MamM – Mährchen an meine Mutter Nr 1.161 bis 1.180
Überblick MamM 1.161 bis 1.180
1.161 Nachtwächter Nimmereil und die Kirchentür
1.162 Nachtwächter Nimmereil und Hasenköppe
1.163 Nachtwächter Nimmereil und – Kaufleute
1.164 Nachtwächter Nimmereil und – Pfaul-Friedolin
1.165 Fruchten
1.166 Mal anders gesehen
1.167 Nachtmeister Stropp und die Tote an der Regentonne
1.168 Rosgarten
1.169 Nachtmeister Stropp und der Fall Wühlchen
1.170 Nachtmeister Stropp und der Fall Grünenspott
1.171 Zorn Gottes?
1.172 Nachtwächter Nimmeriel und - der Wildler
1.173 Nachtwächter Nimmereil und - Sagichnett
1.174 Martheline Freudenreich
1.175 Richthard
1.176 Sinette
1.177 Nonette und Richerz
1.178 Nachtmeister Stropp und die Nikolaus
1.179 Gerechtigkeit – mal anders gesehen
1.180 Der Brunnenstreik
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MamM 1.161 Nachtwächter Nimmereil und die Kirchentür
Puh! Seit über 5 Wochen haben wir nichts mehr von unserem Nachtwächter Nimmereil und seiner Lernkraft Noah gehört! Nichts von der selbstbewußten Häsin Hanneohre vom Stein und ihrem
Briefpartner Mario Lamprecht zu Großenbach. Und erinnerst du dich noch an unsere anderen Freunde: die Schildkröte Frieda, den Gärtnermeister Lümmel von Lützelingen oder den lustigen
Igelhorst? Hörste: Aus den Ohren, aus dem
Sinn! Und die weise Kühlequelle?
Ach, das weißt du ja noch gar nicht! Daß sie von Noah vergiftet worden war, hatte ich ja bereits erzählt. Und wie’s durch unsern Nachtmeister Stropp
scharfsinnig aufgeklärt worden war. Und daß unser Nacht w ä c h t e r keine Anzeige erstattet hatte, sondern dem armen Noah Raum zur Buße gegeben. Tscha, so weise sind leider
nicht alle Menschen, und vielleicht hat’s dich auch schon an deinen Eltern bekümmert: Nicht durchs Sollen bessert’s sich, sondern durchs Wollen. Aber nun stell dir vor: Dennoch war
eingetreten, was Nachtwächter Nimmereil unbedingt hatte verhindern wollen. Irgendwie hatte die zuständige Hohe Brunnenbehörde im nahen Altenstadt Wind
von der Sache bekommen. Doch nicht vom Täter! Und was machen Hohe Behörden dann? Richtig! Und doch nicht gut: Sie
bestrafen die Opfer! Die Kühlequelle wurde nämlich höchstamtlich verstopft – zum Leidwesen der Quelle selbst und zum Leidwesen ihrer vielen
Brunnengäste. So grausam können Menschen sein! Und dumm! Denn auf der einen Seite waren schwerwiegende Verluste zu buchen, auf der andern Seite nur ein einziger Ertrag: Die
Hohen Beamten hatten künftig mehr Zeit, Däumchen zu drehen, Zeitung zu lesen und – in Sitzungen ihren Hintern zu plätten; um die Kühlequelle brauchten sie sich nicht mehr zu kümmern.
Fassen wir zusammen: Je näher wir unsern Nachtwächter kennenlernen, desto mehr Aufgaben bemerken wir; unerledigte Aufgaben! Der Fall Kühlequelle; die
angebahnte Romanze zwischen Häsin und Hasen; die 3 andern einsamen Herzen; Noahs Buße – und dann der Ostermorgen! Du erinnerst dich?
6.15 Uhr, Glockenterror! Und da wollen wir jetzt weitermachen.
Noah hatte ja vorgeschlagen, sich zu rächen: Scheiben einwerfen. Doch Nimmereil hatte ihm
auf die Sprünge geholfen, daß das ein Dummejungenstreich sei und mehr schade denn nütze. Statt dessen hatte der Lehrer einen andern Vorschlag; aber war der wirklich besser? Wir wollen sehen.
Der 1. Sonntag nach Ostern war in Dortwehr traditionsgemäß ein besonderer Festtag. Ich
will dich jetzt nicht mit theologischen Haarspaltereien behelligen; es reicht, zu wissen: Es wurde zahlreicher Besuch erwartet. Auch solche, die in den Pfarrämtern nicht als aktive
Mitglieder geführt werden, sondern nur als zahlende Gäste. Nur? Das kommt wohl darauf an, was der Pfarrleitung und dem Kirchenrat
wichtig ist. Jedenfalls war an dem Sonntag, von dem ich hier berichte, Küster Bimmelbang früher auf den Beinen als sonst. Japsend tippelte der
schwergewichtige Mann zu seiner Kirchentüre, um diese aufzuschließen. Erst kurz vor seinem Ziel hob er seinen Blick und – und gewahrte: Die Tür zeigte sich ihm heute irgendwie anders.
Da – da war ein riesengroßer Zettel angeheftet. Fiel der Gottesdienst heute etwa aus? Und ihm, dem Küster, hatte mal wieder
niemand vorher Bescheid gegeben? Na, da hätte er doch länger in seinem Bettchen schlafen können!
Doch ein wenig aufgebracht, kramte Herr Bimmelbang seine Brille aus seinen Gewändern hervor, setzte sie auf und las:
AB HEUTE GÜLTIGE ZEITGEMÄSSE FASSUNG
DES VATERUNSERS
IN UNSERER GEMEINDE:
König von uns Königen,
Herrscher durch uns Herrscher,
gepriesen werde dein Name!
Durch uns komme dein Reich!
Dein Wille geschehe,
wie wir ihn auslegen!
Gib uns, deinen Herrschern,
alles, was wir brauchen,
und nimm’s deinen Feinden,
wo sie uns widerstreben!
Bekenne dich zu unseren Urteilen
und allen Strafen, die wir verhängen,
daß alle Welt deine Gerechtigkeit rühmen müsse!
Wappne uns gegen alle Boshaften
und erlöse uns von allen,
die dem Bösen dienen!
Denn unser ist deine Herrschaft
und deine Macht
und deine Herrlichkeit
in Ewigkeit!
Basta!
Der Urheber jenes Türanschlages hatte es wohl richtig vorhergesehen: Statt dieses Schundblatt spurlos abzureißen und im Papierkorb zu verbergen, eilte der Küster umgehend
zum Pfarramt. Wozu? Um Antwort auf die Frage zu erhalten: ob ihn seine Augen getrogen hatten.
Allein – eine solche Eile war der schwere Körper von Herrn Bimmelbang nicht mehr gewohnt und solche Aufregung nicht sein – eh, sein Dachstübchen. Bis sein Körper
auf dem Pfarramt wieder zu Atem gekommen war und bis Gedanken und Rede einigermaßen auf geordnete Bahnen gelenkt waren, verging viel Zeit. Und bis die Pfarrleitung den Entschluß gefaßt
hatte, den Anschlag in Augenschein zu nehmen, und dies umgesetzt hatte, verging weitere Zeit. Zeit genug, den 1. Kirchgängern Raum zur Sammlung zu geben. Vor der verschlossenen
Kirchentür.
Kirchgängern? Schon das Ostergeschehen lehrt uns: Wer waren die ersten? Die Frauen! Und? Was folgt daraus? Männer hätten erst gehandelt und dann darüber debattiert. Bei Frauen ist das umgekehrt. Der Anschlag hing noch immer an der
Kirchentür, und die Zahl der Redenden stieg und stieg. Bis ein Kind ein dringendes Bedürfnis äußerte und Küster Bimmelbang endlich die Türe aufschloß.
Nun, die moderne Fassung des Vaterunsers wurde heute hier nicht gebetet, aber auf die Tagesordnung der nächsten
Kirchenratssitzung gesetzt. Ob’s etwas am Ostergeläut ändern wird? Das wird erst die Zukunft zeigen. Aber die Dortwehrer
Kirche scheint so oder so auf dem Wege zu sein, Wallfahrtsort zu werden.
Und nun gute Nacht, schlaft gut! Bis zum nächsten Mal!
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 11.12.2023
Qouz-Note: 4+
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MamM 1.162 Nachtwächter Nimmereil und Hasenköppe
Ja, ja, das war schon was mit dem Anschlag an der Dortwehrer Kirchentür! Küster Bimmelbang, Pfarrleitung und Kirchenrat hätten zu gerne gewußt, wer
ihnen da ein falscher Martin gewesen war. Manche verdächtigten sogar jemanden von der benachbarten Kirchengemeinde; allein – nichts ließ sich nachweisen, und niemand hatte den Täter
oder gar die Täter gesehen. Täter? Nicht Täterin? Nein, da waren sich
alle sicher: So einen Frevel begeht keine Frau!
Indessen war Lehrling Noah fast jede Nacht nach Großenbach gestiefelt, na, treffender: geschuht,
hatte ein Brieflein von Hanneohre vom Stein überbracht, sich eine Antwort diktieren lassen und diese in Dortwehr
zugestellt. Gut, Noah war noch jung; aber – so 50 Minuten für den Hinweg mußt du schon rechnen. Na ja, mindestens 50 Minuten für den Rückweg, dann noch Diktat- und Wartezeiten,
– also, das sind schon 2 Stunden, in denen sich Noah nicht ausbilden lassen konnte. Und – oder zumindest: oder – 2 Stunden, in denen er seinem Lehrherren nicht unter die Arme greifen
konnte. Somit etwa 25% seiner Arbeitszeit allein für das Wohl von 2 Liebesleuten verwenden, – war das verhältnismäßig? Und wenn
du’s obendrein noch auf die Arbeitskraft beziehst, dann war’s wohl mehr als ein Viertel.
Und dann noch gewisse Sonderwünsche! Erinnerst du dich noch an die Friedhofsblumen zu Ostern? Die waren
auch nicht einfach vom Himmel gefallen! Tscha, und wenn du mit Blumen erst mal bei einem Frauenzimmer anfängst, – weißt du, was das für Folgen hat? Es ist, als müßtest du einen Durst mit Meerwasser zu stillen versuchen: Du mußt nicht nur weitermachen, sondern – je mehr SIE hat, desto mehr SIE
will! Denk nur an die Frau jenes Fischers!
Du ahnst es gewiß schon: Den lauen Lenzeslüften war sattsam ein Ziel gesteckt!
Nee, so habe er sich die Nachsaison nicht vorgestellt, murrte Mario Lamprecht immer häufiger. Er habe ja gar keine Muße
mehr; ständig müsse er grübeln, wie er jenes Frauenzimmer zufriedenstellen könne. Eines Tages erwarte sie von ihm gar noch Geld und Juwelen; mit was solle er das
bezahlen? Solle er etwa seine Beiträge zur Häslichen Landwirtschaftskasse einschränken? Was? Und wer hätte nachher den Schaden? Er! Denn er bekäme im Alter eine geringere Rente. Außerdem – ob die Häsin gut kochen könne, wisse er noch immer nicht. Oder
backen, braten und brutzeln. Statt ihm mal eine Kostprobe zu schicken, habe Frau vom Stein immer nur gerne angenommen. Wohl aus der Sippe Nimmsgern, was? Gut, sie habe sich jedes Mal artig bedankt, aber nur mit Worten; und die machten nun mal nicht satt!
Noah plagte sich später mit Vorwürfen, diese verbitterten Worte nicht weitergeleitet zu haben; aber er hatte sich in den Liebeshandel nicht einmischen wollen.
Und als er seinen Lehrherrn um Rat fragte, meinte Nimmereil lakonisch, das müsse er, Noah, selber wissen; denn er, Noah, kenne die Verhältnisse am
besten.
Und so kam das Ende mit einem großen Knall! Eines Nachts traf unser Noah den Hasen in Großenbach nicht an und kehrte ohne Grüße
und ohne Blumen nach Dortwehr zurück. Ob Herrn Lamprecht was passiert sei? Hanneohre vom
Stein tat sehr besorgt. Noah müsse unbedingt und umgehend nach Großenbach, um dort Nachforschungen anzustellen!
Nee, das war nun doch zuviel verlangt: 2mal nach Großenbach, und das hin und zurück? Außerdem war unser Noah
müde und machte sich erst am nächsten Abend auf den Weg. Wieder traf er Mario nicht an! Weil unser Nachtwächter-Lehrling jedoch ein gutes Herz
hatte, unternahm er in der folgenden Nacht den 3. Versuch. Und da wußte ihm das Käuzchen zu berichten, Mario sei nichts Schlimmes passiert. Im
Gegenteil, er habe sich auf einen Liebeshandel mit was Jüngerem eingelassen, und zwar tagsüber, ja, und habe fürs Nachtleben keine Zeit mehr, gehe also abends nicht mehr vor die Tür.
Unser Noah versuchte selbstverständlich, der Häsin diese traurige Entwicklung möglichst schonend beizubringen, aber was hilft die schönste Verpackung, wenn du beim
Auspacken irgendwann doch auf die Kränkung und Demütigung stößt!
Die Männer seine alle Verbrecher! jammerte die Häsin. Treu sein könne nur ein Frauenherz! Aber sie habe so was gleich geahnt und sich deshalb mit
Liebesbeweisen bedachtsam zurückgehalten. Allerdings – mit den Briefen habe sie sich doch etwas zu weit vorgewagt. Deshalb müsse Noah unbedingt wieder nach Großenbach und die Trennung
zu aller Zufriedenheit abwickeln. Mario könne alle seine Briefe zurückbekommen (sei doch alles erlogen!), ja, auch hier sein Konterfei (sieht aus wie ein Heiratsschwindler!). Im Gegenzug müsse aber auch er ihre Briefe und ihr Konterfei rausrücken. Das sei ja wohl das mindeste, was sie
verlangen könne! Nicht auszudenken, wenn sie sich vorstelle, er könne sich mit ihren Briefen und ihrem Bild über sie lustig machen. Vielleicht sogar zusammen mit seinem neuen
Opfer! Nein, Noah solle an seine Ehre appellieren: Wenn er ein Schentelmähn sei, dann müsse er ohne Einwände auf alle Bedingungen eingehen. Ja, Noah möge sogar auf den Busch klopfen,
ob nicht noch so was wie Schadensersatz drin sei.
Allein – Frau vom Stein vergaß, daß ihr Unterhändler kein mitfühlendes Frauenherz in sich trug, sondern einen Männerkopf unter seinem Nachtwächterhut, und der dachte
nicht einseitig parteiisch. Aber nun hatte er bekanntlich einiges an Zeit und Kraft in diesen Handel investiert und sein Ziel dennoch nicht erreicht: Schützlinge glücklich zu machen.
Das bekümmerte ihn nicht wenig, und so machte er sich am nächsten Abend noch einmal auf den Weg nach Großenbach.
Gut, daß ihn dabei das Käuzchen unterstützte! Gemeinsam gelang es ihnen, Mario Lamprecht zu einer Unterredung zu bewegen und dabei schließlich auch zur Herausgabe
von Bild und Briefen. Schadensersatz – dieses Wort nahmen die beiden jedoch nicht in den Mund. Das hätte eine einseitige Schuldzuweisung vorausgesetzt, und Alleinschuld ist in
Liebeshändeln zumindest – kaum nachzuweisen.
Auf dem Rückweg nahm sich Noah jedoch vor, die ganze Angelegenheit nicht als Scheitern abzuhaken, sondern die Augen offenzuhalten, wie er der Häsin doch noch zu ihrem
Glück verhelfen könne. Und da’s kurz vor Pfingsten war und deshalb um diese Uhrzeit noch nicht stockfinster, gab’s auch noch was zu sehen. Und stell dir vor, plötzlich –
Doch darüber wollen wir uns beim nächsten Mal unterhalten; und nun gute Nacht, – schlaft gut!
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 11.12.2023
Qouz-Note: 4+
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MamM 1.163 Nachtwächter Nimmereil und – Kaufleute
Ist das letzte Mährchen schon so lange her? Damals stand Pfingsten noch vor der Tür, und der Frühling freute sich über seine
Rosen. Und nun? Nun werden bereits die 1. Forderungen nach Hitzefrei laut, Rosen schütteln ihre welken Blätter ab, oder – es
hilft jemand nach; aber das ist eine andere Geschichte.
Wir hatten uns von unseren Freunden jedenfalls verabschiedet, als Noahs Liebesbotendienste nicht durch Erfolg gekrönt worden waren, sondern Gefahr liefen, ihre
enttäuschte Kundschaft zu verlieren. Kuppelei ist eben kein Handwerk für junge Nachtwächterlernkräfte, sondern erfahrungsgemäß eine Angelegenheit alter Tanten. Dennoch hatte
Nachtwächter Nimmereil seinen Lehrjungen gewähren lassen und sich im Hintergrund gehalten, zumal auch er, Nimmereil, zwar älter, aber keine Tante war. Allein – wie sagt schon der Dichter:
Schlägt dir die Hoffnung fehl,
nie fehle dir das Hoffen!
Ein Tor ist zugetan,
doch 1000 sind noch offen.
Doch dazu darfst du nicht auf die Erde oder deine Füße sehen, sondern mußt die Augen offenhalten; denn Offenheit wird von Offenheit angezogen. Und das mußte schon unser Noah gewußt
oder zumindest geahnt haben; denn auf seinem letzten Gang von Großenbach nach Dortwehr gab es ja plötzlich was zu sehen; und damit hatte unsere letzte Episode sozusagen geendet.
Tscha, und was hatte es zu sehen gegeben? Und – hatte Noah es bemerkt?
Er hatte! Denn so oft triffst du so dicht am Wegesrand keinen Hasen bei dessen Nachtmahl an. Aber Noahs Groschen fiel erst, als er seine Begegnung seinem
Lehrherren erzählte. Und der brauchte nur eine ganz kurze Frage zu stellen: „Und?“
„Was und?“ mangelte es Noah zunächst an Verständnis, bevor er seinen Sonnenaufgang erlebte. „Meint Ihr etwa,
der wäre etwas für unsere Frau vom Stein gewesen?“
„Wichtig ist nicht, was ich meine“, belehrte der Nachtwächter, „sondern wie du die Angelegenheit siehst!“
„Aber – aber“, suchte die Lernkraft Rechtfertigung, „ich weiß ja gar nicht, wie jener Hase heißt.“
„Du hast ihn nicht nach seinem Namen gefragt?“ wunderte sich der Lehrmeister. „Das war aber sehr –“
„Ich versteh’ doch gar nicht seine Sprache!“ verteidigte sich Noah.
„Dann will ich mal mit ihm reden“, schlug Nimmereil vor, „und du kommst am besten mit; dann weißt du, wie du künftig mit solchen hohen Tieren redest.“
Hohen Tieren? Ein Hase ein hohes Tier? Es kommt
eben auf die Perspektive an! Gut, daß in Dortwehr die Dienstaufsicht über die Nachtwächterei sehr lasch gehandhabt wurde. Wo kein Kläger, da keine
Klage und der Amtsstubenschlaf tief. So war Nimmereil quasi sein eigener Herr und konnte seine Runde nach eigenem Belieben auch auf Feld und Wald ausdehnen. Und mährsächlich!
Die beiden Hütenden trafen am nächsten Abend jenen Hasen erneut an. Bei dessen Nachtmahl.
Nimmereil wünschte guten Appetit und stellte sich und seinen Begleiter vor. Gut, der Hase lud jetzt nicht zu Tisch und zum Zulangen und Mithalten, aber stellte sich
ebenfalls vor; allerdings mit vollem Mund: „Lustmfeld.“
Für gewöhnliche Menschen eigentlich unverständlich; nicht aber für unseren Nachtwächter! Denn nun zahlte es sich aus, daß er nicht nur die Geschichten des
berühmten Nachtmeisters Stropp gelesen, sondern wichtige Teile im Gedächtnis behalten hatte.
„Herr Lustigfeld?“ vergewisserte er sich deshalb. „Jener berühmte Hase,
der dem Friedensrichter einst das Leben gerettet hat und seitdem unter dessen besonderem Schutz steht? Muß wohl 2 Jahre her sein,
–“
„Ach“, überraschte es den Hasen, „Er hat etwas von mir gehört?“
„Aber ja doch“, schien Nimmereil an der hochnäsigen Anrede keinen Anstoß zu nehmen. „Ihr hattet ein blühendes Geschäft in Veredlung von Ostereiern und sonstigen
Delikatessen; wenn ich mich recht erinnere.“
„Und stell Er sich vor“, griff der Unternehmer selbstgefällig auf, „es blüht heute noch und trägt seine Früchte! Jaha!“
Es entspann sich nun eine anregende Unterhaltung; und da aufgeblasene, eh, hohe Tiere leichter zu lenken sind denn bescheidene, fiel es dem Nachtwächter nicht
schwer, den Hasen auch über dessen Familienverhältnisse zum Reden zu bringen.
Zur Zeit sei er nicht gebunden, bekannte Lustigfeld freimütig. Frauen wollten ja immer nur das Eine: Kinder kriegen, herrschen und den Gatten melken bis zum
Geht-nicht-mehr. Nee, für solche habe er sein Geschäft nicht aufgebaut. Aber wenn die Frau selber Kohle mitbringe, dann werde er schon nichts anbrennen lassen; aber solche
Frauen seien sehr selten und dann gewiß in festen Händen.
Oh, da wisse er von einer, nahm’s der Nachtwächter als Stichwort, die derzeit nicht in festen Händen sei. Ob er, Lustigfeld, sie sich nicht einmal anschauen
möchte.
Der Hase war nicht abgeneigt, wollte aber erst noch in Ruhe sein Nachtmahl beenden und einen erholsamen Verdauungsschlaf halten. Doch dann habe er gegen einen
kleinen Ausflug nichts einzuwenden. Und so kam es am nächsten Morgen zur 1. Begegnung zwischen Hanneohre vom Stein
und dem wohlhabenden Kaufmann. Dezent zogen sich Nimmereil und Noah nach dem Vorstellen zurück und nach Hause, um dort von ihrem guten Werk zu ruhen.
Allein – ein gutes Werk ist nicht deshalb gut, weil es gut gemeint war. Dies gilt insbesondere für die Kuppelei. So mußten auch unsere beiden Freunde bereits
am nächsten Abend erfahren, daß die 1. Begegnung ihrer beiden Schützlinge anscheinend auch die letzte gewesen war. Die Häsin schüttete dem Nachtwächter
ihr Herz aus; der Hase beschwerte sich bei Noah, der ausgeschickt worden war, auch die Gegenseite anzuhören. Gegenseite – das treffende Wort!
Hanneohre habe von Anfang an das Gefühl gehabt, Lustigfeld sei nur an ihrer Mitgift interessiert gewesen. Wie der sich nach ihren Vermögensverhältnissen erkundigt
hätte! Womöglich sei er gar ein ganz gemeiner Schuft und Heiratsschwindler! Nein, mit so einem wolle sie nichts zu tun haben.
Der Hase beklagte sich vor allem über mangelnde Wertschätzung. Die Jungfer sei auf dem besten Wege, ein herrschsüchtiger Drachen zu werden, so sein 1.
Eindruck. Spröde, ja, und argwöhnisch bis über beide Ohren! Und eine Schönheit – Also, Staat könne er mit so einer bestimmt nicht machen. Wohl auch nicht mehr die
Jüngste. Kein Wunder, daß die keinen abgekriegt habe.
So war bereits das 2. Tor zugetan! Machte es da noch Sinn, nach weiteren offenen Toren zu suchen? Wäre
das nicht töricht?
Wir wollen mal sehen; und jetzt schlaft erst mal gut und träumt schön – von Herzen, die zu Herzen finden.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 11.12.2023
Qouz-Note: 4-
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MamM 1.164 Nachtwächter Nimmereil und –
Pfaul-Friedolin
Tscha, Satz mit x! Bisher hatten unsere beiden Freunde noch nicht den Beweis erbracht, im Kuppeleigeschäft sattsam bewandert zu sein. Doch – es war schon ein schlechtes Gewissen,
gepaart mit dem Bewußtsein enger menschlicher Grenzen, welches vorerst das abendliche Grüßen der beiden verschattete. Durfte so etwas von längerer Dauer sein?
Nein! Und deshalb lenkte schon am nächsten Abend (nach der Kunde vom Scheitern ihrer
Bemühungen) unser Nachtwächter Nimmereil seine Schritte zur Tränenstraße hinauf.
Tränenstraße? Nun ja, alte Dortwehrer wollen erfahren haben, daß der Name
durch den Schreibfehler eines Stallschreibers in die Welt gekommen sei, den seine Nachfolger nicht zu korrigieren gewagt hätten; denn wer auf einer Amtsschimmelhalterei gibt schon offen zu,
auf einer Trägenstraße zu traben?
Von all diesen Zusammenhängen ahnte natürlich unser Noah nichts; er legte aber eine gewisse Unruhe an den Abend und äußerte
schließlich seine Bedenken: Ob’s denn erlaubt sei, die Nachtwächterrunden auch auf Feld und Flur auszudehnen?
„Wieso nicht?“ fragte der Lehrmeister zurück. „Sind wir denn nur für die Menschen unten in der Siedlung
zuständig? Zur Gemarkung zählen auch die Außenbereiche, wo mancher Spitzbube sein Unwesen treiben könnte, wenn wir ihn gewähren
ließen. Und sind wir nur Nachtwächter für die Menschen? – Heh, du da! Stehengeblieben! Kaum 13 Monate alt und schon ein durchtriebener Jäger und Schlächter!“
Unser Noah hatte gerade noch etwas rötlich Braunes davoneilen gesehen. „Habt – habt Ihr hier Schakale?“
„So weit kommt’s noch!“ lachte Nimmereil und hoffte das Gegenteil. „Nein, das war ein einjähriger Fuchs, der wohl gerade seine Mäuseherde sichten wollte. Ach
ja, die armen Mäuschen! Was die sich wohl nach dem Paradies sehnen, wo Maus, Hase und Fuchs nebeneinander weiden und Gras fressen! Angeblich hat unser berühmter Nachtmeister Stropp ja
schon mancher Maus das Leben gerettet, aber es ist auch bei den Tieren alles nur Stückwerk, und Jagen, Morden und Fressen gehen vorerst weiter.“
Endlich war die Tränenstraße erreicht, und der Nachtwächter belohnte den mühsamen Aufstieg mit Innehalten. Und nicht nur
einmal! Die Aussicht von hier oben war damals etwas für Genießer: im Süden Dortwehr und Altenstadt, im Osten
Bölce, dahinter die Tiefenwälder, im Norden Ausläufer von Feldgosse, dahinter der
Kesterwald.
„Hier hoch steige ich gerne“, lüftete der Nachtmeister den eigentlichen Grund seines weiten Umweges, „wenn ich nicht mehr so richtig zur Freude zu kommen weiß. Dann
schau’ ich von hier oben auf so vieles hinab, und klein wird, was mir Kummer, Sorgen und Enttäuschungen bereitet hat. Sieh nur, wie winzig die Menschen da unten sind: kleiner denn
Ameisen! Jetzt gehen im Tal nacheinander die Lichter an, und hinter jedem erleuchteten Fenster sitzt jemand, der eigentlich nur eines will: ein bißchen Glück! Lohnt es sich da,
einander das Herze schwer zu machen?“
In den Lüften sang noch eine Lerche und rettete etwas Frühling in den Sommer. Doch im Hain sang schon keine Nachtigall
mehr. Die Abendsonne mischte die dunkle Wolkenherde etwas auf und ließ die Gerste reifer erscheinen. Kein Mensch störte diese Idylle. Dennoch – als die beiden wieder in das Tal
hinabstiegen, sprang eine Ricke furchtsam davon, denn sie hatte mit den Menschen wohl nicht nur gute Erfahrungen gemacht. Diese mangelten ihrem Kitz, weshalb es ein wenig zögerte;
aber weil sein Vertrauen zur Mutter diesen Mangel ausglich, sprang das Kind ihr bald nach; da mochte Nimmereil noch so sehr sein „Guten Abend, gute
Nacht“ brummen.
Unten an der Kühlequelle nahmen sich unsere beiden Wanderer die Zeit für Gedenken und Zwiesprache. Kein Tropfen fiel in die
beiden Brunnentröge, die bereits völlig ausgetrocknet waren.
„Mach’s gut, liebe Quelle“, flüsterten die beiden Menschen, „wir wollen für ein Wunder beten und geben die Hoffnung nicht auf. Der liebe Gott stärke unsere Geduld und die deiner Freundinnen und Freunde.“
Und war’s nicht so, daß die liebe Quelle leise dankte und Grüße auftrug? Jedenfalls waren die beiden nur
wenige Schritte weitergewandert, da waren sie bereits mitten in einem Wunder. Links und rechts des Weges tanzten leuchtende Punkte, daß es eine Freude war! Eigentlich für alle
Menschen, aber in Dortwehr wurden sie nur Nimmereil und Noah gewahrt. Und in diese Freude wurde ein neuer Gedanke geboren.
„Ich weiß noch einen Hasen“, sprach’s die Lernkraft aus. „Ob der was für Frau Häsin vom Stein wäre?“
Und nachdem Noah jenem Hasen auch noch einen Ort zugeordnet hatte, konnte sein Lehrmeister mit dem Namen aufwarten: „Pfaul-Friedolin! Ja, den kenn’ ich auch!
Sonst durfte er nur auf die Osterglöckchen aufpassen – als ihr kundiger Küster; aber in diesem Jahr hat er auch noch die Pfingstrosen unter seiner Obhut. Eigentlich ein friedlicher
Geselle, der bestimmt keine so großen Ansprüche stellt wie Mario Lamprecht oder Lustigfeld. Und unserer Frau Hanneohre täte er gewiß nicht schaden,
sondern ein bißchen mehr Ruhe ins Leben bringen.“
Nun ja, die tat schon etwas reserviert, als ihr die beiden Nachtwächter eine neue Bekanntschaft in Aussicht stellten. Ein neues Liebesabenteuer? Nach den schlechten Erfahrungen, die sie in der letzten Zeit gemacht hätte?
„Geht doch mal mit niedrigeren Erwartungen ran“, schlug Nimmereil vor. „Bei Euren letzten – Nein, so darf ich’s nicht sagen. Also – allgemein scheitern
viele Liebeshändel daran, daß beide mehr vom andern erwarten denn von sich selbst. ER soll sich gefälligst als reicher Königssohn entpuppen und SIE als treue, schöne Prinzessin.
Versucht –“
„Sprichst wohl aus Erfahrung, was?“ besah die Häsin im Spiegel des Wortes – nur ihre Gesprächspartner.
„– es doch noch einmal“, ließ sich der Nachtwächter nicht beirren. „Ist es denn nicht von Wert, wenn du ein offenes Ohr findest, dem du alles sagen
kannst? Jemanden, der Frieden hält? Jemanden, der –“
„Hauptsache, er nimmt mir mehr Arbeit ab, als er mir bereitet“, tat die Häsin, als habe sie keine romantische Seite.
Immerhin, es war doch einen Versuch wert. Und – stell dir vor, immer wieder, wenn es dunkel wurde, verschwand Pfaul-Friedolin
von seiner Blumenwacht und kehrte erst beim nächsten Morgengrauen zurück. Wie das alles weitergeht? Na, darüber könnt ihr euch ja
schon mal Gedanken machen. Doch nun schlaft gut und träumt schön – von Wundern!
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 11.12.2023
Qouz-Note: 4
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MamM 1.165 Fruchten
„Wie geht es dir?“ fragte der Alte von der Halbinsel; eine Seite von ihm, die wir bisher noch nicht kennengelernt haben.
„Ach“, seufzte Don Odeone, „es ist alles vergeblich –“
„Alles?“ zweifelte der Alte sehr.
„Ich komm’ mir in der letzten Zeit vor wie ein Perlenhändler“, ging der Besucher weiter. „aber wie einer auf einem Bauernhof, umgeben von lauter Borstenvieh.“
Dann bleib auf dem Hof“, schien der Alte mißzuverstehen, „oder zieh weiter.“
„Ja, wenn das so einfach wäre!“ seufzte Don Odeone erneut. „Vermutlich ist das mit dem Perlenhändler auch gar nicht das passende Bild. Wißt Ihr
– ich schaff’ nichts mehr. Mir fällt nichts Neues mehr ein. Und hab’ ich
mal einen neuen Gedanken, dann quäl’ ich mich damit ab, ihn auszuarbeiten; weil – weil es ist ja doch alles vergeblich.“
„Wenn die Bäume voll von Früchten hängen“, zitierte der Alte jenen Menschenfreund, „neigen
sie die Äste freundlich nieder.“
„Ihr habt gut reden“, fühlte sich der Besucher nicht verstanden. „Allein – wenn niemand die Früchte pflücken
will, brechen die Äste, und gar nicht so selten stirbt der ganze Baum.“
„Ja, das stimmt“, mußte der Alte zugeben. „Also gar keine Früchte mehr tragen? Ist das nicht auch Sterben, nur länger?“
„Ist es nicht ein Naturgesetz“, fragte Don Odeone zurück: „Werden die Früchte nicht geerntet, gedeihen keine neuen mehr?“
„Ich bin kein Pflanzengelehrter“, bekannte der Alte, „aber – halt, ich erinnere mich eines Apfelbaumes im Odenwald; Anfang Mai; 34
Jahre ist das jetzt her: voller Blüten und Früchte. Als wär’s ein Paradiesapfelbaum. Undank darf uns nicht abhalten, Gutes zu tun“, und nach diesem königlichen Zitat begann er zu
erzählen:
Es wär’ einmal ein Johannisbeerstrauch, der stand in einem Garten. Also – nicht alleine! Aber nicht als erfahrener Weißschopf, von allen geachtet, sondern als junger Dreikäsehoch und Grünschnabel, von niemandem geachtet. Tscha, und woran merkst du, ob du zu diesem oder jenem gehörst? Wohl daran, ob dir
deine Nachbarn zuhören und dich ernst nehmen oder ob sie dich mit Ratschlägen überschütten und verlangen, daß du diese bedingungslos und ohne Einwände befolgst.
Nimm nur den Stachelbeerstrauch in der Nachbarschaft. Ungefragt rückte er dem kleinen Johannisbeerstrauch auf, ordentlich Dornen zu entwickeln. Wozu? Na, um die Äste, Zweige und Früchte zu schützen! Denn es gingen immer wieder Unholde durch den Garten, die zerschnitten und zerbrächen und – raubten gar die Früchte. Was sei aber ein königlicher Strauch ohne Früchte? Bitte! Wie ein Herrscher ohne Zepter und ohne Krone.
„Und mit Dornen“, wandte der kleine Johannisbeerstrauch zweifelnd ein, „ist es hübscher? Und was macht Ihr
überhaupt mit Euren Dornen?“
„Na, stechen“, antwortete der Stachelbeerstrauch etwas ungehalten, „bis das Blut fließt! Und noch besser
versteht sich unser Feuerdorn darauf, obwohl seine Früchte gar nicht so –“
„Aber wieso immer kämpfen, stechen und verletzen“, war der kleine Johannisbeerstrauch noch immer nicht überzeugt, „geht’s nicht auch friedlich?“
„Mit den Unholden nicht“, wähnte der Stachelbeerstrauch aus Erfahrung zu sprechen, „da überlebst du nur, wenn du sofort zustichst. Friedlich? Pah, daß ich nicht lache! Solch eine Sprache verstehen die Unholde nicht! Du wirst noch dein Lehrgeld bezahlen
müssen! Wer nicht hören und folgen will, der muß eben –“ Den Rest der Prophezeiung wehte der Wind in eine andere Richtung,
nämlich zum Feuerdorn, und der konnte allem nur zustimmen; wenn auch von einer höheren Warte.
Aber es gab noch weitere Nachbarn. Sogar einen sehr nah! Und dieser Nachbar redete ständig von Liebe. Und redete nicht nur davon, sondern
umschlang und umwand den kleinen Johannisbeerstrauch, der zunächst überhaupt nicht begriff, wie ihm geschah. Gut, er fühlte sich nicht
mehr alleine. Das sei er vorher auch nicht gewesen? Denn der
Stachelbeerstrauch, der Feuerdorn – Aber in der Nacht? Da waren diese Nachbarn kaum zu sehen; und wenn der Wind nicht herüber-, sondern hinüberwehte, waren diese Nachbarn auch nicht zu hören oder zu wittern. Das war mit dem innigen Nachbarn anders. Aber mit der Zeit doch auch
lästig. Der kleine Johannisbeerstrauch konnte sich gar nicht mehr so ausdehnen, wie er wollte; denn der innige Nachbar wuchs nicht nur in die Höhe, sondern baute allerhand Brücken zwischen seinen Bergstraßen.
Einwänden gegen diese Bautätigkeit begegnete er mit dem Argument, dies geschehe doch alles zum Nutzen und Frommen des Johannisbeerstrauches. Denn so hielten alle Triebe zusammen und seien gemeinsam stärker denn jeder Sturm, während ein Einzelgänger sehr leicht brechen täte.
Und als der Sommer kam, zeigte sich ein weiterer Nutzen dieses zudringlichen Nachbarn. Denn unter der Last der schweren Früchte neigten viele Sträucher ihre Triebe nieder auf die Erde, und manches zerbrach oder wurde zertreten, und
manchem Pilzritter war’s wie eine einladende Burg, bei der die Zugbrücke heruntergelassen war. Da kam unser Johannisbeerstrauch doch
gut bei weg – durch seinen umschlingenden Nachbarn.
Allein – irgend etwas fehlte zum vollkommenen Glück. Gerne hätte der Johannisbeerstrauch seine Früchte mit
Freunden geteilt; aber – niemand schien’s zu wollen. Sogar Herr
Amsler wollte nicht zum Pflanzenfreund werden, sondern entschuldigte sich:
„Wenn sanft es regnet,
weit und breit kein Sturm,
dann werd’ gesegnet
ich mit einem Wurm.“
Doch eines Morgens kam, wovor schon der Stachelbeerstrauch gewarnt hatte: ein Unhold! Aber so unholdig war der
gar nicht. Vorsichtig faßte er die Stiele, und behutsam zog er die Beeren ab.
Da wollten ihn einige Flieger durch ihren Gesang ablenken; und als sie einsehen mußten, daß dies fruchtlos
blieb, versuchten sie den mutmaßlichen Räuber zu stechen und sich an seinem Blut schadlos zu halten. Aber dagegen verwahrte sich der
Johannisbeerstrauch entschieden: Dieser Mensch sei kein Räuber, sondern sein (des Strauches) Freund. Denn er (der Mensch) hätte sich sogar dafür bedankt, ernten zu dürfen. Und – nachdem der kleine Strauch von seiner Früchte Last befreit war, hatte ihn dieser Mensch auch noch losgewunden, genauer: den zudringlichen
Nachbarn abgewunden, so daß –
„Und was hat das alles mit mir zu tun?“ konnte sich Don Odeone nicht länger zurückhalten.
„Ach so“, schien der Alte aufzuwachen, „ja, eigentlich: Hoffnung! Nicht nachlassen! Die Zahl derer, die deine Früchte verschmähen oder denen diese gleichgültig sind, wird immer größer sein als die Zahl deiner Sammler. Aber wenn endlich nur ein einziger Sammler kommt, waren deine Früchte nicht vergeblich“, und er geleitete den Besucher hinaus.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 17.1.2024
Qouz-Note: 4-
***
MamM 1.166 Mal anders gesehen
„Und?“ fragte Don Witterstein. „Was haltet Ihr von Frauen im
Priesteramt?“
„Was ich von ihnen halte?“ versuchte der Alte von der Halbinsel, Zeit zu gewinnen. „Wenn ich mich in meinen 4 Wänden so umsehe, vermutlich nichts.“
„Seh’ ich auch so“, fühlte sich der Besucher bestätigt. „Das Weib schweige
in der Gemeinde!“
„Wenn es ständig quasselt und quengelt, kann das Schweigen schon eine Wohltat sein“, schien der Alte beizupflichten; „aber ist es dann noch eine Gemeinde, wenn keine Frau überhaupt noch was –?“
„Aber ER hat alles geordnet nach Maß und
Gewicht“, zitierte Don Witterstein erneut ungenau. „Folglich ist es Gottes Wille: Eine Frau soll –“
„Soll –“, grollte der Alte über sein Reizwort: „Frag doch mal nach dem Dürfen. Maria Magdalena durfte als
erste bezeugen, daß Jesus von den Toten auferstanden war. Selbst vor der Zeitenwende gab es
Richterinnen und Prophetinnen im Gelobten Land. Und ob der Apostel Junias nicht eine Junia gewesen sei, na, das läßt sich auch nicht
eindeutig –“
„Das ist doch alles Weibergeschwätz!“ faßte der Besucher zusammen. „Kein vernünftiger Mann käme auf die Idee, –“
„– zuzugeben, daß er nichts weiß?“ ergänzte der Alte.
„Und deshalb hat auch kein Mensch das Recht, Gott ins Handwerk zu pfuschen und Gottes Möglichkeiten zu
beschränken. Freiheit, Gleichheit, –“
„– Brüderlichkeit!“ triumphierte Don Witterstein.
„Da habt Ihr’s wieder! Frauen sind nur zum Dienen –“
„Tscha“, lachte der Alte, „das ist ein treffliches Stichwort“, und er begann zu erzählen:
Es wär’ einmal ein König, dem starb die Frau bei der Geburt ihres 1. Kindes. Und da er der Ansicht war, die
kleine Wrena dürfe nicht ohne Mutter aufwachsen, heiratete er nach Ablauf des Trauerjahres eine Witwe; natürlich von Stande! Diese Witwe brachte auch einen Sohn mit in die Ehe und war von Anfang
an davon überzeugt, ihr Raffo werde einst Thron, Krone und Reich erben. Mit welchem
Recht? Nicht nur mit einem! Erstlich war der Sohn männlich, während Wrena
ja ein Mädchen war; und im Königreich ihres Vaters hatte es noch nie eine Thronerbin gegeben. Zweitens war Raffo älter denn seine Stiefschwester. Und drittens sah die neue Königin
ihren Sohn mit den Augen einer Mutter an, ihre Stieftochter jedoch mit den Augen einer Stiefmutter.
Nun kommen Stiefmütter in den alten Märchen ja nie gut weg, als wären sie lauter Hexen und Teufelinnen. Wrenas
Stiefmutter war jedoch des Hexens nicht kundig, und dem Kind die Hölle heiß machen, das konnte sie auch nicht. Aber – herzlich war die
Beziehung zwischen den beiden nicht zu nennen. In Wrenas Herzen wohnte nämlich neben ihrem Papa vornehmlich noch jemand. Nicht die Mama, denn wann hätte das Kind sie kennenlernen können? Doch hing in Wrenas
Schlafkammer ein Bild der Mutter, und zwar derart eigenartig, daß es morgens von den ersten Strahlen und abends von den letzten Strahlen der Sonne vergoldet werden konnte; Sommer wie Winter, was mit dem Verstand kaum zu fassen ist und von Kalendermachern kaum zu glauben. Und aus diesem Bild und den Geschichten, die sie über ihre Mutter aufschnappen konnte, schuf sich Wrena diejenige Mutter, die in des Kindes
Herzen wohnte: gütig, geduldig und zuversichtlich. Gegen diese Herzensbewohnerin kam keine Stiefmutter an, mochte sie sich auch noch so
viel Mühe geben. Und so kümmerte sich die Königin mehr um ihren Sohn, der König mehr um seine Amtsgeschäfte, Raffo darum, als Kronprinz
zu gelten, und – Wrena? So zu werden, wie sie sich ihre Mutter vorstellte.
Schauen wir uns also erst mal Raffo an. Der wollte ein ganz großer König werden. Und wen nennen die Geschichtsschreiber groß? Wer große Eroberungen macht! Für Raffo bedeutete das, von Kindesbeinen an mit Soldaten zu spielen; erst aus Ton
oder Zinn, später waren’s Menschensachen. Hauptsache, sie ließen sich von Raffo kommandieren und – besiegten jeden Feind. Und wehe, ein Spielkamerad wollte den Prinzen besiegen! Na, der lief Gefahr, des
Hochverrats angeklagt und von allen folgenden Spielen ausgeschlossen zu werden.
Die Eroberungen bekamen mit zunehmendem Alter des Prinzen noch eine andere Dimension, nämlich auf dem Schlachtfeld dessen, was dramatische Schmierfinken als Liebe
ausgeben, was aber in Wahrheit nur unzureichend verkleidete Habgier ist. Denn sag selbst: Ist es wahre Liebe, wenn ein Prinz sich
unmittelbar nach Einnahme einer weiblichen Festung anschickt, neue Festungen zu erobern?
Und dies leitet zu einer 3. unseligen Neigung des Prinzen über: Staat zu machen. Mit seinem Volk? Nee, mit sich selber! Wer besaß die prächtigste Kutsche im ganzen Land? Raffo! Wer verströmte das teuerste Parfum? Raffo! Wer führte die lautesten Reden? Na, du weißt es schon!
Ganz anders Wrena! Nö, mit Soldaten spielte sie nie; auch nicht mit Puppen. Aber mit Stofftieren, weil sie mit ihnen immer guten Frieden
halten konnte. Puppen sind ja oft recht ungezogen, und richtige Tiere sind’s auch und zuweilen richtig zum Fürchten. Ein Hund kam Wrena nie ins Bett; und ein Kätzchen nie in die Gardinen; ihr reichten schon die schlimmen Geschichten, die ihr die Köchin erzählt hatte.
Ansonsten war die kleine Prinzessin viel an der frischen Luft und bestrebt, sich mit allen Pflanzen und Tieren gut zu vertragen.
Und mit Menschen auch; vor allem mit den Omas! Sie
wuchs da einfach hinein: Omas beim Spaziergang begleiten, ihnen etwas vorzusingen, für sie Besorgungen zu machen. Wie viele einsame
Omas es doch gab, um die sich niemand mehr kümmerte! Und dieser Niemand wurde mehr und mehr Wrena, so daß der Tag für sie bald mehr als
24 Stunden hätte haben müssen. Und was sie dabei alles lernte! Oder besser:
dafür! Denn das war der springende Punkt: Weil sie etwas brauchte, um jemandem helfen zu können, lernte sie eifriger und
fruchtender. Und –
„– was hat das jetzt alles mit der Frauenordination zu tun?“ konnte sich Don Witterstein nicht länger
zurückhalten.
„Raffo war dem Volk wie ein sengender Wind“, antwortete der Alte – auf seine Weise, „der das Land ausdörrt;
Wrena dagegen gleich einem erfrischenden Wasser, auf daß alles grüne und blühe und gedeihe, was gute Früchte bringen will. Ist das
überhaupt noch eine offene Frage, wem der König sein Volk anvertraut hat? – Freilich, in anderen Ländern gibt’s auch Raffas und
Wrenos. Es kommt eben nicht auf das Geschlecht an, ob ein Mensch ein Segen ist, und ich achte, irgendwann wird das auch für kirchliche
Ämter gelten, sofern – es nicht ums Herrschen, sondern ums Dienen –“
Allein – der Besucher war inzwischen gegangen – zum Herrschen oder zum Dienen?
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 17.1.2024
Qouz-Note: 3- wegen abfälliger Bemerkung über Kalendermacher
***
MamM 1.167 Nachtmeister Stropp und die Tote an der
Regentonne
Was macht eigentlich unser Nachtmeister Stropp? Tscha, da kommst du wohl nicht drauf. Stell dir vor, er war zur Sommerfrische verreist. Verdient hatte er das
bestimmt. Und du darfst auch sein Alter nicht vergessen. Gut, wirst du
denken, nachts ist es ja nicht mehr so heiß; aber das bedeutet im Stroppschen Umkehrschluß: in der Tageshitze zu schlafen
versuchen. Wenn die Hunde bellen und die Menschen rücksichtslos lärmen! Das
kann einem schon zu schaffen machen.
Und nicht nur unserem Helden, sondern auch Frau Struppe, seiner Eheliebsten. Selbst unserm Bruhno, der Nachtmeister-Lernkraft, war’s entschieden zu heiß. Nur Emma von Nowotny, die Schildkröte, hatte nichts zu klagen; deshalb war sie bereit, zu Hause zu bleiben und auf Haus und Garten aufzupassen. Sie
war also fein raus, während die andern 3 lange beraten mußten, wo sie denn ihre Sommerfrische finden könnten.
Da gewahrte unser Igel eines Morgens wie von ungefähr, daß der Schlendertünnes anscheinend auf dem Weg zum Bahnhof
war. Was will einer auf dem Bahnhof, fragte sich unser Stropp und kombinierte blitzschnell: Trägt einer kein Gepäck, will er wohl
jemanden abholen; trägt einer aber – wie an diesem Morgen – Gepäck, will er höchstwahrscheinlich verreisen. Also hurtig die Eheliebste und den Bären geweckt, und –
Tscha, das reichte nicht; denn ein Igel kann mit einem Wandersmann auf die Dauer kaum Schritt
halten. Also wurde auch noch Wastel, der Waschbär, geweckt, es wurde ein bißchen zusammengepackt,
und – Ja, mährsächlich nur ein bißchen, denn Kleider zum Wechseln brauchen Igelin, Igel und Bär ja nicht. Und dann ging’s
holterdiepolter, nee, husch, husch – zum Bahnhof.
Ob’s da jetzt eine Sensation gab? Kennst du die Menschen nicht? Kindern hätten unsere 4 Freunde vielleicht auffallen können, aber jene hatten vor allem Augen für Lok, Wagen, Lokführer und
Schaffnerin; und die Erwachsenen? Die haben nur Augen dafür, einen
Sitzplatz zu ergattern und zu erkämpfen; so mußt du wohl auf jedem Bahnhof denken. Und hier in Altenstadt? Niemand bemerkte die 4
Tiere, noch nicht einmal der Schlendertünnes; und hast du nicht gesehen, waren die 4 bereits eingestiegen. Abpfiff, Türen schließen, und schon rollte der Zug los.
Joa, wer denkt da nicht an die 3 Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts riechen? Selbst auf den 3
Umsteigebahnhöfen und dem Zielbahnhof! Ja, so sind die
Menschen! Und vom Zielbahnhof zum Groschenberg war’s noch eine Meile zu
Fuß. Den Schlendertünnes sahen wohl einige Rasenheimer, aber seine Verfolger sah niemand. Endlich kehrte der Schlendertünnes in einem Hause ein, unsere 4 Freunde dagegen – in dessen Garten. Gut, so ganz einfach war der Einzug nicht, denn Dornsträucher gelten auch einer Nachtmeisterei nicht als einladend, sondern als
abweisend. Aber Wastel wußte alle glücklich durch das Dickicht zu lotsen, und – vor ihren Augen breitete sich ein wundersamer Garten
aus. Mit ausgedehnten Kapuzinerparks, leuchtenden Ringelpalmen und reichen Beerensträuchern. Ein Paradies? Eine Sommerfrische, die – auch einen Mangel hatte: Es gab keine
sprudelnde Quelle. Aber Regentonnen! Und gut, daß der Waschbär mit von der
Partie war! Denn der verstand sich darauf, nicht nur selber aus den Regentonnen zu trinken, sondern auch für die andern zu
schöpfen; – ohne hineinzufallen!
Allein – zu irdischen Paradiesen gesellt sich gern das Böse. Nein, nicht d e r
Böse; denn wie die Menschen sind auch die Tiere nicht durch und durch böse, sondern haben Böses an sich. Und tätest du etwa einen
Friedensrichter den Bösen nennen, nur weil er sich auf die Viehzucht gelegt hat und das Hausschlachten selber übernimmt? Urteil
selbst! Denn schon in der 1. Nacht zeigte es sich, daß auch in Rasenheim Füchse dieses Friedensrichteramt ausübten, und das auch am
Groschenberg. Nur – hier hießen sie nicht Reinhart, sondern Regehart, was vom Regieren abgeleitet sei. Ja, stell dir vor, der damalige Friedensrichter hatte seinem Namen sogar alle lateinischen Zahlen angefügt: Regehart MDCLXVI. Wozu? Angeblich, um zu unterstreichen, seine Vorfahren seien römische
Glaubensflüchtlinge gewesen. Und dieser anmaßende Fuchs wollte sich bereits bei der 1. Begegnung unterstehen, als seinen Nachtmeister
unsern armen Stropp dienstzuverpflichten. Allein schon dieses Wort ist ungeheuerlich! Und das in der Sommerfrische! Bei Weigerung drohte der Friedensrichter an, alle des
Gartens zu verweisen und in einer Pfütze zu „baden“. Dem wußte unser Held jedoch entgegenzuhalten, daß es infolge der langen
Trockenheit wohl auch hier weit und breit keine Pfütze gebe. Dennoch sei er, Stropp, bereit, auch in seiner Sommerfrische Recht
und Frieden zu fördern, aber – aus freien Stücken und auf Augenhöhe.
„Ha, Augenhöhe? Daß ich nicht lache, du kleiner Knirps!“
fühlte sich der Friedensrichter überlegen; da’s aber am Ende aufs gleiche hinauslief, nahm er des Igels Vorschlag an.
Und schon am nächsten Abend konnte unser Nachtmeister mit der 1. Leiche aufwarten: Eine Amselfrau lag vogeltot vor einer Regentonne
jenes Gartens. Für Regehart war der Fall wenn nicht sonnen-, so doch dämmerungsklar. Entweder war der Täter eine Katze oder ein Bussard, oder das Nachtkäuzchen.
„Wieso?“ hakte unser Held nach.
Allen 3 Verdächtigen sei gemeinsam, daß sie Mäusevieh wilderten. Und wer so etwas Verbrecherisches tue, dem
sei auch ein Vogelmord zuzutrauen.
Unser Stropp sah das anders, denn an der Leiche hatte er keinerlei Stich- oder Hiebwunden feststellen können.
Dennoch nahm er seine Ermittlungen auf, aber ohne Vorverdacht. Und das war auch gut so! Und bekanntlich eine Stärke unseres Helden. Denn wenn dein gezeigtes Vertrauen echt
ist, kannst du auch das Vertrauen anderer gewinnen. Einer Katze begegnete er nicht, auch die Bussarde ließen sich zu keinem Gespräch
herab, aber das Käuzchen, das klagte. Und als es gewahrte, in unserem Nachtmeister einen aufmerksamen und geduldigen Zuhörer finden zu
können, da nutzte es die Gelegenheit. Ach, was sei alles so schlecht geworden in der Welt! Die Menschen! Die Regierung! Ja, und jetzt auch noch die Vögel! Jawoll! Sogar in der Ehe! Da sei doch gestern bei Amslers ein Streit entbrannt; und um was? Um ein paar Beeren! Obwohl’s davon hier genug gebe. Aber nein, Herr Amsler habe den Strauch allein für sich haben wollen; und als seine Frau ihm Kontra gegeben, da habe er sie in
die Flucht geschlagen und derart verfolgt, daß sie mit dem Kopf gegen die blaue Regentonne dort geprallt sei und leblos liegengeblieben.
„Gut, daß wir beide immer guten Frieden halten!“ kommentierte wenig später Frau Struppe des Falles
Lösung. „Eigentlich könntest du mir jetzt noch ein paar Beeren zum Nachtisch sammeln.“
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 13.1.2024
Qouz-Note: 2
***
MamM 1.168 Rosgarten
Es wär’ einmal eine wunderschöne Aue, mit saftigen Wiesen und Bächen, am Rande eines breiten Stromes, der auch als Landesgrenze galt.
Ideal dafür, hier riesige Rinderherden zu halten? Nun ja, die Tage waren warm und voller Sonnenschein, und in den Nächten rauschte der
Regen hernieder. Der führte jedoch nicht den Dichter Nebel im Gefolge, sondern ein kühlendes Lüftchen, so daß es in dieser Aue angenehm
zu leben war. Das entdeckten auch einige Kaufleute, Bankräuber und Versicherungsbetrüger und ließen deshalb dort eine große Stadt
erbauen. Nicht mit stinkenden Fabriken oder hallendem Straßenpflaster, sondern mit blühenden Gärten, dämpfenden Alleen und schattenden
Parks. Ja, blühend! Denn in den Gärten ward kein Gemüse angepflanzt und
auch kein Obst geerntet, sondern alles war darauf berechnet, daß es dort zu jeder Zeit üppig blühte. Sogar im Winter, da kein eisiger
Wind in jene Aue dringen konnte. Und alles strahlte in Pracht und Fülle. Vor allem die Rosen! Denn mit Nelken, Ringelblumen und Löwenzahn gaben sich die Stadtgründer gar nicht erst ab, weil sie jene für Kennzeichen der armen Leute
hielten. Nein, in Rosenbad waren nur reiche Menschen willkommen. Menschen? Eigentlich nur ihr Geld, aber das wurde ihnen nie
gesagt. Dennoch kamen sie in Scharen, in prächtigen Kutschen, geschmückt und geziert, stiegen in stattlichen Stadtpalästen ab und
vergeudeten Abend für Abend ihre Lebenszeit in Ballsälen und Kasinos, zu welchen ein Karlsberg oder Roulettenburg hätte neidisch aufblicken können. Und wenn die Opfer dann über den Eingängen den Spruch lasen: Wir helfen Ihnen zu einem kleinen Vermögen,
dann ergänzte mancher lachend: – wenn Sie uns Ihr großes geben, und ging trotzdem hinein;
die Kaufleute, Bankräuber und Versicherungsbetrüger aber lachten leiser und länger, denn ihr Geld verzinste sich 2stellig.
Severin war weder Kaufmann noch Bankräuber, noch Versicherungsbetrüger, auch niemand, der in Rosenbad sein Vergnügen suchte, sondern
Severin war ein Künstler und Meister des Geigenspiels. Seinem Instrument wußte er Töne zu entlocken, als wären’s Sonnenstrahlen, die
Blüten erweckend. Das hatte sich auch bei den Kaufleuten, Bankräubern und Versicherungsbetrügern herumgesprochen, und sie boten dem
jungen Meister viel Geld. Tscha, auch ein Geiger muß Geld verdienen; erst
recht, wenn er seine Severina heiraten will. Deshalb nahm er das Angebot an, den Ehestand dazu und
spielte Abend für Abend in den Ballsälen und Kasinos; herrlich und in Freuden?
Nicht hinter jeder blendenden Fassade stehen sichere Mauern. Abend für Abend heißt: 7mal in der
Woche; und Abend heißt: bis tief in die Nacht. Und bedenk nicht nur die
Ausgaben für Barbier und Schneider und Schuhmacher, sondern auch die Zeit, die du dafür opfern mußt. Und wenn es fast jede Nacht
regnet, kannst du nicht mit deiner Geige zu Fuß durch die Straßen eilen, mußt bei den Mietdroschken den Vergnügungsgästen den Vortritt lassen, also? Also mußt du dir eine eigene Kutsche halten, und die Kaufleute, Bankräuber und Versicherungsbetrüger erwarten dabei von dir, daß sich an deinem
Gefährt die Qualität deiner Kunst für jedermann ablesen läßt. Gut, daß Severin für all das Drum und Dran seine Severina
hatte; jedenfalls für vieles. So konnte er sich zwar nicht ausschließlich,
aber doch hauptsächlich seiner Kunst widmen: einspielen, auswählen, einüben.
Eine glückliche Ehe? Beide hätten behauptet, daß sie sich wunderbar ergänzten, und ohne Severina hätte Severin
niemals so zauberhaft spielen können. Andererseits: Zwar kam viel Geld ins Haus, aber zum gemeinsamen Ausgeben hatten die beiden keine
Zeit. Auch nicht für Erholungsreisen. Erst recht nicht für
Kinder. Und:
Ist dir ein Glück auf Erden beschieden,
ist’s nur gelieh’n befristet hienieden.
Unterhalb von Rosenbad lag wie von ungefähr ein kleiner Sumpf. Nicht tief genug, um darin unterzugehen, aber
für Kaufleute, Bankräuber und gewissenlose Stadträte gerade recht, um dort eigenen und auswärtigen Müll abzuladen. Dadurch entwickelten
sich dort giftige Dämpfe, die zwar nie in die Stadt gelangten, einem ahnungslosen Wanderer aber durchaus gefährlich werden konnten.
Auch einer Wanderin! Wie und warum Severina in jenen Sumpf gelangt war, wußte niemand zu sagen; jedenfalls wurde ihre Leiche eines Mittags dort gefunden und in die Stadt gebracht, als Severin sich gerade von seinem Nachtwerk erholt
hatte.
Severin wollte den Tod seiner geliebten Frau erst gar nicht wahrhaben; hatte er doch eben noch von ihr
geträumt. Aber das Bett neben ihm blieb leer, das Antlitz der Aufgebahrten leblos, und die Trauerfeier war ihm wie ein Keulenschlag:
Erde zu Erde, Staub zu Staub sowie der niederdrückende Ausblick auf ein Wiedersehen zum Endgericht. Severin war untröstlich und wußte nicht mehr, was Traum und was Wirklichkeit war. Und
als er am frühen Abend nach der Trauerfeier seine Geige zur Hand nahm, zersprangen ihm alle Saiten – bis auf eine. Und weil’s ganz
besondere Saiten waren, konnten sie nicht gleich ersetzt werden. Gut, als Meister hätte er auch einer einzigen Saite noch Großes
entlocken können, aber er nahm’s als Zeichen, fortgehen zu müssen, packte seine geliebte Geige, auch mit den gesprungenen Saiten, in seinen Geigenkasten und wanderte durch die abendlichen Alleen
aus der Stadt in die Dunkelheit hinaus.
Dunkelheit? Aber die Regenwolken –? Die zogen sich
nur über Rosenbad zusammen; doch je weiter er sich von der Stadt entfernte, desto deutlicher waren die Sterne zu sehen. Für den, der aufschaut; aber Kummer senkt den Blick, und Trauer verhüllt die
Augen. Allein – wer kaum noch etwas sieht, den kann sein Fuß doch lenken;
sogar einen Pfad, der für Fuhrwerke zu schmal ist. Und Severin wanderte und wanderte und wanderte die ganze Nacht hindurch.
Und als im Osten die 1. Sonnenstrahlen den Himmel verzauberten, gewahrte der Wanderer am Ende seines Weges eine übermannshohe Dornenhecke. Bevor er das Tor versuchte, mühte er sich, zwischen Dornen und Blättern hindurchzuspähen, was sich hinter der Hecke verbergen mochte. Eben stieg die Sonne hoch genug, um Strahlen in das Jenseits zu senden. Ja, das hier
war ein Garten! Kein Ziergarten wie in Rosenbad, sondern mit fruchtenden Obstbäumen, Bohnen und Kohl. Doch schon bald zog den Blick eine Pflanze in der Mitte des Gartens an: eine Rose, unschuldig und schön; und übergoldet durch die herbstlichen Strahlen der Sonne.
Da hielt’s Severin nicht mehr draußen, sondern er prüfte jetzt das Tor, fand es unverschlossen, klinkte es auf, eilte in den Garten, zur Rose, öffnete den Geigenkasten,
und hast du nicht gesehen, war die Geige angesetzt und spielte, als wären alle Saiten heil, und so wundersam wie nie zuvor. Und
plötzlich regte sich die Rose und wuchs und schüttelte sich, und hervor trat – War’s eine Prinzessin? Eine Fee? Kann denn eine Fee singen?
Etwa 3 Jahre später zogen eine Sängerin und ein Geiger durch die Lande.
Aber was die beiden vortrugen, weckte nicht die Blüten von Habgier und Leidenschaft, sondern von Barmherzigkeit, Friedfertigkeit und Güte. So kann auch eine Rose fruchtbar sein.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 16.1.2024
Qouz-Note: 2
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MamM 1.169 Nachtmeister Stropp und der Fall Wühlchen
„Hier ist noch etwas übrig“, sorgte sich Frau Struppe, „darf ich dir das auf deinen Teller legen?“
„Nein, danke“, lehnte unser Stropp ab, „ich bin satt. Nimm du nur
–“
„Bist du krank?“ argwöhnte die Eheliebste.
„Nein“, antwortete unser Igel. „Wie kommst du darauf?“
„Weil du keinen Nachschlag mehr nimmst“, führte die Igelin als Grund an. „Oder schmeckt es dir nicht mehr bei
mir?“
„Nein, nein, nein“, beeilte sich unser Nachtmeister. „Dein Essen ist vorzüglich! Danke, danke, danke. Aber ich bin kein junger Spund –“
„Oder hast du etwa woanders schon gegessen?“ fand Frau Struppe neuen Anlaß zum Argwohn.
„Nicht mehr als sonst“, versuchte unser Stropp zu verdünnen. „Aber ich soll ständig so viel bei dir fressen,
daß es mir hinterher schwer im Magen liegt. Das kann doch nicht gesund –“
„Jetzt sag bloß, ich mach’ dich krank“, wünschte die Igelin eigentlich das Gegenteil.
„Und dann bin ich hinterher so müde“, blieb unser Igel in Fahrt, „daß ich nichts schaff’. Das ist doch kein
Leben –“
„Was?“ ereiferte sich die Eheliebste. „Du bist meiner
überdrüssig? Ist das jetzt der Dank für all die Jahre –“
„– ehelicher Treue?“ ergänzte unser Nachtmeister arglos..
„– der Selbstaufopferung?“ präsentierte die Frau Gemahlin ihre Version. „Du ißt jetzt dieses Stück, oder –“
O weh! Da hing ein Haussegen wohl sehr schief, und ein Pulverfaß –
„Herr Nachtmeister, Herr Nachtmeister!“ kam durch unseren Bruhno Rettung im
letzten Augenblick. „Ein Mordfall! Ihr müßt sofort kommen!“
„Erst wird zu Ende gegessen!“ setzte Frau Struppe andere Prioritäten.
„Aber mein Teller ist doch schon leer“, verteidigte sich unser Nachtmeister. „Und wenn ich mich nicht beeile,
ist die Leiche bereits –“
„Was ist dir wichtiger“, spitzte die Igelin wieder zu: „ich und deine Ehe oder dein Dienst, der hier eigentlich nur ein Hobby ist?“
Da hatte sie gar nicht so unrecht; denn unsere Freundin und Freunde waren ja nicht in Dortwehr, sondern in
Rasenheim. Und wozu? Um Ferien zu
machen und sich zu erholen. Allein – Frauen fehlt ja bekanntlich viel zu oft das Verständnis dafür, daß Männer deren Wirkungskreis
nicht auf die Familie beschränken, sondern auch außerhalb Nächste finden.
„Erst das Höchste“, zeigte unser Stropp seine Rangfolge, „dann die Nächsten, dann die Arbeit und dann erst –“
„– ich?“ ergänzte Frau Struppe zürnend. „Scher dich fort! –“
Was unser Held auch sogleich tat, ehe seine Frau Gemahlin Unzutreffenderes nachschieben konnte.
Bei der Leiche nahm unser Igel sofort seine Ermittlungen auf und kam bald zu dem Ergebnis, daß der Fundort der Leiche auch der Tatort sein müsse.
Ungeniert hatten sich bereits einige Fliegen eingefunden, als hätte sie jemand zum Leichenschmaus eingeladen.
Aber über den Tathergang wußten sie nichts zu berichten.
„Schade“, bedauerte es unser kleiner Bär, dem ein schneller Aufklärungserfolg lieber gewesen wäre.
„Detektivarbeit“, war sein Lehrmeister erfahrener, „ist nicht hauptsächlich eine Denksportaufgabe, sondern mehr ein Säen, Wachen und Sammeln. Fasset eure Seelen mit Geduld, so haben sich die Menschen früher ermutigt; eine nützliche Lebensweisheit.“
Tscha, aber? Zunächst für unseren Stropp kein Aber, sondern ein Außerdem. Denn als er zu seiner Eheliebsten zurückkehrte, hing der Ehesegen noch immer nicht gerade, und im Ehebett lag eine stachelige Kugel, die so tat,
als ob sie fest schliefe.
„Und ich hab’ dich trotzdem lieb!“ flüsterte der Gatte und faßte seine Seele mit
Geduld.
Und nun kommen wir zu dem Aber. Denn als unser Nachtmeister mit seiner Lernkraft den Tat- und Fundort
am nächsten Abend wieder aufsuchte, war die Leiche verschwunden. War es nun für weitere
Ermittlungen zu spät? Denn aus den Augen, aus dem Sinn, kann auch hier Geltung
haben. Aber auch für unseren berühmten Helden?
Seine Augen gewahrten erst einmal ein Wühlmauspärchen, das so tat, als wär’s noch in den Flitterwochen. Obwohl
– ER bereits gesetzteren Alters war und SIE eher der Generation der Enkelinnen angehören mußte. Hier ein Verhör zu beginnen, das war
von vornherein aussichtslos und wäre auch rücksichtslos gewesen. Aber wie hatte der Lehrmeister am Morgen geraten? Säen, wachen und sammeln!
Doch wie beim letzten Fall: Einen Gesprächspartner gab es doch; der vieles von einer höheren Warte aus
sah. Und der stellte sich ein, als die Nacht den Tag gänzlich vertrieben hatte. Das
Käuzchen!
Natürlich fing es erst einmal an, zu klagen. Wie ungerecht die Welt, wie ungerecht die Menschen und wie weit
sich diese Ungerechtigkeit bereits auch unter den Tieren ausgebreitet habe. Da habe es zum Beispiel in der letzten Nacht lange ansitzen
müssen, weil es sich ja unter Wühlern und Huschern längst rumgesprochen habe, wer hier nachts auf seinen Wettkampf warte.
„Die klugen Tiere erwischste ja eigentlich nie; die bleiben meist in der Deckung und begnügen sich mit dem,
was sie unter Tage finden“, wußte der Vogel zu berichten. Aber die Törichten und Unzufriedenen, die seinen oft sehr unvorsichtig und
müßten eben durch Erfahrung gelehrt werden. Aber manchmal ereile das Schicksal auch erfahrene Tiere. Und dann sei es für einen Jäger sehr bitter, wenn er sich sein Nachtessen mit viel Mühe erarbeitet habe, aber es ein anderer verzehre, wie es,
das Käuzchen, auch wieder von gestern auf heute habe erleben müssen.
„Ach“, wurde unser kleiner Bär hellhörig, „die Wühlmaus hier war Eure –“
„Hast etwa du sie gefressen?“ gereichte es dem Käuzchen zum Mißtrauen.
„Ein schon etwas älteres Weibchen“, baute unser Stropp mal wieder meisterhaft die erforderlichen Brücken. „Ein
erfahrenes Tier. Sogar ein Muttertier. Wie konntet Ihr so herzlos sein, sie
zu –“
„Aber ihr Mann hatte sie doch gerade davongejagt“, rechtfertigte sich der Vogel. „Sie hätte die Nacht niemals
überlebt. Das siehste ja schon daran, daß sei inzwischen verschwunden ist.
Wenn sie nicht der Friedensrichter geholt hat, dann eine von den mörderischen Katzen oder der häßliche Graureiher.“
„Und weshalb hatte sie ihr Mann davongejagt?“ wollte Frau Struppe am nächsten
Morgen wissen. „Hat das Käuzchen das auch gesagt?“
„Weil Wühlchens Gatte aus Habgier ’ne jüngere gefreit hat“, antwortete unser Nachtmeister, beeilte sich aber, hinzuzufügen: „Welch ein Dummkopf! Solch eine Torheit käme mir gar nicht erst in den Sinn!“
„Das will ich dir auch geraten haben“, schnippte die Eheliebste; doch der Haussegen hing wieder gerade, und
die Hausfrau hatte das letzte Wort. Vorerst.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 13.1.2024
Qouz-Note: 2
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MamM 1.170 Nachtmeister Stropp und der Fall Grünenspott
Wer im Dorfe, in der Stadt
einen Grünspecht wohnen hat,
der sei freundlich und bescheiden,
denn das mag der Vogel leiden;
doch lacht er dich tüchtig aus,
stehste mürrisch vor dem Haus.
Ach, ja, dieser Sommer war zwar heiß und trocken, aber dem, der sammelt, auch sehr reich. So kamen auch unsere 4 Freunde gut über die
Runden und – setzten sogar ein bißchen zu. Denn die Runden unseres Nachtmeisters und seines gelehrigen Gehilfen waren in der
Sommerfrische zu Rasenheim wesentlich kürzer als in Dortwehr. Unser Stropp und unser Bruhno brauchten eigentlich nur im Garten nach dem Rechten zu sehen, ein Schwätzchen mit dem Nachtkäuzchen zu halten und – Na ja, in einem Garten gibt’s eben immer
was zu naschen. Und weil Frau Struppe bekanntlich eine gute Köchin ist und der Waschbär
Wastel mal eben die nötigen Gewürze besorgen konnte, nahmen unsere Freunde nicht nur an Weisheit und Alter zu, sondern auch an –? Richtig! Am Winterspeck, wie’s in etlichen Familien rechtfertigend genannt
wird.
Ein Abenteuer muß ich freilich noch nachschicken, das unsere Freundin und unsere Freunde nicht am Ende des Sommers, sondern in dessen
Anfangstagen erlebten.
Wahrscheinlich hast du dich schon über die einleitenden Verse gewundert, bei denen ein berühmter Bienenfreund Gevatter gestanden hat. Uns Menschen erscheint der Grünspecht ja vielfach als ein besonders lustiger Vogel;
sofern – wir keinen Rasen zu pflegen haben oder in einem Haus wohnen, dessen Fassade nach weichem Holz klingt oder wo sich Fliegen, Mücken oder gar Ameisen gerne einmieten. Ja, wer mit diesen Ausnahmen nicht belastet ist, dem wird das Spechtgelächter zuweilen sogar ansteckend, und er zieht seine Straße fortan fröhlicher. Wer dagegen
im Schweiße seines Angesichtes hart arbeiten muß, vielleicht Löcher sogar verstopfen, der hört aus dem
lustigen Rufen nur Spott heraus und macht noch verdrossener weiter. Ja, und dann sind da noch die Schichtarbeiter, zum Beispiel der Nachtkauz, und die
sind auf die Grünspechte gar nicht gut zu sprechen.
Und ein Schichtarbeiter ist ja eigentlich auch unser Igel, wenn auch seine Eheliebste ihn jetzt nicht Arbeiter genannt hätte. „Frau Nachtmeister Struppe“ macht nun mal mehr her als „Frau Nachtarbeiter Struppe“;
oder? Doch verfeindet waren unsere Freundin und unsere Freunde mit den Grünspechten nicht, aber doch hin und wieder etwas ungehalten,
wenn tagsüber die Schlafruhe nicht eingehalten wurde.
Eines Morgens – Igelin, Bär, Waschbär und Nachtmeister saßen gerade nach getanem Nachtwerk beim Morgenmahl – ward sogar dieses durch einen grünen Vogel
gestört. Frau Struppe wollte sich das gerade streng verbitten, da ereichten bereits die ersten Worte ihr gutes Herz:
Entführung! Kindesentführung! Wie entsetzlich!
Unser Stropp jedoch blieb gelassen, ja, sogar abweisend und kalt. Weshalb Herr Grünenspott (so hieß der Störenfried) gerade zu ihm, Stropp, komme?
Er sei doch hier der neue Nachtmeister, konnte der Vogel diese Frage gar nicht fassen, und es sei höchste Eile geboten.
„Eben!“ pflichtete unser Stropp bei, raunte dem aufgeregten Vater jedoch heimlich zu, jetzt nicht zu
erschrecken. Lauter fuhr er fort, er habe in seiner Ausbildung um Entführungsfälle immer einen großen Bogen gemacht und auch beim Lesen
der einschlägigen Literatur solche Seiten gerne überblättert. Weshalb?
Zuviel Hektik! Und dabei sei die Gefahr von Fehlern viel zu groß; von
Fehlern, die verheerende Konsequenzen haben könnten! Deshalb – so leid es ihm tue – könne und wolle er diesen Fall hier nicht
übernehmen und müsse Wastel bitten, den Besuch zur Gartenpforte zu geleiten.
Na, da war aber was los! Frau Struppe hätte am liebsten Nudelholz oder Teppichklopfer geholt, um ihrem Gatten
Manieren und Pflichtbewußtsein beizubringen. Auch unser Bruhno blickte arg enttäuscht drein und verstand die Welt nicht
mehr. Und als Wastel in den Kreis zurückkehrte, mußte er berichten, dem Spechtvater sei fast das Herz gebrochen.
Unser Igel ließ alle Vorwürfe über sich ergehen und lüftete erst nach einer Weile das Geheimnis über sein befremdendes Verhalten.
„Er ist weg“, begann er leise, „aber wir müssen vorsichtig sein, vielleicht hat er Spione gedungen. Deshalb
schimpft jetzt noch eine Weile auf mich ein und verzieht keine Miene, während ich euch ein paar Fragen stelle, ohne mein Maul besonders zu bewegen.
Also! Was fürchtet ein Entführer am meisten? Richtig! Daß die Angehörigen die Polizei einschalten! Wann und wo muß er folglich ganz
besonders auf der Lauer liegen? Richtig! Wenn die Angehörigen das Haus
verlassen und sich zur Polizei begeben. Und auf was muß die Polizei besonders achtgeben? Richtig gedacht, mein lieber Bruhno! Ob sie belauscht wird. Und ich kann euch sagen: Wir wurden eben belauscht! Und der Lauscher hätte sogar ein
Motiv gehabt! Vielleicht sogar 2 Motive! Denn ich weiß vom Nachtkäuzchen,
daß es bei dem Lauscher in diesem Jahr mit dem Kinderwunsch nicht geklappt hat. Außerdem ist sein bisheriges Zuhause baufällig
geworden, so daß ihm ein Zimmermann gerade recht käme. Nun, welches Motiv hier in Frage kommt, konnte ich natürlich noch nicht
herausfinden, aber ich bin mir ziemlich sicher, zu wissen, wer der Entführer ist. Allein – hätte ich den Fall jetzt übernommen, während
Herr Grünenspott bei uns vorsprach, was wäre passiert? Richtig gedacht, Bruhno! Der Entführer wäre in Panik geraten, und das Entführungsopfer vermutlich gar zu Tode gekommen. Das durfte ich nicht riskieren; und deshalb mein ganzes Theater. So, Frau Struppe, wir beide gehen nun ich aller Ruhe zu Bett. Ihr beide aber macht
euch bitte auf die Socken und fangt an zu suchen. Bei euch fällt’s am wenigsten auf, wenn ihr auch tagsüber unterwegs seid. Weit kann das Versteck nicht entfernt sein, wo das Opfer gefangengehalten wird; und
wie ich die kleinen Grünspechte kenne, wird es sich nicht leicht den Schnabel zuhalten lassen. Und wenn ihr’s gefunden habt, dann kommt
rasch zurück. Ihr dürft uns ruhig wecken; denn je früher das Kind befreit
wird, desto besser. Und schaut bitte, daß ihr unauffällig recht bald einen Boten zu Herrn Grünenspecht und dessen Gattin schickt, diese
zu trösten; am besten ein vertrauenswürdiges Rotkehlchen. Ansonsten gilt:
Je mehr sich der Entführer in Sicherheit wiegt, desto besser!“
Tscha, was kann ich dir sagen? Recht bald schlichen 4 Gestalten zu einer Remise, und – hast du nicht gesehen –
war der kleine Grünspecht befreit.
Ach so, der Entführer! Ein armer, obdachloser Elstermann, dem unser Stropp statt einer langen
Untersuchungshaft Raum zur Buße gab. Und zwar versöhnend! Der Verzweifelte hatte nämlich künftig den Tisch bei Grünenspotts mit frischem Obst zu versorgen. Tscha, unser lieber Stropp ist eben ein einzigartiger Meister und Friedensstifter, auch wenn’s auf den 1. Blick zuweilen nicht zu erkennen
ist.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 13.1.2024
Qouz-Note: 2-
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MamM 1.171 Zorn Gottes?
„Und da hat mich der göttliche Zorn erfaßt“, berichtete Don Steinbrecher, „und ich habe ihn angeherrscht, er solle –“
„Soll? Herrschen? Göttlicher Zorn?“ fremdete es den Alten von der Halbinsel. „Kann denn Gott zornig sein?“
„Das wollt’ ich Euch längst selber mal fragen“, drehte der Besucher zunächst um. „Meiner Meinung nach:
ja!“
„Ich weiß es jedenfalls nicht“, gestand der Alte. „Wenn ich versuche, mich in ein Wesen hineinzuversetzen, für
das die Zukunft bereits Gegenwart –“
„Nehmt nur Euer Buch da zur Hand“, fuhr Don Steinbrecher Beweismaterial auf. „Die Psalmen sind voll davon. Und deshalb dürfen auch wir Menschen –“
„Das überzeugt mich alles nicht“, beharrte der Alte. „Ich kann nachvollziehen, daß sich ein gegenwärtiges
menschliches Verhalten nicht mit Gott verträgt; zum Beispiel die Lüge. Aber Zorn ist mehr
denn Abweisung. Zorn drückt eigentlich aus, daß ich mich nicht des guten Endes besinne. Zorn dramatisiert, vergrößert, –“
„Nehmt doch nur die Sintflut“, erschien dem Besucher alles ganz einfach. „In seinem Zorn hat Gott –“
„– etwas gereut“, ergänzte der Alte, „nach Aussage des menschlichen Berichterstatters. Und hat ihn dann die
Sintflut gereut? Da werden wohl auch Kinder und Ungeborene –“
„Weil Gott uns nach seinem Bilde geschaffen hat“, fand Don Steinbrecher seine Erklärung, „können wir schließen –“
„Mir kommt’s oft andersherum vor“, seufzte der Alte. „Nein, die Evangelien zeigen einen anderen Gott. Solch einen kann sich kein Mensch ausdenken. Und wenn ich zornig bin, dann bin ich eben nicht
göttlich, sondern drücke damit aus, daß ich nicht zu helfen weiß“, und er begann zu erzählen:
Es wär’ einmal, ja, ein Königssohn, der hieß – der hieß Schurg. Doch noch ehe er seine Herkunft begreifen
konnte, wurde er geraubt und – alles andere als königlich großgezogen. Seine Eltern seien tot, wurde ihm von Kindesbeinen eingebleut,
und er sei für einen Gotteslohn von seinen Pflegeeltern aufgenommen worden. Diese schienen aber jenen Gotteslohn nicht allzu hoch
einzuschätzen, sondern gedachten ihn erheblich mit Kindesdank aufzubessern; obwohl – Dankbarkeit setzt eigentlich eine Vorleistung
voraus. Jedoch – soweit sich Schurg erinnern konnte, war’s umgekehrt: Wollte er Kost und Logis erhalten, mußte er erst einmal hart
arbeiten; hätte er das nicht getan, dann hätte es weder Essen noch Obdach gegeben. Ein männliches Aschenputtel?
Nun, das Aschenputtel aus dem Märchenbuch hatte wenigstens noch einen Vater! Auch ein Grab, an dem es weinen
konnte! Und ein Haselreis! Schurg hatte solches alles nicht. Und als er glaubte, das Dasein in seiner Pflegefamilie sei unerträglich geworden, lief er davon; es konnte doch nur besser werden, oder?
Ach, wie viele Samariter gibt es unter 100 Menschen? 50? 10? Einen? Hier und da
zuweilen eine! So daß Schurg nicht verhungerte. Aber gar bald mußte er
immer wieder weiterziehen. Und der Argwohn, der ihm entgegenschlug, war ja nicht ganz unbegründet; denn wenn du Hunger hast und niemand gibt dir was, dann mußt du’s dir irgendwann nehmen.
So kam Schurg in ein Land, dessen Fürst zuviel mit Bleisoldaten gespielt hatte und unbedingt mit seinen Erfahrungen in die Geschichte eingehen wollte. Deshalb versuchte er, alle jungen Leute in den grauen Feldrock zu locken. Da ließ
sich mancher anwerben und war bereit, gegen pünktlichen Sold und erhoffte Beute Menschen zu töten, als wären diese Vieh. Und als jener
Fürst meinte, genügend Söldner gedungen zu haben, wollte er nicht lange fackeln und ließ sie ins Nachbarland einmarschieren. Jedoch –
nach anfänglichen Überraschungssiegen kamen immer wieder Söldner zurück: angeblich als Helden, aber wohnhaft in Sarg oder Urne; oder
fanden ihre letzte Ruhestätte in Feindesland. Da nahm die Begeisterung unter den jungen Untertanen jenes Fürsten drastisch ab, so daß
dieser zu anderen Maßnahmen greifen mußte. So ließ er einfach alle Häftlinge in seine Armee pressen; und darunter war auch Schurg, der eines Einbruchs verdächtigt worden war.
O weh! Gegen das, was Schurg nun durchmachen mußte, war seine Kindheit sozusagen ein Kinderspiel
gewesen. Mochte er zuvor gegen das 7. Gebot verstoßen haben, der Krieg bricht alle 10! Die Folge? Bei Tage traust du dich nicht mehr, dir in einem Spiegel in die Augen zu
sehen, und des Nachts graben sich die entsetzlichen Bilder und Schreie in deine Träume ein. Umkehren, das geht nicht; denn Deserteure werden erschossen. Augen zu und durch, das geht auch
nicht; denn der Feind kämpft für seine Heimat und seine Familie, der Aggressor nur für ein schnelles Ende. Und wenn er da wählen kann zwischen Tod und Gefangenschaft, was –
Schurg ließ sich gefangennehmen; da er aber kein Untertan des angreifenden Fürsten war, wurde er bezichtigt,
ein angeworbener Fremdenlegionär zu sein. Und darauf stand die Todesstrafe, es sei denn – Es sei denn, Schurg trete in die Armee
der Verteidiger ein.
Schurg bat sich Bedenkzeit aus, und gleich in der nächsten Nacht gelang es ihm, zu fliehen. Nun war er ganz
unten: hüben wie drüben vogelfrei! Und ohne Ziel!
Allein – wie von ungefähr geriet er in einen großen Garten und – sank erschöpft nieder. Und schlief
ein. Als er wieder erwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel und vor dem Flüchtling: die Gärtnerin! Nicht erzürnt über den Eindringling, sondern eher forschend und schätzend.
Ob er in ihre Dienste treten wolle, hielt sie sich nicht lange auf. Als Gärtnergehilfe.
„Habt Ihr denn keine Angst vor mir?“ wunderte sich Schurg. „Wißt Ihr überhaupt, wer ich –“
„Muß ich das wissen?“ fragte die junge Frau verneinend.
„Ich brauche nur zu wissen, was ich will und was du willst und kannst. Und mit meiner Frage habe ich dir doch deutlich gezeigt, daß ich
dir was zutraue. Und jetzt fehlt nur noch dein Wille. Also?“
Und ob Schurg wollte! Und erst recht wollte er, als er merkte, daß es hier andersherum zuging als in seiner
Kindheit. Die Gärtnerin bat ihn erst einmal zu Tisch, damit der Gehilfe zu Kräften –“
„Aber was hat das alles mit dem Zorn Gottes zu tun?“ konnte sich Don
Steinbrecher nicht länger zurückhalten.
„Viel und nichts“, antwortete der Alte schmunzelnd. „Der Mensch sieht in seinem Zorn nur auf das Unkraut und
behindert, ja, zertritt dabei oft die gute Saat. Gottes Güte jedoch sieht erst auf den guten
Samen, hegt und pflegt ihn und läßt diesem das Unkraut dienen. So lernte es jedenfalls Schurg in jenem Garten. Durch das Unkraut wurden eisige Winde gemildert. Durch das Unkraut blieb der Boden
länger feucht. Durch das Unkraut wurden mehr Insekten angelockt. Von
solchen klugen Gärtnerinnen könnten wir noch sehr viel lernen über Gott, sofern sie das Paradies –“
Doch dem Besucher hatte es längst gereicht, und zornig war er gegangen.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 16.1.2024
Qouz-Note: 4+
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MamM 1.172 Nachwächter Nimmereil und – der Wildler
Tscha, wo fang’ ich heute an? Eigentlich müßte das ein Erzähler immer wissen. Aber frag dich ruhig mal selbst: War das Ei vor der
Henne oder die Henne vor dem Ei? Siehste, nun kannste mich besser verstehen.
Am besten, ich beginne mit denen, die als erste abtreten: mit unseren 4 Freundin und Freunden in der Sommerfrische zu Rasenheim. Gut, es war sehr schön da, die Arbeit nicht mühsam, und Speis’ und Trank gab’s wie im Paradies; aber irgendwann zieht’s dich doch in die
heimatlichen Gefilde zurück. Und da traf es sich gut, daß auch der Schlendertünnes wieder zurückreisen wollte, so daß ihm unsere 4 Freundin und Freunde
nur zu folgen brauchten.
Allein – dieses Mal wählte der Schlendertünnes eine andere Route als bei der Hinfahrt: nicht entlang der Rührich, Öder und Gewitter mit nur 3mal Umsteigen, sondern entlang der Lange, der Diele und der Lene mit 5mal Umsteigen. Tscha, bis Graugericht ging alles gut, aber dort
hatte der B-Zug Verspätung, und der Anschlußbrummer wollte nicht warten. Ach so, du weißt nicht, was ein B-Zug ist? Das ist ein
Bummelzug, der sozusagen in jedem Dorf hält und germenglisch mit IV abgekürzt wird: InterVillage (nach der deutschen Formenlehre nicht so ganz korrekt, aber du
darfst von den sitzenden Bahnbeamten in der Zentraldirektion kein sprachliches Bewandertsein erwarten). Und ein Brummer?
Nee, damit kann ich mich jetzt nicht aufhalten; am besten, du fährst auch mal mit dem IV nach Graugericht, dann wirst du ihm bestimmt begegnen. Jedenfalls erreichten der
Schlendertünnes und unsere 4 Freundin und Freunde den Brummer noch kurz vor dessen Abfahrt, jener ergatterte sogar noch einen der letzten Sitzplätze, und unsere 4 mußten sehr aufpassen, von den
stehenden Fahrgästen nicht getreten zu werden. Ob sich über sie niemand gewundert hat? Nee, weißt du, in den Zügen hierzulande
hat keiner mehr einen Blick für andere Fahrgäste, noch nicht einmal, wenn diese gebrechlich sind. Jedenfalls erreichten unsere glorreichen 4 nebst dem Verfolgten endlich Altenstadt und dann auch ihre Unterkünfte.
Nee, was war Emma von Nowotny froh, alle gesund wiederzusehen! Die Schildkröte wußte auch gleich unserm Stropp von einem neuen Fall zu berichten: Im Kühlebachtal liege ein totes junges Reh am Wegesrand, und niemand wisse, wer der Täter sei. Angeblich biete es einen
grausigen Anblick und habe auch schon als Frühstück und Abendbrot gedient. Verständlich, daß unser Nachtmeister keine große Eile an den Tag legte, den Tatort zu besichtigen.
Erst in den Morgenstunden ließ er sich vom Waschbären Wastel ins Kühlebachtal bringen;
doch die Leiche war spurlos verschwunden. Nun ja, Leichenverwendung gilt im Tierreich nicht als ein schweres Verbrechen, so daß unser Held sich nicht besonders anstrengte, dazu nach Spuren
zu suchen. Wichtiger war ihm etwas anderes: herauszufinden, wie das Reh zu Tode gekommen war. Eine Selbsttötung war sehr unwahrscheinlich; Schrot oder Kugeln waren am ehemaligen
Fundort auch nicht zu entdecken, obwohl Blutspuren darauf hindeuteten, daß ehemaliger Fundort und Tatort identisch sein mußten. Spuren von anderen Waffen? Fehlanzeige, zumal die Leiche ja entfernt worden war. Aber da! Dem scharfen Auge unseres Igels entging eben nichts von Bedeutung!
Radspuren! Von 4 Rädern! Kennst du Tiere, die auf 4 Rädern unterwegs sind? Also selbstfahrend und lebendig und somit als
Täter? Nein? Unser Stropp und unser Bruhno konnten sich das auch nicht vorstellen. Also? Also mußte ein Mensch der Täter gewesen sein, und
damit gehörte der Fall in den Zuständigkeitsbereich des Nachtwächters.
Und so kam es, daß unser lieber Nimmereil und seine Lernkraft Noah bereits am nächsten Abend mit
ihren Ermittlungen begannen. Und damit sind wir beim 2. Anfang dieser Geschichte.
Du willst doch bestimmt wissen, weshalb wir so lange nichts mehr von den beiden Nachtmenschen gehört haben; oder? Tscha, stell dir vor: Hanneohre vom Stein blieb wochenlang wie vom Erdboden verschluckt! Selbst Pfaul-Friedolin wußte nichts vom Verbleib der Häsin. Doch als die beiden Nachtmenschen an jenem Abend mit ihren Ermittlungen begannen, wer schlich da heimlich an
einer Hauswand entlang? Hanneohre vom Stein! Ach, was waren die beiden Menschen froh, die
Häsin heil wiederzusehen! Jedoch – sie waren nicht so taktlos, die Häsin auszufragen, sondern bekundeten lediglich, daß sie sich große Sorgen gemacht hatten. Die Häsin nahm’s zwar zur
Kenntnis, aber nicht auf, so daß wir bis heute noch nicht wissen, wo sie all die Tage abgeblieben war.
Nachdem unsere beiden Nachtmenschen anschließend noch die Schildkröte Frieda und den Lümmel von
Lützelingen begrüßt hatten, schickte der Nachtwächter seine Lernkraft heimlich zum Hasen Pfaul-Friedolin, um ihm die frohe Kunde zu überbringen. Und der Igelhorst? Da kann ich jetzt nicht drauf eingehen; nun war der nämlich weg.
Jedenfalls war der Hase über die guten Nachrichten derart erfreut, daß er unserem Noah gleich einen Strauß hübscher Astern mitgab, der umgehend zugestellt und gnädig
entgegengenommen wurde. Dann suchte Noah seinen Lehrherren.
Er fand ihn, als dieser gerade mit aufgesetzter Amtsmiene ein privates Grundstück betreten wollte. Dort stand ein Schuppen, aus dessen Fenster spärlich der Schein
einer Laterne herausfunzelte. Die beiden Friedenshüter traten leise näher und – lugten vorsichtig hinein.
Ah! Ein Fahrwagen! Ein junger Mann! Machte sich gerade an den Rädern zu schaffen! Auswechseln? Die hatten’s nötig! Vorne jedenfalls. Da! Flecken! Rote Flecken? Das mußte näher überprüft werden. Ohne anzuklopfen, ging Nimmereil hinein, gefolgt von seiner Lernkraft.
Während Noah nur Augen für den aufgeschreckten jungen Mann hatte, war der Nachtwächter bereits zur Vorderseite des Wagens getreten und – nahm sie näher in
Augenschein. Tatsächlich!
„Abraham“, wandte sich Nimmereil an den jungen Mann, „hast du mir was zu sagen? – Keine Umschweife! Bist du das, der das junge Reh im Kühlebachtal auf dem Gewissen hat?“
Und wie! Eigentlich war er ja fürs Weinen schon zu groß. Aber als er beteuerte, er hätte es nicht so gewollt, es sei ein Unfall gewesen, da kullerten doch
Tränen. Es sei ein Nervenkitzel, von der Tränenstraße ins Tal zu rasen, und spätabends sei da normalerweise kein Mensch unterwegs. Mit dem Reh habe er gar nicht gerechnet. Er
habe noch ausweichen wollen, aber dadurch habe er das Tier erst recht getroffen.
„Mein lieber Abs“, weckten des Nachtwächters Worte Hoffnung, „eigentlich müßte ich dich festnehmen und den Fall dem Amtsrichter
melden. Aber was bringt das? Dir vor allem einen schlechten Ruf. Ich glaub’ dir, daß du das Tier nicht absichtlich getötet
hast, sonst hättest du’s wie ein Wilderer gleich mitgenommen. Allein – lebendig machen kannst du das Reh nie mehr; aber du kannst das Geschehene zum Anlaß nehmen, dich zu
ändern. Das geht aber nicht auf Befehl, sondern nur auf dein Wollen. Deshalb leg’ ich dir jetzt weder Strafe noch Buße auf, aber ich werde mich künftig regelmäßig bei dir erkundigen,
welche Schritte du gegangen bist. Einverstanden?"
Und ob Abs einverstanden war! Nur Noah brummelte etwas von Ungerechtigkeit.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 12.12.2023
Qouz-Note: 4
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MamM 1.173 Nachwächter Nimmereil und – Sagichnett
Ich muß wohl noch ein paar Worte zum Abraham aus der letzten Geschichte verlieren. Nee, er war kein Moslem, denn sonst hätte er wohl Ibrahim geheißen. Jüdischen Glaubens war er auch
nicht, und christlich getauft, nee, auch da Fehlanzeige. Nee, seine Eltern hatten mit Religion nichts am Hut, ärgerten sich sogar über aufdringliches Glockengeläut und hatten jenen Vornamen
nur aus 2 Gründen für ihr einziges Kind gewählt: 1. sei es ein Fürstenname, und 2. stehe er für Fruchtbarkeit. Tscha, so ist das unter den Menschen: Sie sind lieber Großeltern denn
Eltern. Nun, irgendwann gefiel dem Herrn Sohn sein Vorname nicht mehr, und er kürzte ihn ab zu: Abs.
Ansonsten ging das Leben in unserem Nachtwächterbezirk wieder in geordneten Bahnen. Lernkraft Noah lernte eifrig und hielt die
Verbindung zwischen Hanneohre vom Stein und ihrem Hasenfreund Pfaul-Friedolin aufrecht, und Nimmereil sah überall nach dem Rechten und hielt alles in gutem Frieden. Gut, hier und da mußten mal Lauselümmel ermahnt werden, die Nachtruhe einzuhalten, aber
nicht mit einem drohenden Knüppel, sondern mit Brücken zur Einsicht.
Es ist eben ein zu weit verbreiteter Trugschluß, ein Nachtwächter täte nichts lieber, denn zu schimpfen und zu strafen. Nee, ein Nachtwächter will Frieden stiften,
Menschen und deren Hab und Gut beschützen und – Freude machen. Jedenfalls Nimmereil!
Nun hatte er eben wieder etwas mehr Luft und Zeit für diese Aufgabe; er dachte nach, und da fiel ihm Lümmel von Lützelingen ein.
Nein, nicht der Gartenzwerg! So hättest du ihn niemals nennen dürfen. Nein, er war Gärtnermeister und Gartenriese; denn Ameise und Käfer mußten zu ihm
mächtig aufschauen; sogar die Meise, wenn – sie nicht gerade auf seinem Kopf saß. Ja, ja, für solche Respektlosigkeit sind Meisen überall bekannt. Und wenn’s vom Kirschbaum
wisperte: „Guckt mal, der Lümmel hat ’ne Meise!“ na, dann war die Laune unseres Gärtnermeisters arg getrübt und tief im Keller.
Wenn Nimmereil von solcher Respektlosigkeit Kunde erhielt, dann wandte er sich seufzend und belehrend an seine Lernkraft: „Was hilft es dir, wenn du alle anderen
überragst, aber eine Meise sich bei dir auf den Kopf setzt! Laß dir deshalb auch nie ein Denkmal setzen, denn wie schnell sieht es beschissen aus und ist kein Zeichen mehr der Ehre, sondern
der Schande.“
Aber irgendwann und irgendwie tat Lümmel von Lützelingen dem Nachtwächter leid und dessen Lernkraft nicht minder. Die beiden
sannen und sannen, und es war natürlich Nimmereil, dem endlich das Folgende einfiel. Er konnte es mal wieder nicht lassen, dieser Altgeselle. Was? Na, das wirste schon noch hören oder lesen.
„Na, Lümmel“, fragte er bei der nächsten Begegnung wie von ungefähr, „wann lädst du mich eigentlich zu deiner Hochzeit ein?“
„Hochzeit?“ stutze der Gartenriese. „Weiß von keiner Hochzeit!“
„Na, dann wird’s aber langsam Zeit“, ließ sich Nimmereil nicht so einfach abwimmeln. „Du bist doch ein hübscher Bursche, in den besten Jahren, hast Vermögen und –
sogar etwas, das sich nach einem Adelstitel –“
„Das ist auch ein Adelstitel!“ stellte Herr von Lützelingen richtig.
„Na, also!“ griff’s der Nachtwächter auf. „Dann laufen dir die Mädchen bestimmt schon die Bude ein. Duftet’s hier nicht irgendwie nach –“
„Nichts duftet hier!“ widersprach der Gärtnermeister. „Und die Bude rennt mir auch niemand ein.“
„So?“ schien Nimmereil sich zu wundern. „Da hab’ ich aber was anderes –“
„Mädchen sind doof!“ unterbrach ihn Lümmel. „Die wollen immer nur das Eine!“
„Und was?“ erkundigte sich der Nachtwächter.
„Herrschen, du Döskopp!“ wurde Herr von Lützelingen ritterlich, also grob. „Das müßtest du eigentlich wissen, denn du bist doch auch nicht verheiratet; meines
Wissen –“
„Das hat andere Gründe“, folgte Nimmereil dieser Logik nicht. „Mein Sold gibt nicht soviel her, daß ich mir eine Frau leisten –“
„Eben!“ griff’s der Gartenriese auf. „Biste erst verheiratet, dann mußte schuften, all das Geld ins Haus zu tragen, das deine Frau mit vollen Händen zum
Fenster wieder hinauswirft.“
„Och“, gab sich der Nachwächter einfältig, „hinausgeworfen, das ist auf der anderen Seite herausgeworfen. Du brauchst also nur draußen unterm Fenster
stehenzubleiben und –“
„Spaßvogel!“ fand’s der Gärtnermeister gar nicht lustig. „Meinste, die wirft das mir zu? Nee, mein
Freund, das ist für den Schneider, die Putzmacherin, den Juwelier, ach, ich kann’s gar nicht alles aufzählen.“
„Na, was ich da im Auge habe“, wurde Nimmereil konkreter, „die ist aber bestimmt nicht putzsüchtig.“
„Na, dann heirat sie mal“, gab sich Lümmel lebenserfahren, „dann wirste schon sehen, –“
„Nee, nee“, wehrte der Nachtwächter lachend ab, „die ist nicht für mich, sondern wär’ gewiß was für dich.“
„Wie sieht sie denn aus?“ konnte Lümmel das nicht unterdrücken, was er gerne bei sich und andern Mannsbildern
Wissensdurst zu nennen pflegte.
„Hübsch“, begann Nimmereil aufzuzählen, „freundlich, tugend–“
„Ist – Ist sie größer als ich?“ schien’s Herrn von Lützelingen sehr wichtig zu sein.
„Nein“, beugte unser Nachtwächter Ängsten vor. „Sie könnte immer zu dir aufschauen.“
„Und wie heißt sie?“ schien dem Gartenriesen auch das von einer gewissen Bedeutung zu sein.
„Sagichnett“, antwortete Nimmereil.
„Willst du mich veräppeln?“ brauste der Gärtnermeister auf.
„Beileibe nein!“ versuchte unser Nachtwächter zu beschwichtigen. „Ich hatte sie nach ihrem Namen gefragt, und so hat sie ihn mir genannt.“
„Merkwürdig!“ rätselte Lümmel. „Aber immerhin mit -nett am Ende. Nomen, eßt Oma!“ war’s als Anzeichen von Bildung gedacht.
„Willst du sie also mal besuchen?“ erwartete Nimmereil eigentlich Zustimmung.
„Kommt gar nicht in Frage!“ protestierte Herr von Lützelingen. „Fängt ein Mann erst mal so an, dann zieht er bald zu IHR und steht dann nur noch unter IHREM
Pantoffel!“
Also wurde vereinbart, daß Noah die Schöne abzuholen, herzubringen und bei Nichtgefallen wieder zurückzubringen habe.
Na, das konnte ja heiter werden!
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 12.12.2023
Qouz-Note: 4+
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MamM 1.174 Martheline Freudenreich
„Hattet Ihr nicht Geburtstag?“ wartete Donna Niedersen keine Antwort ab, sondern: „Dann wünsch’ ich Euch
viel Gesundheit und viel Erfolg –“
„Einmal im Jahr“, antwortete der Alte von der Halbinsel. „So ist’s üblich, wenn’s nicht
gerade der 29. im Februar –“
„Ja, Hauptsache: gesund!“ war die Besucherin noch immer an ihrem Wunsch angeschlossen.
„Sache?“ zweifelte der Alte. „Aber ich geb’ zu: Wem die Gesundheit fehlt, dem fehlt viel. Jedoch –
welcher Mensch kann schon von sich sagen, er sei –“
„Ach, wenn ich da an diese oder jenen denke“, schöpfte Donna Niedersen noch immer aus ihrer eigenen Zisterne, „da hab’ ich’s doch gut angetroffen. Der Segen des
HERRN –“
„– wäre auf den Kranken nicht?“ zweifelte der Alte erneut.
„Das ist doch offensichtlich!“ war’s der Besucherin keine Frage.
Tscha, wenn das Erdenleben keine Reise wär’“, hob’s der Alte mit einer Bedingung auf. „So haben’s viele Milliarden von Menschen erlebt – ohne Ausnahme. Und es
hat ihnen nichts geholfen, wenn sie sich viele Jahre gesund gefühlt haben; irgendwann mußten sie alle davon.“
„Ach, an so was dürft Ihr gar nicht denken“, zehrte Donna Niedersen von ihrer Lebenskunst; „Hauptsache, heute gelebt; was morgen ist, werden wir dann ja
sehen.“
„Schon wieder eine Sache?“ blieb der Alte hängen. „Ich denk’, der Segen Gottes wirkt in unseren Herzen und nicht in unseren Kleidern“, und er begann zu erzählen:
Es wär’ einmal ein junger Mann, der hieß – der hieß Freudenreich. Den hatte es schon früh aus seinem Elternhause
geworfen; so früh, daß er gar nicht mehr genau wußte, was in seinen Vorstellungen Erinnerung und Tatsachen waren und was Sage, Gerücht und Bilder. Deshalb war’s ihm auch kein sicheres
Fundament, auf dem er seine Hoffnungen bauen konnte. Auch kein Ziel für sein Trachten und Streben.
Kamen auch für ihn Tage, von denen wir Menschen sprechen: Sie gefallen uns
nicht, dann fühlte er in sich schon die Sehnsucht nach etwas Besserem. Aber er machte sich nicht neuen Mut, bald nach Hause zu kommen, sondern
damit, daß bisher immer wieder bessere Tage gekommen seien. Kurz: Das Leben war ihm eine Wanderschaft, doch ohne Ziel.
Wie ein Nomade zog er von Weide zu Weide; nur daß er selber kein Gras fraß, sondern Brot verlangte. Dafür bot er seine Arbeitskraft an und hielt nicht nur
Mund und Hände auf, sondern auch Augen und Ohren. Und wenn ihm das Land abgeweidet erschien, zog er weiter – mit Lohn und Erfahrungen. So erlernte er manches Handwerk, manchen
Handgriff und manche Künste, so daß er nie lange nach Arbeit fragen mußte und keinen Bettelstab mit sich führen.
Aber das alles machte Freudenreich noch nicht zu einem besonderen Menschen. Deshalb ist’s nun an der Zeit, von seiner besonderen Begabung zu erzählen.
Äußerlich war der junge Mann sehr lang und schlank, aber innerlich konnte er derart wachsen, daß er weit über den Horizont zu schauen vermochte. War die Sonne am Abend untergegangen und
hatte ihre dunkle Decke übers Land ausgebreitet, brauchte sich Freudenreich nur gen Morgen zu wenden, und schon sah er’s in der Ferne hell werden. Und kam der Winter mit Eis und Schnee ins
Land, so konnte Freudenreich bereits gen Mittag den Frühling nahen sehen. Nur gegen Mitternacht, da war sein Blick begrenzt. Er sah zwar dort einen breiten Strom, war sich aber nicht
sicher, ob das in der Ferne ein Dunststreifen war oder das andere Ufer. Ob dort drüben etwa sein Elternhaus lag? Auf seiner
Wanderung hatte er es jedenfalls bisher nie gefunden.
Tscha, und dann kam es eines Tages, wie es kommen mußte: Freudenreich begegnete jemandem und – wanderte hinfort nicht mehr alleine weiter. Martheline! Eigentlich überhaupt nicht deckungsgleich zu ihm, wenn er versuchte, sich über sie zu stellen; aber doch irgendwie angehörend wie der linke und
der rechte Schuh eines Paares. Martheline war wesentlich kleiner von Gestalt und hatte deshalb von vielem eine andere Ansicht. So ein Hans Guckindieluft, der sieht halt mehr ins
Weite, während eine Martheline der Erde näher und deshalb gründlicher ist. Auch war Martheline etwas rundlicher und deshalb in Blick und Wesen wie ein Ofen. Freilich – ein Ofen muß
angeheizt werden, und da versorgte sich Martheline zuweilen zu reichlich. Gab’s irgendwo ein Elend bei Mensch, Tier oder Pflanze, dann wurde Martheline davon angezogen wie Eisen von einem
Magneten. Tscha, sie nahm sich’s dann wohl zu sehr zu Herzen und bekümmerte sich, als leide sie selber. Da traf es sich nun gut, wenn ihr Freudenreich vom tagenden Morgen berichtete
und vom nahenden Frühling. Da wurden die Augen wieder wacker, und gemeinsam nahmen’s die beiden Wandersleute als Aufgabe, Leid zu lindern und zum Weiterleben zu helfen.
So zogen die beiden von Tag zu Tag, und es war ihnen nie langweilig und die Zeit ein Läufer im Sauseschritt. Hin und wieder führte sie der Weg auch an jenen großen
Strom gen Mitternacht vorbei, aber an keiner Brücke hinüber und auch an keinem wartenden Fährmann.
Allein – was nicht ist, kann doch noch werden. Eines Tages kamen die beiden doch an ein Fährhaus, als gerade der Fährmann heraustrat, als habe er auf sie
gewartet. Sie – nicht in der Mehrzahl, sondern in der Einzahl. Nur für Martheline war die Wanderschaft hüben zu Ende; Freudenreich mußte künftig alleine weiterwandern.
Doch schieden die beiden in der Hoffnung auf ein –
„Aber was hat das alles mit dem Segen Gottes zu tun?“ konnte sich Donna
Niedersen nicht länger zurückhalten.
„Alles!“ brauchte der Alte nicht lange zu überlegen. „Beide Wanderer versorgte er, bis ein jeder sich übersetzen lassen konnte. Beiden schenkte er Gaben, die
sie mit hinübernehmen konnten. Und beide ließ er Erfahrungen sammeln für ihre Aufgaben jenseits des Stromes. Ist das kein Segen Gottes? Der Segen des Fürsten dieser Welt reicht nicht so weit und macht Sinne, Füße und Hände ungeschickt für jene Gaben. Doch selbst wer
hüben sein ganzes Erbe verpraßt hat, wird endlich im Elternhaus dennoch –“
Aber wie so oft: Die Besucherin hatte nicht abwarten wollen und war inzwischen gegangen – an Freuden arm.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 12.12.2023
Qouz-Note: 2-
***
MamM 1.175 Richthard
„Was es am Sonntag gegeben hat?“ wiederholte Don Danwin die Frage. „Wir sollen den alten Menschen
ausziehen und den neuen –“
„Sollen?“ rieb sich der Alte von der Halbinsel mal wieder an seinem Reizwort. „Predigen nach Duduuweh-Art?“
„Was ist das denn“, rätselte der Besucher: „Duduuweh?“
„Du mußt! Du sollst! Und wehe dir!“ löste der Alte auf; etwas eigenwillig.
„Jedenfalls sollen wir die Gerechtigkeit anziehen –“
„– wie einen Überrock?“ ergänzte der Alte. „Auf daß er unseren Unterrock der Ungerechtigkeit –“
„Nee“, widersprach Don Danwin, „das hat der Herr Pfarrer nicht gesagt. „Und ich weiß auch gar nicht, was Ihr habt: Gegen Gerechtigkeit ist doch nichts –“
„Was ist Gerechtigkeit?“ fragte der Alte.
„Na, das ist doch sonnenklar!“ antwortete der Besucher spontan. „Übereinstimmung mit dem geltenden Recht.“
„Ah“, griff’s der Alte auf. „Das Recht kann sich also ändern? Geändert werden? Durch wen?"
„Durch rechtschaffene Männer –“
„Durch Frauen nicht?“ hakte der Alte ein. „Durch Kinder nicht? Und wer ist rechtschaffen? Der bisher mit dem Recht, das er nun ändern will,
übereingestimmt hat? Ist dieses Recht aber dann überhaupt noch der oberste Maßstab? Gleich einem wandernden Stern vor der Entdeckung des Polarsterns? Wäre es da nicht
besser, sich gleich am Polarstern zu orientieren?“
„Ihr stellt Fragen!“ kam Don Danwin nicht mehr mit.
„Die ich nicht beantworten kann“, lachte der Alte. „Tscha, Recht als Stern: ein weites Feld. Allein – ist er außer mir, wie könnte ich von mir selber
behaupten, ich sei gerecht?“ Und er begann zu erzählen:
Es wär’ einmal ein Mann, der hieß Richthard. Der hatte sich seinen Namen zur Aufgabe gesetzt. Von Kindesbeinen an!
„Das ist aber ungerecht!“ war wohl der Satz, den er am häufigsten gebrauchte, ob nun ausgesprochen oder nur gedacht.
Folgerichtig begann er auch an einer berühmten Hochschule die Rechtswissenschaften zu studieren, geriet dabei aber zunehmend mit den Professoren in Konflikt. Wie
das? Nun, er warf ihnen falsche Auslegungen von Gesetz und sonstigem Recht vor, was die Lehrer mit einem Kontra zurückgaben. Und
als Richthard die Augen auch darüber aufgingen, daß sich das nicht in seiner Referendariatszeit ändern werde, brach er kurzerhand sein Studium ab.
„Ich bin doch kein Opportunist“, rechtfertigte er sich, „der seine Rechtsmeinung wieder und wieder an Menschen anpaßt, um so Vorteile zu erlangen! Recht ist kein
Chamäleon, sondern wie ein Leitstern am Firmament.“
Hatte er sich damit nicht den Weg zu seinem Lebensziel verbaut? Sicher, die erforderlichen staatlichen
Prüfungen hatte er nicht abgelegt; aber – er wurde trotzdem ein Richter; ein Vor-Richter! Es war nämlich schon damals so, daß die eigentlichen Richter weitgehend mit ihrer
Arbeit überlastet waren. Und deshalb waren sie froh, als ihnen Richthard anbot, Verbrecherverfolgung, Verhör, Anklage und Vorurteil derart zu übernehmen, daß es nur noch von einem
offiziellen Richter unterschrieben werden mußte, um rechtskräftig zu werden. Und so wurde Richthard ein Schrecken für die Menschheit.
Lang, schlank, aber dennoch kräftig, so ritt er auf seinem Rappen durch die Lande. Schwarzer Matador mit flacher Krempe, schwarzes Haar, schwarze Larve.
Schwarzer Mantel, schwarzer Anzug mit Weste, schwarzes Halstuch, schwarze Stiefel, schwarze Handschuhe. Schwarzer Sattel. Und alles kalt und glänzend, als sei’s undurchdringlich für
die Sonne. Selbstverständlich bewaffnet, denn Richthard hatte kein Vertrauen zu Leibwächtern. So ahnst du sicher schon, wer in seiner Begleitung war, wenn Richthard nicht alleine
ritt. Richtig! Ein Gefangener; auf dem Weg zum Gericht.
Die Wirkung? Mehr Gerechtigkeit? Wer den Weg des
Verbrechens eingeschlagen hat, sieht das anders: Es kommt nicht darauf an, was du getan hast, sondern auf das, was dir nachgewiesen wird. Also? Spuren beseitigen durch neue Verbrechen; und Zeugen beseitigen. Aber es gab noch eine weitere Ungerechtigkeit: Aus Angst machten sich
auch Unschuldige verdächtig. Und wie kannst du hinreichend beweisen, daß du etwas nicht getan hast? Ist es da nicht oft besser,
ein falsches Geständnis abzulegen, um immerhin einen Strafnachlaß zu erhalten? Also? Justizirrtümer!
So kannst du dir sicherlich gut vorstellen, daß Richthard gefährlich lebte. Selbst wenn ein Verurteilter für lange Zeit dingfest gemacht wurde, so hatte er nicht
selten Angehörige, die ihn rächen konnten. Es gab Gefängnisausbrüche, und nicht jede Haftstrafe war lebenslänglich. Und dann gab es noch diejenigen, die sich von dem Vor-Richter
verfolgt glaubten. Jedoch – sonderbar: Keiner der Schüsse, die auf ihn abgegeben wurden, hatte ihn verwunden können. Die Folge? Richthard galt bald als kugelfest.
Doch eines Abends kam er an eine Herberge, die ihm irgendwie verdächtig erschien. Er ließ sich deshalb nur ein Nachtessen bringen, entschied sich aber gegen ein
Übernachten und ritt nach dem Verzehr gleich weiter. Nach kaum einer Meile ward ihm plötzlich sehr übel, er sank vom Pferd und verlor – das Bewußtsein.
Als er wieder zu sich kam, – wo war er? Haben Engel braunes Haar? Gefährlich-grüne Augen? Eine rauchige Stimme, langjährigen Tabakgenuß
bezeugend? Engel heißen wohl auch nicht Nonette. Nönnchen? Nein, nicht Nonnette. Und Engel malen vermutlich auch keine Bilder.
Richthard war also noch nicht im Himmel, aber – irgendwie schien er zu schweben. Er erholte sich rasch, und nach 3 Tagen wollte er bereits aufbrechen, um den Wirt
jener Herberge wegen versuchten Mordes zum nächsten Gericht zu bringen. Nonette bat ihn jedoch, noch ein bißchen zu warten, bis sie von ihm ein Porträt angefertigt hätte. Und da sie
nicht zu einer großen Leinwand schritt, sondern ein Format wählte, das in jede Brieftasche paßte, willigte Richthard ein. Doch als er das Ergebnis sah und mit seinem Spiegelbild verglich,
–
„– vergaß er nicht, seine Larve abzunehmen“, konnte sich Don Danwin nicht länger zurückhalten. „Was hat das mit Gerechtigkeit zu tun?“
„Manches“, wich der Alte lachend aus. „Das Bild zeigte ihn nämlich nicht, wie er war, sondern wie er hätte sein können. Mit welchen Augen aber kannst du einen
Menschen so –?“
Der Alte mußte mal wieder gewahren, daß ein Besucher vorzeitig gegangen war.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 12.12.2023
Qouz-Note: 3
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MamM 1.176 Sinette
„Und?“ war Don Danwin wiedergekommen. „Was sagt Ihr zum Buß- und Bettag? Bei den Protestanten drüben wird’s ja gefeiert, aber –“
„– die Katholiken haben die Beichte“, ergänzte der Alte von der Halbinsel, „und könnten jede
Woche, ja, hier und da sogar täglich büßen? In der Bibel finde ich jedoch weder einen
Beleg für einen Bußfeiertag noch einen für die Beichte –“
„Wollt Ihr damit etwa sagen“, witterte der Besucher Aufruhr, „die Kirchen, also auch die Heiligen, seien auf dem Holzweg?“
„Du kennst meine Haltung zur Kirche?“ wartete der Alte keine Antwort ab. „Kirche kann ein Segen sein, wenn sie
dient; aber sie ist ein Schaden, wenn sie herrschen will. So ist das auch mit Bußtag und Beichte. Wird eine Buße verhängt, so ist dies ein Zeichen von Herrschaft; wird
aber Mut gemacht, innezuhalten und sich zu verändern, dann hilft’s zum Leben. Und das verträgt sich sogar mit dem Evangelium: Komm, wie du bist, und werde, was du sein
kannst. Aber nicht von außen nach innen, sondern –“
„Und die Beichte?“ hatte Don Danwitz mit deutschen Protestanten nichts am Hut.
„Wem’s das Herz erleichtert“, antwortete der Alte, „der mag’s bei einem verschwiegenen und verständnisvollen Menschen tun; am besten aber gleich bei jenem
Vater. Doch – ist jeder Beichtvater verschwiegen? Ist jeder Beichtvater verständnisvoll? Oder ist er eigentlich gleich jenem älteren verlorenen Bruder? Und heißt es gar:
Nur wer zuvor gebeichtet hat, darf Absolution und Brot und Wein empfangen, dann wird’s zu einem Gebot und Herrschaftsmittel; Evangelium ist das aber nicht mehr“, und er begann zu
erzählen:
In meinem letzten Mährchen hatte ich ja berichtet, daß auf den strengen Vor-Richter Richthard ein Mordanschlag verübt worden
war. Er konnte durch eine sonderbare Malerin gerettet werden und wollte nach 3 Tagen wieder weiterziehen. Doch Nonette hatte ihn gebeten, noch
etwas zu warten, bis sie von ihm ein Miniaturporträt in Brieftaschenformat angefertigt hätte. Als der Vor-Richter das Ergebnis jedoch mit seinem Spiegelbild verglich, zeigten sich
erhebliche Unterschiede. Der Spiegel offenbarte Zornesfalten und gnadenlose Augen; das Porträt jedoch Lachfältchen und Güte, nämlich: wie Richthard hätte sein können.
Allein – während er Modell gesessen hatte, war ihm ein Bild aufgefallen, das an einem besonderen Ort an einer Wand hing.
„Ein schönes Porträt“, lobte er, als er sich zum Gehen anschickte. „Habt Ihr das gemalt?“
„Ja“, bestätigte Nonette.
„Aus der Phantasie? Oder gibt –“
„Das Mädchen gab es wirklich“, kam die Antwort dem Ende der Frage zuvor. „Etwa 16 Jahre –“
„Gab?“ stutzte Richthard. „Lebt die Jungfrau nicht mehr? Was ist aus ihr geworden?“
„Lebt?“ griff die Malerin auf. „Viele Jahre wohl nicht; aber das ist eine lange –“
„Und irgendwie kommt mir das Gesicht bekannt vor“, rätselte der Vor-Richter. „Kann das sein, daß ich –?“
„Das hat mit der langen Geschichte durchaus zu tun“, gab Nonette ein kleines Stückchen preis, um die Neugier (bei Männern bekanntlich
Wissensdurst genannt) zur Quelle zu locken. „Aber du willst ja aufbrechen –“
„Der Gastwirt läuft mir schon nicht weg“, zeigte sich Richthard, als wäre er ein erfolgreicher Kaufmann, „aber wer weiß, ob du mich nicht zu einem Verbrecher führst, der
bisher ungeschoren –“
„Verbrecher?“ konnte es sich die Malerin nicht verkneifen. „Berufsmäßig? Ja, manchem dienen Verbrechen tatsächlich zum Broterwerb; oder zumindest: Verbrechen und Ungerechtigkeit zu fördern. Aber sind solche
Menschen nur Verbrecher? Sonst nichts? Und sind solche, die nicht
Verbrecher genannt werden, wesentlich besser? Allein – nicht nur manchem, sondern auch mancher!“ Und dann erzählte sie von jener
Jungfrau.
„Das Bild zeigt SIE, als noch manches in Ordnung war. Bei Männern war SIE sehr beliebt, so auch beim Vater und den Lehrern; nicht aber bei Frauen. Wenig
später wurde der Vater durch die Mutter aus dem Haus getrieben; ihn wiederzufinden, das hat er IHR nicht ermöglicht. Zu Hause keine Nestwärme mehr. In der Schule neue
Lehrerinnen, die schonungslos offenlegten, daß SIE bisher nicht viel gelernt hatte, das vormals nachgesehene Mogeln und Abschreiben wurde nicht mehr geduldet, sondern IHR sogar ein
Schulverweis angedroht. Da ist SIE eines Tages fortgelaufen. Wohin?
Ein wesentlich älterer Mann hatte IHR schöne Augen gemacht. Bisher hätte SIE jeden Jungen aus IHRER Generation haben können und hatte dies auch ausgekostet;
aber Kerl ließ SIE so lange am Köder zappeln, bis SIE ihn unbedingt begehrte. Unbedingt – bedingungslos. Manche hatten SIE vor ihm gewarnt, aber
SIE hatte daraus nur Eifersucht und Neid gelesen und sich trotzig bestärkt gefühlt.
Als Belohnung für IHRE Entscheidung hatte Kerl IHR ein Schmuckstück geschenkt, das sehr kostbar aussah. Doch einige Tage später hatte er angegeben, sich dafür bei
einem Wucherer verschuldet zu haben, der jetzt dessen Geld mit hohen Zinsen zurückfordere. Und dann führte Kerl SIE zu den Häusern, wo die roten Laternen –“
„Sinette!“ unterbrach sie der Vor-Richter.
„Ja, SIE hieß Sinette, als SIE durch die Hölle ging. Ekel vor den Männern, Ekel vor sich selbst. Betäubt mit Fusel und härteren Rauschmitteln. Und als
SIE schließlich auch noch dazu gedrängt wurde, diese Rauschmittel an die Mieter IHRES Leibes zu verkaufen, um –“
„– haben wir sie geschnappt!“ ergänzte Richthard. „Und ins Spinnhaus eingewiesen, um –“
„Um was?“ fragte die Malerin zornig. „Um SIE umzuerziehen? Zurück zum brauchbaren
Mitglied deiner Gesellschaft? Ja, benutzbar sind die Damen vom roten Licht, aber ein Zurück gibt es für sie nicht. Immer wieder
holt die Vergangenheit sie ein und drängt sie in die unterste Kaste.
So kehrte Sinette nach ihrem Aufenthalt in der Spinnstube wieder in die Häuser des roten Lichts zurück. Zurück zu Angst vor Gewalt und Berufskrankheiten, zu Ekel,
Abhängigkeit und Geldnot.“
„Geldnot?“ zweifelte Don Danwin sehr. „Die Puppen schmücken sich doch –“
„Jenes Schmuckstück“, lieh der Alte der Malerin seinen Mund, „stellte sich beim Pfandleiher als wertloser Flitter heraus. Nein, Huren haben kein Geld, sondern sind
nur sein Durchgangsbahnhof. Allein – eines Tages lobte ein Mieter Sinettes Farbgeschmack und fragte, ob SIE auch zeichnen könne. Und plötzlich hatte SIE ein Ziel; und wo ein
Ziel, da ist auch ein Ausweg. Es dauerte zwar seine Zeit, aber endlich konnte SIE IHR täglich’ Brot mit dem verdienen, was SIE gut und gerne tat. Und so ward aus Sinette –“
Aber der Besucher war vorzeitig gegangen.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 9.12.2023
Qouz-Note: 3
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MamM 1.177 Nonette und Richerz
„Doch, doch, das lass’ ich mir nicht nehmen“, war Don Danwin noch mal wiedergekommen. „Ich gebe auch den Armen; und das reichlich!“
„So, so“, wunderte sich der Alte von der Halbinsel. „Du machst also Arme reich?“
„Das jetzt nicht“, räumte der Besucher ein, „am nächsten Tag sitzen sie natürlich wieder da und betteln, aber –“
„Ach so“, genoß der Alte vom Baum der Erkenntnis, „du willst mit deinen Almosen das Betteln unterstützen –“
„Nein, selbstverständlich nicht!“ widersprach Don Danwin.
„Aber die, denen du Geld gibst“, folgerte der Alte, „müssen doch denken, daß sich das Betteln lohne und daß sie’s gut können. Wozu also das Gewerbe
ändern?“
„Nein, nein“, konnte sich dem der Besucher überhaupt nicht anschließen, „Ihr seht da irgend etwas falsch. Soll ich etwa Beutel und Herz vor den Armen
verschließen? Christlich ist das gewiß –“
„Niemand soll etwas“, rieb sich der Alte wieder an seinem Reizwort, „aber das ist gewißlich wahr: Mit Geld Menschen zu helfen, das ist eine Kunst, die wohl kein Mensch
beherrscht; und kein Mensch schafft es alleine, die Armut auszurotten. Ja, der Geber läuft sogar Gefahr, mit dem, was gut gemeint ist, Böses zu fördern“, und er begann zu
erzählen:
Im vorletzten Mährchen hatte ich vom strengen Vor-Richter Richthard erzählt und daß er bei der Malerin Nonette schnell von den Folgen
eines Mordanschlags genesen war. Auch jenes Miniaturgemälde hatte ich erwähnt, das den Vor-Richter zeigte, wie er hätte sein können. Im letzten Mährchen hatte ich über den Werdegang
einer jungen Frau in das Rote Licht, in das Spinnhaus, zurück ins Rote Licht und endlich hinaus berichtet. Damit hatte sich die Abreise Richthards verzögert; und das so lange, daß es
an jenem Tag für ein Aufbrechen zu spät war. Also blieb er für eine weitere Nacht. Und noch eine. Und noch eine. Und das kam so:
Aus dem Saulus wurde nämlich nicht über Nacht ein Paulus; da hätte er ja seinen ganzen Lebensentwurf radikal ändern müssen. Zunächst blieb er davon überzeugt,
daß das Böse nur durch Strenge und Strafe bekämpft werden könne. Aber diese Überzeugung war erschüttert worden.
Was hatte die harte Spinnhausstrafe für jene Ninette damals bewirkt? Hatte sich Ninette etwa zur
unbescholtenen Jungfrau entwickelt? Nein, Ninette hatte gezeigt, daß das gar nicht möglich gewesen war. Ja, im Gegenteil,
freiwillig war Ninette wieder in die Straßen des Roten Lichts zurückgekehrt. Was aber hatte sie endlich bewegt, auszusteigen?
Vorhaltungen? Drohungen? Arroganz? Nein, jemand hatte in ihr eine gute Begabung entdeckt und diese durch Ermutigung gefördert. Also?
Also hatte Richthard noch einmal die Schulbank zu drücken. Wo? In der Sehschule! Wo
genauer? Am besten in einer Meisterklasse! Noch genauer? Am besten
bei Nonette; denn wer Menschen so zu malen vermag, wie diese sein könnten, muß einen Blick für das Gute haben. Also fragte Richthard die Malerin,
ob sie ihn aufnehmen könnte.
„Solange du willst“, antwortet Nonette und – lächelte wissend.
Tscha, was muß ich sagen? Das Lernen ging schief! Zum Malkünstler hatte Richthard überhaupt kein
Talent. Sprach jemand bei der Malerin vor, um sich porträtieren zu lassen, fragte Nonette regelmäßig ihren Schüler hinterher nach dessen Eindrücken. Aber – der Mann sah einfach
nicht! Immer wieder ertappte sie ihn dabei, daß er verglichen, gemessen und abgelegt hatte. Verglichen mit wem? Mit
Menschen, denen er mal begegnet war. Ähnliches Aussehen, ähnlicher Name oder ähnliche Stimme. Und da er als Vor-Richter insbesondere mit Menschen Umgang gehabt hatte, die mit Gesetz
und Ordnung
in Konflikt geraten waren, färbten diese Erfahrungen sein Sehen – sehr.
„Schaust du den Menschen denn gar nicht in die Augen?“ fragte die Künstlerin.
„Wo wäre ich da hingekommen!“ entgegnete der Vor-Richter. „Blaue Augen – Ehrlichkeit? Braune Augen –
Unschuld? Wenn Ihr wüßtet, wie oft das ausgenutzt wird! Da lügt ein Junge zum 1. Mal, und es wird ihm geglaubt, weil er so blaue
Augen hat. Also lügt er ein 2. Mal und so fort. Und wenn ich einem Verbrecher –“
„Verbrecher?“ hakte Nonette ein. „Was ist das?“
„Gut“, lenkte Richthard ein, „das habt Ihr neulich bereits klargestellt. Also, wenn ich jemandem in die Augen schaue, der eines Verbrechens verdächtigt wird, dann
schaut der doch auch mir in die Augen und will lesen, was ich denke.“
„Wäre das schlimm?“ fragte die Malerin.
„Wie kann ich ihn da noch reinlegen?“ rutschte es dem Schüler heraus. „Und überhaupt: Da geht es doch auch um
Herrschaft! Wie Ihr wißt, hab’ ich auch im Roten Licht ermittelt. Da hat es manche einladenden Blicke gegeben; diese Damen verstehen schon ihr Geschäft! Aber wenn du ihnen
nicht in die Augen siehst, haben sie keine Macht über dich. Und so hat mich von ihnen auch keine leimen –“
„Du hast aber auch keiner helfen können“, hielt Nonette dagegen. „Weißt du was, du bist ein großer Angsthase! Und durch deine Vorurteile niemals
gerecht. Vor was hast du Angst? Daß Ungerechtigkeit auf deine Ungerechtigkeit abfärbt? Vielleicht würdest du dadurch menschlicher und verständnisvoller. Was mach’ ich nur mit dir? Gibt es etwas, was du gerne tätest, aber woran dich dein Beruf gehindert hat?“
„Ja“, brauchte der Vor-Richter nicht lange zu überlegen, „ich hätte gerne Klavier gespielt oder Orgel, aber ein Klavier hätte ich nicht mitnehmen können; und
unterwegs als Fremder auf einer Kirchenorgel zu üben, nee, das sehen die Kantoren überhaupt nicht gerne.“
Da traf es sich gut, daß in einem Abstellraum –
„Aber was hat das jetzt mit Almosen und Betteln zu tun?“ konnte sich Don Danwin nicht länger zurückhalten.
„Das hängt von den Brücken ab“, antwortete der Alte lächelnd. „Richerz übte sich jedenfalls bei Nonette im Klavierspielen und konnte damit bald manche Besucherin
derart entwickeln, daß diese in sich Schätze zeigte, die selbst Nonette bis dahin verborgen geblieben waren. Das ist eben die Kunst des Schenkens, daß der Beschenkte zu Schätzen gelangt,
die er mitteilen kann, und dann das Wunder der –“
Allein – zum 3. Mal war der Besucher vorzeitig gegangen – unbeschenkt?
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 9.12.2023
Qouz-Note: 3
***
MamM 1.178 Nachtmeister Stropp und die Nikolaus
Advent, die herrliche Zeit war gekommen!
Es grauten und braunten Berg und Wald;
in Gründen, auf Höh’n, in Höhlen und Sassen
gähnten ein winterlich’ Lied
die jahrermüdeten Tiere.
Reineke, der XXII. seines Geschlechts, hatte zum Dezemberessen geladen, und sie – Ach so, eigentlich hatte der Friedensrichter ja ein gemeinsames
Gänseessen geplant; doch diesem Ansinnen war Old Schmätterhämd, der treffliche Erpel, unerschrocken entgegengetreten. Gänseessen? Nicht mit ihm! Das könne er vereinbaren nicht mit seinem Gewissen. Und hat sich erst einmal ein Volkstribun gefunden, dann murmelt’s
und rurmelt’s im Volk lauter und lauter, daß selbst, wer groß ist als Herrscher, weiche Knie bekommt. So auch hier. Ja, der Fuchs wagte es noch nicht einmal, mit Mäusebraten und
Hühnerschenkeln zu locken, sondern kündigte ausdrücklich an, nur von den Früchten des Feldes, der Gärten und des Waldes vorsetzen zu wollen.
Und sie kamen – alle? Das will ich jetzt nicht behaupten; aber in Scharen! Hase Lustigfeld, Eichkater Kobelbauer, Häher Eichwart, Elster Atzilo, Specht Klopfmeister, Dompfaff Franzpius und ihre Königliche Hoheit FJKW. Du erinnerst dich? Der Zaunkönig bestand zwar auf seinen 4 fürstlichen Vornamen, pflegte aber Friedrich Josef Karl
Wilhelm mit deren Anfangsbuchstaben abzukürzen.
Tscha, und wer kam noch? Na, unsere Freundinnen und Freunde: die Schildkröte Emma von Nowotny, der liebe Bär Bruhno, der Waschbär Wastel und – Ja, wem diente er als
Reittier? Richtig! Unserem berühmten Nachtmeister Stropp und seiner Eheliebsten Struppe.
Es kamen natürlich noch mehr, aber das sind erst einmal die wichtigsten Festteilnehmer. Fest? Was
gefeiert wurde? Na, das Ende des Arbeitsjahres! Gut, für den Maulwurf geht’s mit der Arbeit eigentlich nahtlos weiter, aber
beliebt hat er sich mit dieser Einstellung im Tierreich nicht gemacht und ist dort als Giermund und Geizhals verschrien, der niemandem etwas gönne, ja, noch nicht einmal selber zu genießen
wisse. Bei einem normal veranlagten Tier ist das hierzulande ganz anders. Etliche lassen sich vom Hafer stechen und gehen auf die Freite, andere pflegen der Muße und inneren, aber
auch äußeren Sammlung, ja, und von unseren Freundinnen und Freunden ist bekannt, daß sie richtig in Winterurlaub gehen, jedenfalls wochenlang nicht zu sehen sind.
In diesem Jahr hatte das Dezemberessen ein besonderes Gepräge. Reineke hatte nämlich verlauten lassen, daß es ihm als Friedensrichter Pflicht und Aufgabe sei, den
Frieden in seinem Lande zu hegen und zu pflegen.
„Ihr Untertanen“, trug er sein Anliegen gleich beim 1. Tafelspruch vor, „was können wir tun, damit bei uns ein dauerhafter Frieden herrscht?“
Alle Friedensstörer übel umbringen und ausrotten! Das war einer der 1. Gedanken, die laut geäußert wurden. Und wer war mit Friedensstörer gemeint? Na, alle Sippen, die niemanden zum Fest abgesandt hatten: kriegerische Falken, besserwisserische Krähen, verschlagene Wölfe. Und – vor
allem Menschen!
Doch da meldete sich gleich unser Nachtmeister zu Wort und gab zu bedenken, daß mit der Ausrottung des Menschen für viele Tiere nichts gewonnen sei. Wer täte dann
noch Getreide säen? Der Gärten warten? Das Vieh mit Futter
versorgen?
„Aber mit Schrot tät’ niemand mehr auf mich schießen!“ hielt der Hase Lustigfeld dagegen.
„Also müssen wir die Menschen dazu bringen“, griff’s unser Stropp auf, „das Schießen zu verlernen –“
„– oder dafür zu bequem zu werden“, ergänzte die Igelin als erfahrene Erziehende. „Oder kennt irgend jemand eine Frau, die das Herz hat, auf Tiere zu
schießen?“
Nun ja, das war jetzt schneller gesagt als gedacht, und eine gewisse Diana war zumindest unserem Helden bekannt, der ja sehr belesen war. Das gemeine Volk jedoch
ließ sich willig zu der Ansicht lenken: Männer seien an allem schuld, solange diese nicht der Bequemlichkeit pflegten. Was also tun?
„Wir schicken den Menschen eine Nikolaus“, meldete sich ein piepsiges Stimmchen zu Wort.
Alles schaute verwundert auf den Sprecher (natürlich außer ihm selber). Tscha, als Zuchtmaus stand Ottokarl unter dem ganz besonderen Schutz des Friedensrichters und war deshalb unerschrocken auch auf dem Fest erschienen.
Zwar hatte er eben nur halb zugehört, aber so etwas kennen wir ja auch bei vielen Menschen, die glauben, etwas zu sagen zu haben. Jedenfalls fuhr Ottokarl sogleich
fort, seinen Vorschlag genauer zu erläutern: Die Nikolaus sei wohl ein sehr scheues Tier, das bösen Menschen eine Rute vor die Türe lege und lieben Kindern Äpfel, Nüsse und Lebkuchen in die
Stiefel.
Tscha, was soll, nein, kann ich sagen? Den Vorschlag fanden alle gut. Doch – wer wußte, wo diese Nikolaus wohnte oder
zumindest wie sie zu erreichen war? Gut, daß wenigstens eine genügend Selbstvertrauen hatte und den Vorschlag retten konnte:
Struppe! Dann müßten sie eben alle selber Nikolaus spielen und die Guten mit schönen Gaben belohnen, die Bösen jedoch bestrafen.
Großartig! fanden’s alle – bis auf einen: unser Stropp! Gehör verschaffen konnte er sich jedoch nicht, denn die andern Tiere waren voller Pläne, wie – und wem sie
Gutes tun könnten? Nee, sondern wem sie was und wie heimlich heimzahlen könnten.
Erst auf dem Heimweg konnte unser Nachtmeister seine Ansicht an Frau und Mann bringen. Gäbe es überhaupt vollkommen gute und böse Menschen oder zumindest
Tiere?
Nee, so einfach zu trennen wäre das nicht, mußten die andern zugeben.
Und ob sich etwa viele durch eine Strafe gebessert hätten?
Auch das mußte verneint werden.
Also? Also fanden am Morgen des Tages, an dem die Tiere die Nikolaus feiern, alle in der Nachbarschaft unserer
Freundinnen und Freunde etwas vor, über das sie sich freuen konnten. Freilich – die Kinder schrieben das keiner Laus zu, sondern dem Sankt Klaus, und die Erwachsenen suchten die Ursache bei
irgendeinem Menschen in jener Gegend, aber die Tiere glaubten, daß es wohl doch eine Nikolaus gäbe.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 14.11.2023
Qouz-Note: 3
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MamM 1.179 Gerechtigkeit – mal anders gesehen
„Ich sag’ noch“, berichtete Donna Minnerling, „also zu der, die hinter mir stand: «Halten Sie mir bitte den Platz frei, ich muß nur mal schnell in die
Apotheke; ich lass’ Sie dafür dann auch vor», und dann bin ich los. Aber als ich zurückkam und mich wieder einreihen wollte, da hättet Ihr mal die Leute hören sollen! –“
„Sollen?“ witterte der Alte von der Halbinsel wieder sein Reizwort.
„«Hinten anstellen!»“ überhörte die Besucherin die Frage. „«Weggegangen, Platz vergangen!» Obwohl keiner einen Nachteil hatte! Und keiner hätte einen
Vorteil gehabt, wenn ich erst hinterher zur Apotheke gegangen wäre. Ich frag’ Euch: Ist so etwas billig und gerecht?“
„Angemessen ist es schon“, überraschte der Alte, „nur hat wohl jeder Mensch einen anderen Maßstab. Und solange die Maßstäbe und Meßlatten nicht geeicht sind, wird
jeder etwas anderes messen.“
„Also gibt’s keine Gerechtigkeit unter den Menschen?“ folgerte Donna Minnerling. „Und es wird sie auch nie
geben?“
„Hfff!“ ließ der Alte erst einmal Dampf ab. „Es gibt Gerechtigkeiten unter den Menschen, also die Mehrzahl! Und ich glaube: Es gibt eine göttliche
Gerechtigkeit. Doch die zu erkennen, dazu hat bisher noch keine Frucht vom Baume der Erkenntnis ausgereicht. Es war also gelogen, was die Schlange damals der Eva versprochen
hat. Erkenntnis macht nicht göttlich“, und er begann zu erzählen:
Es wär’ einmal ein König, der – der hieß Danimo. Ein junger König! Noch nicht lange verheiratet. Das Flußbett der
Ehe also noch viel weiter als diese selber, so daß sie ihren Weg noch finden mußte, um ein friedlicher Strom zu werden. Jedoch – dafür noch nicht mit den Gebrechen des Alters behaftet, als
da unter anderen sind: Schwerhörigkeit, Starrsinn und Trägheit. Wenn also Königin Salinde etwas sagte, dann hörte König Danimo noch zu, bedachte es und
prüfte, ob er sich ändern müsse und könne.
Nun hat zwar in den alten Zeiten das Wünschen noch geholfen, doch läßt diese brüderliche Erkenntnis auch ahnen, daß schon damals mancher Mangel zu beklagen war.
Denk nur an Frieden, Weisheit und Friedfertigkeit. „Frieden schaffen durch noch mehr Waffen sowie Sieger durch noch mehr Krieger“, das war bereits damals herrschende Meinung, diente also zu
nichts. Bei alten Herrschern läßt sich das noch durch Altersstarrsinn und Altersschwachsinn erklären; aber bei jungen Regenten? Jedenfalls unterhielt auch König Danimo ein stehendes Heer und hatte sich ermächtigt, im Angriffs- oder Verteidigungsfalle jeden Wehrtüchtigen
zum Kriegsdienst einberufen zu können.
Das sei nicht opportun, hatten die Großbauern, Fabrikanten und Großkaufleute beanstandet, und könne schlimmstenfalls zur Auswanderung der bedeutendsten Landesbürger
führen. Deshalb müsse jeder das Recht haben, sich und seine Söhne freikaufen zu können.
Solch ein Freikaufen sei aber nicht gerecht, hatten diejenigen Bürger dagegengehalten, denen dazu das Geld fehlte.
Tscha, was tun? Der König konnte sich drehen und wenden: Er hätte es nie allen recht machen können.
Also? Also besprach er sich mit seiner Eheliebsten.
„Und du?“ fragte Salinde. „Wo ist dein Platz im Krieg? An der Front?“
Nein, antwortete der König, er müsse doch Tag und Nacht im Hauptquartier sein, um die richtigen Entscheidungen treffen zu können.
„Ach so, ein Vorrecht?“ folgerte die Königin. „Dann gib erst mal dieses Vorrecht auf; der Rest wird sich
schon finden.“
O weh! Da hatte aber der König zu knabbern und zu beißen! Wenn es also ihn und jeden treffen könnte, an die Front zu müssen, wer hätte da noch Lust, Krieg zu
führen? Und allmählich dämmerte es Danimo, daß er nicht die dümmste Frau geheiratet hatte.
Schule ist nicht nur an einem einzigen Tag, sondern dauert das ganze Erdenleben, und wer weiß, sogar noch länger. Als nächstes Unterrichtsfach hatte sich dieses
Mährchen die Steuern vorgenommen. Steuergerechtigkeit – welch eine Fassadentünche! Je eindringlicher sie versprochen wird, desto schlimmer wird’s! Obwohl jeder sie fordert: die
Reichen, die Armen, die Handwerker, die Beamten, die jungen Leute, die Alten. Ob auch hierzu die Königin eine Antwort hatte?
„Und du?“ fragte Salinde. „Zahlst du zuviel oder zuwenig?“
Direkt zahle das Königshaus eigentlich gar nichts, mußte Danimo zugeben, denn es sei doch der Empfänger –
„Ach so, ein Vorrecht?“ folgerte die Königin. „Dann gib erst mal dieses Vorrecht auf; dann wollen wir
weitersehen.“
Tscha, auch das saß und zog weitere Kreise. Bis hin zum nächsten Unterrichtsfach: Lohngerechtigkeit. Ist die Arbeitsstunde eines Ministers wirklich soviel
mehr wert denn die Arbeitsstunde eines Tagelöhners? Wie sind Ausbildungszeit, Wegezeit und Bereitschaftszeit zu bewerten? Wie Verantwortung und Gefahren? Wie Erziehungszeiten, Ohnehramt,
Hausarbeit? Wie die unterschiedlichen Belastungen und Befreiungen? Wie die
unterschiedlichen Ausgangslagen und Begabungen? Wieder wurde die Königin um Rat gefragt.
„Und du?“ fragte Salinde. „Was verdienst du?“
Als Erster im Staate müsse er zumindest wesentlich mehr als der 2thöchste Beamte verdienen, rechtfertigte sich Danimo.
„Ach so, ein Vorrecht?“ folgerte die Königin. „Dann gib erst mal dieses Vorrecht auf, dann werden wir –“
„Das gäbe doch das reinste Chaos!“ konnte sich Donna Minnerling nicht länger zurückhalten. „Jetzt sagt bloß noch, daß sich Euer König wie der letzte Sauhirt
–“
„Wieso eigentlich nicht?“ griff’s der Alte lachend auf. „Ein König, der Tag für Tag lernt, mit den Augen einer
seiner Bürgerinnen zu sehen. Das wären in 4 Jahren 1.461 Unterrichtseinheiten. Allein – seit jenen Tagen war in jenem Lande ein Sprichwort im Umlauf:
Gerechtigkeit, das heißt zu leben:
nicht fordern, nehmen, sondern –“
Jedoch – die Besucherin war inzwischen gegangen.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 9.12.2023
Qouz-Note: 3
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MamM 1.180 Der Brunnenstreik
„Es ist wirklich wahr“, betrübte sich Donna Flinten-Körner: „Undank ist der Welt Lohn.“
„Hm“, konnte der Alte von der Halbinsel nicht senfen, „von der Welt oder
für die Welt?“
„Für mich“, antwortete die Besucherin.
„Du lohnst der Welt mit –?“
„Nein“, stellte Donna Flinten-Körner richtig, „die Welt lohnt mir alles mit Undank.“
„Alles?“ zweifelte der Alte. „Das wäre schon bitter. Aber tust du denn alles nur dafür, daß es die Welt
dir zumindest in gleichem Umfang vergelte?“
„Zumindest könnten die mal danke sagen“, antwortete die Besucherin.
„Die könnten?“ griff’s der Alte auf. „Also mehrere Welten?“
„Ihr scheint heute wirklich schwer von Begriff zu sein“, urteilte Donna Flinten-Körner. „Nehmt nur mal ’ne Geburtstagskarte. Soll ich da vergeblich auf Dank
–?“
„Soll!“ brummte der Alte und rieb sich mal wieder an seinem Reizwort. „Niemand soll etwas. Allein – dann schreib deine Geburtstagskarten dir künftig doch erst
mal selber, bedank dich und schick sie erst dann ab; so hast du zumindest –“
„Witzbold!“ fand’s die Besucherin gar nicht lustig. „Wißt Ihr was, ich schreib’ künftig überhaupt keine Geburtstagskarten mehr, basta!“
„Und erlebt keine Vermehrungswunder mehr“, ergänzte der Alte und begann zu erzählen:
Es wär’ einmal ein Brunnen; draußen auf dem Lande, wo sich Fuchs und Has’ gute Nacht sagen und guten Frieden halten. Jaha, der Brunnenfrieden ist schon was
Feines, und wehe dem, der ihn nicht halten will! Der wird vom Brunnen verbannt und muß selber zusehen, wo er bleibt und Wasser findet. Freilich –Brunnen ist nicht gleich Brunnen, und
mancher fördert leider auch Kriegen und Jagen.
Unser Sundmakerbrunnen jedoch nicht, der hatte es lieber friedlich. Da kamen also Fuchs und Has’, Maus und Reiher, Käuzchen und
Uhu, und mußte keiner um sein Leben bangen oder darum, sich mit einem Verbrechen zu belasten. Innerhalb des Brunnenbezirks war jeder sicher.
Allein – gute Dinge werden irgendwann zur Selbstverständlichkeit, und was sich selbst versteht, wird nicht mehr bedacht und geschätzt. So auch hier! Als der
Sundmakerbrunnen noch jung war, das Brunnenrohr blitzeblank und Sonne und Mond sich nicht nur im Wasser spiegeln konnten, sondern auch in den Fassungen der 3 Brunnentröge, tscha, da kamen Tiere
und Wanderer gerne und vergaßen das Danken nur, wenn sie’s sehr eilig hatten. Doch dann kam der 1. Herbst, und viele Blätter sanken herab und versanken in den 3 Trögen, und an den
Brunnenrändern grünte es, ohne von einem Frühling zu künden. Gut, die Menschen kümmerte das weniger, weil sie ihren Becher direkt unter das gebogene Brunnenrohr halten konnten, aber die
Tiere, die begannen zu nörgeln und auszusetzen. Das ist schon was Merkwürdiges mit dem Aussetzen! Statt die fauligen Blätter und den grünen Belag auszusetzen, richteten die
Brunnengäste es auf ihre Sicht aus: nämlich die Sicht auf das noch immer saubere Wasser. Und ihre Dankbarkeit obendrein.
Dankesworte wurden seltener und seltener, Beschwerden mehr und mehr. Und wenn sich mehr und mehr über dich beschweren, kannst du selbst als Brunnen irgendwann nicht
mehr unbeschwert bewirten; auch unser Brunnen nicht. Und schließlich kam es, wie es viel zu oft kommt: Unser Brunnen legte sich ebenfalls aufs Aussetzen und verstopfte sein
Rohr.
Und nun? Es war wie im Krieg, und Krieg verwüstet! Die Menschen eilten an dem Sundmakerbrunnen künftig
achtlos vorbei. Die Tiere schimpften und kündigten alle Freundschaft auf; und weil sie nun mal so in Fahrt waren, fielen sie übereinander her: der Fuchs über den Hasen, der Reiher
über die Maus, der Uhu über das Käuzchen. Statt Wasser floß Blut. Damit aber nicht genug: Auch die Bäume fanden’s nicht lustig, nicht mehr genügend Wasser zu erhalten. Nun waren
sie ganz allein auf den Regen angewiesen, und der war in jenen Landen schon damals so zuverlässig wie die Eisenbahn heute; also wie die dort drüben, jenseits der Berge.
Tscha, und dann gab’s noch welche, die den Brunnenstreik nicht lustig fanden: die 3 Quellen, die unseren Brunnen bisher gespeist hatten und denen nun die Kundschaft
abhanden gekommen war. Und was macht da eine Quelle? Sie sucht sich neue Wege und fröhlichere Abnehmerinnen; denn das mit
unserem Brunnen war wirklich ein Trauerspiel! Die 3 Quellen kündigten also ihren Liefervertrag fristlos und gruben und drängten und zwängten, bis sie ihre Schätze in ein neues Bett legen
konnten. Etwa so, wie’s jener Komponist von den Quellen der Moldau berichtet. Tscha, da saß bald unser Sundmakerbrunnen auf dem
Trocknen; und hätte er jetzt seinen Streik beendet, so hätte es ihm nichts geholfen. Allein – das gewahrte er nicht einmal, so bockig war er und hatte sich in seinen Streik gänzlich
verrannt.
Nun hatte ich ja eben von den Bäumen in jenem Brunnenbezirk berichtet; doch Baum ist nicht gleich Baum. Gut, die Menschen, die dort vorübergingen, hätten wohl
kaum einen Unterschied bemerkt. Nur wenn mal ein Baum vom Sturm umgeworfen worden war, hieß es bei den Menschen, die noch ohne Tomaten auf den Augen vorbeigingen, das sei ein Flachwurzler
gewesen; der sei nicht so widerständig. Jedoch – ein Baum war anders. Der mochte seine Wurzeln nicht in die Weite ausdehnen, um einen möglichst großen Platz für sich alleine zu
haben. Habgier, nannte er das Verhalten der Flachwurzler, pure Habgier. Statt dessen drang er mit seinen Wurzeln in die Tiefe – wie ein erfahrener Bergmann, der nach Schätzen
gräbt. Und tatsächlich –
„Was für ein Quatsch!“ konnte sich Donna Flinten-Körner nicht länger zurückhalten. „Was hat das jetzt mit meinen Geburtstagskarten und dem Undank der Welt zu
tun?“
„Da bin ich wahrscheinlich etwas vom Wege abgekommen“, mußte der Alte zugeben. „Jener Brunnen hatte sich also mit seinem Streik selber bestraft, und nichts hatte
sich verbessert; im Gegenteil! Jenes Bäumchen aber war aus etwas anderem Holze und hatte sich gesagt: Wenn nicht ich, wer dann? Es drang deshalb mit seinen Wurzeln tiefer und tiefer, bis es dort unten nahe an eine neue Quelle kam. Dann grub es von dort einen Tunnel
zu unserem Brunnen, und – und plötzlich schoß diesem ein Wasserstrahl derart ins Rohr, daß der Streik mit einem Schlag beendet war. Und weil das Wasser aus der Tiefe kam, war es warm, so
daß auch im eisigsten Winter –“
Jedoch – dieses gute Ende hatte die Besucherin nicht mehr abwarten wollen und war gegangen.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 9.12.2023
Qouz-Note: 3-
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