MamM – Mährchen an meine Mutter Nr 1.141 bis
1.160
Überblick MamM 1.141 bis 1.160
1.141 So sprechet also (*10.12.2021)
1.142 Nachtmeister Stropp und der Fall BenBen (*17.12.2021)
1.143 Von Namen und Völkern (*24.12.2021)
1.144 Nachtmeister Stropp und der Fall Knallfrosch (*1.1.2022)
1.145 Wozu denn immer scheiden? (*6.-7.1.2022)
1.146 Sein wie die Sonne (*13.-14.1.2022)
1.147 Lächeln wie ein Kind (*20.1.2022)
1.148 Die Georgskapelle im Ödland (*28.1.2022)
1.149 Haben oder lieben (*3.2.2022)
1.150 Paukus und Maximus (*10.-11.2.2022)
1.151 Nachtmeister Stropp und der Fall König Fink (*18.2.2022)
1.152 Danken? (*24.2.2022)
1.153 Die Macht der Mütter (*3.3.2022)
1.154 Danstettn, Außem und Bethlehem (*10.3.2022)
1.155 Don Friedwalds wundersame Musterung (*17.3.2022)
1.156 Schaffen oder leben (*24.3.2022)
1.157 Nachtwächter NImmereil und 4 einsame Herzen (*31.3.2022)
1.158 Nachtwächter Nimmereil und der Fall Stropp (*7.4.2022)
1.159 Nachtwächter Nimmereil zur Vorosterzeit (*14.4.2022)
1.160 Nachtwächter Nimmereil und die Osterglocken (*21.4.2022)
________________________________________________
MamM 1.141 So sprechet also
„Habt Ihr unseren neuen Propst auch am Sonntag gehört?“ schien Donna Oppermann gar
nicht wissen zu wollen, denn sie schwärmte weiter: „Wie der betet! Einfach himmlisch! Wenn ich mal ein Anliegen habe, dann weiß ich, wen ich künftig –“
„So?“ gab sich der Alte von der Halbinsel nicht sehr mitteilsam. „Ging’s ums Vaterunser?“
„Nein, gar nicht“, wunderte sich die Besucherin. „Er hat zwar manches abgelesen, aber richtig entfaltet hat er
sich erst, wenn er völlig frei gesprochen hat. Also –ich glaub’, da hat jeder sofort das Gefühl gehabt: Der bewirkt was, der –“
„Beten als Beeinflussen?“ dachte der Alte dem nach.
„Etwa Gott? Ist das christlich?“
„Wozu betet Ihr denn?“ verstand Donna Oppermann die Fragen nicht. „Wir sollen doch –“
„Sollen –“, rieb sich der Alte mal wieder an seinem Reizwort. „Niemand soll –“
„Aber so lehrt’s die Kirche“, hielt die Besucherin dagegen. „Stimmt’s also, daß Ihr ein Ketzer
seid? Betet Ihr etwa gar nicht mehr? Na, kein Wunder, –“
„Niemand s o l l beten“, nahm der Alte einen neuen Anlauf, „aber jeder d a r f beten. Wie ein Kind mit seiner Mutter und seinem Vater spricht: Freude teilend, und sie wird mehr; Kummer und Sorgen teilend, und sie werden weniger. Ich glaube nicht, daß der Mensch um des Gebetes willen gemacht ist, sondern das Gebet um des Menschen
willen. –“
„Und die Fürbitte?“ wandte Donna Oppermann ein. „Steht’s
nicht in der Bibel: Wir sollen –“
„Sollte ich dem Wesen, das die Liebe ist, vorschreiben“, folgerte der Alte, „was es zu tun hat? Freilich, wenn
mich das Leid des Nächsten bekümmert, darf ich selbstverständlich diesen Kummer bei Gott abladen, aber dieser Gott ist
kein heidnischer Götze. Ich muß nichts leisten, damit er hilft. Es geht
eben nichts übers Vaterunser: Unser Vater, dein Wille geschehe, gib
uns allen alles, was wir brauchen, denn dein ist die Kraft“, und er begann zu erzählen:
Es wär’ einmal ein junger Mann, der hieß – der hieß Freidank; und, ja, er wollte König
werden. Und wie das früher gute Sitte war, ging er vorher auf Reisen;
Bildungsreise wurde das damals genannt. Du durchziehst die Lande, siehst, hörst, vergleichst, und manchmal kommst du zuletzt da an,
wovon du ausgegangen bist: bei dir selbst. Allein – soweit sind wir mit Freidank noch nicht.
Er mußte doch erst einmal aufbrechen, und dazu wollte er die Postkutsche nehmen. Doch wie er so in der
Schlange vor der Poststation anstand, um einen Fahrkarte zu erwerben, da sprach ihn jemand an und riet davon ab.
Es sei alles Betrug, sagte dieser Jemand, und am Ende käme alles viel teurer, als vereinbart.
Verwundert suchte unser Freidank den Sprecher und mußte gewahren, daß dieser anscheinend noch ein Kind war.
Unterwegs, fuhr dieses fort, läßt nämlich der Schaffner anhalten und fordert Zuschläge: für den Sitzplatz, fürs Gepäck, ja, sogar fürs Aussteigen. Und wer’s nicht bezahlen kann oder will, muß aussteigen und seine Reise auf andere Weise fortsetzen, bekommt aber den ursprünglichen Fahrpreis
nicht erstattet.
Forschend blickte Freidank in die Augen des Kindes. Nein, der Blick war ehrlich, also glaubwürdig. Was nun?
Am besten, sie setzten die Reise zu Fuß fort, schlug das Kind vor, gemeinsam, – als hätte es das gleiche Ziel wie unser Bildungsreisender.
Freidank war’s zufrieden, und so wanderten die beiden los; anfangs noch mit Schwierigkeiten, einen gemeinsamen
Schrittrhythmus zu finden, aber mit gutem Willen und guter Zeit klappte es bald und fortan. Als sich die Sonne wieder anschickte, ihren
Kopf auf dem Horizont aufzustützen, erreichten die beiden Wanderer die nächste Stadt jenseits der Grenze.
Nun hatte sich Freidank auf seiner Reise nicht aufs Betteln legen wollen, sondern sich vorsorglich mit Wechseln ausgestattet, von denen er einen noch am Abend einlösen
wollte. Für dich und mich undurchführbar, nicht so für vermögende Leute;
die werden auch noch nach Geschäftsschluß empfangen. Freilich – nur um noch größere Geschäfte mit ihnen zu machen. Das erlebte auch unser Freidank. Der Bankier verlangte nämlich, bei der Wechselsumme
mit dem jungen Mann halbe-halbe zu machen: eine Hälfte ausgezahlt, die andere Hälfte als Bankgebühr einbehalten. Und als Freidank sich
weigerte, auf diesen Handel einzugehen, zuckte der Bankier nur mit den Achseln: Dann müsse er eben die ganze Wechselsumme als Bankgebühr einbehalten, so sei es Bankensitte, im übrigen finde
Freidank wohl alleine die Tür und hinaus.
„So eine Ungerechtigkeit!“ ließ unser junger Mann erst einmal Dampf ab, als er wieder zu seinem Gefährten
kam. „Das ist ja Bankraub in übelster Weise! So etwas muß strengstens
bestraft –“
„Täte das irgend etwas ändern?“ verneinte das Kind.
„Sorg dich doch nicht, das Leben geht weiter, und es wird schon werden.“
Und mährsächlich! Die beiden fanden eine Herberge, wo sie sich Kost und Logis durch Küchendienst erarbeiten
konnten; tscha, und nachdem sie am Morgen die Stadt verlassen hatten, hörten sie hinter sich eine Kutsche im Eiltempo näher
kommen. Drinnen saß jener Bankier, der in der Nacht einen erschreckenden Traum gehabt hatte und nun unbedingt die volle Wechselsumme
(ohne Abzug!) ausbezahlen wollte und dies auch tat. Gab es noch Wunder?
Den nächsten Kummer bereitete unserm jungen Mann ein übles Hautjucken. Statt das Kind um Rat zu fragen, suchte
Freidank Hilfe beim nächsten Arzt. Der erkannte auf Dermaphobie. Das sei
eine sehr gefährliche Krankheit, weshalb es dafür auch nur einen griechischen Namen gäbe. Somit helfe auch kein Hausmittel, sondern nur
der Eingriff eines erfahrenen Arztes. Glücklicherweise – Na, du kannst dir schon denken, wer den Eingriff durchführen
wollte. Und stell dir vor: Die ganze juckende Haut sollte entfernt werden.
Gut, daß sich unser Freidank nun endlich dem Kinde anvertraute. Und während er das tat, kam ihm –
„Aber was hat das alles mit unserem Beten zu tun?“ konnte sich Donna Oppermann nicht länger zurückhalten.
„– eine Salbe in den Sinn“, war der Alte noch in vollem Lauf, „die schon seine Großmutter heilend eingesetzt hatte. Und siehe da, sie half auch dieses Mal. Ja, es war schon eigenartig: Immer, wenn
Freidank Hilfe bei sich oder sogenannten Fachleuten suchte, kam allenfalls Stückwerk heraus oder gar Verschlimmerung; teilte er aber
Kummer und Sorgen mit dem Kinde, zog Frieden ins Herz, der Blick hob sich, suchte und fand. Tscha, und die Not der
Mitmenschen? Das kann auch zu einer Sorge werden, die geteilt werden muß.
Aber wenn du dann in Augen kindlichen Vertrauens blickst, dann wärmt wieder Frieden das Herz. Und wenn dann auch in deinen Augen dieses
Vertrauen Wohnung bezieht, dann wird alles gut, und –“
Allein – Donna Oppermann gewahrte dieses Vertrauen nicht; sie war inzwischen gegangen – ohne
Frieden.
© Stiftung Stückwerken, *10.12.2021, freigegeben am 15.6.2024
Qouz-Note: 3-
***
MamM 1.142 Nachtmeister Stropp und der Fall BenBen
Was macht eigentlich unser Nachtmeister Stropp? Was machen unsere Freundinnen und Freunde: Frau Struppe, die Igelin; Bruhno, der Bär; Wastel, der Waschbär; Frau Emma von Nowotny, die Schildkröte? Das hat sich in der letzten Zeit mancher
gefragt und – auch ich. Ich habe dann geantwortet, unser Freund sei mit seiner Eheliebsten wohl im Winterurlaub. Tscha, so ahnungslos und dumm kann ein Mährchenonkel sein! Denn was setzt ein
Winterurlaub voraus? Gut, natürlich auch, daß jemand von seinem Dienst abkömmlich ist. Aber vor allem? Richtig!
Winter! Und der legt ja hierzulande oft keine lange Rast mehr ein, sondern läßt sich hurtig gen Mitternacht oder Sonnenaufgang
treiben; und selbst dort hat er sich neue Manieren angewöhnt.
Nun denn, – auch in diesem Jahr war nicht viel vom Winter zu spüren. Herr von Eichhorn flitzte noch immer in
seinen Nuß- und Zapfengärten herum, erntete reichlich und vergrub’s für schlechtere Zeiten oder – für die listigen Elstern, die ihn heimlich beobachteten. Ringelblume, Tausendschön, ja, selbst stolze Rosen blühten, als sei Herr Frost auf Reisen und vorerst nicht zurückzuerwarten. Und unser Nachtmeister? Der opferte sogar Schlaf, um sich nach einem passenden
Weihnachtsbaum umzuschauen.
„Stropp!“ hatte ihn Frau Struppe nämlich ermahnt. „Sei so lieb und geh’ ma’ in den Wald; und zwar am Tage! Denn was du in der Nacht aussuchen und nach Hause bringen tätest, das reichte noch nicht ma’ zum Einheizen!“
Tscha, und als treu sorgender, gehorsamer Ehemann ließ sich unser Igel natürlich nicht lange bitten. Ehemänner
kennen das ja: Stellen sie sich beim 1. Mal taub, dann wird der Ton der Bitte beim 2. Mal nicht angenehmer und auf keinen Fall respektvoller.
Selbstverständlich war unser Held nicht mittags unterwegs, wenn du selbst im Wald nicht vor rücksichtslosen Menschen und ungezogenen Hunden sicher bist, sondern beim
Morgengrauen. Und schon ging das Abenteuer los!
„Na, Stropp“, war eine heisere Stimme mit leichtem Spott gewürzt, „hast du dich verlaufen?“
„Jawohl, Herr Friedensrichter“, beeilte sich unser Nachtmeister – zum Entsetzen aller, die ihn noch nicht genug kennen, „melde gehorsamst: Nein, habe mich nicht
verlaufen.“
Was unserem Helden manche als zu devotes Verhalten, ja, sogar als Opportunismus ankreiden, (vor allem, wenn sie selber nie gedient
haben) verfehlte auf den Fuchs seine Wirkung nicht: Weit unterschätzend, hielt dieser jenen für einen Trottel. Tscha, und wenn
du den andern für einen Trottel hältst, dann neigst du sehr zur Unvorsichtigkeit. So auch hier.
„Gut, daß ich dich treffe!“ tat der Friedensrichter großzügig. „Ich wollt’ dich nämlich zum Weihnachtsbraten eingeladen haben. Es gibt extra für dich
falschen Hasen; frisch erlegt! Und ich täte es als Majestätsbeleidigung
ansehen, wenn du und deine –, deine Frau diese ehrenvolle Einladung ausschlagen tätet. Ich hoffe, ihr erspart mir, mich von meiner
ungnädigen Seite zeigen zu müssen.“
„Und er hat dann noch gemeint“, erzählte unser Held wenig später zu Hause, „es wären noch mehrere Abgeordnete aus den tierischen Landständen eingeladen, aber die müßten
mit Obst und Gemüse vorliebnehmen. Du, da ist irgend etwas faul.“
„Das denk’ ich auch“, unterstrich die Igelin sogleich die gemeinsame Seelenverwandtschaft. „Wenn ich mir
vorstelle: Alle andern essen Obst und Gemüse, nur wir beide – und vielleicht noch die Fuchsfamilie – haben Fleisch, dann –“
„– täte das eurem Ansehen sehr schaden“, ergänzte unser Bruhno, der an diesem Gespräch teilnehmen durfte, „denn
Fleisch setzt ein totes Tier voraus, vermutlich getötet, vermutlich sogar durch ein Verbrechen. Und wer sich am Genuß der Früchte
dieses Verbrechens beteiligt, –“
„Sogar öffentlich!“ fügte unser Stropp an. „Der ist
künftig nicht mehr glaubwürdig und kann die Verbrechen anderer nicht mehr verfolgen. –“
„Und sich auch nicht mehr im Spiegel anschauen“, war die Igelin eben in der praktischen Welt der Damen zu Hause. „Aber was machen wir jetzt nur?“
„Wenn“, setzte unser Held umgehend seinen berühmten Scharfsinn ein, „das Fleisch angeblich von einem frisch erlegten Tier stammen wird, dann lebt dieses noch. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wer erlegt werden soll. Und können wir dieses
Verbrechen verhindern, wird Reinhart entweder seinen Weihnachtsschmaus abblasen oder auch uns mit Obst und Gemüse bewirten. Da ihm letzteres aber nichts einbringt, sondern nur Kosten verursacht, können wir wohl mit der 1. Alternative rechnen. Jetzt –“
„– müssen wir nur noch herausbringen“, stellte unser kleiner Bär seine Lernfrüchte nicht unter den Weihnachtsbaum, „was mit «falscher Hase» gemeint
ist. Rind und Schwein bestimmt nicht; wie bei den Menschen! An diese Tiere traut sich Reinhart nicht ran. Echter Hase auch nicht. Aber was dann?“
„Vielleicht kann ich euch helfen“, bot eine Stimme mit seltsamer Satzmelodie an.
Ein Rotkehlchen! hatte unser Igel auf Anhieb erkannt und nahm das Hilfsangebot von Herrn Rubinio gern und dankbar an.
Tscha, und dann hatte der wohlverdiente Schlaf noch länger im Wartezimmer unserer Igelfamilie Platz zu nehmen.
Denn zunächst mußte Wastel geholt werden und unser Nachtmeister huckepack genommen; somit gingen dann 3 Tiere auf Reisen, während Frau Struppe zu Hause das Gästezimmer herzurichten hatte. Wozu? Na, zurück kamen nicht nur Stropp, Wastel und Bruhno, sondern auch ein 4.
Tier. Ein Asylant; ganz schwarz, als käme er aus Afrika:
BenBen, von den Menschen fälschlich –Stallhase genannt, tatsächlich aber aus dem Volke der Kaninchen.
BenBen war dem Tode eigentlich sogar 2mal entronnen. Zum 1. Mal, als er von ungefähr mitbekommen hatte, beim
Bauern Piepenstink als Braten für die Speisetafel ausersehen zu sein. Gewitzt hatte er einen unbewachten Augenblick genutzt und war
getürmt. Doch weil er in seinem Leben bisher nur gelernt hatte, allein Menschen könnten böse sein, hatte er den Tieren zu blind
vertraut und war arglos seinem Gemüseerwerb nachgegangen, hatte arglos seine Verdauungsspaziergänge unternommen und war arglos auf Traumreise gezogen. Und dabei mußte er heimlich vom Fuchs beobachtet worden sein und hatte in diesem jenen teuflischen Plan reifen lassen. Aber nun war BenBen bei Struppe und Stropp in Sicherheit; dazu noch unter dem Schutz
unserer weiteren Freunde.
Stropp hatte selbstverständlich richtig kombiniert. Reinhart ließ ihm mitteilen, das Festessen müsse leider
ausfallen; es sei etwas dazwischengekommen. Aber aufgeschoben sei nicht
aufgehoben!
Na, das erzeugt bei uns allen jetzt aber keine Furcht, sondern Vorfreude auf weitere Abenteuer!
© Stiftung Stückwerken, *17.12.2021, freigegeben am 18.1.2024
Qouz-Note: 3
***
MamM 1.143 Von Namen und Völkern
„Seid Ihr eigentlich am letzten Sonntag schlau geworden“, fragte Donna Einfeldel, „was – ?“
„Nee“, brauchte der Alte von der Halbinsel nicht länger zuzuhören, „wollte ich
gar nicht. Ist nicht mein Ziel.“
„Aber was habt Ihr von einer Predigt“, konnte die Besucherin nicht folgen, „wenn Ihr nichts begriffen habt?
Jedenfalls ging es am Sonntag darum, daß jedes Volk seinen Gott hat und in dessen Namen wandelt. Stimmt das denn? Dann gäbe es
ja gar keine Gottlosen; oder?“
„Und wir wandeln im Namen des HERRN, unsers Gottes, immer und ewiglich“, ergänzte der Alte. „Boh! Was sind wir für gute Menschen! Und da zum Wir auch ich gehöre, muß ich das noch viel mehr anzweifeln. Dennoch – wenn
wir uns umschauen: Es gibt dieses Auftreten im Namen von etwas anderem, als wäre dieses andere ein Gott. Und daraus bilden sich Völker,
deren Gott nicht der HERR ist. Sogar im Christentum. –“
„Verstößt das nicht gegen das 1. Gebot?“ folgerte Donna Einfeldel.
„Ja“, bestätigte der Alte. „Nimm nur die Gerechtigkeit. Ist sie etwa die gleiche Göttin wie unser barmherziger Gott? Oder nimm die
Kirche. Wie oft treten Menschen im Namen einer Kirche auf und wähnen, diese wäre mit dem Vater aller Güte –“
„Ist das nicht Ketzerei, was Ihr da sagt?“ entsetzte sich die Besucherin. „Zumal Ihr behauptet hättet, Ihr wüßtet gar nicht, wer die Kirche sei.“
„Eben!“ sah der Alte darin keinen Widerspruch. „Da kann
die Kirche leicht zu einem Decknamen werden; insbesondere wenn sich dahinter Herrschsucht verbirgt“, und er begann zu erzählen:
Es wär’ einmal ein junger Graf, der hieß – der hieß Adelherz. Ein
Reichsgraf, also ein Fürst, der in seinem Land so regieren konnte wie ein König; nur eine Königskrone durfte er nicht
tragen. Das hätte er aber gerne und setzte sich das zum Lebensziel.
Das können und dürfen wir jetzt nicht verurteilen; allein – du wirst schnell merken: Irgend etwas stimmte
nicht mit seinem Sehen. Er dachte nämlich, ein König zeichne sich vor allem damit aus, daß er Gerechtigkeit walten lasse und in deren
Namen auftrete. Tscha, bildet aber diese Göttin ein Volk? Oder trennt sie
in Völker? Nämlich das Volk der Richter, das Volk der Scharfrichter. Hör
dich nur mal um: Mit einem Scharfrichter Gemeinschaft pflegen möchte kein Richter; nur jenen wie ein Werkzeug bei Bedarf
gebrauchen. Das sind also schon 2 Völker. Das 3. Volk bilden die
Verurteilten, und selbst da kannst du weitere Völker unterscheiden: zum Beispiel jene, die sich völlig unschuldig fühlen; dann solche,
die sich als ungerecht verurteilt sehen; und solche, die sich schuldig fühlen. Und dann gibt es noch den Rest, und auch darin gibt es weitere Völker: zum Beispiel solche, die Unrecht tun, aber noch nicht erwischt
wurden; oder solche, die nicht merken, wenn sie Unrecht tun. Du kannst es,
wenn du willst, weiter ausspinnen; entscheidend ist: Gerechtigkeit eint nicht, sondern trennt.
Irgendwann blieb das auch Adelherz nicht verborgen, und er dachte bei sich: <Wenn ich das Pferd nicht auf diese Weise aufzäumen kann, muß ich’s eben von der anderen
Seite tun. Wie, wenn ich von Anfang an im Namen des Volkes auftrete, dann setze ich dieses Volk schon voraus und habe es
bereits.>
Und was will dieses Volk? Gewiß Wohlstand. Wie
aber kannst du diesen Wohlstand fördern? Gut, du kannst säen und ernten;
kannst du aber das Wetter beeinflussen? Du kannst Handel treiben, günstig einkaufen und teuer verkaufen; aber die Geschichte lehrt: Es gibt immer neben den Gewinnern auch Verlierer, sogar im eigenen Volk; und die Armut verhält sich wie die Fliegen beim tapferen Schneiderlein. Allein – die Richtung stimmt anscheinend schon, sei aber noch nicht zu Ende gedacht: Der Wohlstand deines Volkes wächst, wenn du andern deren
Schätze wegnimmst. Und wie? Denk nur an die großen Eroberer!
Nun hatte aber jenseits der Berge eine junge Prinzessin Reich, Thron und Krone geerbt, von der (nämlich der neuen Königin) erzählt
wurde, sie sei geistig zurückgeblieben. Ja, sie habe selbst als Volljährige ihre Kinderschuhe noch immer nicht abgelegt.
<Wenn diese – diese Person noch ein Kindskopf ist>, sprach Adelherz zu sich, <dann wär’s doch für jenes Volk sogar ein gutes Werk, wenn es durch jemanden von
solcher Herrschaft befreit würde! Und dieser Jemand will ich sein!>
Sprach’s, ließ mobil machen, ritt an der Spitze seiner Truppen in jenes Land ein, als hielte er’s für ein reines Kinderspiel, und – mußte absteigen und zu Fuß in die
Gefangenschaft ziehen. Alleine, – denn seine Soldaten wurden nur entwaffnet und dann zurückgeschickt, sozusagen als Herolde ihrer neuen
Königin.
Was war geschehen? Raphaela hatte, sobald sie das Lesen gelernt, die Bücher jenes Karls aus dem Osten sozusagen verschlungen; vor allem die letzten. Und das Gelesene hatte sie einfach umgesetzt: einen Hinterhalt so zu legen, daß die eigenen Kämpfer in der Deckung bleiben, der Feind aber
ungeschützt ist und sich bedingungslos ergeben muß. Und alles ohne Blutvergießen!
Für Adelherz sah’s nun ganz und gar nicht gut aus. Wären die Rollen vertauscht gewesen, dann hätte er für
solche Kriegsverbrechen wohl die Todesstrafe verhängt. Allein – Raphaela sah das anders: Selbstverständlich sei ein Kriegszug etwas
Böses, aber die Todesstrafe vermindere keine Schuld, sondern vermehre diese. Wer aber Böses tue, dem mangele es an Wissen und
Können; er müsse also etwas lernen. Und dazu wolle sie Adelherz fortan
reichlich Gelegenheit bieten und ihn in die Schule –
„Und was hat das jetzt mit der Predigt vom Sonntag zu tun?“ versuchte Donna Einefeld den Alten von seinen Abwegen
zurückzuholen.
„Eh“, wirkte der Alte wie ein plötzlich Erwachender, „mir geht’s jedenfalls manches Mal wie jenem Adelherz. Er
verdankte jener Königin sein Leben und wollte ihr dafür dankbar sein. Und sie beauftragte ihn, in ihrem Namen ihre Schafe zu
weiden; so könne er sich am besten dankbar erzeigen. Das bedeutet jedoch,
sich zu fragen: Wie ist die überhaupt, in deren Name ich auftrete? Setz nur den Fall, ein Schaf habe die Herde verlassen und sich
verirrt. Adelherz hätte bisher im Namen der Gerechtigkeit geurteilt: Selbst schuld, also muß es selber und alleine zusehen, wie es
zurückfindet. Aber im Namen von Raphaela sieht das anders aus: Da ist ein Mangel, und dieser Mangel muß geheilt werden, und zwar durch
den, der die Heilmittel –“
Aber die Besucherin war inzwischen gegangen. Unzufrieden!
© Stiftung Stückwerken, *24.12.2021, freigegeben am 2.4.2024
Qouz-Note: 3-
***
MamM 1.144 Nachtmeister Stropp und der Fall
Knallfrosch
„Frohes neues!“ Pause. „Frohes neues!“ Pause. „Frohes neues!
Hallo, ist da niemand?“
„Nein“, kam es mehrdeutig aus dem Innern heraus.
„Ja, wenn da niemand –“
„Hab’ ich das etwa behauptet?“ verneinte der Hausherr und trat ohne Hoffnung vor die Haustür. Ohne Hoffnung darauf, daß sich seine Laune bessern werde.
„Da werd’ einer schlau draus!“ brummte der schwarze Vogel. „Ich wollt’ dir nur ein frohes neues wünschen, Stropp.“
„Ein frohes neues was?“ legte sich unser Nachtmeister bekanntlich auf ein hartnäckiges Fragen, wenn er etwas nicht
wußte und – meinte, nicht wissen zu können.
„Na, Jahr“, hielt’s Herr Amsler für eine Selbstverständlichkeit. „Heute ist doch der 1.“
„Aha“, war der Igel etwas klüger geworden, aber – noch nicht klug genug. „Also Montag?“
„Nein“, lachte der Vogel, „nicht der 1. der Woche, sondern der 1. des neuen Jahres. Und da ist es Brauch,
einander etwas zu wünschen. Weißt du das denn gar nicht?“
„Ich – wir –“, ward unser Held wie alle großen Männer etwas verlegen, wenn andere bei ihm eine Wissenslücke entdeckten, „wir, meine Frau und ich, sind dann meistens im
Winterurlaub und –“
„– schlafen dann gerne lange“, ergänzte die Eheliebste, die inzwischen hinzugekommen war.
Schlafen?“ wunderte sich Herr Amsler. „Bei dem Lärm
könnt ihr schlafen?“
„Schlecht geträumt hatten wir beide schon“, glaubte Frau Struppe sich zu erinnern. „Es wär’ Krieg. Um uns lauter Kanonenfeuer. Und ich hatte solche Angst um dich.“ Ein zärtlicher Blick folgte, wie er hier und da bei
Ehepaaren zu beobachten ist, die miteinander alt geworden sind.
Ja-a, unser Igel war nicht mehr der Jüngste, aber wenn seine Eheliebste ihn so anblickte, war’s wie ein Jungbrunnen. Eben so, als hätte er noch keine Ehekriege hinter, sondern alle noch vor sich. So
war’s eigentlich zwangsläufig, daß auch er sich erinnerte, im Traum tapfer für Frau und Vaterland gestritten zu haben, wenn auch dabei kein Blut geflossen sei. Und dann habe er plötzlich dieses «Frohes neues!» gehört und befürchtet, es beziehe sich auf Kampf und Krieg. Nun sei er erleichtert und wünsche ebenfalls ein frohes neues Jahr. Wie es denn der
verehrten Gattin und den lieben Kindern gehe?
„Och, die Kinder sind alle längst aus dem Haus“, belegte Herr Amsler, daß die Familienbande von Haus zu Haus sehr unterschiedlich sein können, „aber ich denke, in diesem
Jahr werden wir uns wieder ein paar neue anschaffen.“
„Anschaffen?“ blieb Frau Struppe hängen. „Ah, so“, und
dachte sich ihr Teil.
„Die Nation muß erhalten bleiben“, rechtfertigte sich der Vogel. „Es sterben ja auch viele vor der
Zeit. Gerade heute! Da liegen so viele rote Beeren auf der Straße, und es
gibt viel zu viele verantwortungslose Eltern. Die klären ihre Kinder nicht auf. Und wenn das junge Volk diese roten Beeren frißt, dann stirbt es elendiglich.“
„Das ist Gift, nicht wahr“, war auch bei der Igelin der Scharfsinn außerordentlich ausgebildet. „Ich hab’
davon gehört. Vielleicht müßt ihr alle mal in den Streik treten und nicht mehr singen.“
„Nee, nee, nee“, wollte das unser Stropp nicht so stehenlassen. „Dann wird’s mit den Menschen ja noch schlimmer! Weshalb begehen sie solche Verbrechen? Weil sie unglücklich sind! Oder glaubst du, –“
„Oder dumm“, ergänzte der Vogel. „Ich hab’ sogar gehört, manche Menschen pochen darauf, von den Affen
abzustammen, und die sind bekanntlich derart dumm, daß bei denen nicht dem Klügsten die höchste Wertschätzung entgegengebracht wird, sondern dem, der am lautesten Krach macht.“
„Siehste, lieber Stropp“, ließ die Eheliebste diese neue Erkenntnis nicht ungenutzt, „deshalb belächeln dich auch manche Menschen. obwohl du so viele Morde –“
„Es gibt übrigens wieder eine neue Leiche“, konnte Herr Amsler besser reden denn zuhören. „Drüben im
Kühlebachtal. Und derart zermatscht, daß sie noch nicht einmal zum Frühstück –“
„Frühstück?“ meldete sich eine neue, tiefere Stimme, und unser Bruhno tauchte plötzlich auf, ebenfalls wie jemand, der gerne noch etwas länger geschlafen hätte, aber noch jung genug war, sich durch gute Erwartungen ablenken
zu lassen. „Geht’s endlich wieder auf Streife?“
Eigentlich nicht“, deutete unser Igel an, daß der Entscheidungsprozeß hierzu noch nicht abgeschlossen sei.
„1. ist es nicht mein Revier, 2. hab’ ich Urlaub, und 3. scheint niemand die Leiche zu vermissen.“
„Aber du könntest mit der Aufklärung eines neuen Falles Ehre einlegen“, hielt Frau Struppe dagegen, als wäre sie die Mondin eines Sonnenmannes.
„Und wer hätte was davon?“ stellte unser Nachtmeister meisterhaft die entscheidende Frage. „Vergiß nicht: Unser Friedensrichter ist noch immer ein Freund der Todesstrafe!“
„Erst recht, wenn es nach der Vollstreckung ein Festessen gibt“, rutschte es unserem kleinen Bären heraus.
„Stropp!“ war plötzlich eine heisere Stimme zu hören.
„Er muß sofort ermitteln! Im Kühlebachtal liegt ein toter Frosch; und
derart unappetitlich, daß er nicht mehr zum Verzehr – Oh, mir wird übel! Mir wird –“
Hui, war das eine Aufregung! Der Fuchs machte mährsächlich schlapp, und nur mit äußerster Anstrengung seines
berühmten Scharfsinns konnte unser Held noch rechtzeitig herausfinden, was geschehen war.
Reineke XXII. habe heute morgen einen grünen Frosch zu sich genommen. Er habe sich schon gewundert, wieso der nicht Reißaus genommen hätte. Er, der
Friedensrichter, habe bei sich gedacht: Angststarre.
„Knallfrosch!“ folgerte unser Stropp blitzschnell.
„Sofort einen Arzt! Am besten: Dr. Reigel. Schnell, schnell, es geht um Tod
oder Leben!“
Herr Amsler, der beim Thema Froschschenkel auf den Friedensrichter nicht gut zu sprechen war, flog dennoch sogleich los, kehrte bald mit dem heilkundigen Graureiher
zurück, und dieser flößte dem Sterbenden ein Mittel ein, das er Rizinusvertrackt nannte. Frau Struppe wagte zwar, ihn zu verbessern,
aber der Doktor beharrte auf dieser Bezeichnung. Sei es, wie es sei, Reineke XXII. tappte dem Tode noch einmal von der Schüppe und mit
hängender Rute davon. Natürlich zu schwach, um sich bei seinen Lebensrettern zu bedanken.
„Wir haben ihn schwach geseh'n“, murmelte unser Stropp tierkennerisch und dramenkundig, „das wird er uns wohl nie
verzeihen. Doch nun laßt uns wieder zu Bett gehen. Kommt Zeit, kommt
Rat!“
© Stiftung Stückwerken, *1.1.2022,
freigegeben am 18.1.2024
Qouz-Note: 4+
***
MamM 1.145 Wozu denn immer scheiden?
„Wir werden uns wohl scheiden lassen“, konnte Donna Cosima van Tante ihre Bekümmerung nicht leugnen.
„Wohl?“ nahm’s der Alte von der Halbinsel zu wörtlich.
„Ja, es ist wohl besser so“, klang die Stimme der Besucherin entschlossen, die zweifelhafte Wiederholung jedoch nicht wahrnehmend.
„Aus WIR werden ICH und DU“, folgerte der Alte, „ja, ICH und ER?“
„Es geht eben nicht anders“, rechtfertigte sich Donna van Tante flintenlos. „Ich weiß, mich wird die Kirche
dafür künftig ächten. –“
„Wer ist Kirche?“ dachte der Alte hörbar. „Ich weiß es
nicht. Und ob du zu deiner Kirche gehörst oder aus deiner Perspektive nicht gehörst, du bleibst ein Kind Gottes. Und ich könnte weiterhin mit dir ein Vaterunser –“
„Aber die Kirche sagt: Du sollst nicht ehebrechen“, blieb die Besucherin auf ihrer Anklagebank, „und so habe es Gott selbst geboten.“
„Mh“, wollte der Alte auf Augenhöhe bleiben, „soll? Und wenn’s aus Nächstenliebe geschieht? Der Kanon
der Gebote ist nicht frei von Widersprüchen. Deshalb seh’ ich’s mehr als Lebenshilfe: Du brauchst nicht zu trennen, was
zusammengehört; du kannst auch so gut –“
„Ach, Ihr habt gut reden“, seufzte Donna van Tante. „Ich hab’s immer wieder versucht, doch statt besser wurde
es nur noch –“
„Ein Junggeselle ist kein guter Eheberater“, gab der Alte bereitwillig zu. „Ich kann nur immer wieder sagen:
Tu es, oder tu es nicht; egal ob du es tust oder nicht tust, du wirst es bereuen, – so sagt jener Däne als Philosoph; als Christ müßte er jedoch zugeben: Gott kann alles noch zum Besten wenden“, und er begann zu erzählen:
Tscha, weshalb enden so viele Märchen mit der Hochzeit? Weil sie dieses Mährchen hier nicht kennen? Also: Es wär’ einmal eine Königin, die hieß – die hieß Grosine. Schon ein
einzigartiger Name! Nun, eine Zwergin oder eine dürre Bohnestange wirst du dahinter nicht vermuten; und Grosine brachte schon einige Pfunde auf die Waage; jedoch – mollig? Wie ein weiches Kissen, in dem du von allen Lasten und Mühen ausruhst, umfangen von einer wohligen Wärme und der Zärtlichkeit Blicken? Nein, eher stattlich, kantig und – mit einem gebieterischen Blick. Merkwürdig, wie
viele Männer für so eine sich von allen anderen Frauen abwenden, sogar von den (angehenden) molligen Muttis.
Du ahnst es schon: Grosine konnte sich ihren Eheliebsten – besser: Ehebesten – aussuchen. Und so etwas tut
nicht gut! Insbesondere – wenn ein Frauenzimmer zu einem Wettbewerb aufruft, bei dem nicht der Richtige, sondern der Beste
gefunden werden soll. Ja, und obendrein noch soll! Es kam, wie es kommen
mußte: Graf Peter besiegte alle Konkurrenten und ward der Königin angetraut.
Selbstverständlich durfte Peter sich künftig König nennen, doch auf dem Thron war nur Platz für eine: Grosine!
Anfangs war’s Peter noch gestattet, den Ehekrug zu spielen, bei dem sich seine Gattin einhaken konnte; doch
schon bald widersprach solch ein öffentliches Auftreten dem Gerechtigkeitssinn der Königin. Wer war die Erste im Lande? Also! Und fortan trug Grosine keine Kleider mehr, sondern Hosen, und Peter durfte
nicht mehr neben ihr gehen, sondern 3 Schritte hinter ihr. Doch das war noch nicht das Schlimmste.
Hast du irgendein Geschenk erhalten, so geht’s bald ans Auspacken; und selten hält der Inhalt ein, was dessen
Verpackung verspricht. So ist’s auch in der Ehe! Vielfach wird dann die
Enttäuschung zunächst nicht offen zur Schau getragen, läßt sich aber einem harmlosen Umstand dennoch abmerken: der Anrede! Da wird dann
aus Schatz Schätzchen, aus Hase Hasilein und aus Peter – das Peterle. Tscha, in solchen Fällen war dann die Hochzeit tatsächlich der
Gipfel, und von nun an geht’s bergab!
Nun begab es sich aber in jenen Tagen, daß Peter wie von ungefähr eine Katze bei einer recht ungewöhnlichen Jagdzeremonie antraf. Erst blickte sie nämlich umher, – nirgendwo war eine Maus zu sehen. Doch kaum hatte
sich die Katze in einer ganz bestimmten Art und Weise mit der Pfote über das rechte Auge gewischt, da machte sie auch schon einen Satz, und – hast du nicht gesehen – war eine Maus
gefangen! Nun trug Peter zwar kein Gelüsten nach Mäusen, aber was er eben gesehen hatte, das wollte er doch mal auch an sich
ausprobieren. Das tat er gleich beim nächsten Ball und – war entsetzt! Er
gewahrte nämlich, wie die Königin einen Pudel vorführte und allerlei Kunststückchen machen ließ. Solange mit diesem Staat gemacht
werden konnte, wurde er gehätschelt und gelobt. Doch als dem Pudel das Gehorchen zu bunt wurde und die Natur über die Dressur siegte,
da war’s mit aller Liebe vorbei, und der Pudel mußte auf der Stelle den Ballsaal verlassen.
Die Sache hatte noch ein Nachspiel! Als Peter bei der nächsten Gelegenheit mit seiner Gemahlin unter 4 Augen
zusammentraf, wischte er wieder wie von ungefähr über sein rechtes Auge. Und plötzlich gewahrte er, wie 2 Heere kleiner Teufel eine
heftige Schlacht gegeneinander ausfochten. Zwar gab es keine Toten, aber schmerzhafte Wunden. Es gab auch keinen endgültigen Sieger, sondern jeder Kampf schien darauf angelegt zu sein, ihn immer wieder aufleben zu lassen und den Krieg
endlos fortzusetzen.
Tscha, und dann – bei einer der nächsten Begegnungen mit seiner Frau – versuchte Peter wie von ungefähr das Wischen mal nicht am rechten Auge, sondern am rechten
Ohr. Oh, weh! Da hörte er Töne, jungfräuliche, also Mißtöne! Wie bei einem Kurkapelle morgens um 7 am Brunnen, welche das vorherige Stimmen der Instrumente vergessen hat. Das
war keine Musik mehr, sondern Lärm; Lärm, der krank macht.
Doch bevor’s lebensgefährlich wurde, brachte bei der nächsten königlichen Audienz der Schlaf Erlösung. Peter
wischte dieses Mal nicht und – nickte ein, als ihn die Königin mit ihren Ansichten vertraut zu machen gedachte. Nun ja, im
Rechtsbewußtsein vieler Frauen kommt solch ein Vergehen dem Hochverrat gleich und wird umgehend strengstens bestraft: mit Verbannung.
Nach einer geharnischten Gardinenpredigt! Wobei der Angeklagte notfalls durch einen Eimer kalten Wassers wach –
„Aber was hat das alles mit meiner Ehe zu tun?“ konnte sich Donna van Tante nicht länger zurückhalten. „Soll ich mich nun scheiden –“
„Nichts sollst du“, rieb sich der Alte erst einmal an seinem Reizwort. „Allein – ist’s Liebe, so findet sie immer einen Weg, und steht sie vor Gräben, dann
baut sie Brücken. Peter wischte sich wie von ungefähr über das linke Auge.
Und plötzlich war’s ihm, als wäre er irgendwie ins Schloß zurückgekehrt. Aber er hatte kein Auge für Wände und Möbel, sondern er sah
ein Gartenbeet mit allerlei Schönem und Heilsamen und – viel Unkraut. Doch durch dieses Unkraut wurden viele Insekten angezogen, die
aber auch für die Fruchtbarkeit des Schönen und Heilsamen sorgten. Und plötzlich waren da 2 Heere von Engeln; doch die bekämpften sich nicht, sondern umarmten sich. Und aus Peters Herzen drang
ein Singen, das steckte ein anderes Singen –“
Jedoch – die Besucherin war inzwischen gegangen.
© Stiftung Stückwerken, *6.-7.1.2022, freigegeben am 15.6.2024
Qouz-Note: 4
***
MamM 1.146 Sein wie die Sonne ...
„Ich glaub’“, fühlte sich Donna Lobeknecht als Prophetin, „wir haben da am letzten Sonntag einen neuen Stern in unserer Kirche
erlebt.“
„So?“ genügte das dem Alten von der Halbinsel noch nicht für eine Zustimmung.
„Die Lehrer aber werden leuchten wie die Sterne in des Heilandes –“
„Du verstehst es trefflich, Brücken zu bauen“, lobte der Alte, statt zu tadeln, „zwischen Altem und Neuem Testament und Kirchenliedern; allein – wer steigt, kann auch wieder –“
„Das glaub’ ich bei dem nicht“, war sich die Besucherin sicher. „Er ist sogar Wissenschaftler –“
„– und eigentlich damit der Wahrheit verpflichtet“, ergänzte der Alte.
„Ich kann ihn keiner Lüge zeihen“, bekannte Donna Lobeknecht – freiwillig und ohne eigenen Vorteil, „nein, dem glaub’ ich sogar mehr als Euch.“
„Weil er Wissenschaftler ist“, lachte der Alte, „und ich nur Stückwerkler? Jedoch – ich will’s auch gar nicht
anders. Wo ich irre und was ich als Menschliches weitergebe, das braucht auch niemand zu glauben. Nein, ein Verbreiter hoher Erkenntnisse bin ich nicht. Da ist dein neuer Liebling
wohl aus anderem Holze –“
„Das könnt Ihr laut sagen!“ meinte es die Besucherin nicht wörtlich. „Alles Hand und Fuß und –“
„– die Zeit vergessend“, fügte der Alte hinzu. „Mir war’s am Sonntag jedenfalls um etwa 20 Prozent zu
lang. Und was hat’s bewirkt?“
„Ihr hättet eben Euren Herzensacker vorher fein bestellen sollen“ war für Donna Lobeknecht die Schuldfrage schon geklärt.
Der Alte verkniff sich jedoch eine sarkastische Entgegnung und begann zu erzählen:
In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte – eh, wär’ einmal ein König, der hieß Helmerich. Und kaum hatte er seinen Thron bestiegen und sich seine Krone aufgesetzt, da sagte sich eine Provinz von ihm los und ließ ihm
ausrichten: Wir wollen nicht, daß du über uns herrschest.
Des Königs geheimen Räte waren sich alle einig: Das dürfe der König nicht auf sich sitzenlassen! Das schreie
nach Krieg! Wehret den Anfängen!
War aber der Krieg kein Anfang, dem es zu wehren galt?
Nein, vorerst wollte der König die Empfehlung seiner Räte nicht umsetzen, sondern sich zunächst selber ein Bild machen. Gewiß hätte es mehr Einzelheiten denn dasjenige, welches er bisher von jener Provinz hatte. Also kleidete er sich wie ein Tagelöhner, nahm einen sicheren Stock in die Hand und – wanderte los.
In einer Kutsche oder auf einem Pferd wäre er viel schneller am Ziel gewesen? Bist du dir da so
sicher? Als Wanderer hast du etwas, was du auf jene Art nicht hast, nämlich Zeit! Auch eine andere Sicht. Und mehr Nähe zu den Menschen. Kommst du in Kutsche oder zu Pferde vor eine Herberge, erwartet der Wirt von dir Dukaten; kommst du aber zu Fuß, dann sieht der Wirt seinen Gewinn eher darin, dich für Kost und Logis arbeiten zu lassen. Außerdem erfährst du in Küche und Gaststube manches, was dir sonst verborgen geblieben wäre.
Nun, auf diese Weise gelangte unser Helmerich endlich in jene abtrünnige Provinz und arbeitete sich auch dort von Herberge zu Herberge, bis in die Provinzhauptstadt
hinein.
Puh, was waren die Leute hier unfreundlich! Also bitter arm! Denn kaum jemand hatte auf Straßen und Gassen einen Gruß zu verschenken. Und entbot
Helmerich freundlich die Tageszeit, ward das gleich verschluckt und nicht erwidert, – allenfalls wie das Knurren eines Straßenköters.
Auch entdeckte der König schnell, daß die Menschen hier keineswegs frei von Herrschaft waren. Frauen tyrannisierten ihren Mann oder
ihre Schwiegertöchter; Männer unterdrückten ihre Familien; Handwerksmeister
beuteten ihre Gesellen aus, die sich an den Lehrlingen schadlos zu halten versuchten; Grundeigentümer preßten ihre Pächter und Mieter
aus. Und – Zeit hatte hier auch niemand. Keine Zeit für ein liebes Wort,
einen freundlichen Blick, einen verbindenden Händedruck.
Gut, sprach Helmerich jemanden an und fragte, was diesen bedrücke, dann bekam er schon Antworten. Allein –
bevor die oder der Angesprochene ihr oder sein Herz ausgeschüttet hatte, endete sie oder er bereits mit den Worten: sie oder er müsse weiter, und es habe ja doch alles keinen Zweck, und mit einem
König über ihnen werde alles nur noch schlimmer.
Konnte es denn überhaupt noch schlimmer kommen?
Ach ja, die Tage waren auch zu grau und trostlos! Das merkte der König auch an sich selber. Er mußte sich regelrecht zusammenreißen, um auf die Menschen zuzugehen. Mehr und mehr
setzte sich bei ihm der Gedanke durch: eigentlich froh darüber zu sein, daß die Menschen hier ihn nicht als König haben wollten. Nee,
lieben, – lieben wie ein Landesvater seine Landeskinder konnte er diese Menschen hier nicht. Dieses undankbare, verstockte
Pack! Sollten sie doch zusehen, wie sie ohne ihn zurechtkämen.
Tscha, da war wohl die Gesundheit von der Krankheit angesteckt worden; und nicht umgekehrt. Es war aber Helmerich eines Tages, als bahne sich die Sonne ihren Weg durch alles trostlose Grau. Allein – der Himmel oben war
nach wie vor verhangen, und weder sein Blau noch die Sonne selbst waren zu sehen. Aber unter den Menschen war irgend etwas
anders. Ein leuchtender Blick klopfte an die verhangenen Fenster der Augen.
Durfte er eintreten, dann leuchtete er bis ins Herz. War sein Anklopfen vergeblich, dann bat eine warmherzige Stimme um Einlaß an den
Ohren. Durfte sie eintreten, dann wärmte sie bis ins Herz hinein. War ihr
Begehren vergeblich, dann wehte ein einzigartiger Duft heran; ein Duft von Heimat und Kinderzeit und Frühling. Ja, über –, nein, in die Menschen hier war der Frühling hereingebrochen. Auf den
Gassen hallte wieder das Lachen der Kinder, in den Parks flüsterten wieder die Stimmen von Braut und Bräutigam, und vor den Häusern saßen Omas und
Opas und sangen Heimatlieder. Aber – wer war die Sonne, die das alles bewirkt hatte?
„Ich bin ein kleines, einfaches Löweneckerchen“, erfuhr Helmerich bei seinen Nachforschungen.
Er hätte es gerne mit in sein Reich genommen, aber es lehnte ab: Es sei nicht für einen Käfig –
„Aber was hat das jetzt mit unserem neuen Prediger zu tun?“ konnte sich Donna Lobeknecht nicht länger
zurückhalten.
„Nicht Sterne tun uns Menschen not“, antwortete der Alte, „sondern
die Gott liebhaben,
müssen zwangsläufig sein,
wie die Sonne aufgeht
in seiner Macht.
Nicht herrschend, sondern dienend. Eine schwere, aber – auch wenn das Wort aus der Mode gekommen ist: – segensreiche Lebensaufgabe für
einen König. Mit menschlicher Kraft ist’s nicht möglich, doch –“
Allein – seiner Besucherin war der Alte nicht zu einem Sonnenaufgang geworden; sie war inzwischen
gegangen.
© Stiftung Stückwerken, *13-14.1.2022, freigegeben am 15.6.2024
Qouz-Note: 4
***
MamM 1.147 Lächeln wie ein Kind
Einsam stand der König am Fenster seines Arbeitszimmers und blickte über das abendliche Residenzstädtchen. Einsam? Von außen sah’s wohl so aus, aber das treffende Wort war’s nicht, Herr Flaubert. Denn
der König fühlte keinen Mangel, sondern sich sehr reich.
Morgen täte er Krone, Thron und Reich seiner Nachfolgerin übergeben. Überraschend, so daß niemand hätte eine
Lob- und Dankrede vorbereiten können. Er, der König, haßte solche Theaterstücke; mehr waren sie ja nicht. Da lobte jemand einen andern, obwohl jener sich
hauptsächlich selber loben wollte. Da dankte jemand mit Wörtern, als könnten diese etwa Taten ersetzen. Und alles wie ein Geschenk, dessen Verpackung mehr versprach, als der Inhalt halten konnte. Und er, der König, hätte es obendrein noch mit leeren Dankeswörtern vergelten müssen.
War überhaupt etwas des Dankens wert?
Zu manchem Haus dort unten hatte er, der König, den Anstoß gegeben, die Genehmigung, Geld. Ach ja, das
Geld! Das hatte er bestimmt nicht geschaffen, sondern er hatte es erhalten.
Und ob er’s immer dem richtigen Zweck zugeführt hatte? Bestimmt nicht! Und
alles Geld, was er ausgegeben hatte, das hatten andere erhalten, und ob die’s recht weitergegeben hatten? Wer konnte das
beurteilen? Deshalb hatte es sich der König auch verbeten, daß irgendein Haus, irgendein Platz oder irgendeine Straße nach ihm, dem
König, benannt werde. Wie durfte ein Gemeinschaftswerk einem einzelnen zugeschrieben werden! Dennoch freute sich der König still, an manchem Guten mitgewirkt zu haben. Doch als
er seinen Blick zum Himmel hob, war ihm bewußt: Gedanken, Kraft und Ausdauer waren nicht seine Geschöpfe, sondern empfangene Geschenke.
Erste Sterne schimmerten dort oben. Die Gelehrten sagten,daß kaum ein Stern dort stehe, wo dieser gegenwärtig
von der Erde aus zu sehen sei. Ja, mancher Stern wäre schon längst erloschen und leuchte noch immer. Und bei den Menschen war’s sogar mehr: Mancher Körper war schon längst zu Staub und Asche geworden, aber die Erinnerung an diesen Menschen wärmte
noch immer das Herz. Ach ja, auch er, der König, wollte nicht leuchten, sondern wärmen.
Das war bei seinem Regierungsantritt anders gewesen. Niemand hatte mit ihm als neuem König gerechnet, denn in
der Thronfolge hatte er weit hinten gestanden. Doch plötzlich war er aufgestiegen wie ein neuer Stern. Und sein Volk hatte er mitreißen wollen: über alles, über alles in der Welt. Und wie? Dazu gibt’s viele Irrtümer! Auch er, als junger König, hatte ihnen aufgesessen. Forsch auftreten, laut bellen,
mit den Säbeln rasseln. Ach ja, dahin war anfangs viel Geld geflossen; viel
zuviel! Waffen schmieden. Todsichere! Menschen zum Töten
abrichten. Welch ein Irrsinn! Und dann sie dazu einsetzen wie
Schachfiguren. Da fühlst du dich wie Gott und – bist in Wahrheit ein Teufel! Wie viele Kinder ihn noch immer verfluchten, weil sie ohne Vater hatten aufwachsen müssen! Wie viele Mütter ihn verfluchten! Wie viele Bräute und Ehefrauen! Gott sei Dank, daß er, der junge König, seinen 1. Krieg nicht wiederholt hatte! Und Gott segne seinen alten Ratgeber, der ihm keinen Eroberungsfrieden empfohlen hatte, sondern einen
Versöhnungsfrieden! Allein – kein Toter konnte zurückgerufen werden, kein Invalide wurde wieder ganz gesund, und mancher wurde noch
immer von den Schrecken des Krieges in drückenden Träumen heimgesucht.
Der König seufzte tief. Es half ihm heute überhaupt nichts, daß viele Landeskinder mit Jubel in den Krieg
gezogen waren; daß Geistliche die Waffen gesegnet hatten; daß viele den
Sieg gefeiert hatten. Denn sah er, der König, genauer hin, dann waren diese Mitmenschen nicht einfach mitschuldig geworden, sondern zu
Mitschuldigen gemacht worden. Nein, nicht durch ihn allein; aber seit jenem
Friedensschluß stand ein Schild auf seinem Schreibtisch:
Der Landesvater
haftet für seine Landeskinder!
Auch das hatte er zunächst nicht bestens umgesetzt: Unrecht müsse mit Strenge begegnet werden. Welch ein
Wahn! Vergeltung! Gleiches mit Gleichem! Also Unrecht mit Unrecht? Zur Abschreckung! Wirklich? Wer für einen Raub hart bestraft wird, ist leichter geneigt, auch noch zu
töten, damit er gar nicht erst gefaßt werden kann. Und dann die Justizirrtümer! Es ist viel einfacher, für die Schuld an einem Verbrechen Beweise vorzulegen denn für die Unschuld eines Verdächtigen. Und seitdem er, der König, begonnen hatte, sogenannte Verbrecher kennenzulernen, sah er vieles anders. Kaum einer von ihnen nahm die Alleinschuld auf sich; und tat er’s doch, so war’s beim
genaueren Hinsehen übertriebene Selbstzerknirschung. Solchen ward auch keine Strafe zur Buße, sondern wie Meerwasser. Und je mehr Schuhe von Angeklagten und Verurteilten der König anprobierte, desto häufiger mußte er gestehen, in jenen Schuhen wäre er wohl keinen
besseren Weg gegangen.
Da begab es sich, daß der König schwer erkrankte und das Bett hüten mußte. Jetzt auch das noch! Er, der noch voller Tatendrang gesteckt hatte, war nun zum Nichtstun verurteilt!
Mußte da nicht sein Reich untergehen? Wie so viele Menschen, die sich für unersetzlich halten, erlebte es auch dieser König: Es ging
ohne ihn dennoch weiter. Und damit er dieses Weitergehen nicht störe, sondern in Ruhe genese, ward für ihn eine Krankenwärterin
bestellt und außer ihr und dem Arzt allen andern der Zutritt zum Krankenzimmer verboten.
Nun ja, es gab noch eine weitere Ausnahme. Die Krankenwärterin hatte nämlich noch ein Töchterchen, und das
durfte sie mitbringen. Und jetzt kam so einiges zusammen: Der König hatte Zeit! Zeit zum Nachdenken. Zeit zum Abwägen. Zeit zum Beobachten. Und dann eben jeden Tag jenes Mädchen.
Wie es lächelte! Nicht wie eine Schauspielerin, die’s für ihre Rolle einsetzt. Nein, einfältig. Wie ein Fenster, durch das du in ein hell erleuchtetes Zimmer
hineinschaust, in dem vor dir sich nichts verbergen kann.
Und arglos! Nicht ausdrückend: Ich weiß, sondern: Ich vertraue dir. Der König merkte es an sich selbst: Er hätte dieses Lächeln nie enttäuschen wollen.
Das war wie ein Naturgesetz.
Und entwaffnend! Auch jenes Mädchen war kein fehlerfreier Engel, sondern ein fehlender Mensch. Einmal wollte es dem König den Genesungstee bringen, war aber derart unbedacht und ungeschickt, daß es den ganzen Inhalt der Tasse über das Bett
ausgoß. Mutter und König wollten schon heftig losschimpfen, aber ein Blick in jenes Gesichtchen und das eigenartige Lächeln verwehten
allen Schimpfkanonen das Pulver und hielten diese im Schweigen.
Der alte König stand am Fenster und lächelte. 3 Jahre hatte diese Schule
gedauert. 3 Lenze voller Hoffnung auf eine baldige Genesung, 3 Sommer hitziger Anfälle und Ermattung, 3 Herbstzeiten mit täglich
schwindender Hoffnung sowie 3 Winter der Trostlosigkeit. Aber an jedem Tag hatte das Lächeln jenes Mädchens in das Krankenzimmer
geschienen wie eine Sonne. Endlich war der 4. Frühling gekommen und kein Rückfall mehr. So hatte er, der König, wieder seine Amtsgeschäfte aufgenommen; aber
anders. War nicht vieles in seinem Reich einem Krankenzimmer gleich? Einem
Krankenzimmer, das eine Sonne brauchte? Wieviel Gutes sie bewirkt hatte!
Strenge Gerechtigkeit hätte das niemals vermocht.
Lächelnd wandte sich der alte König vom Fenster ab. Du kannst auch ohne ein Lächeln König sein; aber wenn du lächelst wie ein Kind, dann bist du eine mächtige Königin.
© Stiftung Stückwerken, *20.1.2022, freigegeben am 21.6.2024
Qouz-Note: 1-
***
MamM 1.148 Die Georgskapelle im Ödland
„Blickt Ihr da eigentlich noch durch?“ fühlte sich Donna Sökensieker nicht auf der
sicheren Seite.
„Bestimmt nicht“, war sich der Alte von der Halbinsel sicher, auch wenn er gar
nicht wußte, wodurch er hätte blicken können. „So ein Fernglas immer mit sich rumzuschleppen –“
„Ich mein’ die Sonntagspredigt“, wurde die Besucherin deutlicher. „Es ging da um die Heilung dieses
Mondsüchtigen. Früher wurde da immer gepredigt, Sucht ließe sich nur heilen durch Gebet und Fasten. Aber das steht bei dem einen Evangelisten gar nicht mehr –“
„– und bei dem 3. stand’s noch nie“, konnte der Alte das Belehren wieder nicht lassen.
„– und bei dem 2. steht jetzt nur noch Gebet“, fuhr Donna Sökensieker fort. „Was ist denn jetzt
wahr?“
„Das, was Jesus wirklich gesagt hat“, antwortete der Alte, gewürzt mit Ironie, aber auch mit einem Lächeln, „denn sein Wort ist wahr
schon per Definition.“
„Aber er hat’s nicht in unserer Muttersprache gesagt –“
„Eben!“ bestätigte der Alte. „Wir brauchen deshalb
Übersetzungen, und die sind nie frei von Zu- und Abtun.“
„Aber je weiter die Wissenschaft fortschreitet“, setzte die Besucherin Gehörtes um, „desto näher kommen wir der Wahrheit? Aha, deshalb in letzter Zeit so häufig die ausdrückliche Versicherung, daß uns das zeitgemäße –“
„Der Zeitgeist braucht das Zeitmaß“, tat der Alte altklug, „aber der Heilige Geist ist ewig. Wer müßte also
immer wieder seine Aussagen revidieren? Du sprachst eben vom Fortschreiten;
ein treffendes Wort! Wissenschaft dagegen trägt die Unwahrheit schon in sich. Allein – wer Fortschritt fordert, gerade in der Religion, könnte die Heimat verlieren und sich in der Fremde“, und er begann zu erzählen:
Es wär’ einmal eine junge Königin, die – die hieß Katharsina. Unter diesem Namen ist dir gewiß keine Große
bekannt, und der Zarin Katharina hätte sie bestimmt nicht das Wasser reichen können; es sei denn,
jene hätte sich niedergebeugt.
Unsere Katharsina war bei ihrem Volk nicht unbeliebt, zumal ein lächelndes Angesicht viele Herzen gewinnen kann. Aber Größe? Nein, Größe hätte ihr niemand beigemessen. Auch keine Stärke. Ja, sie galt bald als schwache Königin; vor allem in jenem verhängnisvollem Krieg.
Zu einem Krieg gehören immer 2. So hatte die Königin auch gedacht. Bevor Gernot in die Grenzprovinz ihres Landes eingefallen war! Natürlich nicht er selber, denn das trägt ein Herzog schon in seinem Namen: Wenn er der 1. sein will im Herziehen, dann muß er der letzte sein im
Hinziehen. Nein, Herzog Gernot hatte seine Grünschrecken ausgesandt. Das
waren ganz besondere Tiere: Gesichter wie die Töchter und Söhne der Menschen, aber der Blick starr und kalt sowie Maul und Zähne wie die eines giereigen Wolfes. Wo diese Bestien einfielen, hinterließen sie nur Verwüstung; und für die Überfallenen
gab es allenfalls die Flucht, wollten sie den Schaden begrenzen.
Somit erreichte die Kunde von dem Überfall bald die Hauptstadt und in dieser das Residenzschloß. Doch was tat
nun die Königin? Ließ sie mobil machen? Nein, kein Aufruf zu den
Fahnen; weder an Rathäusern und Schulen noch an Kirchentüren. Denn zunächst
kümmerte sich die Königin für die Flüchtlinge um Obdach, Verpflegung und Arbeit. Glaub bloß nicht, daß die Flüchtlinge überall
willkommen waren! Die Handwerker befürchteten gefährliche Konkurrenz, die Tagelöhner ebenso, ja, selbst die Bauern. Obdach erhielten die „Neuen“ nur, wo sonst niemand wohnen wollte; Arbeit nur, die
sonst niemand machen wollte; Land nur, das steinig, steil oder ausgelaugt war und das sonst niemand bebauen wollte. Und wer sich durch die Flüchtlinge keinen Gewinn versprach, der forderte lauter und lauter, die Königin solle schnellstens alles unternehmen,
damit der Flüchtlingsstrom versiege oder gar sich umkehre. Ja, so sind die Menschen: Statt selber zu helfen, fordern sie’s von den
andern! Wir Menschen!
Als ob sich die Königin keine Gedanken darüber gemacht hätte! Selbstverständlich hatte auch sie als Kind mit
Zinnsoldaten gespielt. Und wer von diesen in einem Spiel gefallen war, der stand zum nächsten wieder auf. Und war er zu Schaden gekommen, dann konnte Katharsina ihn zu ihrem Vater bringen, und der sorgte schon dafür, daß der Soldat bald wieder
einsatzfähig war. Aber der Einfall in die Grenzprovinz war kein Kinderspiel, und der Vater, der hätte heilen können, war auch nicht
mehr da. Was also tun? Die Geheimen Räte empfahlen dennoch alle den Krieg
und Vergeltung. Aber das war die Ansicht von Erwachsenen! Von Menschen, die
sich nicht mehr zu freuen wußten; also gar nicht weise waren. Die Königin
fühlte in ihrem Herzen, daß sie die Hilfe in ihrer Kindheit suchen mußte. In den Märchen war das damals oft eine gute Fee gewesen, die
eingriff, und alles war wieder gut. Und bei ihr selber? Der
Vater! Und wenn da keine Hilfe zu finden gewesen war, dann hatte nur noch ein Gespräch mit dem Vater aller Menschen geholfen:
Ich bin klein, mein Herz sei rein, mög’ niemand drin wohnen als Jesus
allein. Ob das reichte?
Doch bald hernach begab es sich, daß sich Gernot nicht mit der Einnahme jener Provinz zufriedengab, sondern seine Truppen auch die Grenze zur nächsten Provinz
überschreiten ließ. Doch kaum hatten die ersten Grünschrecken den Befehl befolgt, erhob sich vor ihnen ein großer Schwarm schwarzer
Vögel, stürzte auf die Feinde nieder und vertilgte einen nach dem andern. Jedoch – nun begann eine sonderbare Wandlung: Die
Grünschrecken fielen als Dung wieder auf die Erde, und die Farbe der Vögel wandelte sich in ein makelloses Weiß.
Eigentlich hatte Gernot damit die entscheidende Schlacht verloren; dennoch ernannte er sich nun zum
Großherzog, beanspruchte jene Grenzprovinz für sich und ließ bekanntmachen, sie mit seinen Bürgern besiedeln zu wollen.
„Aber was hat das mit den neuen Bibelübersetzungen zu tun?“ konnte
sich Donna Sökensieker nicht länger zurückhalten.
„Hinterlassen Textschändungen nicht auch ein verwüstetes Land?“ gab der Alte zu bedenken. „In jener Grenzprovinz stand aber eine kleine Kapelle, die war von einem gewissen Georg gestiftet worden; und für dort schlug Katharsina kurzerhand und kurzerfrist eine Begegnung mit jenem
Großherzog vor. Und da beide nicht furchtsam waren, kam diese Begegnung bald und dort mährsächlich zustande. Doch als die beiden die Tür der Kapelle öffneten und gemeinsam eintraten, gewahrten sie auf dem schlichten Tisch unter dem leeren Kreuz Brot und
Wein. Es war, als leuchteten diese aus sich heraus, und das Brot schien noch warm zu sein. Scheu traten Königin und Großherzog hinzu und entdeckten auf der Tischdecke auch noch eine Schrift. 5 Worte: Für dich und für
dich. Da konnten die beiden Feinde nicht anders, als Brot und Wein miteinander zu teilen; dann umarmten sie sich einander. Wer aber das miteinander erlebt hat, kann keinen
Krieg mehr gegeneinander –“
Doch da mußte der Alte mal wieder erleben, daß ihm seine Zuhörerin abhanden gekommen war; schließlich war er
ja kein Priester!
© Stiftung Stückwerken, *28.1.2022, freigegeben am 22.6.2024
Qouz-Note: 3-
***
MamM 1.149 Haben oder lieben
„Glaubt Ihr eigentlich an die 7 Todsünden?“ fragte Donna Markwart zweifelnd.
„Die 7 Hauptsünden? Die Todsünde?“ überlegte der
Alte von der Halbinsel hörbar. „Ich bin
weder zum Richter ernannt noch Kirchenrechtler. –“
„Glaubt Ihr dran? Oder nicht?“ blieb die Besucherin
hartnäckig.
„Wenn du unter Todsünde verstehst“, schränkte der Alte ein, „Sünde, die zum Tode führt, und unter Tod die Trennung von Gott, dann ist
jede Sünde eine Todsünde, –“
„– welche die ewige Verdammnis nach sich zieht; ich weiß“, ergänzte Donna Markwart.
„Nö, das glaub’ ich nun nicht“, widersprach der Alte, „denn wenn Gott Liebe ist und allen Menschen helfen will, dann orientiert er
sich gewiß nicht daran, was ihm Menschen vorsortieren. Und – ich sag’s ja wieder und wieder – wenn die Liebe Gottes einem einzigen Menschen nicht zu helfen wüßte, dann täte sie damit einräumen, daß etwas anderes größer –“
„Aber was wäre das für ein Himmel“, hielt die Besucherin energisch dagegen, „wo Mörder, Ehebrecher, Räuber und Lügner nebeneinander –“
„– in dem lauter Begnadigte sitzen“, glaubte der Alte verbessern zu müssen, „so wird’s kommen, davon bin ich –“
„Aber das verträgt sich doch überhaupt nicht mit Gottes Gerechtigkeit!“ wollte
sich Donna Markwart nicht beirren lassen.
„Ich tröste mich da mit dem Gleichnis vom Unkraut im Weizen“, blieb aber auch der Alte auf seinem Standpunkt. „Das ist Himmelreich: Am Ende bleibt nur der Weizen übrig. Nicht als Sinnbild für besonders Erwählte,
die Elite durch eigene Leistung und Einbildung, sondern in jedem Herzen. Aber da fällt mir ein, daß die Schriftgelehrten einer Sünde
keinen so hohen Stellenwert beimessen, nämlich der Habgier. Ich dagegen halte sie für ein besonders schädliches Unkraut“, und er begann
zu erzählen:
Es wär’ einmal ein junger König, der hieß – der hieß Hannes. Na ja, nicht
gerade ein Name, bei dem jede Fee viel Ehre verheißen hätte. Aber Hannes war sehr reich, schien ein glückliches Händchen zu haben und –
galt weit und breit als sogenannte gute Partie. Zwar war er noch viel zu jung, viel zu gesund und nicht waghalsig genug, um Hoffnungen
auf eine baldige Erbschaft zu begründen, aber wer zuerst kommt, mahlt bekanntlich zuerst. Und – welche Frau will schon auf ein künftiges Erbe spekulieren, wenn sie bereits jetzt und vielleicht noch mehr und ungeteilt durch Herrschaft
erreichen kann? Jedenfalls – sobald sich Hannes nach Röcken und Kleidern umzuschauen begann, hielt er sich für
unwiderstehlich. Das ist bestimmt nicht gut für einen sich formenden Charakter.
Wer aber vom schönen Geschlecht etwas auf sich hielt, sank dem König nicht gleich in die Arme. Nö, erst einmal
tat sie so, als wäre er Luft für sie. Dann reiste sie kalt und grußlos zurück zu ihrem Schloß, riegelte sich ein und harrte auf den,
der da kommen sollte; zumindest wenn sie von Stande war.
Nimm nur die Prinzessin Nymphea. Die war auf dem Wasserschloß Nymphensee
zu Hause. Dort ließ sie einfach hinter sich die Zugbrücke hochziehen, – nachdem sie von der 1. Begegnung mit dem jungen König
zurückgekehrt war; und nun wartete sie und dachte: Na, dann streng dich mal an! Hannes kam auch bald angeritten, stutzte kurz, ließ sich Boot und Leiter bauen, und – hast du nicht gesehen – war er im Schloß und wenig später
im Gemach der Prinzessin. Allein – bei Alltageslicht besehen, hatte die Prinzessin so manches Aber an sich, so daß in Hannes bald der
Entschluß reifte: Da muß es gewiß woanders noch was Besseres geben, also auf!
Und so sehen wir ihn bald vor ein wuchtiges Felsenschloß reiten, in dem die Prinzessin Petrella zu Hause
war. Auch hier war die Zugbrücke hochgezogen, und niemand machte drinnen Anstalten, das zu ändern. Also ließ Hannes kurzerhand ein Luftschiff bauen, bestieg’s, ließ sich vom Wind über die Mauern tragen, landete und stürmte in das Gemach der
Prinzessin. Jedoch – bei Alltageslicht besehen, kam Hannes auch hier bald zu der Einsicht: Was du hast, das hast du zwar, aber da wird
es gewiß woanders noch was Besseres geben.
Das glaubte er vorendlich in der Prinzessin Prunella gefunden zu haben, doch die hatte sich in einem
Dornröschenschloß verschanzt. Aber auch hier fiel der König nicht auf den Kopf. Er ließ sich seine Rüstung bringen, nahm sein Zauberschwert zur Hand und – hast du nicht gesehen – war er jenseits der Dornenhecke. Doch auch bei Prunella war er, bei Alltageslicht besehen, unzufrieden und machte sich auf die Suche nach – was Besserem.
Zunächst aber wollte er auf sein Schloß zurückkehren; doch etwa eine halbe Tagesreise vor seinem Ziel stieg er
vom Pferd und schickte dieses und seine Begleitung voraus; natürlich auch mit seiner Rüstung, seinem Zauberschwert und allem, was
seinen Stand hätte anzeigen können. Ja, er kleidete sich gar so, als wäre er nichts anderes denn ein fahrender Geselle, und als solcher
wanderte er los.
Wie von ungefähr kam er bald an einem Dorffriedhof vorbei, auf dem es eine prächtige Bestattung gegeben haben mußte. Neugierig trat Hannes an das frische Grab, das noch nicht zugeschaufelt worden war, und blickte hinab. Da lag doch etwas dort unten; oder? Mährsächlich: ein kleiner Stoffbär! Und schon hatte ihn der König dort herausgeholt,
als müsse er das tun. Vorsichtig reinigte Hannes den Kleinen von Asche, Blüten und Blättern und steckte ihn zu sich. Dann zog er vorsichtig Erkundigungen ein.
Im Dorfkrug war die heutige Beerdigung natürlich das Hauptthema, und so erfuhr der König: Ein junger Vater sei ganz plötzlich gestorben, und die junge Frau und das
Töchterlein seien untröstlich. Klara spiele auf ihrem Klavier nur noch
Trauermärsche, und ihr Töchterlein habe sogar sein Liebstes, was es nach seinen Eltern habe, dem Vater in dessen Grabe zum Reisegefährten mitgegeben: einen Stoffbären.
Gedankenvoll setzte sich der König abseits an einen Tisch, ließ sich Papier, Tinte und Feder bringen, schrieb etwas, faltete das Papier zusammen, wartete die
Abenddämmerung ab und ging dann heimlich zu dem Trauerhaus, das er aufgrund seiner Erkundigungen auch auf Anhieb fand. Drinnen spielte
jemand Klavier, als wäre es zum Trauerkameraden ausersehe; dennoch wurde drinnen das Pochen des Türklopfers gehört. Die junge Witwe öffnete die Tür, gewahrte etwas vor der Schwelle, hob’s auf und trug’s –
„Aber was hat das jetzt mit den Todsünden zu tun?“ konnte sich Donna Markwart nicht länger zurückhalten.
„Wen interessiert das Unkraut“, antwortete der Alte fragend, „wenn der Weizen reift? Zu Klara drang der König
nicht vor, um sie in Besitz zu nehmen. Nein, weder sie noch ihr Töchterlein wollte er haben, sondern er wollte dafür sorgen, daß es
ihnen gutgehe. Immer wieder kehrte er heimlich in jenes Dorf zurück und legte jeweils eine Überraschung vor die Türe. Nicht immer beglückend! Denn als er eines Abend einen Käfig mit einem Dompfaff vor
die Türe stellte, wurde dieser sogleich freigelassen; aber deswegen kündigte Hannes doch seine Lehrzeit nicht auf. Es war schon seltsam: Die Prinzessinnen, die er hatte erobern müssen, hatten ihn nicht halten können, doch mit Klara, bei der er gar nicht ans
Erobern und Besitzen dachte, verband ihn etwas, was stärker und –“
Allein – die Besucherin war ihm keine Klara, sondern inzwischen gegangen.
© Stiftung Stückwerken, *3.2.2022, freigegeben am 22.6.2024
Qouz-Note: 3-
***
MamM 1.150 Paukus und Maximus
„Wenn Ihr mich fragt“, begab sich Donna Funkenstroh scheinbar in eine Abhängigkeit, „wer am besten predigt, dann –“
„Aber ich frag’ dich doch gar nicht“, nahm’s der Alte von der Halbinsel mal
wieder zu wörtlich.
„– gibt’s für mich nur eine Antwort“, war die Besucherin nicht zu bremsen, „nämlich –“
„– ist dämlich?“ bettete es der Alte vorsichtshalber in eine Frage. „Wozu die vielen Hierarchien? Die sind alle menschlich. Göttlich ist das –“
„Habt Ihr denn keine eigene Meinung zu den Predigern?“ zweifelte Donna Funkenstroh sehr.
„Leider viel zu oft“, mußte der Alte zugeben, „aber hilfreich ist das für keinen. –“
„Sind bei Euch auch schon mal Prediger durchgefallen?“ hakte die Besucherin nach.
„Ja, leider“, bedauerte es der Alte, „wenn ich vergessen habe, daß ich nicht zum Richten berufen bin.“
„Also wertet Ihr durchaus“, hielt’s Donna Funkenstroh fest.
„Was aber nur Sinn macht, wenn ich wählen kann“, deutete der Alte eigenes Versagen an. „Außerdem können sich
Menschen ändern; meine Perspektive kann –“
„Aber mancher könnte sich wirklich mehr anstrengen“, urteilte die Besucherin. „Wenn wir ihm einen Besseren als
Muster vorhalten, –“
„– käme am Ende allenfalls eine Nachahmung heraus“, ergänzte der Alte skeptisch, „auf jeden Fall mehr Eifersucht. Nee, nee, wo Hierarchie, da hat der Himmel der Gemeinde viel zu enge Grenzen und droht zu einer Hölle zu werden“, und er begann zu
erzählen:
Es wär’ einmal ein Graf, der hieß – der hieß Maximus. Dieser Graf freite eine reiche Königinwitwe und ward von
dieser erhört und zu deren Gemahl erhoben. Anscheinend war sie nicht mehr die Jüngste; denn sie hatte aus ihrer 1. Ehe einen Sohn, der kaum 7 Jahre jünger war denn dessen neuer Stiefvater. Sie starb auch bald nach ihrer Hochzeit, ohne vorher geregelt zu haben, wer ihr Thronfolger werden möge.
Da aber Paukus noch nicht volljährig war, sprach zunächst alles für den Grafen. Er setzte sich auch sogleich auf den Thron; als er sich aber zum neuen König krönen
lassen wollte, verweigerte ihm der königliche Aufbewahrer die Krone. Ja, sogar die Geistlichkeit war nicht willens, den Krönungssegen
zu spenden, und alle Beamtinnen und Beamten des Reiches lehnten es ab, einen neuen Amtseid zu leisten. Der König sei der bess’re Mann, sonst sei der Bess’re König, ward nun zu einer gemeinen Rede im Lande; und das könne jetzt noch gar nicht entschieden werden, sondern erst in 7 Monaten, wenn Paukus volljährig
werde. Bis dahin dürfe Maximus lediglich als Reichsverweser tätig sein.
Tscha, was hilft’s einem Herrscher, wenn er über sein Volk herrschen will, dieses sich ihm aber verweigert?
Allein – auf dem Thron saß der Graf nun mal, und davon gedachte er sich nie mehr vertreiben zu lassen. Dazu hatte er eine Sammlung
besonderer Schriften zur Hand, die anscheinend so geschrieben waren, als wären’s künftige Chroniken des gegenwärtigen Tages. Und die
befragte der Graf Abend für Abend, wer denn der Größte sei im ganzen Lande; und regelmäßig kam zur Antwort: Ihr, Herr Graf, bis an
des Meeres Strande.
Da begab es sich, daß der Feind ins Land einbrach und es mit Krieg verheerte. Der Graf ließ sogleich mobil
machen und seine Soldaten dem Angreifer entgegenziehen, daß sie diesen aus dem Lande jagten. Und schon bald ward im Residenzschloß
gemeldet, der Feind sei auf der ganzen Linie besiegt. Selbstsicher befragte der Graf am Abend seine wundersamen Schriften, wer der
Größte im Lande sei. Doch statt der erwarteten Antwort bekam der Graf zu hören:
Paukus ist größer denn Ihr, der Größte im Lande;
denn er machte Frieden, wozu Ihr nicht imstande.
Der Graf verstand die Welt nicht mehr; aber schon am nächsten Morgen erhielt er
Aufklärung. Da ward ihm nämlich genauer berichtet, wie der Sieg errungen worden sei. Paukus sei nämlich wie von ungefähr zwischen die verfeindeten Heere getreten, habe die Hand gehoben, und schon sei Unglaubliches
geschehen! Statt Waffen hätten plötzlich alle Soldaten Ackerbaugeräte in den Händen gehabt, und aus jeder Kanone sei ein Pflug
geworden. Nun habe Paukus alle angewiesen, das Land zu bestellen bis an den Abend. Da seien alle Soldaten derart erschöpft gewesen, daß sie nicht mehr ans Kämpfen hätten denken können. Und als Paukus es am nächsten Morgen allen freigestellt habe, entweder weiterzuarbeiten oder nach Hause zu ziehen, da hätten sich alle
selbstverständlich für das letztere entschieden und die Geräte mitgenommen, um sie unterwegs an Bauern zu verkaufen.
Wie der Graf jetzt schnaubte und tobte! Sogleich ließ er seinen Stiefsohn festnehmen und in den Kerker werfen
und bereitete eine Anklage wegen Hochverrates vor. Als er aber am Abend seine weisen Schriften befragte, da mußte er hören:
Ihr selbst seid der Kleinste im Lande und hier;
niemand denkt und handelt so niedrig wie Ihr!
Peng! Da war ein Schuß vollständig nach hinten losgegangen!
Um wieder der Größte zu werden, ließ der Graf seinen Stiefsohn gleich am nächsten Morgen wieder frei; doch am Abend antworteten die wundersamen Schriften:
Euer Erlaucht, Ihr seid der Größte nur in diesem Zimmer hier;
da Paukus Euch das Unrecht vergeben, ist er größer als Ihr.
So blieb dem Grafen nichts anderes übrig, als seinen Stiefsohn am nächsten Morgen in den Thronsaal zu bestellen. Maximus saß selbstverständlich majestätisch auf seinem Thron, Paukus dagegen auf einem Bittstellerstühlchen. Nicht frei von Verlegenheit wollte der Graf erst einmal weit ausholen, begann auch, von jenen wundersamen Schriften zu erzählen, die eigentlich
ihn als den Größten auswiesen, doch Paukus drängte gleich zur Sache.
„Herr Graf“, sprach er, „auf dem Thron da ist nur Platz für einen von uns beiden. Und da er für mich wohl sehr
unbequem wäre, will ich ihn Euch gerne überlassen. Auch reizt es mich nicht, größer zu sein als Ihr, und deshalb mögt Ihr Euch auch die
Krone –“
„Aber was hat das alles mit dem Predigen zu tun?“ konnte sich Donna Funkenstroh nicht länger
zurückhalten.
„Du machst niemanden größer“, antwortete der Alte, „wenn du ihn darin bestärkst, auf andere hinabzuschauen.
Achten ist eine notwendige Voraussetzung für das Lernen. Wer aber wähnt, der Größte zu sein, lernt von niemandem mehr und sinkt und
fällt. Deshalb schlug auch Paukus vor, daß nicht mehr einer den andern zu übertrumpfen trachte, sondern danach, der 1. in sich zu
werden; in den Aufgaben, wozu er Gaben empfangen habe. Und so bitte er sich
lediglich aus, das königliche Siegel für Begnadigungen führen und den Soldaten das Arbeiten beibringen zu dürfen; denn diese hätten
sich neulich ja als völlig aus der Übung –“
Allein – mal wieder war dem Alten seine Zuhörerin abhanden gekommen.
© Stiftung Stückwerken, *10.-11.2.2022, freigegeben am 22.6.2024
Qouz-Note: 3-
***
MamM 1.151 Nachtmeister Stropp und der Fall König Fink
„Das ist ein Winter!“ schien unser Stropp die Rolle des Abendmuffels einstudieren zu wollen. „Ein Kein-Winter!“
„Wo wir uns doch so auf den Winterurlaub gefreut hatten!“ färbte es auf Frau Struppe ab.
„Und wer weiß“, seufzte unser Held, „wie viele gemeinsame Winterferien uns noch vergönnt –“
„Ist dir nicht gut?“ besorgte sich die Eheliebste. „Dann
solltest du mal zum Arzt –“
„Wohl etwa noch zu Dr. Reigel, was?“ hielt unser Igel wie alle echten Männer von solchen Empfehlungen überhaupt
nichts. „Nee, nee, nee, da kriegen mich keine 10 Heupferde –“
„Aber irgend was ist doch mit dir nicht in Ordnung“, blieb die Gattin beharrlich.
„Ja, das Wetter“, gab unser Nachtmeister zu, „aber daran ändert auch kein Dr. Reigel was. Wär’ noch strenger
Winter, könnt’ ich jetzt liegen bleiben; aber so – Ist denn unser lieber Bruhno schon da?“
„Guten Abend, Chef“, meldete sich draußen unser kleiner Bär, „wollt’ Euch zur Nachtschicht abholen.“
„Liegt denn schon was an?“ fragte unser Stropp und begab sich nach draußen.
„Nur das Übliche“, machte unser Bruhno Meldung. „Mord und Totschlag auf den Chausseen, beim Schlachter und in
den Hühnerzuchthäusern, Mord und Totschlag bei den Jägern und Fischern sowie Mord und Totschlag bei Mäusevieh, Käfern, Spinnen, Kröten und –“
„Und schändlichsten Raub!“ meldete sich plötzlich eine fremde Stimme.
„Nanu!“ staunte der angehende Nachtmeistergehilfe. „Was
ist das denn für ein komischer Vogel? Dich –“
„Bruhno!“ ermahnte unser Held sogleich. „Sie verzeihen hoffentlich, Herr
– Herr –“
„König Fink XXI. von Finkenland!“ ergänzte der Fremde.
„Ungnädig! Sehr ungnädig! Äußerst –“
„Ach“, staunte nun auch unser Igel, „ich hatte Euch für einen Kirschkernbeißer –“
„So reden nur Banausen über uns“, unterbrach Ihre Majestät. „Dacht’ ich’s mir doch, daß hier niemand von
Stande und Anstand –“
„Kommen wir zur Sache“, ließ sich unser Nachtmeister weder beleidigen noch einschüchtern. „Ich vermute, Ihr
wollt ein Verbrechen –“
„Jawoll!“ wechselte der Finkekönig ins Preußische. „Ein
ganz abscheuliches Verbrechen! Futterraub der übelsten Sorte!“
„Wo? Was? Wann? Wer?“ versuchte unser Stropp Abschweifungen zu verhindern.
„In meinem Reich“, antwortete Fink XXI. „Futter, – ich sagte es bereits; anscheinend ist hier jeder taub. Jeden Morgen. Und – ach so – wer? Ja, das soll doch Er herausfinden. Und zwar mal ’n bißchen plötzlich! Wozu zahl’ ich meine Steuern? Und nun auf, an die Arbeit!“
„Ein König, der Steuern zahlt?“ wunderte sich Frau Struppe hörbar, die heraustrat, nachdem der Kernbeißer
fortgeflogen war.
„Bestimmt nur von den Steuern“, argwöhnte der kleine Bär, „die er vorher von seinen Untertanen eingesackt hat.
Ganz schön, eh, häßlich arrogant!“
„Vielleicht hat er Minderwertigkeitskomplexe“, vermutete die Igelin. „Bei Männern ist das ja besonders
–“
„Womit jemand sündigt, damit wird er auch geplagt“, zeigten sich an unserem Helden noch immer Spuren von seinem früheren
Wohnsitz: Dem Bölcer Kirchweg. „Er hat uns kaum Anhaltspunkte dafür gegeben, wo die Verbrechen verübt worden sind, –“
„– und außerdem ist Futter ein sehr weiter Begriff“, ergänzte unser Bruhno.
„Tscha, da bleibt uns nichts anderes übrig“, ließ sich unser Igel nicht entmutigen, „uns einmal umzuhören;
denn so hoffnungslos ist der Fall nicht. Kernbeißer sind hier nicht besonders häufig; vielleicht kennt jemand ihren Futterplatz. Und dann neigt mancher Räuber auch dazu,
mit seinen Raubzügen zu prahlen. Oder aber – Es gibt da noch eine 3. Möglichkeit.
Also, meine liebe Struppe, es kann morgen früh spät werden, denn –“
„Macht nichts“, unterbrach die Eheliebste, „ich komm’ ja mit.“
„Was kommst du?“ wollte unser Nachtmeister seinen Ohren nicht trauen.
„Ich hab’ dir heut schon mal gesagt“, wiederholte sich die Gattin: „Geh mal zum Arzt! Und laß dir deine Ohren
–“
„Aber das kannst du nicht machen“, entsetzte sich der Gatte, „das könnte gefährlich –“
„Und ob ich das kann!“ zeigte sich Frau Struppe entschlossen. „Ich fühl’s, es wird Sturm geben, und da kann ich euch doch nicht allein lassen.“
„Dann nehmen wir auf jeden Fall auch Wastel mit“, wußte unser Stropp, daß Widerspruch eine Ehefrau eher noch
antreibt, denn abhält. „Der kann uns helfen, einen wetterfesten Beobachtungsposten zu bauen.“
Eine gute Idee! Denn als unsere 4 Freunde das Gerdsbachtal erreichten,
war an ein Weiterwandern nicht mehr zu denken; und da war es der Waschbär, der einen Unterschlupf unter einem umgestürzten Baum
vorschlug. Denn den könne der Sturm nun mal nicht mehr umwerfen.
Und dann kam der Sturm – mit Macht! Laub wurde aufgewirbelt, Zapfen von den Nadelbäumen abgerissen, Zweige von
den Lärchen, und hin und wieder brachen morsche Äste ab und fielen krachend auf die Erde. Immer wieder zeigte sich auch der volle Mond,
doch konnte und konnte er heute seine Wolkenschäfchen nicht zusammenhalten; immer wieder jagten sie ihm davon, als wäre der böse
Wolf hinter ihnen her.
Erst am Morgen wurde es ruhiger, und dem einen und der anderen unserer 4 fielen die Augen zu. Doch da! Plötzlich war unser Bruhno hellwach! Und schon hatte er die andern ohne lautes Geräusch geweckt. Da huschte
jemand! Nun ja, Igel sind nun mal keine flinken Hasen; aber da war es
wieder von Vorteil, daß unser Waschbär als Reittier einspringen konnte.
„Alle Achtung!“ entfuhr es Frau Struppe. „Ist der
gelenkig! Und schon sitzt er im Futterhäuschen!“
„Im Namen des Gesetzes“, trat nun unser Held unerschrocken vor und dienstlich auf, „was macht Ihr da?“
„Frühstück“, kam’s aus dem Futterhäuschen. „Komm nur herauf, dann kannste – Nein, du nicht! Zu Hilfe, Herr Nachtmeister!“
Tscha, so schnell können Übermut und Überheblichkeit in Furcht umschlagen! Denn auf einen Wink unseres Igels
war Wastel dem Fremden nachgeturnt.
„Es war also die 3. Möglichkeit“, tauschte sich einige Zeit später unser Nachtmeister mit seiner Eheliebsten und seinen Freunden aus. „Ich kam darauf, weil die Kernbeißer ja als rauflustig gelten. Also war es gut
möglich, daß das, was als Futterraub geschildert, in Wirklichkeit nur ein Futterstreit war.“
Aber wenn sich künftig alle an Euren Schlichtungsvorschlag halten“, war unser Bruhno zuversichtlich: „Jeder läßt die Hälfte übrig von dem, was er vorfindet; dann ist doch Frieden –“
„Tscha, wenn“, seufzte unser Stropp, „wenn der Kernbeißer und jener Eichkater, ja, wenn wir alle so herzensgut wären wie unsere Struppe!“
© Stiftung Stückwerken, *18.2.2022,
freigegeben am 20.1.2024
Qouz-Note: 3-
***
MamM 1.152 Danken?
„Opa, hast du das Wetter bestellt?“ suchte die kleine Agneta einen Sündenbock.
Der Großvater lächelte. Auch er mochte graue Tage nicht. „Eigentlich hab’ ich gar kein Wetter bestellt.“
„Siehst du!“ meinte der Blondschopf ermahnen zu müssen.
„Hast du’s denn?“
„Nö“, mußte die Enkelin zugeben, „aber wer denkt auch schon an so was? Dunkel ist’s und naß, da kann ich meine
Kinder gar nicht mit nach draußen nehmen und sie spielen lassen. Die könnten sich ja bei dem Wetter den Tod holen!“
„Na, dann mußt du sie eben drinnen in der Stube lassen“, sah’s der alte Mann nicht tragisch. „Aber wir 2
ziehen uns jetzt wetterfest an und machen einen kleinen Spaziergang.“
„Warum?“ griff Agneta zur häufigsten Frage.
„Wozu?“ lenkte der Großvater um. „Damit das Wetter nicht
auf uns abfärbt und uns seine Melodie aufzwingt.“
„Kann denn das Wetter sogar Musik machen?“ fragte das Mädchen.
„Hast du neulich nicht den Sturm gehört?“ erinnerte der alte Mann. „Und das Trommeln des Regens? Ja, das Wetter kann sogar singen.“
„Wirklich?“ zweifelte Agneta.
„Hör nur mal in dich hinein“, empfahl der Großvater:
„Ach, es ist so trüb’ und grau,
nirgendwo des Himmels Blau,
nirgendwo die Sonn’ zu sehen,
trostlos wir den Tag begehen.“
„Das hör’ ich aber in mir nicht“, widersprach das Mädchen. „Ich hör’ eher, was Mama gesagt hat.“
„Und was hat sie gesagt?“
„Daß du von Jahr zu Jahr wunderlicher wirst“, ahnte Agneta: Es war nicht als Kompliment gemeint.
„Dann wird’s mit mir eben niemals langweilig“, genoß es der alte Mann, mit Humor gewürzt. „Und nun komm, zieh
dich um.“
Schon wenig später traten die beiden vor die Tür, und der Großvater machte auf die vielen Schneeglöckchen aufmerksam.
„Och“, schätzt die Enkelin das Hochgeschätzte wieder ab, „die stehen da schon seit Wochen. Aber, Opa, weißt
du, warum ich immer danke sagen soll, wenn ich was bekomme?“
„Wer hat das denn so angeordnet?“
„Mama“, antwortete Agneta. „Das gehöre sich einfach so. Basta!“
„Na ja“, wand sich der Großvater, „geschickt ausgedrückt hat sie sich dabei nicht. Oder tust du gerne, was du
sollst?“
„Nö“, bestätigte das Enkelkind die mitklingende Vermutung. „Erst recht nicht, wenn ich nicht weiß: warum
–“
„Wozu“, entfuhr es dem alten Mann belehrend. „Nimm’s nicht als Gebot, sondern als einen guten Rat. Allein – danken ist nicht gleich danken“, und er begann zu erzählen:
Es war einmal ein Gärtner, der hieß – der hieß Lewewin. Frag mich jetzt nicht, wie alt der war, denn bei
Menschen, die Tag für Tag an der frischen Luft sind, kannst du dich leicht verschätzen. Aber seine Lehrjahre wird er schon hinter sich
gehabt haben und seinen Meisterbrief in der Schublade. Und selbstverständlich hatte er seinen eigenen Garten und sorgte dort für die
Pflanzen, wie sie’s brauchten. Und sie dankten es ihm – auf ihre Weise.
„Danke, Bursche“, sprachen die stolzen Rosen, als stehe ihr Gärtner tief unter ihnen. „Aber eigentlich müßtest
du dich bei uns bedanken, daß wir dich uns dienen lassen. Und wenn du unsere Blüten verkaufst, bekommst du sogar Geld dafür. Ja, das wissen wir genau; und sehen keinen Pfennig davon! Treib es nicht zu bunt mit uns, hörst du?“ Das war sehr hochmütig
gesprochen; aber Rosen nehmen nun mal kein Blatt vor den Mund und sprechen nicht durch die Blume.
Die Windepflanzen waren da aus ganz anderem Holze. Sie wußten, daß sie im Garten nicht gerne gesehen waren,
weil sie anderen Pflanzen Licht, Nahrung und Wasser wegnahmen. Dennoch zeigten sie sich dem Gärtner gegenüber ganz besonders dankbar, –
aber aus Berechnung: Wir sagen danke, und du läßt uns dafür weiterleben.
Tscha, und dann war da noch der Kirschbaum, von dem ich dir erzählen will. Der sagte überhaupt nicht
danke; oder? Jedenfalls nicht so wie die andern. Doch kannte er unsern Gärtner schon viele Jahre und wußte anscheinend, was er an ihm hatte. Jedes Jahr, wenn sich der Frühling schon ein bißchen eingelebt hatte, überraschte unsere Kirsche mit einem Wunder. Jaha; über Nacht! Am Tag zuvor noch wie
ein kahler Baum unter vielen, den du allenfalls an seiner Rinde hättest erkennen können, erstrahlte er am nächsten Morgen in vollem Brautschmuck. Und Bienen und Hummeln ließen eine Hochzeitsmusik erklingen, daß es so seine Art hatte. Unserm Gärtner ward’s richtig warm ums Herz, und er freute sich, und die Arbeit ging ihm noch mal so leicht von der Hand. Freilich – mit dem Wetter Bestellen vorhin hattest du ja gar nicht so unrecht; denn
Lewewin mußte vor allem jetzt den Frost abbestellen. Die Hochzeit konnte ja nicht mehr rückgängig gemacht werden, und die Braut und die
Hochzeitsmusikanten durften sich nicht erkälten. Wenn alles klappte, dann gab’s bald wieder ein Wunder, nämlich, wenn der Frühling dem
Sommer die Quartierpforte aufhielt und unsere Kirsche unzählige rote Früchte zum herzhaften Genuß anbot. Umsonst – Na ja, wollte
Lewewin nicht alles den Vögeln überlassen, hatte er mit der Kirsche schon so seine Arbeit. Aber er tat’s mit Freude. Und was meinst du: Über welchen Dank hat sich unser Gärtner am meisten gefreut?
„Natürlich über den lieben Kirschbaum“, war sich Agneta sicher. „Obwohl der gar nicht danke gesagt
hat. Das muß ich unbedingt der Mama erzählen, wenn die mich noch mal ermahnt, –“
„Halt!“ wollte der Großvater richtigstellen. „Auch der
Kirschbaum hat gedankt; wie hätte er sich sonst so freuen können? Aber er
hat aus sich heraus gedankt und seine Freude geteilt; und sie ist damit nicht weniger geworden. Weißt du, wenn das Danken in unserm Herzen gedeiht und zur Freude erblüht, dann wird’s auch Wege finden, diese Freude weiterzusäen. So wie bei uns beiden.“
Und aus den Augen der kleinen Agneta leuchtete heraus, daß das wahr ist.
© Stiftung Stückwerken, *24.2.2022,
freigegeben am 20.1.2024
Qouz-Note: 3
***
MamM 1.153 Die Macht der Mütter
„Schrecklich! Einfach schrecklich!“ gab sich Donna Stutz-Flügel fassungslos.
„So?“ wollte der Alte von der Halbinsel sein Mitgefühl – aus Unwissenheit – nicht gänzlich versagen.
„Es ist Krieg“, entrüstete sich die Besucherin; nicht zwecks Abrüstung, „und Ihr sagt nur: So?“
„Ist der denn was Neues?“ fragte der Alte verneinend.
„Aber hier, auf unserm –“
„Selbst da nicht“, widersprach der Alte nachsichtig, „noch nicht mal in unserm Land. Geh nur an die
Landstraßen; geh zu den Herren Direktoren, die ihre Konkurrenz bekämpfen wie einen Feind; geh nur in die Amtsstuben, wo Menschen wie Schlachtvieh behandelt werden, auf daß sie nie mehr wiederkommen. Geh –“
„Aber das ist doch kein Vergleich!“ versagte nun Donna Stutz-Flügel Zustimmung. „Dort drüben sterben Hunderte –“
„Auf unsern Straßen Tausende“, stellte der Alte dagegen, „und unzählige Menschen auf der ganzen Welt durch unsere Rücksichtslosigkeit, unsere Bequemlichkeit, unsere
wahnsinnige Habgier, die sogar an den Nahrungsmittelbörsen spekuliert, damit die Armen dieser Erde hungern müssen und verhungern. Ach,
mich widert all diese –“
„Wart Ihr denn gar nicht zum Friedensgebet in der –“
„Mit eingebackener Schuldzuweisung?“ ereiferte sich der Alte. „Mit angegliederter Zucht von Sündenböcken? Damit der frömmelnde Beter von seiner
eigenen Mitschuld ablenken kann? Ja, sie auch nicht bei sich selber suchen muß? Meinen Gott brauche ich nicht um Frieden anzuflehen; der braucht meinen Ratschlag nicht und weiß selber, was das Beste ist. Aber ich darf
bei ihm Zuflucht suchen mit all meinen Ängsten. Aber dazu brauche ich keine Marktplatzspektakel, mit denen alle Beteiligten Ehre
einlegen –“
„Aber was sollen wir denn tun?“ jammerte die Besucherin.
„Gut, manche kommen zu diesen Gebeten auch aus einem Gefühl der Ohnmacht“, kühlte sich der Alte zusehends ab und unterließ es sogar, auf sein Reizwort
einzugehen. „Was wir brauchen, das sind Brücken, tragfähig und haltbar, nicht aus getünchter Pappe“, und er begann zu erzählen:
Es wär’ einmal ein junger König, der hieß – der hieß Wuschniwald. Was der
Name bedeutet? Frag mich nicht; du findest ihn jedenfalls in keinem
Wörterbuch, nicht in unserer Sprache noch in einer anderen. Allein – ein bedächtiger Mensch wird er wohl nicht gewesen sein. Hinzu kam der Umstand, daß nicht nur sein Vater, sondern auch seine Mutter übergesetzt worden waren in ein Reich, von dem wir kaum gesicherte
Nachricht haben. Allenfalls die, daß es dort angenehme, aber auch unangenehme Gegenden gebe sowie Entwicklungen. Aber in Augenschein hab’ ich’s noch nicht nehmen können und muß mich da auf wenige Gewährsleute verlassen.
Ach ja, sind die Eltern erst mal drüben, dann ist es bei den Kindern hüben mit der Disziplin oft vorbei. Sie
suchen nach Ersatz, und viele hören dann auf das, was die Leute reden. Freilich – mit der voreiligen Trennung: Wer mich lobt, sagt die
Wahrheit; wer mich tadelt, lügt, ist ein Unruhestifter und Hochverräter.
Tscha, von nun an geht’s zum Abgrund; nur die Wege dorthin sind unterschiedlich. So auch hier.
Wuschniwald merkte bald, daß die Leute es nie tadelten, wenn er sie täuschte. Ja, sie lobten ihn sogar, wenn
er unbeherrscht auftrat und schneller sprach, als er dachte. Am meisten aber gefielen ihnen Versprechungen; und wenn er diese mit Begeisterung vortrug, sprang der Funke rasch über, und alle jubelten ihm zu. Auch Schmeichelworte hörten die Leute gerne, vor allem, wenn er sie als das klügste und tüchtigste Volk in der ganzen Welt lobte; obwohl – obwohl eigentlich jeder wußte, daß sie nicht gerne nachdachten, auch nicht gerne arbeiteten, sondern diese Aufgaben mit Fleiß auf andere
übertrugen, um sich selber mehr der Muße, dem Reisen und dem Spiel zu widmen.
Jedoch – auch Versprechungen sind – gleich Wechseln – nicht ohne Fälligkeitstermin; und drohen sie zu platzen,
müssen rechtzeitig neue Felder und Quellen erschlossen werden. Und eines Tages bleibt nur noch das Schlachtfeld übrig, und als
Zahlungsmittel werden Blut, Elend und Tod in Umlauf gebracht.
Und hast du nicht gesehen, hatte auch Wuschniwald einseitig einen Krieg erklärt und dafür zwar weder Einsicht noch Verständnis vermehrt, aber viel Beifall
erhalten; im eigenen Land! Und schon waren seine Truppen ins Nachbarland
eingefallen und wähnten sich auf schnellem Weg zu Sieg und Ehre.
Wenn du nach einem solchen Krieg die Chronisten befragst, dann zählen eigentlich nur die Toten; die toten
Menschen! Daß aber noch viel mehr stirbt, wird fast immer totgeschwiegen.
Und ich rede hier gar nicht vom sterbenden Vertrauen auf das Gute im Menschen. Nein, lassen wir die Menschen vorerst beiseite;
hören und sehen wir, wie das andere Leben sich gewehrt hat.
Plötzlich sang kein Vogel mehr! Kein Morgenständchen. Keine Abendmusik. Bienen und Hummeln summten und brummten nicht mehr! Selbst das Vieh verstummte! Aber Wuschniwalds Truppen marschierten weiter. Dumm! Dumm!
Dumm! trieb die Kriegstrommel an.
Da schlossen die Blumen ihre Blütenkelche, die Bäume blieben kahl, ja, wo früher eine Farbenpracht gestrahlt und geleuchtet hatte, hüllte sich nun alles in ein staubiges
Grau. Aber Wuschniwalds Truppen marschierten weiter, starr der Blick geradeaus, der Mund bar jeden Lächelns, sofern sich dieses nicht
aus Grausamkeit speiste.
Nun legte sich auch jeder Wind, und nirgendwo wehten mehr Düfte von Heimat, von Vertrautem, von Erinnerung herüber. Aber Wuschniwalds Truppen marschierten weiter, die Nase vom Pulverdampf verstopft.
Und kein Stern –
„Hört auf! Hört auf!“ konnte sich Donna Stutz-Flügel
nicht länger zurückhalten. „Das ist ja der reinste Weltuntergang! Wer will
so was –“
„Reinste?“ zweifelte der Alte sehr. „Ist’s nicht an
vielen Orten auf dieser Erde Alltag? Jedenfalls – eines Tages konnte es auch in Wuschniwalds Reich nicht länger verschwiegen werden,
daß bei den Kämpfen auch unter seinen Soldaten etliche auf dem Felde der Ehre gefallen waren, ohne dieser einen Wohlgeschmack abgewinnen zu können. Seltsam, daß das letzte Wort dieser Sterbenden nicht „Ehre“ war, sondern ein Ruf;
nämlich nach ihrer Mutter. Eigenartig, diese Rufe blieben nicht ohne Wirkung. Sie erreichten nicht nur die Ohren der trauernden Mütter, sondern auch die der fürchtenden. Und hast du nicht gesehen, nahmen sich die trauernden und die fürchtenden bei der Hand. Sie versperrten sogar Straßen und Wege und hielten nachziehende Soldaten auf. Und
wenn eine aufgebrachte Mutter ein Machtwort spricht, dann gibt es nur eins: gehorchen! Und wenn dich 2 Mütter zwischen sich nehmen und
an die Hand, dann hast du keine Hand mehr frei, eine Waffe zu tragen. Aber auch drüben war der Ruf nach den Müttern nicht ohne Wirkung
geblieben. Um’s kurz zu machen: Schließlich hatte hüben und drüben keiner mehr eine Waffe in der Hand. Und da du niemanden töten kannst, der dir wie eine Mutter Auge ins Auge blickt, ja, da das Leben ohne Waffe auch viel einfacher ist, zumal du sie
gar nicht mehr brauchst, gingen schließlich alle fröhlich nach Hause. Der Krieg war aus, und Wuschniwald –“
Doch Donna Stutz-Flügel kannte die Macht der Mütter nicht und war inzwischen gegangen, so daß ihr das Wünschen nicht helfen konnte.
© Stiftung Stückwerken, *3.3.2022, freigegeben am 15.3.2024
Qouz-Note: 2
***
MamM 1.154 Danstetten, Außem und Bethlehem
„Das – Das ist ja ungeheuerlich“, verschlug’s Don Strengler noch immer fast die Sprache, „was ich da über Euch erfahren habe!“
„So?“ wunderte sich der Alte von der Halbinsel.
„Eure eigenen 5 Kinder habt Ihr kurz nach der Geburt ins Findelhaus gegeben“, ging der Besucher mehr in die Einzelheiten, „aber hier spielt Ihr den frommen Mann, der
denen Halt biete, die diesen in unserer heiligen Kirche nicht mehr –“
„Also kurz nach meiner Geburt, sagst du?“ wollte der Alte sichergehen. „Bin somit schon früh ein Wunderkind –“
„Nicht nach Eurer“, besänftigte es den Don keineswegs, „sondern nach der des jeweiligen Kindes. Tut nicht so
–“
„Aha, also als Erwachsener und somit noch erinnerbar“, folgerte der Alte. „Aber wieso weiß ich nichts
davon?“
„Ihr leugnet’s auch noch, was?“ ereiferte sich der Besucher. „Heuchler! Meint Ihr denn, solch eine Nachricht wäre völlig aus der Luft gegriffen,
was? Da ist immer was Wahres dran!“
„Und wenn’s nur das ist“, lachte der Alte, „daß sich deren Verbreiter selber so etwas –“
„Und manchmal ist’s noch viel schlimmer, als es erzählt wird!“ schien Don Strengler aus leidvoller Erfahrung zu
sprechen. „Und in der Kirche hab’ ich Euch auch schon lange nicht mehr gesehen. Erst der Höchste, dann der Nächste, dann der Rest der Welt, das ist’s, was Gott gefällt! Ihr aber, als Genußmensch, habt’s auf den Kopf gestellt: Erst ich, dann der Rest der
Welt; und wenn dann noch Zeit ist: die Angehörigen und vielleicht 3mal im Jahr –“
„– die Kirche?“ ergänzte der Alte. „Nun, ich will dich
beruhigen: Ich bin nie Vater geworden und helfe gerne dienenden Kirchen; zu Herrschenden pflege ich jedoch Distanz. Aber du sprichst etwas sehr Wichtiges an: Kennst du einen einzigen Menschen, der seine Lebenszeit optimal aufgeteilt hat?“ Und statt eine Antwort abzuwarten, begann er zu erzählen:
Es wär’ einmal eine – ja, eine Prinzessin, die hieß Hanna. Die lernen wir jetzt kennen, als sie ihr Elternhaus
bereits verlassen hatte. Einfach davongelaufen! Ohne Kutsche, ohne Geld,
ohne Proviant. Wie nun ihr Magen knurrte, kam sie vor eine Stadt, die hieß Danstetten. Die
war von breiten und tiefen Wassergräben umgeben und war über eine einzige Zugbrücke zu erreichen. Kein einladender Anblick! Zumal die Zugbrücke auch noch hochgezogen war. Hanna mußte schon laut und energisch
rufen, bis die Brücke heruntergelassen wurde, sich am Stadttor eine Luke auftat und eine unfreundliche Stimme nach dem Begehren der Wanderin fragte.
„Brot und Obdach“, lautete die Antwort.
Ob sie denn zum Volk der Danstetter gehöre?
„Nein“, mußte Hanna einräumen. „Nicht, daß ich wüßte.“
Ob sie denn wenigstens schon mal einem Danstetter Kost und Logis gewährt hätte?
Wieder mußte die Wanderin verneinen; jedenfalls könne sie sich daran nicht mehr erinnern.
„Also, eine Fremde“, wurde zusammengefaßt, „die uns noch nicht einmal eine Nächste geworden ist! Nein, dann
können wir dich nicht –“
„Moment!“ protestierte Hanna. „Ich will nichts umsonst haben, sondern täte auch dafür arbeiten.“
„Dienen heißt das bei uns!“ verbesserte der Torwächter.
„Wenn das so ist, können wir ’ne Ausnahme machen. Aber du mußt dich für 3 Jahre verpflichten und unsere Gebote halten.“
Und da die Wanderin nicht verhungern wollte, willigte sie ein, ward eingelassen und wohnte 3 lange Jahre in Danstetten. Und ich sag’ ganz bewußt nicht: lebte! Denn es war schon eine harte Zeit! Sie konnte machen, was sie wollte, sie blieb immer die Fremde. Und auch ihr blieb
vieles fremd!
Täglich mußte jeder Bürger 2 Stunden im Tempel zubringen, das war oberstes Gebot! Und wer dagegen verstieß,
wurde zunächst ermahnt; und wenn das nichts fruchtete, wurde er nicht mehr gegrüßt, ja, sein Gruß noch nicht einmal erwidert.
Außerdem wurde genau Buch geführt, wieviel Zeit jeder mit seinen Nächsten verbrachte. Also mit seinen engsten
Angehörigen und Wohltätern. Dafür wurden amtliche Zettel ausgestellt, die dann im Tempel öffentlich geopfert werden konnten, um die
Götter gnädig zu stimmen. Jeder Tempelpriester galt grundsätzlich jedem als Nächster, Hanna niemandem, denn sie werde ja für ihre
Dienste mit Kost und Logis bezahlt.
Du kannst dir sicherlich gut vorstellen: Freude kam in jener Stadt nicht auf. Zumal niemand über sich selbst
Buch führen durfte, sonst wär’s ja nicht glaubwürdig gewesen. Dennoch gab’s auch in Danstetten Gelächter, aber nur hinter
verschlossenen Türen und Fensterläden sowie – hinterm Weinkrug. Offiziell wurde in den Tempeln vor allen Rauschmitteln
gewarnt; aber wer was zu lachen haben wollte, schmuggelte heimlich Wein in die Stadt; und mancher Torwächter ließ es sich natural bezahlen, um ein Auge zudrücken zu können.
Was war Hanna froh, als ihre Dienstzeit endlich um war und sie diese düstere Stadt verlassen durfte. Als sie
weiterwanderte, traf sie jenseits der Wassergräben anfangs noch manchen, der Danstetten ebenfalls verlassen hatte; sogar als dortiger
Bürger. Dabei war’s Hanna, als wären solche wie mit Ketten an ihre Heimat gebunden. Sie waren voller Anklage wider ihre ehemaligen Mitbürger und wiesen Hanna Schuldscheine vor, die in Danstetten ausgestellt worden
seien. Doch wenn Hanna genauer hinsah, zeigte es sich jedes Mal, daß die Schuldner und Gläubiger mit derselben Hand
unterschrieben haben mußten. Und Frieden unter den Heimatlosen gab es auch nicht, so groß war deren Verbitterung. Sie teilten auch kein Brot miteinander; mit Hanna erst recht nicht.
Diese war froh, weiterzukommen, und stand endlich mit knurrendem Magen vor einer anderen Stadt: Bethlehem. Hier waren die Wassergräben in Fischteiche umgewandelt worden, und aus allen Hauptrichtungen führten feste Wege in die Stadt. Zugbrücken waren überflüssig geworden, aber Stadttore und Mauern gab es noch.
Vom Torwächter wurde Hanna zunächst auch aufgehalten und nach ihrem Begehren gefragt.
„Obdach, Speis und Trank“, antwortete sie.
Ob sie’s denn bezahlen könne?
„Nein“, mußte Hanna eingestehen, „aber ich könnt’s –“
Dann sei sie herzlich willkommen, wurde sie einladend begrüßt, denn den Bürgern hier sei es eine Freude, zu helfen.
Und so war’s denn auch. Hanna fand umgehend Arbeit und – wurde in Bethlehem seßhaft; nicht aus Pflicht, sondern weil’s ihr eine Freude –
„Na, dann wird sich dort gewiß bald allerhand übles Gesindel breitgemacht haben“, folgerte Don Strengler.
„Anarchie tut niemals gut!“
„Daß der Arbeitseifer bei den Hinzukommenden unterschiedlich ausgeprägt war“, räumte der Alte ein, „war den Stadtmüttern durchaus bewußt und keineswegs
abschreckend. Aber wenn du siehst, wie das Helfen Freude bereitet, tätest du das nicht schon aus Neugier auch mal
ausprobieren? Freilich – wer’s nicht mit der Wahrheit hielt und immer nur nahm, aber nichts mit andern teilen wollte, der kam in
Bethlehem auf keinen grünen Zweig und – verließ die Stadt gar bald von selbst. Doch ward’s ihm nicht verwehrt, nach einiger Zeit
zurückzukehren.
Und Bethlehem wuchs und wuchs und war voll Leben und Freude. Danstetten aber –“
Doch der Besucher war inzwischen gegangen; bestimmt nicht nach Bethlehem. Oder? Noch nicht!
© Stiftung Stückwerken, *10.3.2020, freigegeben am 16.3.2024
Qouz-Note: 2-
***
MamM 1.155 Friedwalds wundersame Musterung
„Die sollten am besten ein paar Scharfschützen in ein Luftschiff stecken“, wollte Don Pulverknall in die Geschichte eingehen, „nachts über
dem Regierungspalast runterlassen und dann diesen – diesen – ich komm’ jetzt nicht drauf –, eh, Kerl einfach abknallen!“
„So?“ versagte der Alte von der Halbinsel seine Zustimmung. „Soll’n die das? Als
neue Kreuzritter im Namen des gekreuzigten Evangeliums?“
„Steht nicht geschrieben“, gab sich der Besucher keineswegs geschlagen, „es ist besser, ein Mensch sterbe für das Volk, denn daß das
ganze Volk verderbe?“
„Das stimmt“, mußte der Alte zugeben, „aber erstlich ichbezogen: uns besser; und 2. als Zitat des Hohenpriesters. Auf die Bergpredigt reimt sich das nicht, es ist überhaupt nicht christlich, wenn du diese Bezeichnung von Christus selbst ableitest und
nicht von dessen selbsternannten Fänatikern. Ja, es widerspricht sogar der allgemeinen Lebensweisheit: Du brauchst niemanden zu töten, sondern kannst, ohne zu töten, viel besser –“
„Das sagt mal denen, die im Schlaf überfallen wurden“, empfahl Don Pulverknall – eigentlich das Gegenteil.
„Ich weiß“, räumte der Alte ein, „vom friedlichen Draußen aus ist gut und leicht reden; aber selbst der
Verstand sagt: Krieg wird nicht durch Krieg besiegt, sondern durch Frieden. Kennst du einen einzigen Krieg, an dem ein Mensch die
Alleinschuld trägt?“
„Aber doch die Hauptschuld“, gab der Besucher nicht auf. „Zum Beispiel an diesem –“
„Mich erinnert dein Vorschlag an den Zauberlehrling“, zeigte sich der Alte von einer unhöflichen Seite, „nicht an den
Zaubermeister“, und er begann zu erzählen:
Es wär’ einmal ein Prinz, der – der hieß: Friedwald; allein – nicht immer läßt ein Name auf den Charakter
schließen. Wir müssen auch bedenken, daß unser Friedwald nicht der Erstgeborenen war, sondern das jüngste Kind seiner Eltern und somit
in der Thronfolge weit hinten. Für solche Königskinder gab’s damals eigentlich nur 3 Wege in das Reich der Geschichtsbücher: den
militärischen, den geistlichen oder den des Überlebenden.
Der 3. Weg war normalerweise sehr lang, zuweilen sogar endlos und konnte nur mit blutigen Händen abgekürzt werden. Für Friedwald kam er nicht in Frage; vermutlich auch aus dem Grunde, daß er von
keiner zuverlässigen Seife für seine Hände wußte.
Am kürzesten erschien ihm der 1. Weg, zumal der Prinz gedachte, dabei die eigenen Hände vom Blut fernzuhalten und dieser Gefahr lieber die Hände anderer
auszusetzen. Denn ein Königssohn beginnt seine Laufbahn bekanntlich nicht als Frontsoldat, sondern zumindest als Fähnrich und ist –
hast du nicht gesehen – Oberst und bald schon General. Und als solcher darfst du deinen Soldaten ja nicht voranziehen, sondern mußt
ihren Rücken decken und mit dem Fernrohr den Überblick behaupten. Und so war’s auch bei Friedwald. Auch ihm war der Überblick wichtig, so daß vom Schlachtfeld kein Gestank von Pulver oder Verwesung in seine Nase drang, auch kein Schrei der
Verwundeten und Sterbenden in seine Ohren. Durch ein Fernrohr weht auch nichts über die Mitgefühlsaite deines Herzens. Gut für den Charakter ist diese Position sicherlich nicht, weil sie Menschen in Figuren eines Brettspiels verwandelt. War somit Friedwald ein hoffnungsloser Fall?
Du kannst dir sicherlich denken, daß unser Prinz seine militärische Laufbahn nicht in seiner Heimat verfolgte;
zu groß wäre die Gefahr gewesen, eines Tages seinem älteren Bruder oder einer älteren Schwester dienen zu müssen. Aber seitdem es ihn
in die Fremde verschlagen hatte, war’s ihm, als sei ein Band um ihn geschlungen und leite ihn mit sanfter Gewalt. Und wenn es dich
daran hindert, weiter nach deinen Plänen vorwärts zu stürmen, dann blickst du dich doch aufmerksamer um, obwohl das Band deinen Augen verborgen bleibt.
Und dabei gewahrte Friedwald, daß es nicht nur eine Front zwischen den beiden Heeren gab, sondern auch – und unabhängig von der Nationalität – zwischen arm und
reich. Die Reichen konnten ihre Söhne vom Kriegsdienst freikaufen; die
Armen nicht; und diese versanken in noch größere Not, wenn ihre bisherigen Ernährer im Krieg fielen oder zu Invaliden
wurden. Die Reichen konnten sich in ihren schnellen Kutschen rechtzeitig in Sicherheit bringen, auf ihre entlegenen Landsitze, oder mit
Hab und Gut ins Ausland absetzen; die Armen aber verloren oft alles, sogar ihren Glauben an einen gütigen Gott und das Gute im Menschen. Und die Reichen konnten Waffen, sonstige Ausrüstung und Proviant mit hohen
Gewinnen an die Kriegsparteien verkaufen und an solche, die sich bedroht fühlten. Die Armen dagegen mußten alles, was sie zum Dasein
brauchten, von Woche zu Woche teurer bezahlen; und sie konnten oft nur eine einzige Ware feilbieten: sich selbst. Aber auch das blieb Friedwald nicht verborgen: Zwischen arm und reich gab es keinen wesentlichen Unterschied. Sobald ein Armer zu Reichtum gelangt war, verhielt er sich genauso habgierig und ichsüchtig wie die andern Reichen. Und was unser Prinz da gewahrte, widerte ihn mehr und mehr an.
Da begab es sich eines Tages, die Sonne wollte gerade untergehen, daß Friedwald mit seinem Regiment durch ein besetztes Dorf kam. An einem Vorgartenzaun stand ein kleines Mädchen und winkte arglos den vorbeiziehenden Soldaten zu. Die meisten schienen es gar nicht zu bemerken, nur wenige winkten zurück. Doch einer,
der nahm sein Gewehr ab, legte an, und – ein heftiger Schlag von unten schleuderte den Gewehrlauf hoch, so daß der Schuß fehlging.
Voller Zorn stand Friedwald mit gezücktem Degen vor dem Schützen und mußte sehr an sich halten, jenem Schlag nicht auch noch einen tödlichen Stich folgen zu –
„Eben! Das ist ja mein Reden!“ fühlte sich Don
Pulverknall bestätigt. „Solch ein Ungeziefer gehört ausradiert! Kurzer
–“
„Das hab’ ich nicht gesagt“, widersprach der Alte. „Und Friedwald hat’s auch nicht getan. Der ließ am nächsten Morgen seine Soldaten antreten. Dann wurde das Pappbild eines
etwa 4jährigen Kindes aufgestellt und eine Schießübung abgehalten. Wer sich weigerte, das Kind zu treffen, wurde besonders
gestellt; und wer in der Absicht schoß, das Kind zu treffen, wurde ebenfalls aussortiert. Die Verweigerer waren offensichtlich kriegsuntauglich und wurden nach Hause geschickt; und zwar mit dem Auftrag, die andern abzuführen an einen sicheren Ort. Denn diese
waren gemeingefährlich und schwer geisteskrank und durften den sicheren Ort erst wieder verlassen, als sie genesen waren. Und wenn
Friedwalds Gedanke nicht gestorben ist, sondern militärische Musterungen auch heute noch so vorgenommen werden, dann achte ich, werden jedem Kriegsherren die Soldaten –“
Doch Don Pulverknall war inzwischen gegangen, als könne ihm das Wünschen nicht mehr helfen.
Noch nicht!
© Stiftung Stückwerken, *17.3.2022, freigegeben am 2.3.2024
Qouz-Note: 3-
***
MamM 1.156 Schaffen oder leben
„Und?“ fragte der Alte von der Halbinsel seinen
jungen Besucher.
„Ich glaub’“, verstand sich Donzello Junghans keineswegs als fromm, „ich werd’ mich auf die Rechte legen und
anschließend entweder Staatsanwalt oder Richter –“
„Also nicht Henker“, setzte der Alte eine Dominante.
„Dazu brauch’ ich doch kein Studium“, blieb’s beim Besucher nicht ohne Wirkung, „und ein ehrbarer Beruf ist’s auch nicht.“
„Aber Staatsanwalt und Richter“, komponierte der Alte weiter – im alten Stil.
„Sicher!“ sprach aus Donzello Junghans Überzeugung. „Vor
denen hat jeder Respekt.“
„Oder Angst“, sah der Alte die Alternative.
„Aber nur, wer die Gerechtigkeit zu fürchten hat“, schränkte der Besucher ein. „Zum Beispiel diese
Kriegstreiber! Mit denen täte ich kurzen –“
„Bitte“, unterstützte es der Alte mit einer beruhigenden Geste, „kein Wort über diesen Krieg. Laß uns doch
lieber über den Frieden –“
„Wollt Ihr etwa nicht für die Gerechtigkeit eintreten?“ argwöhnte Donzello Junghans.
„Nein“, verblüffte der Alte.
„Ja, ja, ihr Alten seid viel zu bequem und zu feige“, sah der Besucher Vorurteile bestätigt.
„So?“ zweifelte der Alte. „Du wirst bestimmt Beispiele
anführen können. Aber angenommen, ich wäre nicht feige und nicht auf die eigene Bequemlichkeit bedacht, so täte ich dennoch nicht für
die Gerechtigkeit eintreten. Gut, gegen manches –“
„Das versteh’ ich nicht“, kam Donzello Junghans nicht mit.
„Ganz einfach“, versuchte der Alte Verständnis zu wecken. „Ich bin ein Mensch. Folglich bin ich selber nicht gerecht. Kann aber ein Ungerechter Recht
schaffen?“ Und er begann zu erzählen:
Es wär’ einmal ein Königssohn, der hieß – der hieß Leander. Und weil es damals so Sitte war, ging er nach
seinen Schuljahren auf eine Bildungsreise. Tscha, da er aber einen sonderbaren Vater hatte und ich’s erzähle, reiste er weder in einer
Kutsche noch hoch zu Roß, sondern ganz nah am Leben: also zu Fuß.
Eines Tages gelangte unser Prinz an ein düsteres Schloß. Der Putz bröckelte dort von den Wänden, einige
Fensterläden hingen schief in den Angeln, andere hatten ihrer Sehnsucht zur Seefahrt nicht länger widerstehen können und hatten vorerst mit dem Wassergraben vorliebgenommen. Auch die Balken der Zugbrücke schienen einen solchen Schritt in Erwägung zu ziehen, so daß unser Prinz froh sein mußte, heil das Schloßtor zu
erreichen. Höflich klopfte er an. Niemand öffnete. Also mußte er’s selber in die Hand nehmen, drückte die Klinke, trat vorsichtig in den Innenhof, meinte, im Küchenbau jemanden hantieren zu sehen,
und – stand endlich vor der Schloßverwalterin. Anscheinend das einzige Wesen hier, das dem vollständigen Zerfall des Schlosses noch
etwas Einhalt gebot.
Jedoch – nicht das einzige lebendige menschliche Wesen. Denn nach üblichem Gruß und Vorstellen erfuhr Leander,
daß es noch einen Schloßherren gebe. Der sei in der Werkstatt.
Schaffend. Und jetzt wird’s unheimlich.
Unser Prinz fand nämlich diesen Tohuwerix mährsächlich in dieser Werkstatt vor. Schaffend, ja, aber nicht nur er. Auf einem Schemel saß der Meister und – schnitzte
ein neues Geschöpf. Neu? Ja, denn auf 2 weiteren, aber niedrigeren Schemeln
saßen bereits 2 seiner Geschöpfe und – halt dich fest! – schnitzten ebenfalls.
Na, du ahnst es schon: Tohuwerix war ein Hexenmeister!
Interessiert fragte unser Prinz, nach welchem Vorbild denn der Meister seine Geschöpfe schaffe.
„Na, nach meinem Bilde“, brummte Tohuwerix und deutete auf – ein Porträt.
O weh! Ohne diesen Hinweis hätte Leander keine Ähnlichkeit zwischen Bild und Original feststellen
können. Vorsichtig fragte er nach dem Maler.
„Na, das hab’ ich selbst gemalt“, brummte der Zauberer. „Ist mir gut gelungen, nicht wahr?“
„Und die beiden hier sind schon fertig?“ versuchte unser Prinz einen Kommentar zu umgehen.
„Das siehste doch“, brummte der Meister.
Kopfschüttelnd eilte der Prinz aus der Werkstatt und aus dem Schloß. Was für eine Tollheit! Da ließ ein Meister alles um sich rum verkommen und nutzte seine Begabungen nur dazu, etwas zu schaffen, was seinem Trugbild
entsprach. Und diese Geschöpfe gingen mit ihren Begabungen nicht anders um.
Und wie wollten sie weiterleben, wenn es die Schloßverwalterin eines Tages nicht mehr gab? Aber – war ihr jetziges Dasein überhaupt
noch ein Leben?
In Gedanken versunken, wanderte unser Prinz weiter und gelangte in einen wundersamen Garten. Gerade vergoldete
die Abendsonne einen hohen Baum: junge Blätter, Knospen, Blüten, unreife Früchte, reife Früchte, welkende Blätter und kahle Zweige.
„Gefällt er dir?“ sprach den Wanderer eine Stimme an, klar wie eine frische Quelle und dennoch wärmend. „Jeden Monat bringt er seine Früchte. Willst du mal probieren? Hier!“
Und Leander nahm die angebotene Frucht, aß, – und schon begann’s zu wirken. Er hob seine Augen und sah – in
ein freundlich lächelndes Angesicht. Die Gärtnerin?
„Danke“, hätte es der Prinz beinahe vergessen.
„Gerne“, war es echt und wahrhaftig.
Aber der Prinz schien weniger zu hören, denn zu sehen. Irgend etwas an diesem Gesicht war ihm
vertraut; wie ein als vergessen geglaubter Duft aus der Kindheit.
Angenehm. Das Herz öffnend. Eine Brücke –
„Darf ich auch so einen Baum haben?“ zerriß Leander den Zauber.
„Haben? Habgier?“ klang’s, als hätten sich ein Mißton
und Rauhreif ins Paradies eingeschlichen.
„Reicht eine Frucht?“ schien der Prinz nichts zu merken.
„Oder brauch’ ich ein Reis? Oder –“
„Bleib hier“, schlug die sonderbare Gärtnerin vor. „Geh bei mir in die Lehre. 7 Jahre lang. Und du wirst anders fragen.“
„Eben!“ konnte sich der junge Besucher nicht länger zurückhalten. „Was hat das alles mit Gerechtigkeit zu tun?“
„Wir Menschen“, schien’s der Alte nicht gehört zu haben, „vor allem die Entwachsenen, wähnen viel zu oft, etwas schaffen zu müssen – wie jener Hexenmeister; und heraus kommt Murks! Und statt uns zu besinnen, machen wir weiter:
Murks! Und vergeuden unser Leben. Jener Baum aber schuf nichts, sondern er
wurde, er wuchs, und er gab. Und seine Früchte bauten Brücken zwischen den Menschen und wandelten Gegenmenschen in Mitmenschen und
Freundmenschen und sogar in Kinder der gleichen –“
Allein – der Besucher hatte von dieser Frucht anscheinend noch nichts genossen und war gegangen; Erkenntnis
suchend? Allein – der Alte wünschte ihm einen Garten und – eine Gärtnerin.
© Stiftung Stückwerken, *24.3.2022, freigegeben am 26.2.2024
Qouz-Note: 3+
***
MamM 1.157 Nachtwächter Nimmereil und 4 einsame Herzen
„Liebe Grüße von meinen Freunden, Frau vom Stein“, tat Herr Nimmereil Botendienste,
„und auch von den Osterglöckchen und Kroküssen.“
„Schönen Dank“, erwiderte die Häsin, „mit Grüßen zurück und an die ganze Grußgemeinschaft.“
„Und wie geht’s denn so?“ nahm der Nachtwächter seinen Namen als Aufgabe.
„Ihr seid heute der 1., der danach fragt“, konnte Frau vom Stein ihr Selbstmitleid nicht verbergen. „Na, Ihr seht ja selbst: Alles, was blüht, haben sie mir
weggenommen. Hier im Schatten gedeiht ja nichts.“
„Warum gehst du denn dann nicht in die Sonne?“ wunderte sich Herr Nimmereil.
Jetzt scheine sie doch gar nicht, hatte die Häsin schnell eine Ausrede zur Hand. Außerdem sei sie hier hingestellt worden; und sie wolle sich niemandem
aufdrängen oder gar einem den Platz streitig machen.
„Ja, da ist schon was Wahres dran“, gab der Nachtwächter zu. „Tät’ ich jetzt Tagwächter werden wollen, dann fänd’ das bestimmt nicht jeder gut. Hast du denn
keine Freundin? Oder hast du mal an den Ehestand –?“
„Geht mir weg mit der Ehe!“ legte sich Frau vom Stein auf das Abwehren. „Da sind wir Frauen doch immer die Dummen! Und –“
„Wenn du das so sagst“, sann Herr Nimmereil dem nach, „schlau geworden bin ich tatsächlich noch nie aus einer –“
„– seid Ihr denn verheiratet?“ konnte die Häsin nicht bremsen.
„Nein“, mußte der Nachtwächter zugeben. „Aber fürs Ehejoch bin ich inzwischen zu alt. Doch du –“
„Und ich wüßt’ auch gar nicht“, schien Frau vom Stein gegen dieses Thema doch nicht so ablehnend zu sein, „wen.“
„Ich kann mich ja mal umschauen“, vermied Herr Nimmereil ein Versprechen, „vielleicht findet sich was. Aber alles ohne Gewähr! Ich bürg’ für niemanden.
Und nun gute Nacht. Und danke für die Grüße.“
Auch die Häsin wünschte alles Gute, und der alte Mann trottelte weiter.
„Liebe Grüße von meinen Freunden“, fand er bald neuen Anlaß zum Rasten, „von Osterglöckchen, Kroküssen und von Frau vom Stein, liebe – liebe –“
„Frieda“, half das Tier weiter, „so haben sie mich genannt, weil ich doch so gepanzert bin; damit niemand vor
mir Angst zu –“
„Ach, ja“, seufzte unser Nachtwächter, „wenn doch alle Frieden halten täten! Wie geht’s denn dir?“
„Ihr seid der 1., der mich heut danach fragt“, wartete die kleine Schildkröte ähnlich auf wie die Häsin.
„Und diese Osterglöckchen hier vorne und –?“
„Ach“, seufzte nun auch Frieda, „die läuten nur.“
„Und die vielen Tausendschön dort?“
„Die vermehren sich“, konnte sich die Schildkröte anscheinend nicht mitfreuen.
„Na, dann mach’s ihnen nach“, schlug Herr Nimmereil auch hier den Kuppelpfad alter Tanten ein.
„Ach, nein“, verwarf’s Frieda, „dann müßt’ ich ja heiraten, und Männer wollen immer nur das eine: herrschen und sich bedienen lassen.“
„Immer?“ zweifelte der alte Mann sehr. „Willst du denn lieber einsam versauern? Schau dich mal ein bißchen um –“
„Ach, hier gibt’s keine Schildkröten oder Schildfrösche“, klang auch hier leise Bedauern mit. „Aussichtslos!“
„Dann guck’ ich mich mal um“, sah’s der Nachtwächter nicht so hoffnungslos. „Gute Nacht.“
Das wünschte auch unsere kleine Schildkröte, dankte für die Grüße und trug neue an die ganze Grußgemeinschaft auf. Dann zog der alte Mann weiter und fand bald neue
Gelegenheit, innezuhalten.
„Liebe Grüße von meinen Freunden“, lud er ab, „von Osterglöckchen, Kroküssen, Primeln, Hyazinthen, verblühenden Christrosen, Tausendschön, Frau vom Stein und Frieda an
dich, kleiner Gartenzw–“
„Bin nicht klein!“ raunzte es zurück. „Erst recht kein kleiner Gartenzwerg, wenn Ihr das meint; sondern Gärtnermeister Lümmel
von Lützelingen!“
„Aha“, staunte Herr Nimmereil, „also von Adel! So, so! Und wie geht’s Seiner Hoheit oder Gnaden?“
„Weiß nicht“, kam der Gärtnermeister nicht ganz mit.
„Du weißt nicht, wie es dir geht?“ konnt’s der alte Mann nicht glauben.
„Ihr seid der 1.“, kam’s auch hier zur Sprache, „der mich heut danach fragt.“
„Hast du denn keine Freunde“, wunderte sich der Nachtwächter, „die du besuchen könntest?“
„Kann hier nicht weg“, war Herr von Lützelingen kurz angebunden. „Muß den Baum stützen.“
„Ja, er beginnt gerade zu blühen“, griff’s Herr Nimmereil auf. „Es leuchtet sogar in der Dunkelheit. Aber wieso mußt du ihn stützen?“
„Jaha, ihr Menschen dünkt euch groß und gescheit“, blickte der Gärtnermeister hinab, „weil ihr nur auf die einzelne Blüte seht. Aber wenn ihr alle Blüten
zusammenrechnet, dann – Aber soweit denkt ihr ja alle nicht.“
„Na, dann dank’ ich dir auch“, wandte der alte Mann eine Lehre jenes großen russischen Schriftstellers an, „daß du zu meiner Freude beiträgst. Da bist du natürlich
unabkömmlich. Aber du kannst dich doch von deinen Freunden besuchen –“
„Hab’ keine Freunde!“ unterbrach Herr von Lützelingen barsch.
„Dann will ich mich mal für dich umschauen“, sah’s der Nachtwächter hoffnungsvoller, wünschte eine gute Nacht, lud sich neue Grüße auf und zog langsam weiter.
Beim Igelhorst konnte er die Grüße bald wieder abladen, fand aber auch hier ein einsames Herz vor, wenn auch
vergnügter. Herr Nimmereil versuchte wieder, Hoffnung zu vermehren, wünschte eine gute Nacht, lud sich neue Grüße auf und trottelte weiter. Bis zur Kühlequelle. Das war ziemlich weit, doch lohnend; denn hier konnte er nicht nur seine Grüße abladen, sondern auch sein Herz
ausschütten. Ach, es gebe viel zuviel Einsamkeit, und er tät’ so gerne helfen. Dann ging er in die Einzelheiten.
Für die Häsin wisse sie jemanden, tröstete die liebe Quelle. Der Fuchs hole sich zu jedem Osterfest drüben in Großenbach seinen
Feiertags–, eh, mit Körnerfutter gefüllten Magen in Erdenkleid und habe von einem einsamen Osterhasen berichtet. Und der Schlendertünnes habe von einem Fräulein Sagichnett an der
Lenemühle erzählt; vielleicht wär’ das was für den Gärtnermeister. Und die Meisen täten ein Igelkind kennen, drüben am Dankerspaß, das habe nur noch ein Elternteil; ob Mutter oder Vater sei schwer zu sagen. Ähnlich das Rotkehlchen über ein halbverwaistes Schildkrötenkind im
Oberdorf. Da ließe sich gewiß was –
Doch für heute haben wir erst mal genug Hoffnung und wollen sie zur Vorfreude ausbrüten. Und nun schlaft gut; und träumt schön!
© Stiftung Stückwerken, *31.3.2022,
freigegeben am 10.12.2023
Qouz-Note: 3-
***
MamM 1.158 Nachtwächter Nimmereil und der Fall Stropp
Wer so viele Bekannte hat wie ich, der muß zuweilen aufpassen, sie nicht durcheinanderzubringen. Das hab’ ich schon gemerkt, als ich das letzte Mährchen meinen beiden Sekretärinnen diktiert
habe; jedoch – heute wird’s noch viel gefährlicher. Und das kam so:
Du kannst Dir gewiß gut vorstellen, daß nach den zuletzt geschilderten Gesprächen unsere 4 Freundinnen und Freunde Abend für Abend den Nachtwächter fragten, ob er in
ihrer jeweiligen Angelegenheit schon etwas habe erreichen können. Doch Nimmereil trug seinen Namen nicht von ungefähr und wollte keine
vorschnellen Hoffnungen aufkommen lassen.
Doch eines Abends war alles ganz anders. Schon bei der Häsin Hanneohre vom Stein gewahrte unser Nachtwächter
eine gewisse Unruhe, die sich bei der Schildkröte Frieda und dem Gärtnermeister Lümmel von
Lützelingen weiter steigerte und sich schließlich bei unserem Igelhorst sozusagen mit einem heftigen Knall entlud. Und
mit einem Mal lief Nimmereil und lief und lief so geschwind, wie er’s wohl bisher noch nie in seinem Leben getan hatte: Nachtmeister Stropp sei vor kurzer Zeit hier vorbeigeführt worden und solle
am Tatort am Leben gestraft werden!
Tatort? Was genau vorgefallen sei, wisse er, der Igelhorst, nicht, aber irgend etwas sei an der Kühlequelle verübt worden; etwas sehr Schlimmes. Das müsse gewiß alles ein Irrtum sein. Dieser Ansicht war auch unser Nachtwächter; und deshalb
gab er im Augenblick nichts auf seinen Namen.
„Im Namen des Volkes ergeht hiermit folgendes Urteil“, hörte Nimmereil den Friedensrichter gerade sprechen, als er, der Nachwächter, atemlos den Richtplatz erreichte:
„Der Angeklagte Stropp wird der vorsätzlichen und heimtückischen Brunnenvergiftung einstimmig für schuldig befunden und deshalb zum Tode
–“
„Halt! Halt!“ rief unser Nachtwächter mit aller wiedergefundenen Luft dazwischen. „Das ist ein Irrtum! Das ist Justizmord! Das ist –“
„Will Er gefälligst die Schnauze halten“, zürnte der Fuchs, „wenn das Hohe Gericht seines Amtes waltet!“
„Aber Nachtmeister Stropp ist –“
„Schnauze!“ donnerte Reinhard XXII. „Der Angeklagte Stropp ist abgesetzt und darf diesen Titel nicht mehr
tragen!“
„Zu Unrecht abgesetzt!“ parierte Nimmereil sogleich, und zwar so überzeugend, daß sich unter den versammelten Tieren eine gewisse Unruhe ausbreitete.
Die konnte selbst der Fuchs nicht so einfach übergehen; denn was kann ein Regent ausrichten, wenn sein Volk sich gegen ihn erhebt? Deshalb ließ er sich dazu verleiten. Beweise zu fordern. Und damit hatte unser Nachtwächter schon seinen Fuß im Türspalt und gedachte,
diesen soweit auszudehnen, daß ein Eintreten nicht mehr verwehrt werden konnte.
„Hat das Hohe Gericht, denn bereits die wichtigste Zeugin vernommen?“ begann er seinen Verteidigungsfeldzug.
Wer das wäre?
„Na, die Quelle selbst“, argumentierte Nimmereil, als wär’s das kleine Einmaleins der Rechtsprechung. „Denn die sowie der Täter werden es doch am besten wissen, wer
was wann und wo getan –“
Aber eine Quelle könne doch nicht sprechen, hielt Reinhart XXII. dagegen.
„Ja, wer selber Dreck am Stecken hat“, entkräftete unser Nachtwächter, „der vernimmt nichts. Deshalb will ich sie mal fragen: Liebe Quelle, hat unser Igel dieses
schwere Verbrechen wirklich verübt?“
„Was hat sie gesagt? Was antwortet sie?“ riefen die
Tiere durcheinander.
„Sie entlastet unseren Nachtmeister“, gab Nimmereil weiter, „in allen Stücken. Stropp sei einer ihrer besten Freunde und täte solch einen Frevel niemals übers Herz
bringen. Nein, der Täter sei ein Mensch –“
„Der Schlendertünnes!“ rief ein Eichkater aus und ernannte sich rückwirkend zum Propheten: „Dacht’ ich’s mir doch!“
„Nein, nicht der Schlendertünnes“, widersprach der Nachtwächter. Aber wenn nicht sogleich unser lieber Stropp von seinen Fesseln befreit und von allen
Anklagepunkten freigesprochen, auch wieder in Amt und Würden eingesetzt werde, wolle die Quelle nichts weiter entdecken.
„Und wer garantiert uns“, argwöhnte der Friedensrichter, „daß du uns hier nicht alle an der Nase herumführst?“
„Ich!“ antwortete Nimmereil prompt. „Und Euer Sachverstand, Hochehrwürden. Vergleicht nur mal die Höhe des Brunnentroges mit der Größe unseres Igels.
Na? Ich denke, diese Stangen hier haben das Wasser vergiftet. Wie hätte unser lieber Stropp sie in den Brunnentrog legen
können? Wie hätte er sie herbeischaffen können? Wo hätte er sie besorgen
können? Vermutlich hat er durch seine Eheliebste oder durch seinen Assistenten für die Tatzeit sogar ein Alibi –“
„Die zählen nicht als Entlastungszeugen“, sah’s der Fuchs anders, „weil sie in einem Abhängigkeitsverhältnis zum –“
„Daß ich nicht lache! Abhängigkeitsverhältnis?“ zweifelte der Nachtwächter sehr. „Stropp ein
Haustyrann? Ein Leuteschinder? Was? Selbst wenn es so wäre, wo, bitte schön, sind hier am Brunnen irgendwelche Spuren eines Igels? Na, also! Und kommt mir nun bloß nicht mit dem Unsinn, er sei geflogen gekommen wie ein Vogel.“
Da 1. Gelächter anklang, beeilte sich der Fuchs, auf die Bedingungen der Quelle einzugehen; und zwar in allen Punkten. Zwar konnte die liebe Quelle keinen
Namen nennen, aber doch eine genaue Beschreibung von Täter und Tathergang geben. Und da unser Nachtmeister endlich wieder frei reden durfte, konnte er mit seinem berühmten Scharfsinn auch
den entscheidenden Hinweis geben: Der Täter werde gewiß bald an den Tatort zurückkehren. Deshalb sei zu empfehlen, daß zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang hier immer ein Beamteter
mit ein paar bewaffneten Wildschweinen versteckt auf der Lauer und in Bereitschaft läge. Der Vorschlag wurde angenommen, und – ja, so schnell geht das bei uns – gleich in der 1. Nacht wurde
der Täter gefaßt!
Es war Noah, ein Flüchtling aus einem fernen Land. Nicht nur, daß er aus seiner Heimat vertrieben worden war,
sondern auch in Altenstadt war es ihm übel ergangen. In einem Altengefängnis mußte er als Unterhilfswärter bei Gestank und Schmutz sein Brot
verdienen; und das war nicht nur karg, sondern zuweilen sogar ungesund. Und da er oft nachts arbeiten mußte, war er auf den Tagesschlaf angewiesen, der aber immer wieder durch das
laute Gebell der Hunde gestört wurde. Und da niemand auf ihn Rücksicht nehmen wollte und er sogar als angeblicher Tierfeind und Unhold angegangen worden war, habe er sich nicht mehr anders
zu helfen gewußt.
Aber hier aus dem Brunnen täten doch nicht nur Hunde trinken, wurde ihm entgegengehalten, sondern auch Vögel und Wild.
Das sei ihm inzwischen selber klargeworden, beteuerte Noah, und deshalb habe er heute nacht die Giftstangen wieder entfernen wollen.
„Hm!“ brummte Nimmereil. „Dann will ich von einer Anzeige noch mal absehen; denn du brauchst keine Strafe, sondern Hilfe.“
Wie diese Hilfe aussah? Fortsetzung folgt! Bis dahin mach dir dazu selber schon mal Gedanken.
© Stiftung Stückwerken, *7.4.2022,
freigegeben am 10.12.2023
Qouz-Note: 4
***
MamM 1.159 Nachtwächter Nimmereil zur Vorosterzeit
Ostern, das fröhliche Fest, war im Kommen! Es
grünten die Felder, jung und alt; auf Hügeln und Höh’n, auf Ästen und Zweigen übten ein
fröhliches Lied die neuermunterten Vöglein; Gärten, Wiesen blühten von Blumen in duftenden Reigen; wie ein Bräut’gam
schmückt’ sich der Himmel und bräutlich die Erde.
Tscha, wenn die Vorfreude uns doch alle gleich einer Lerche in die Lüfte tragen könnte! Doch ein Nachtwächter zieht seine Runden des Nachts, und selbst in der
Frühlingszeit mit ihren langen Abenden singt keine Lerche in der Stadt.
Vermutlich erinnerst du dich noch an unsere letzte Geschichte, wo unserer lieben Quelle und unserem lieben Nachtmeister so übel mitgespielt worden war. Der Täter
konnte zwar gefaßt werden, doch nicht vor der Tat, sondern erst nachher. Dennoch – Nachtwächter Nimmereil hatte von einer polizeilichen
Anzeige noch mal abgesehen. Warum?
Darauf gibt es nie eine hinreichende Antwort. Doch darauf angesprochen, lenkte Nimmereil den Blick auf die möglichen Folgen: 1.: Noah, der Täter, erhielte eine Strafe, jedoch keine Hilfe. 2.: War Noah überhaupt alleinschuldig? Offensichtlich nicht. Und die Mitschuldigen fühlten sich vermutlich sogar noch dazu ermuntert, in ihrer Rücksichtslosigkeit fortzufahren. 3.:
Welche Folgen hätte eine Anzeige für unsere liebe Kühlequelle? Die Erfahrung habe gelehrt, daß so etwas behördlich geregelt
werde. Und behördlich täte bedeuten: Die Quelle werde verstopft, so daß sie niemanden mehr mit ihrem frischen Wasser erfreuen könne. Wolle das jemand unter Tieren und
Bürgerinnen?
Deshalb bot unser Nachtwächter an, Noah Raum zur Umkehr zu schaffen. 1. müsse Noah selbstverständlich Quelle und
Brunnen von allem Unrat befreien; und das am besten gleich in dieser Nacht, zumal er heute wohl nicht zur Nachtschicht müsse. 2. wurde Noah angeboten, seinen bisherigen Schichtdienst
zu kündigen und den Dienst eines Nachtwächters zu erlernen; zumal Nimmereil sich aufgrund seines Alters um einen Nachfolger kümmern müsse. Freilich – der Dienst eines Nachtwächters
sei nicht besonders einträglich, aber für Kost, Logis, Kleidung und festes Schuhwerk reiche es allemal. Und es sei Leben aus 1. Hand, wohingegen viel Geld und irdisch’ Gut das Leben nur
durchs Kutschenfenster zeigten. Aber der Schichtdienst? Der sei, zugegeben, auf die Aufwandseite zu buchen. Er mache auf
den 1. Blick schon etwas einsam; aber er, Nimmereil, könne rückblickend sagen, das Schöne habe bei weitem überwogen; und er habe durch seinen Beruf Begegnungen gehabt und Freundinnen
und Freunde gewonnen, von denen andere nur träumen könnten. Und über einen erholsamen Tagesschlaf brauche sich Noah keine Sorgen zu machen; denn das Nachtwächterhäuschen liege abseits
des Tageslärms.
Tiere und Täter, aber auch die Kühlequelle waren mit den weisen Vorschlägen einverstanden und zufrieden; und
so machte sich Noah ans Großreinemachen, während der Nachtwächter noch einmal alleine seine Runden zog.
Und unser Nachtmeister Stropp? Der wurde herzlich nach Hause verabschiedet und zu neuen Abenteuern in seinem
hoffentlich noch langen und vergnügten Leben.
Noah wurde unverzüglich aus seinem bisherigen Arbeitsvertrag entlassen, wurde dabei zwar um einen Teil seines Lohnes betrogen, aber das trübte seine Vorfreude
nicht. Auch der Umzug konnte noch am gleichen Tag erfolgen, denn der Vermieter hatte gleich einen Nachmieter zur Hand, bei dem er eine (nach seiner
Ansicht) gehörige Mieterhöhung durchsetzen konnte. Noahs Habseligkeiten paßten auf einen kleinen Bollerwagen, und er fand nach dem Umzug sogar noch Zeit und Ruhe, in seinem neuen
Dachstubenzimmer über 6 Stunden zu schlafen.
So traten also am Abend Nachtwächter und Lehrling ihre 1. gemeinsame Runde an. Hanneohre vom Stein hatte schon
Kunde erhalten von der Lösung des letzten Falls. Ein bißchen argwöhnisch beäugte sie den Noah zunächst schon, denn das Verbrechen war sehr schwer und schlimm gewesen, aber dann siegte ihr
gutes Herz, und ihre Blicke wurden milder. Und hoffnungsfreudiger! Denn nun habe der Nachtwächter doch endlich Zeit, sich ihrer Angelegenheit zu widmen; und – einen zusätzlichen
Helfer!
Das stimmte! Und nachdem Nimmereil seinen neuen Lehrling auch noch Freundin Frieda und den Freunden
Lümmel von Lützelingen und Igelhorst vorgestellt hatte, ging’s schnurstracks zur
Kühlequelle, um sich mit dieser zu beraten; denn zumindest unserer Häsin hätte unser Nachtwächter gerne ein Ostergeschenk gemacht.
Die Quelle plätscherte heiter, sie hätte ja neulich den einsamen Osterhasen in Großenbach vorgeschlagen.
„Aber wie sollen wir da hinkommen?“ wandte Nimmereil ein. „Das sind gewiß eine ganze Stunde Fußmarsch hin und
eine ganze Stunde Fußmarsch zurück. Und ich kann doch nicht meinen Dienst schwänzen.“
„Und deine Lernkraft?“ gab die Quelle zu bedenken.
Lernkraft! Welch ein aufmunterndes Wort! Gleich war Noah bereit, sich auf den Weg zu machen. Aber was solle er dort?
„Schon wieder soll“, konnte unsere liebe Quelle einen Tadel nicht unterdrücken. „Niemand soll etwas. Aber es wäre gut, wenn du gleich losgehen könntest.
Am besten, du läßt dir vom Käuzchen den Weg weisen und nimmst Papier, Schreibstift und Laterne –“
Wieso Papier und Stift, rätselte das Nachtwächtergespann.
„Na, um ein Konterfei von Mario Lamprecht zu zeichnen“, klärte die Kühlequelle auf, „und dir den 1. Brief diktieren zu lassen. Oder willst du abwarten, bis dort
drüben mal eine Brieftaube vorbeizieht? Da kannste lange warten! Und deshalb brauchst du auch die Laterne. Na, und dann
kommst du mit Zeichnung und Brief zurück, wieder durchs Käuzchen geleitet, und dann übergibst du einfach beide Gaben der lieben Häsin. Und wenn Herr Lamprecht ihr gefällt, dann wird sie
gewiß noch einige Fragen an dich haben. Und einen Auftrag. Doch da läßt du sie’s am besten erst einmal überschlafen. Und wenn’s gut paßt, gehst du morgen abend mit dem neuen
Auftrag wieder nach Großenbach. Abgemacht?“
Noah war beeindruckt, wieviel Vertrauen ihm hier geschenkt wurde, und machte sich mit Eifer auf den Weg und an seine verantwortungsvolle Aufgabe.
Und nun schlaft gut; und träumt schön! Bis zur nächsten Geschichte!
© Stiftung Stückwerken, *14.4.2022,
freigegeben am 10.12.2023
Qouz-Note: 4
***
MamM 1.160 Nachtwächter Nimmereil und die Osterglocken
Und du hast tatsächlich erkannt, wer am Anfang unserer letzten Geschichte mein Steinbruch gewesen ist? Freilich – diesem Fürsten kann
ich nicht das Wasser reichen und zum Hexameterschneider taug’ ich auch nicht.
Unser Nachtmeisterlehrling Noah war also nach Großenbach gewandert und hatte
Mario Lamprecht auch ohne langes Suchen gefunden. Denn so kurz vor Ostern haben viele einen Blick für den Osterhasen. Anscheinend
waren dessen Geschäfte in diesem Jahr prächtig gelaufen, so daß er unsern Noah gut gelaunt empfangen konnte.
Gegen einen Gedankenaustausch habe er nichts einzuwenden, aber wenn er, Noah, denke, er, Mario, lasse sich verkuppeln, dann habe er, Noah, sich schwer getäuscht.
Nein, an was Festem sei er, Mario, nicht interessiert; damit sei er bereits zu oft bös reingefallen. Nein, nein, nein, so etwas wolle er nicht noch einmal erleben. Allein – hier
in Großenbach sei die Auswahl doch sehr, eh, bescheiden, und deshalb wolle er’s auf einen Versuch noch mal ankommen lassen. Aber wohlgemerkt: unverbindlich!
Folglich stellte sich der Hase in Positur und ließ sich konterfeien; und zwar so, als liege ihm die Rolle eines Pantoffelhelden ganz und gar nicht. Auch ließ
er einige seiner Gedanken zu Papier bringen, die seiner Haltung und seinen Äußerungen von eben entsprachen.
Dennoch machten Bild und Brief bei der Adressatin Eindruck. Denn nachdem Noah vom Käuzchen getreulich nach Dortwehr
zurückgeleitet worden war und seine Dokumente übergeben hatte, benötigte die Häsin keinerlei Bedenkzeit.
Sogleich ließ auch sie sich durch Noah porträtieren: als eine aufrechte Wirtschafterin, die jedem Hasen auf Augenhöhe zu begegnen wisse und Bescheid, in welcher
Küchenschublade das Nudelholz liege und wo im Besenschrank der Teppichklopfer hänge.
Entsprechend diktierte Hanneohre vom Stein auch ihren Antwortbrief: höflich, aber nicht unterwürfig und wie eine
Schmiedemeisterin, die nicht auf jedes Eisen angewiesen sei.
Gewiß hast du’s inzwischen gemerkt: Noah hatte sich nicht ganz genau an den Rat der Kühlequelle gehalten: War also nix mit Überschlafen. Für die Häsin stimmt’s
zwar, aber unser Noah war doch zu müde, um die Antwort umgehend nach Großenbach zu bringen. Erst am Abend machte er sich wieder auf den Weg; und
obwohl er sich diesen einigermaßen gemerkt hatte, war er doch froh, daß ihm das Käuzchen die Begleitung nicht versagte.
Der Hase tat zwar anfangs so, als habe er mit dem Lesen des Briefes und Betrachten des Konterfeis keine Eile, aber – seine Blicke sagten doch: Er wolle nichts anbrennen
lassen.
Tscha, stell dir vor: In Brief und Bild hatte Frau vom Stein mindestens einen Ton anklingen lassen, der dem Herzen des Hasen erquickend vernehmlich war. Und so läßt es sich auch erklären, daß sein Blick auf dem Bild
einen Mangel gewahrte.
Habe denn Frau vom Stein zum Osterfest gar keine Blümchen?
Nein, gab unser Noah zu; da sie keine Blumen gehabt hätte, habe er auch keine zeichnen können.
Also, das ginge nun ganz und gar nicht! entrüstete sich Herr Lamprecht. Die schöne Maid müsse doch zu Ostern eine Frühlingsfreude haben!
„Und woher?“ fragte unser Noah. „In deinem Vorgarten hier stehen zwar Blumen genug, aber die kann ich doch
nicht einfach mitgehen lassen; und außerdem täten sie gewiß sterben vor der Zeit!“
Nein, mümmelte Mario, die Blumen hier seien ja für ihn gepflanzt; das wäre doch eine Beleidigung für die Gärtnerin, wenn er sie, die Blumen, weiterverschenken
täte. Aber Großenbach habe einen eigenen Friedhof, und da werde so manches weggeworfen; sogar Topfblumen. Und wenn er, Noah, so etwas der Häsin überbringe, und zwar in seinem,
Marios, Namen, dann täte sie sich gewiß freuen.
Und mährsächlich! Noah fand den Friedhof auf Anhieb und dort auf dem Kompost in einem Blumentopf einige Osterglöckchen , die
noch nicht verblüht waren. Gut, an der Kühlequelle mußte er den Topf säubern und die Blümchen gießen, aber dann sah alles aus – fast wie neu. Und
als Nachtwächter Nimmereil noch etwas unzerknittertes Papier aufzutreiben wußte (denn auch Dortwehr hat einen eigenen Friedhof), konnte Noah die Blumengrüße mit den besten Osterwünschen – aus Großenbach – an die Häsin übergeben.
Nein, was war die glücklich! Und ums Herz begann es ihr warm zu werden. Und ihre Freude steckte auch unsern Noah an, der nun in gehobener Stimmung seine
Dachstube aufsuchte und dort bald mit einem Lächeln in den wohlverdienten Schlaf sank; für kaum 10 Minuten.
Bim bam! Bim bam! Bim bam! Mit aller Macht setzte nun das Ostergeläut der Dorfkirche ein. Um 6.15 Uhr!
Auch wenn des Nachtwächters Häuschen abseits der Kirche lag, hatte sich aber der Wind derart gedreht, daß der Glocken glänzend’ Geläut nicht zum Pfarrhaus drang, sondern in den kirchenfernen Teil
des Dorfes. Fenster wurden aufgerissen, und der Glocken abgestimmtes Getön durch lautes Schimpfen wörterreich entschönt. An Schlaf war hier vorerst nicht zu denken.
Auch dem Nachtwächter half keine Watte in den Ohren, zumal nun auch einige Nachbarn aufgeregt an die Haustüre klopften und lautstark forderten, Nimmereil müsse umgehend
etwas unternehmen. Auch Noah war heruntergekommen und bekannte, solch eine Drangsalierung sei ihm in seiner Heimat nie begegnet.
Unser Nachtwächter versuchte zunächst, seine Nachbarn zu beruhigen. Zwar erfolge die Störung noch in der gesetzlich geschützten Zeit der Nachtruhe, aber bereits
nach Ende seiner Schicht. Dennoch wolle er seh’n, was sich machen ließe; denn sein Lehrling und er seien ja selber Geschädigte.
Tscha, und dann debattierten Lehrling und Lehrherr erst einmal darüber, was zu machen sei.
„Scheiben einwerfen!“ schlug Noah vor.
„Und wer bezahlt die Reparatur?“ gab Nimmereil zu bedenken.
„Na, die Kirche!“ war sich der Lehrling sicher.
„Wirklich?“ zweifelte der Nachtwächter sehr. „Glaubst
du, sie könne sich das Geld nicht von andern wiederholen? Oder bei den Almosen für die Armen einsparen? Und wer ist: Kirche? Und selbst wenn du darauf eine hinreichende Antwort findest,
wollen wir dennoch das Kind mit dem Bade ausschütten? Oder: Löscht es ein Feuer, wenn du
Öl hineingießt? Nein, Kirche ist schädlich, wenn sie herrschen will; aber
hilfreich, wenn sie dient. Also müssen wir versuchen, ihre Herrschaftstriebe zu beschneiden, damit ihre Dienstpflanzen gedeihen. Und außerdem gehört’s zum Berufsethos von uns
Nachtwächtern: Niemand braucht in unserem Amtsbezirk Angst zu haben.
Welcher Einfall den beiden gekommen ist, der sich mit diesem Berufsethos verträgt? Das will ich dir beim
nächsten Mal erzählen. Schlaft gut; und träumt schön!
© Stiftung Stückwerken, *21.4.2022,
freigegeben am 11.12.2023
Qouz-Note: 4
***