aus Blumen,
begleitet durch Brummen,
hier und da durch singende Vögel
und gurrende Tauben.
Stropp, unser Nachtmeister, hatte geladen
seine Freundinnen,
Freunde, zu feiern fröhlich
ganz sorglos und frei
als Kam’raden.
Viele liebe Gesellinnen und Gesellen,
sie kamen:
Wachtel, der Waschbär, Bär Bruhno,
die Schildkröte Emma, viel’ Vögel,
auch Johannes Johanssohn,
Eichhorn trefflichen Standes;
alle Namen zu nennen,
Wissen, Kraft mir’s versagen.

 

     Selbstverständlich hatte auch Frau Struppe geladen, doch sozusagen als starke Frau und treibende Kraft hinter ihrem Eheliebsten.  Und als diejenige, welche die meiste Arbeit hatte.  Gut, unseren Igel hatte sie bei der Gehma’ angestellt und seinen Assistenten Bruhno auch, aber Verantwortung, Ordnen und harmonisch’ Verbinden aller Hilfe oblag ausschließlich der tüchtigen Igelfrau.
     Freilich – ein kleiner Wermutstropfen fiel schon in den Freudenwein;  denn aus des Igelpaares zahlreicher Nachkommenschaft war niemand erschienen.  Nö, sie hätten ja inzwischen selber Familie, entsprechend auch Schwiegereltern;  jedoch Eltern und Schwiegereltern gleichzeitig zu besuchen, das ginge nun mal nicht;  deshalb wollten sie niemanden bevorzugen oder benachteiligen und blieben an den Festtagen zu Hause.  Tscha, Eltern und Großeltern kennen solche Reden;  aber wie wir bereits wissen, war unsere Igelfamilie dennoch nicht einsam.
     Und die Ostereier?  Tscha, hätten Igelin und Igel zur Ostereiersuche geladen, wären viele Vögel gewiß nicht gekommen.  Ja, ich weiß, es gibt auch schräge Vögel, die Eier nicht verschmähen, aber immer nur die von andern.  Auch Eichkater Johanssohn hätte sich gerne zum Eierschmaus geladen gesehen;  aber unsere Igelin war doch des Backens sehr kundig und wußte Köstlichkeiten auch ohne Ei zuzubereiten und aufzutischen.
     Wer aber nicht erschienen war: Lady und Sir MacPye, die beiden Elstern.  Eingeladen waren sie schon gewesen;  aber erstlich seien sie noch immer mit dem Schloßbau beschäftigt, was keinen Aufschub dulde und nicht delegiert werden könne, hatten sie dankend abgelehnt, und 2. seien Ostern ohne Eier für sie keine richtigen Ostern.
     Diese unvogelige Einstellung wurde auch bei der Festgesellschaft zur Sprache gebracht.
     „Jeder nach seiner Façon“, gab sich der Eichkater liberal und tolerant.  „Der Herr Pfarrer pflegt zu sagen: Alles, was durch Gott geschaffen wurde, darf das Tier auch –“
     „Mörder!“ schimpften die anwesenden Vögel einhellig.
     Und unser Bruhno zeigte sich als Kirchenskeptiker und fragte: „Auch Gift?
     Jedenfalls mußte sich unser Stropp mächtig ins Zeug legen, den Haus- und Festtagsfrieden wiederherzustellen;  doch erfolgreicher war hierin Frau Struppe, denn wer miteinander ißt, kann indessen nicht gegeneinander kämpfen;  und wer sich hinterher voll und satt fühlt, wird keinen Krieg beginnen, solange dieses Gefühl anhält.
     Allein – es ist schon merkwürdig, welchen großen Einfluß auf eine Feier die Abwesenden ausüben.  So auch hier!  Die Elstern blieben Hauptgegenstand der Unterhaltung.
     „Da müßte mal der Arm des Gesetzes durchgreifen“, forderten die einen, „und mit diesem Mordsgesindel kurzen Prozeß machen!“
     „Zumindest einsperren!“ forderten andere.
     „Oder ausweisen“ forderten wieder andere.
     „Och“, meinte Johannes, „ich halt’ mit denen guten Frieden.  Ihr braucht lediglich ebenfalls einen Nichtangriffspakt mit –“
     „Glaubst du etwa, daß diese Schurken so was einhalten?“ zweifelten die anwesenden Vögel sehr.
     „Du wirst dich noch umgucken!“ prophezeite der Stieglitz aus leidvoller Erfahrung und wurde vor Eifer rot im Gesicht.  „Wart’s nur ab, wenn deine Frau Eier gelegt –“
     Doch ehe der Eichkater den kleinen Vogel verspotten und blamieren konnte, ging unser Nachtmeister unerschrocken dazwischen und fragte in die Runde, wer sich denn alles von Lady und Sir MacPye bedroht fühle und um Kinderleben bange.
     Da meldeten sich immerhin einige Vögel und gestanden ihre Ängste ein.
     „Gut“, nahm’s unser Held zur Kenntnis, „ein einziges Paar wäre schon genug gewesen.  Da müssen wir also die beiden Elstern mal ein bißchen in die Schule nehmen.  Und ich hab’ da auch schon einen  Plan.  Jedoch – bis dieser greift, wird’s naturgemäß noch ein paar Tage dauern.  Also möcht’ ich unsern lieben Herrn Johanssohn bitten, sich unserer lieben Vögel ein wenig anzunehmen;  denn ich kann leider nicht mehr auf Bäume –“
     „Ich?“ stellte sich der Eichkater ablehnend.  „Wie komm’ ich dazu?  Soll ich etwa auf den Genuß von leckeren Eierspeisen gänzlich verzichten?  Was?  Wie?  Das ist gegen alle althergebrachten guten Sitten!  Jede Dienstleistung hat ihren Preis, und ich fordere ein ganzes Schock frische Vogeleier.  Was hab’ ich sonst davon?
     „Daß du in der Vogelwelt beliebt wärest“, antwortete unser Igel.  „Ist das nichts?  Sie täten dir Ständchen bringen – von Herzen, wenn du dich endlich von der erkältenden Einstellung verabschiedetest: Eine Pfote wasche die andere;  und darben müßtest du auch nicht.“
     Nun ja, Herr Johanssohn wollte es mal versuchen;  aber du wartest gewiß schon begierig auf einer drängenden Frage Antwort: Was war das für ein Plan, den unser Stropp hatte?
     Tscha, du kommst nicht drauf;  denn unseres Nachtmeisters Scharfsinn ist nun mal einzigartig.  Erinnerst du dich noch an Frau Gaucha?  Unser Held tat es sehr wohl, beraumte einen Betriebsausflug an, und dann begannen konkrete Vorbereitungen.  Da mußte ein weiteres Nest gebaut werden.  Wieso?  Na, um Eier hineinzulegen, auszubrüten und Junge großzuziehen.  Und so kam es, daß der Klapperstorch das Nest von Lady und Sir MacPye bedachte, aber auch jenes weitere Nest;  und zwar in beiden Nestern sowohl mit jungen Elstern als auch mit Kindern von Frau Gaucha.  Gut fanden das die Elsterneltern zunächst zwar nicht, aber was konnten sie dagegen machen?  Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich mit Frau Gaucha über die Aufzucht von Elstern und Kuckuckskindern auszutauschen;  und Frau Gaucha hielt ganz und gar nichts von Eierspeisen!
     Folglich bekam nicht nur Johannes Johanssohn ein Ständchen, sondern – auch unser Igelpaar: Nachtmeister Stropp und seine tüchtige Eheliebste, die sich so wunderbar ergänzen.
© Stiftung Stueckwerken, freigegeben am 4.12.2023

Qouz-Note: 3-

 

 

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MamM 1.197  Kommt ein Henker in den Himmel

„Darf ich Euch einmal was fragen?“ wußte Donna Phodite nicht, was sie redete.
     „Nur zu“, ermunterte der Alte von der Halbinsel, konnte es jedoch nicht unterlassen, seiner Eitelkeit zu frönen: „Wie lautet denn deine 2. Frage?
     „Wie –“, zögerte die Besucherin, „wie stellt Ihr Euch den Himmel vor?  Sind – sind da etwa auch Henker?  Also, als Gegnerin der Todesstrafe, da – da wäre für mich so etwas völlig ausgeschlossen.  Das wäre für mich –“
     „Was tut eigentlich ein Henker?“ ließ der Alte Blütenstaub wehen.
     „Er führt Todesurteile aus“, brauchte Donna Phodite nicht lange zu überlegen, „und verdient damit –“
     „Er trennt also einen Menschen“, faßte der Alte zusammen, „von den anderen Menschen, die auf dieser Erde leben;  endgültig?
     „Na, ja“, hielt sich die Besucherin nicht für allwissend, „wie’s drüben aussieht, wissen wir nicht.  Früher wurde ja in unserer Kirche gelehrt: Diebe kämen in des Bereich der Diebe, und Mörder –“
     „Fataler Unsinn!“ unterbrach der Alte.  „Aber noch einen Gedanken von dir will ich aufgreifen und etwas erweitern: Der Henker führt das Urteil anderer aus.  Gibt es also für eine Hinrichtung eine Alleinschuld?  Gar einen Alleinschuldigen?
     „Aber eine Mitschuld“, gab sich Donna Phodite nicht geschlagen, „und die wiegt so schwer, daß –“
     „– ich als Mensch hingehen darf“, ergänzte der Alte, „einen solchen Menschen für immer vom Himmelreich auszuschließen?  Und das sogar ohne rechtskräftiges Urteil?  Wäre solch ein Henken nicht viel –“
     „Moment!“ wollte die Besucherin diesem Gedankengang nicht folgen.  „Ihr vergeßt das Jüngste Gericht, wo Gott –“
     „– alle Menschen auf seine Liebe ausrichten wird“. lenkte der Alte um, „selbst diejenigen, die henkend tätig waren, selbst diejenigen, die solche Tätigen für immer henken wollten“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein Reichsgraf, der – der hieß Grebenbrück;  also von Grebenbrück, wenn du’s mit Titeln genau nehmen willst.  Und dieser Graf dachte, er täte seinem Kaiser einen großen Dienst erweisen, wenn er in seiner Grafschaft für Zucht und Ordnung sorge.  Ja, vielleicht hoffte er, auf diese Weise sogar eines Tages zum Herzog erhoben werden und auf der Fürstenbank aufrücken zu können.  Wie aber konnte er für Zucht und Ordnung sorgen?
     Nun, als erstes erinnerte er sich an einen Ausspruch, daß Ruhe die oberste Bürgerpflicht sei.  Also?  Also waren alle abzutun, die diese Ruhe störten.  Nein, nicht durch Hinrichten;  es reichte, diese Unruhestifter auszuweisen.  Sollten sie doch ihr Unwesen im Ausland weitertreiben!  Hauptsache, nicht in der Grafschaft Grebenbrück!  Zu diesem Zweck ernannte der Graf einen Minister für Ruhe und Ordnung, gab ihm einige Beamte zur Seite, und schon lief alles wie am Schnürchen.  Täglich gingen bei der Ministerialbehörde Briefe ein, meist anonym.  Und in diesen Briefen wurde angezeigt, wie und wo sich dieser oder jener unzufrieden geäußert habe gegen die Obrigkeit oder gegen althergebrachte Sitten.  Tscha, diesen Anzeigen wurde nachgegangen;  und erschienen sie berechtigt, mußten die Beschuldigten ihre Koffer packen und die Grafschaft für immer verlassen.  Na, was lehrt die Erfahrung?  Hast du erst einmal eine Behörde geschaffen, dann wird sie für ihr Weiterbestehen schon selber sorgen.
     Als zweites fiel es dem Grafen auf, daß die Richter in seiner Grafschaft Recht und Gesetz sehr unterschiedlich auslegten und oft ganz anders als er selber.  Er sprach auch mit solchen Andersrichtern ein paar ernste Worte;  aber wenn diese nichts fruchteten, wurden solche Fälle dem Ministerium für Ruhe und Ordnung übergeben und die Ausweisung eingeleitet.  Ja, du hast recht gehört: In der Grafschaft Grebenbrück stand jenes Ministerium noch über den Gerichten.
     Dennoch erfolgten die meisten Ausweisungen erst im Zuge der 3. Maßnahme: als es allen Übeltätern und Übertretern an den Kragen ging.  Dazu ließ der Graf zunächst an alle Haushalte jeweils ein Gesetzbuch verteilen, auf daß sich niemand mit eigener Unwissenheit rechtfertigen könne.  Und dann?  Dann mußten im Ministerium für Ruhe und Ordnung viele neue Beamtinnen und Beamte eingestellt werden.  Weshalb?  Weil eine Flut von Anzeigen einging.  Nein, keine Selbstanzeigen, sondern ein jeder nahm das erhaltene Gesetzbuch als Maßstab für – seine Nachbarn, seine Geschäftspartner, seine Angehörigen.  Sogar längst Vergangenes wurde wieder ausgegraben, mancher alte Lehrer wurde wegen einer ungerechten Note ausgewiesen, ja, zuweilen mußte die Behörde feststellen, daß der Angeschwärzte bereits verstorben war.  Die Folge?  Die Grafschaft entvölkerte sich;  und schließlich waren nur noch jene Beamtinnen und Beamten sowie der Graf übrig.
     Da geschah es eines Morgens wie von ungefähr, daß der Graf beim Rasieren etwas genauer in den Spiegel schaute.  Mit einem Mal gewahrte er dort einen Menschen, der andern Menschen deren Heimat gestohlen hatte.  Er gewahrte einen Menschen, der Ehen und Familien zerbrochen hatte, die mit etwas Zureden vielleicht noch hätten versöhnt werden können.  Er gewahrte einen Menschen, der andern Menschen das Herz eingefroren hatte.  Oder gab es etwa noch irgendwo in seiner Grafschaft Herzlichkeit?  Und da er keine fand, zeigte er sich selbst beim Ministerium für Ruhe und Ordnung an.  Die waren darüber nicht wenig bestürzt, aber nach Recht und Gesetz gab es nur eine Entscheidung: Der Graf mußte das Land verlassen.
     Grotesk, aber – folgerichtig und zu Ende gedacht.  Allein – wenn wir Menschen wähnen, es sei zu Ende, dann geht’s erst richtig –  Nun, der Graf wanderte also aus in das benachbarte Fürstentum und – traf dort viele Bekannte wieder: Unruhestifter, Andersrichter und Übeltäter und Übertreter.  Und niemand war ihm böse, sondern er wurde von allen Seiten beglückwünscht.  Wegen oder zu was?  Na, zu seiner Befreiung.  Befreiung?  So ganz begreifen konnte das der Graf anfangs nicht.  War er denn gefangen gewesen?  Freilich, sein Blick hatte sich – eigentlich bereits seit jener Selbstanzeige – gehoben, und er war nicht mehr so gebeugt wie –
     „Aber was hat das alles mit dem Himmel und den Henkern zu tun?“ konnte sich Donna Phodite nicht länger zurückhalten.
     „Siehst du nicht die Weite?“ ließ der Alte keinen Vorwurf, sondern Begeisterung einfließen.  „In jenem Nachbarland diente die Fürstin Walttraut ihren Landeskindern.  Und wo immer dort jemand Gräben aushob, ließ sie eine Brücke darüber bauen, auf daß sich ihre Landeskinder von jenem Unsinn abkehrten.  Dem Graf kam’s von Tag zu Tag vertrauter vor.  Es war ihm, als wandere er nach Hause, komme dort wegen einer Dummheit ganz verschämt an, und die Mutter öffne plötzlich die Türe, als habe sie auf ihn gewartet.  Nicht, um ihn auszuschimpfen, nein, sie nähme ihn in ihre Arme, streichele zärtlich über seinen Kopf, und – alles war wieder gut.  Und in ihm reifte der Plan, wenn er zurückkehren dürfe oder sogar müsse, ein Ministerium für Gnade und Barmherzigkeit –“
     Allein – die Besucherin war inzwischen gegangen.
© Stiftung Stueckwerken, freigegeben am 4.12.2023

Qouz-Note: 3-

 

 

 

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MamM 1.198  Der hohe Turm und das Reich der Sonne

„Ihr kennt Euch angeblich gut in der Bibel aus“, ließ es Don Stäbrich offen, ob es als Kompliment gemeint war, „wie ist da die Offenbarung zu deuten?  Um das mal an einem Beispiel festzumachen: diese 7 Sendschreiben ziemlich am Anfang.  Früher wurde in unserer Kirche gelehrt, die 7 Adressaten stehen für 7 Epochen;  ja?  Aber heutzutage wird darüber kaum noch gesprochen.  Da wollt’ ich Euch ma’ fragen: Wie ist Eure Meinung dazu?
     „Meinung – das ist ein treffendes Wort“, griff’s der Alte von der Halbinsel auf.  „Über Meinungen läßt sich trefflich streiten, auch täuschen, aber Brücken werden durch solch einen Streit nicht gebaut, und die Wahrheit bleibt verpackt in Hüllen, die selber nicht die Wahrheit sind.  Wenn wir uns aber darüber unterhalten, was wir empfangen haben, dann ist das in der Regel wahr und kann uns alle bereichern.  –“
     „Das ist mir zu allgemein“, wollte sich der Besucher nicht ablenken lassen;  „was bedeutet das jetzt konkret für die 7 –?
     „Daß ich die Bibel nicht als Bilderrätsel auslege“, versuchte der Alte sich verständlich zu machen, „sondern sie ist mir wie ein Schatz, den ich nie vollständig heben kann, sondern der mir immer wieder neu –“
     „Aber die Bibel hat doch einen Zweck“, sah’s Don Stäbrich anders, „und den muß die Kirche durch Auslegung –“
     „Und muß diese Auslegung ständig ändern“, konnte es sich der Alte nicht verkneifen, „ohne ihre Irrtümer eingestehen zu wollen.“
     „Das klingt ja fast schon ketzerisch“, meinte es der Besucher eigentlich ohne: fast.
     „Danke“, faßte es dagegen der Alte als Kompliment auf, „daß du mich vom Vorwurf freisprichst, dem Opportunismus zu huldigen.  Allein – du siehst nun, wie schnell durch Meinungen Gräben entstehen – vor allem, wenn sie Menschen als Dogma aufgezwungen werden.“  Und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein Reichsgraf, also ein Fürst, der – der hieß Hugibert.  Der war nicht nur von Geburt sehr begabt, sondern hatte in seiner Kindheit und Jugend bedeutende Lehrer gehabt, die seine Begabungen weiterentwickelt hatten.  Joa, der Graf hatte wohl weit und breit nicht seinesgleichen.   Menschlich und verständlich, wenn solch ein großer Geist etwas schaffen will, was weit länger von Bestand ist, denn seine Erdenreise.  Er schrieb auch viele Bücher, um diesen Zweck zu erreichen;  aber wenn er in seine Bibliothek ging, dann – ja, dann blieb es auch ihm nicht verborgen, wie selten er zu alten Büchern griff und wie oft zu den neuen.
     Deshalb legte er sich auf etwas anderes: Er ließ einen Turm bauen.  Nein, nicht so einen schlanken Spargel, wie du’s von den Leuchttürmen kennst, sondern einen Stufenbau auf quadratischem Grundriß, von weitem gleich einem Pentaeder, also einer Pyramide mit 4 sichtbaren Dreiecken.  Der Vorteil einer solchen Anlage?  Nun, ihr konnte wohl selbst der heftigste Sturm nichts anhaben.  Außerdem konnte sie immer wieder aufgestockt werden.  Ja, aufgestockt!  Denn Hugibert war so genial, das Bauwerk in Stockwerke aufzuteilen und dort Wohnungen einzurichten.  Im obersten Stockwerk residierte selbstverständlich der Graf mit seiner Dienerschaft.  Nö, Frau und Kinder hatte er damals noch nicht.  Die anderen Wohnungen wurden als Gunst vergeben an Beamte oder für besondere Verdienste;  und je höher die Wohnung lag, desto größer galt die Auszeichnung.  Ach so, das Material!  Ja, keine Natursteine, sondern lauter gebrannte Ziegel;  und es grenzte fast an Zauberei, daß ein Stein dem andern glich – so künstlich, wie’s die Natur niemals schafft.
     Tscha, ganz oben residierte also der Graf und blickte auf sein Land hinab;  eigentlich Jahr für Jahr von höherer Warte.  Kleiner und kleiner erschienen ihm von oben sein Land und seine Untertanen.
     Sicher – anfangs hatte mancher versucht, ihn nachzuahmen, aber das hatte Hugibert immer gleich unterbinden lassen;  meistens mit dem Angebot einer Wohnung im Turm, notfalls durch Ausweisung.  Gefängnisse?  Nein, die brauchte sein Land nicht.  Denn je höher der Turm wurde, desto mehr Grundfläche beanspruchte er, so daß es opportun war, sich möglichst frühzeitig eine Wohnung in diesem Turm zu sichern.
     Opportun für alle?  Für die meisten.  Es gibt immer ein paar Querdenker, jedenfalls anfangs, die sich nicht einfügen wollen.  Und wenn die schließlich einsehen, daß sie als Außenseiter nichts bewirken können, passen sie sich zähneknirschend doch noch an oder – verlassen das Land.
     Anpassen!  Für Hugiberts Grafschaft ein zentrales Wort.  Denn ab dem 2. Stockwerk hatte in jenem Turm jeder mindestens einen Ober und mindestens einen Unter;  und so etwas diszipliniert ungemein.  Und die im untersten Stockwerk hatten immerhin die Hoffnung, möglichst bald aufzusteigen.
     Zurück zum Grafen!  Ihm wurden dort oben nicht nur die Menschen kleiner und kleiner, sondern auch Tiere und Pflanzen ferner und ferner.  Der Gesang der Nachtigall war dort oben schon bald nicht mehr zu hören;  und um sich im obersten Stockwerk an Blumen erfreuen zu können, mußten sie alle paar Tage geschnitten, hinaufgebracht und – ausgetauscht werden, so schnell welkten sie.  Und obwohl sich sein Horizont von Jahr zu Jahr weiter ausdehnte, ward dem Grafen mehr und mehr bewußt, daß ihm etwas sehr Wichtiges fehle;  aber was?
     In seinem Turm sann und sann er darüber nach und kam nicht drauf.  Sollte –?  Aber ein Herrscher soll nicht, sondern will.  Und wenn er’s hier oben nicht fand, dann wollte er es woanders suchen.  Zunächst mittels seiner Kutsche, aber der zerbrachen die Räder.  Also zu Pferde, aber das warf seinen Reiter ab, so daß dieser jenem nicht mehr vertrauen konnte und zu Fuß weiterwanderte.
     So kam er endlich in das Reich der Königin Helena;  das ist so weit, daß dort die Sonne nicht untergeht.  Und weil dieses Land so weit ist, sind die Straßen breit, und haben die Häuser eine so große Grundfläche, daß sie sich mit einem Stockwerk begnügen können.  Und dann immer wieder diese Buchenwälder!  Wenn der Graf sie durchquerte, kam er sich immer so klein vor.  Begegnete er dann den Bürgern dieses Landes, so konnte er auf diese nicht mehr hinabsehen, wie er’s in seinem Lande stets getan hatte.
     Da gelangte er eines Morgens in die Residenzstadt und mußte lange nach dem Schloß der Königin suchen, weil’s sich nicht durch eine hervorstechende Höhe –
     „Und was hat das alles mit den 7 Sendschreiben in der Offenbarung zu tun?“ konnte sich Don Stäbrich nicht länger zurückhalten.
     „Im Land jenes Grafen“, schien’s der Alte überhört zu haben, „war zumindest jener Turm viel höher, aber sonst alles begrenzt;  und wem’s zu eng war, der wanderte aus.  Im Reich der Königin Helena ist aber alles weit, und jede und jeder finden Raum, zu leben;  und das, ohne etwas vorzutäuschen.  Was aber kommt dem Himmel näher?  Was ist göttlicher?
     Jedoch – dem diese Frage galt, war inzwischen gegangen.
© Stiftung Stueckwerken, freigegeben am 4.12.2023

Qouz-Note: 2

 

 

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MamM 1.199  Nachtmeister Stropp und die Philosophie

Kommt er?  Oder kommt er nicht?  Und nicht allein, sondern –?  Emma von Nowotny wollte jedenfalls in diesem Jahr nicht mit.  Eine müsse nun mal auf Haus und Heim aufpassen;  und abenteuerliche Zugreisen seien nichts für standesbewußte Schildkröten.  Und die andern?
     Eigentlich wollten die schon, und auch in diesem Jahr heimlich im Gefolge des Schlendertünnes;  wörtlich, nicht als dessen Vasallen.  Doch wann würde der Schlendertünnes abreisen?  Das herauszufinden, das war in diesem Jahr gar nicht so einfach.  Gut, daß unser Igel mit den Treuherzigen aus der Vogelwelt auf gutem Fuße stand, statt auf blanker Felge zu fahren!  Denn – als alter Mann reiste der Schlendertünnes nicht gerne nachts, sondern am Tage, doch da geruht die Igelwelt zu schlafen;  aber nicht die treuherzige Vogelwelt.  Und so war es auch das Rotkehlchen, das an einem Frühlingstag aufgeregt unsere Freundin und Freunde weckte: Es habe den Schlendertünnes Richtung Bahnhof gehen sehen.
     Oh, weh!  Viel Zeit zum Packen blieb da nicht.  Igel über Kopf, nein, Rücken – ging es dank unseres Waschbären Richtung Bahnhof.  Allein – was hilft das höchste Tempo, wenn du in Altenstadt bist!  Die Altenstädter Bauwüter sind nämlich –?  Richtig!  Männlichen Geschlechtes.  Also fangen sie schon mal an, auch wenn sie noch nicht genau wissen, wie und wann alles fertig wird und welche Konsequenzen dieses Tun hat.  Die Folge?  Umleitungen!  Nun ja, aus anderen Städten und für Droschken kennst du es, daß dann rechtzeitig Schilder aufgestellt werden.  Nicht so in Altenstadt;  jedenfalls nicht für Fußgänger.  Hier stehen die Schilder erst unmittelbar vor der Baustelle;  plötzlich;  und ohne Hinweis auf Beginn und Dauer der Weg-Sperrung.  Pech, wenn du’s eilig hast und deinen Zug noch erreichen willst!  Jedenfalls langten unsere Freundin und Freunde an ihrem Zug in letzter Sekunde an;  leider nicht an dem Wagen, in dem der Schlendertünnes saß.  Um nicht aufzufallen, konnten sie diesen nicht suchen;  so bekamen sie nicht mit, was der Schaffner dem Schlendertünnes riet: Besser nicht in Môdernstadt umzusteigen, sondern erst in Krösenfurt.
     So verließen unsere Freundin und Freunde in Môdernstadt den Zug ohne den Schlendertünnes, sahen diesen nirgendwo, wähnten, er sei bereits auf dem Wege zum Anschlußzug und hetzten dorthin;  indessen fuhr der Schlendertünnes weiter gen Süden.  Nun ja, wäre alles nach Plan gelaufen, dann hätten sie den zu Beschattenden in Rasenheim wiedertreffen können;  jedoch – was läuft, besser: fährt, bei den VAuBb schon planmäßig?  Selbst die Schaffner stellen sich diese Frage fast täglich.  Ach so, VAuBb steht für Vereinte Armen- und Bummelbahnen.  Jedenfalls erreichten unsere Tiere jenen Anschlußzug, der nur mit einer Minute Verspätung losfuhr;  aber fast 3 Stunden später sei der Zug in einer Reparatur angekommen und angeblich gar nicht losgefahren.  Das widerspreche dem gesunden Menschenverstand und sei nicht wahr?  Ich hab’s jedenfalls schwarz auf weiß: Zug losgefahren, nach einer Stunde 5 Minuten Verspätung, nach einer weiteren halben Stunde 20 Minuten Verspätung, nach weiteren 20 Minuten 40 Minuten Verspätung, nach weiteren 20 Minuten nur noch 37 Minuten Verspätung, nach weiteren 20 Minuten 79 Minuten Verspätung sowie nach einer weiteren halben Stunde: Zugausfall und spurloses Verschwinden, als hätte es den Zug nie gegeben.  Dahinter bleibt selbst die Phantasie eines Mährchenerzählers weit zurück!
     Die Spuren unserer Freundin und Freunde?  Die finden sich erst wieder am Bahnhof Zwergenheim.  Irgendwie müssen sie dort hingekommen sein, vermutlich mit dem Monstener, einem ZwischenDorf-Zug in Montanien, der manchmal fährt, wenn er einen Lokführer gefunden hat.  Nun ja, artur ist eben nicht allwissend und vermutet, daß die 4 in all der Aufregung eine Station zu weit gefahren sind.  Nun ist aber die Gegend dort bekannt und berüchtigt für ihre Zucht- und Arbeitshäuser, wohin Provinzdirektorinnen und Schulzen jeden abschieben, den sie in ihrer Nachbarschaft nicht haben wollen.  Deshalb vermutete unser trefflicher Nachtmeister nicht ohne Grund, daß in Zwergenheim ein maskiertes Reittier Gefahr laufe, Verdacht zu erregen und kurzerhand eingelocht zu werden.  Also?
     Also verbargen sich unsere 4 bis zum Abend und erreichten erst nach Sonnenuntergang den Michelwald, ein Gehölz zwischen der Nikoläusa, der Menges und der Kithara, 3 gezähmten Wildbächen.  Du kennst sie nicht?  Aber die Waldbewohner kannten unsern berühmten Helden!  Denn kaum waren unsere 4 bis zur Mitte des Waldes gekommen, da wurden sie bereits angesprochen:
     Ob ER der berühmte Nachtmeister Stropp wäre, der im vergangenen Jahr jenseits der Grenze etliche Kriminalfälle gelöst und Frieden gestiftet hätte.
     Ach so, wer das fragte?  2 Tauben.  Die waren nämlich von einem Eichkater um ihren Lohn betrogen worden.  Er hatte sie  dazu verleitet, für ihn an einem Vogelhäuschen, also einem Futterhäuschen für Vögel, Schmiere zu stehen.  Weshalb?  Na, dort wollte er sich selber den Bauch vollschlagen.  Für jenen Dienst hatte er den beiden einen Schmierenlohn versprochen – in Naturalien: das, was er im Vogelhäuschen für sie übriglassen könne.  Nun, du ahnst es schon: Nach seinem Sologelage war natürlich nichts mehr für die beiden Komplizinnen übriggeblieben.  Deshalb baten sie unseren Igel, ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen.
     Nun ja, unser trefflicher Freund sah da doch einiges von einer anderen Warte, knallte aber seine Lebensweisheiten niemandem vor den Kopf, sondern erklärte sich feinsinnig dazu bereit, seinen Beitrag zu Ruhe und Frieden zu leisten, – so es möglich wäre.
     Nun will es aber das Mährchen, daß jener Übeltäter ganz plötzlich des Weges kam, und zwar derart gut aufgelegt, daß ihn kein schlechtes Gewissen zu plagen schien.  Jovial wünschte er allseits einen guten Abend und stellte sich gleich vor: Er sei John Gottlob Fichtner.
     „Ach, der berühmte Philosoph!“ äußerte unsere Igelin ihre Freude – nach weiblicher Weise: Wir haben zwar keine Ahnung, aber –  Na, du weißt schon.
     Und John?  Typisch Mann!  Der fühlte sich gleich gebauchpinselt und als erfolgreicher Frauenheld.  Ja, er habe reiflich über die Gerechtigkeit und dem Satz vom Wirken nachgedacht, aber leider gelte der Philosoph bekanntlich in seiner eigenen Heimat nichts.  Tröstlich, daß ihn wenigstens Fremde zu schätzen wüßten.
     „Und wie geht es Euch?“ fragte unser Stropp wie von ungefähr.
     „Hast es ja gehört“, wirkte der Eichkater gar nicht mehr so fröhlich: „Meine Philosophie hat mich zwar reich gemacht, mir hierzulande aber auch viele Feinde.  Und viel üble Nachrede!  Ich nehm’ sicher zu Recht an, die beiden Raubvogelimitate da haben kein gutes Haar an mir gelassen;  oder?
     „Der beste Beweis von Weisheit ist beständige gute Laune“, zitierte unser Stropp, „und von Reichtum, nicht viel zu nehmen, sondern viel zu geben.“  Deshalb empfehle er sowohl dem Philosophen als auch den Tauben, mal einen Versuch zu wagen: Alle 3 dürften aus ihren Vorräten und Gründen Körner herbeitragen, um jenes Vogelhäuschen neu zu bestücken, damit niemand darben müsse, der zur Zeit noch auf so etwas angewiesen sei.
     Und siehe da, es ließen sich im Michelwald Frieden und Freude nieder;  eine Zeitlang.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 29.11.2023

Qouz-Note: 3-

 

 

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MamM 1.200  Nachtmeister Stropp in Leidentheil

Du erinnerst dich noch?  Unser Stropp, seine gnädige Eheliebste Struppe, sein angehender Assistent Bruhno und der Waschbär Wastel waren zwar nach einer abenteuerlichen Reise in Montanien gelandet, aber leider am falschen Bahnhof ausgestiegen, nämlich in Zwergenheim.  Dort ist die Gegend jedoch für einen Maskierten sehr gefährlich, wenn er seine Freiheit behalten will, so daß es unsere Freundin und Freunde für ratsam gehalten hatten, sich tagsüber sehr vorsichtig und in Deckung vorwärts zu schleichen.  Auf diese Weise waren sie nach Sonnenuntergang in den Michelwald gelangt und hatten dort bereits das 1. Abenteuer erlebt: Unser Igel hatte Frieden zwischen einem Vogelhäuschenräuber, eh, Vogelhäuschenausraubenden und dessen 2 Komplizinnen gestiftet und sie dazu ermuntert, den betreffenden Futterplatz neu zu bestücken.  Zuversichtlich hatte ich damit geschlossen, daß sich nun im Michelwald eine Zeitlang Frieden und Freude niedergelassen hätten.
     Tscha, was ist eine Zeitlang?  Wie ich inzwischen erfahren habe, hätte ich wohl treffender sagen müssen: eine Zeitkurz.  Denn die beiden Tauben machten sich umfliegend aus dem Staube: Es sei jetzt Schlafenszeit und zum Körnersuchen ohnehin zu dunkel.  Und so ähnlich dachte anscheinend auch der Eichkater: Zum Zapfensuchen sei jetzt einfach nicht die Zeit.  Sprach’s und lehnte sich gähnend an eine Buche.  Und schon geschah’s!  Die Buche schwankte, hob ihre Wurzeln, und – krach! war sie über den Weg gestürzt!  Oy, war das ein Schrecken!
     „Wolltest – wolltest du uns umbringen?“ entsetzte sich unser Bär.
     Allein – der Eichkater war selber derart verdattert, daß es dem Argwohn an jeglichem Grund und Boden gebrach.
     „Ich kann Bäume entwurzeln?“ wunderte sich Herr Fichtner.  „Das ist mir bisher noch nie passiert!“
     „Das 1. Mal ist das Tor für wieder, sprach der Jäger, als er seinen 1. Hasen schoß“, konnte unser Wastel seine natürliche Abneigung gegen Eichkater nicht völlig verhehlen.
     „Immerhin sind wir auf diesem Weg jetzt davor sicher, von einer Kutsche überfahren zu werden“, versuchte unser Held ein weiteres Hochkochen zu verhindern.
     „Heut abend schon“, konnte John Gottlob mit einer besseren Ortskenntnis aufwarten, „aber wart’s nur ab, bis das Hindernis hier dem Baron gemeldet ist.  Dann kommen die hier mit 6 Mann an, und glaub bloß nicht: zu Fuß!  Dann biste hier als Wandersmann deines Lebens nicht mehr sicher.  Nee, nee, das kennen wir.
     „War es also doch nicht dein 1. Baum?“ versuchte unser Bruhno, auszuhorchen.
     „Doch“, ließ sich der Eichkater nicht aufs Glatteis führen, „aber durch die Dürren und Unwetter der letzten Jahre fallen hier immer häufiger Bäume um.  Ihr solltet nur mal die Menschen hören!  An allem seien wir, die Tiere, schuld!  Am liebsten täten sie ein paar von uns in ihre Zoos sperren und den Rest ausrotten.  Ja, so ist das –“
     „Dann wär’ es gut, wenn wir hier in der Nähe übernachteten“, schlug unser Nachtmeister vor, „und morgen weitersehen.  Eh, du kennst dich hier sicher gut aus: Wenn wir nach Rasenheim ins Rothenbachtal wollen, wie müssen wir da gehen?“
     „Ganz einfach“, brauchte Herr Fichtner nicht lange zu überlegen.  „Hier hinab, dann über den Bach, dann rechts über den nächsten Bach, dann links, dann rechts.  Also gar nicht zu verfehlen.  Gute Reise!“
     Und schon war der Eichkater davongesprungen und – lachte sich eins ins Pfötchen.  Weshalb?  Na, das wirste gleich hören oder lesen.
     Zeitig am Morgen stiegen unsere Freundin und Freunde hinab zu Tale, wie es ihnen geraten worden war.  Allein – der braune Schlingel hatte sie nicht zur Menges gewiesen, sondern zur Nikoläusa;  und als sie auch noch die Kithara überquert hatten, waren sie von Rasenheim weiter entfernt als am gestrigen Abend;  und – in Leidentheil!
     Vorsichtig schlichen sie am Gutshaus des Barons vorbei, an der Schule und den anderen Fachwerkhäuschen, aber nichts kam ihnen hier bekannt vor.  Und langsam dämmerte es ihnen: Der diebische Eichkater hatte sie in die Irre geschickt!  Am besten, sich erst einmal ausruhen und dann weitersehen.  In einem kühlen Gärtchen übersaßen und überlagen sie die Hitze des Tages und stiegen erst kurz vor Sonnenuntergang aufwärts, um sich von oben einen Überblick zu verschaffen.
     Tscha, und dann kam es, wie es kommen mußte: Mitten auf dem Weg lag eine Leiche!  Sofort wollte unser lieber Bär die Ermittlungen aufnehmen.  Todesursache?  Totgefahren!  Personalien?  Keinerlei Papiere!  Merkmale?  Blutiges Federkleid!  Zugehörigkeit?  Sieht aus wie ein Spatz, aber –
     „Es ist ein Feldsperling“, half unser Stropp weiter, „aber was wollen wir uns länger mit diesem Fall befassen?  1. sind wir nicht amtlich bestellt, 2. war der Tötende offensichtlich ein Mensch, den wir nicht belangen können, und 3. – wem könnten unsere Ermittlungen nützen?  Niemandem!“
     Doch hier irrte sich unser Igel, denn – plötzlich wurde er aufgeregt angesprochen: „Herr Nachtmeister, Herr Nachtmeister!  Ich war’s!  Nehmt mich fest!  Ach, es läßt mir alles keine Ruhe!“
     Schon wieder gab es hier jemanden, der unseren Helden kannte, obwohl der ja nur im letzten Sommer im Lande gewesen war, und das offiziell als Feriengast.
     „Ach so, Ihr könnt gleich meine Personalien aufnehmen“, stellte sich der Fremde vor.  „Name: Zappeling.  Zugehörigkeit: Haussperlinge.  Geburts- und Wohnort: dort unten in Lei-dentheil.  Sonst noch –?
     „Also jetzt beruhige dich erst einmal“, versuchte unser Stropp, gut zuzureden.  „Niemand denkt hier daran, dich festzunehmen.  Der arme Kerl hier ist offensichtlich überfahren worden.  Kannst du mir bitte sagen, wie du das hättest bewerkstelligen können?
     „Aber wir waren doch hier zum Duell verabredet!“ fiel es dem jungen Spatzen schwer, Gedanken und Worte zu ordnen.  „Und dann ging alles ganz schnell!“
     Durch geduldiges Fragen und Zuhören gelang es den beiden Ermittlern endlich, mehr Licht in die Sache zu bringen.  Anscheinend eine Liebes- und Eifersuchtstragödie.  Dem Zappeling war zu Ohren gekommen, daß jener Feldsperling der Gattin des Zappelings nachfliege.  Ob’s wirklich stimmte, blieb im Dunkeln.  Jedenfalls hatte Zappeling sich federstreichs seinen angeblichen Nebenbuhler vorgeflaumt, als einen Schurken und gemeinen Ehebrecher beschimpft und zum Duell herausgefordert, was von der Gegenseite prompt als Ehrensache angenommen worden war.  Tscha, und als das Duell seinen Anfang nehmen sollte, sei eine Kutsche angerast gekommen und habe die Gegenseite spatzetot auf dem Weg zurückgelassen.
     „Mein lieber Zappeling“, faßte unser Held zusammen, „wie so oft bei tragischen Ereignissen gibt es keine Alleinschuld und folglich keinen Alleinschuldigen.  Selbst wenn wir aufgrund einer Mitschuld die Sache dem Friedenrichter vorlegten, würde der arme Vogel hier nicht wieder lebendig.  Außerdem: Wie du dich verhalten hast, ist nun mal tierisch.  Das hätte jedem von uns passieren können.  Deshalb wollen wir hier alle gemeinsam die Lehre daraus ziehen: künftig bedächtiger zu sein und nichts auf Gerüchte zu geben.  Also, leb wohl, lieber Vogel.“
     „Stimmt das“, fragte Frau Struppe wenig später ihren Ehegatten, „du könntest dich wegen mir duellieren?
     „Jetzt nicht mehr“, erwiderte unser Stropp verschmitzt, „denk an unseren Vorsatz!“
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 29.11.2023

Qouz-Note: 3-

 

 

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