MamM – Mährchen an meine Mutter Nr 1.101 bis 1.120

 

 

 

Überblick MamM 1.101 bis 1.120

 

1.101  Ein Ammenmärchen
1.102  Holunder-Freundschaft
1.103  Was könnte alles passieren?
1.104  Dukatenglanz und Morgenroth
1.105  Die 4 Prinzen

 

1.106  Verwüstungen
1.107  Der heimatlose Prinz
1.108  Entsetzlich
1.109  Kommt ein Vogel geflogen
1.110  Zaubertrank oder Alstertaler?

 

1.111  Nachtwächter Drömelberch
1.112  Zu Befehl!
1.113  Nachtmeister Stropp und der Fall Krothenbrück
1.114  Nachtmeister Stropp und der Fall Schnätterhämd
1.115  Nachtmeister Stropp und der Fall Kobelbauer

 

1.116  Nachtmeister Stropp und der Fall Jubilo
1.117  Nachtmeister Stropp und der Fall Maienei
1.118  Giezli
1.119  Spiegel der Sonne oder Die 9 leeren Kreuze
1.120  Nachtmeister Stropp und der Fall Haselwurm

 

 

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MamM 1.101  Ein Ammenmährchen

„Nein, das kann ich einfach nicht glauben“, ging es Donna Engner über ihren Horizont, „daß Gott alle Menschen liebt.  Nein, –“
     „Wem es schlechtgeht“ räumte der Alte von der Halbinsel ein, „der hat damit gewiß seine –“
     „Darum geht es mir jetzt gar nicht“, stellte die Besucherin richtig.  „Das kommt eben noch dazu: daß Gott Ungerechtigkeit, Krankheit und Unglück nicht verhindert.  Aber es reicht bereits, sich vorzustellen, Gott täte einen Kain, einen König Saul oder einen Judas Ischarioth lieben;  das ist doch widersinnig!“
     „Nennen wir’s besser: unfaßbar“, doch der Alte ging noch einen Schritt weiter: „Erst recht unfaßbar ist es, daß er mich liebt, obwohl er mich besser kennt als –“
     „Ist das nicht alles nur Spekulation?“ skeptete Donna Engner.
     „Da hast du recht“, nahm’s der Alte wörtlich, „es kommt drauf an, wie wir’s sehen und von wo.  –“
     „Aber es ist und bleibt ungerecht!“ beharrte die Besucherin.  „Und Ungerechtigkeit verträgt sich nicht mit –“
     „– den Bildern, die wir Menschen uns von Gott machen“, ergänzte der Alte.  „Das ist eben das Besondere an unserm Gott, daß seine Liebe und Barmherzigkeit größer sind als all seine Gerechtigkeit und daß sie das Recht geschaffen haben, an dem sich diese orientiert.  Allein – direkt kann ich dir das alles nicht beweisen;  aber wenn schon Gottes Geschöpfe zu solch einer Größe wachsen können, wieso sollte es dem Schöpfer unmöglich sein?“  Und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein Königssohn, der hieß, eh, der hieß Springinsfeld.  Na, da kannst du dir sicher schon vorstellen, was das für einer war.  Rücksichtsvoll?  Bedächtig?  Brav?  Bestimmt nicht!  Eher: rücksichtslos, unbedacht, aufsässig.
     Nun ja, direkt hatten die Eltern mit diesen Eigenschaften nichts zu tun;  denn damals war es Sitte, höhere Töchter oder höhere Söhne einer Kinderfrau anzuvertrauen und so die Eltern nach Leib, Geist und Seele zu schonen.  Freilich – gewisse Erziehungsziele wurden der Kinderfrau schon vorgegeben, vor allem die Anbefohlenen auf die Aufgabe vorzubereiten, die diese einmal als Lebenszweck zu erfüllen hatten;  doch welche Fortschritte gemacht worden waren, das wurde nur in gewissen Abständen überprüft und eben am Tag der Volljährigkeit.  Es sei denn, es lief etwas derart aus dem Ruder, daß es nicht mehr zu übersehen war.
     Bei Springinsfeld war es ein Baum;  also der – der zu Konsequenzen führte.  Kannst du dir etwa vorstellen, daß es Prinzen erlaubt war, auf Bäume zu klettern?  Na, also!  Und genau dieses Verbot übertrat unser Prinz.  Wie oft?  Das weiß ich nicht;  aber es reichte, daß er’s gerade in dem Augenblick tat, als sein Vater durch den Schloßpark wandelte.  Vor Schreck fiel er vom Baum, Springinsfeld, riß sich dabei auch noch Hemd und Hose auf und blieb benommen liegen.
     Der König war derart in Gedanken gewesen, daß er seinen Sohn bisher gar nicht bemerkt hatte;  doch da hörte er mit einem Mal ein Geräusch, ging dem nach und – entdeckte unseren Prinzen.  Schnell wurden Diener herbeigerufen, die trugen das gefallene Früchtchen vorsichtig in sein Bett, und schon eilte der Leibarzt herbei;  Verletzungen konnte der nicht feststellen, dennoch verordnete er vorsichtshalber erst einmal eine strenge Bettruhe.  Inzwischen war der Prinz wieder zu sich gekommen, doch er verhielt sich sehr sonderbar: Er setzte es nämlich durch, daß Efriede nicht mehr zu ihm gelassen wurde.  Wie das?
     Hast du dir noch nie weisgemacht, daß nicht sein kann, was nicht sein darf?  Siehst du?  Der Prinz durfte nicht auf Bäume klettern, also redete er sich ein, es könne deshalb gar nicht sein, daß er tatsächlich auf einen Baum geklettert war.  Und auf dem Baum hatte ihn ja auch keiner gesehen.  Und weil er wohl von Kindesbeinen an zu viele Märchen gehört hatte, lief er geschwind in das Reich seiner Phantasie und kam mit einer für ihn sehr plausiblen Erklärung wieder zurück: Eine Hexe habe ihn fangen und braten wollen;  und weil er sich gewehrt habe, sei er so übel zugerichtet worden;  und beinahe wär’s mit ihm aus gewesen, wenn nicht sein Vater herzugekommen wäre;  da habe die Hexe von ihm, Springinsfeld, abgelassen und sei auf ihrem Besen davongeritten.  Ob er die Hexe habe erkennen können?  Ja, es sei – es täte ihm sehr leid, das sagen zu müssen: Es sei Efriede gewesen, seine Kinderfrau.
     Kindermund sage immer die Wahrheit?  Wohl nur, wenn er wirklich die Wahrheit sagt!  Ob auch der König in seiner Kindheit zu viele Märchen gehört hatte?  Jedenfalls ließ er die Kinderfrau auf der Stelle ergreifen und in den Turm sperren.  Und es machte sie eher mehr den weniger verdächtig, daß sie alles willenlos über sich ergehen ließ und zu allen Vorwürfen schwieg.  Tscha, und ist erst einmal eine Frau der Hexerei bezichtigt, dann finden sich genug Leute, die das bezeugen wollen.  Efriede wurde also zum Tode verurteilt;  doch als sie zum Richtplatz geführt werden sollte, war ihre Zelle leer.  War die Kinderfrau also doch eine Hexe?
     Ja, solange Springinsfeld auf das hörte, was in seinem Kopf rumspukte.  Nein, sobald er auf sein Herz hörte.  Denn dorthin hatte die Kinderfrau manchen Samen ausgestreut, der sich nach und nach seinen Weg bahnte.  Nicht zuletzt jener Blick, mit dem sie bei der Urteilsverkündung Springinsfeld angeschaut hatte.  Kein Vorwurf hatte darin gelegen, sondern – sondern Mitleid.  Schnell hatte der Prinz weggeschaut, aber es war zu spät gewesen: Der Blick war in des Prinzen Herz gefallen.  Springinsfeld hatte aufschreien und Einhalt gebieten wollen, aber seine Stimme hatte versagt, so daß er verstört aus dem Gerichtssaal gelaufen war.  Und das wurde auch noch zu seinen Gunsten ausgelegt und zu Lasten dieser – dieser undankbaren Hexe.
     Jahre gingen ins Land, aus dem Prinzen wurde der neue König, aber er blieb verstört und – unglücklich.  So einer ist kein Halt für sein Volk und ein willkommenes Opfer für den Feind.  Der wagte auch bald einen Überfall, fand so gut wie keine Gegenwehr, eroberte rasch die Hauptstadt, belagerte das königliche Schloß und forderte vom König die Abdankung;  anderenfalls werde dieser wie ein Hochverräter behandelt und hingerichtet.
     Durch einen geheimen Gang gelang es Springinsfeld, aus dem Schloß zu entkommen;  aber der Feind war ihm dicht auf den Fersen.  Da gewahrte der König in einem entlegenen Wald eine einsame Hütte, lief hinzu, stürzte hinein und – schrak zurück, als er die Bewohnerin erkannte: –
     „Und wenn sie nicht gestorben sind“, konnte sich die Besucherin nicht länger zurückhalten, „dann –“
     „Da hast du recht“, griff’s der Alte auf, „Efriede war nicht gestorben, sondern schloß den König mit einem freudigen Aufschrei in ihre Arme.  Und an den Feind lieferte sie ihn erst recht nicht aus.  Welch eine Liebe!  Viel größer denn alle –“
     Doch der Alte war mal wieder allein.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 18.11.2023

Qouz-Note: 3-

 

 

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MamM 1.102  Holunder-Freundschaft

„Ich glaub’ nicht, daß ich dem noch mal schreiben werde“, ließ Don Gleichengelt Enttäuschung mitschwingen.  „Gut, bedankt hat er sich ja;  aber das war’s denn auch.“
     „So?“ zeugte der Alte von der Halbinsel mehr von Anwesenheit denn von Interesse.
     „Und ich hatte ihn so gelobt“, wurde der Besucher deutlicher, „aber er –“
     „Holunder-Freundschaft?“ vermutete der Alte.
     „Was, bitte?
     „Nicht meine Erfindung“, gab der Alte zu, „sondern Begriff und Kennzeichnung stammen von dem treuen Bothen aus dem Norden.  Er meinte damit Freundschaften, die nur aus Fassaden bestehen, weil jeder sein eigener Freund ist und nicht des –“
     „Haltet Ihr mich etwa für einen Heuchler?“ wollte Don Gleichengelt aufbrausen.
     „Ich glaub’ nicht, daß du’s hast als Gewerbe eintragen lassen“, versuchte der Alte zu beschwichtigen, „aber wenn du deinen Freund nur lobst, damit er dich –“
     „Aber das ist doch eine infame Unterstellung!“ legte der Besucher nach.  „Ich soll –“
     „Du darfst dich darüber freuen“, stellte der Alte richtig, „wenn du Gutes tust und es dir nicht zurückgezahlt wird.  Das ist göttlich.  Und frei!  Anderenfalls machst du dich immer von andern Menschen abhängig.  Und meisterlich wäre das auch nicht;  denn den Meister lobt sein Werk, nicht der unwissende Kunde“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein junger König, der hieß, eh, der hieß Lodewin.  Und weil er keine Frau hatte, die ihm mal hätte den Marsch blasen können, gab er viel auf die Walzerklänge seines Hofstaates.  Die sind ja auch so beschwingend und können dich derart aus allen Niederungen hinauftragen, daß du auf alles andere hinabschaust.
     Nimm nur die Sache mit den Masken.  Es ist jetzt nicht überliefert, ob Lodewin sie in Basel, Mainz oder Köln gesehen hatte oder nur vom Hörensagen durch Kaufleute oder Bänkelsänger her kannte.  Jedenfalls kam der König auf die Idee, allen Untertanen lächelnde Masken zu verordnen.  Nicht nur zum Karneval oder nächtlichen Maskenball, sondern täglich, sei’s in der Kirche, sei’s auf dem Markt, sie’s in der Schenke;  eben überall außer Haus.  Und wer’s auch zu Hause tat, durfte sich als besonders treuen Untertan fühlen.  Die Hofschranzen waren selbstverständlich voll des Lobes ob dieser Neuerung: Es sehe jetzt alles viel heiterer aus.  Daß Aussehen noch lange nicht Sein und Inhalt bedeutet, übersahen sie.
     Der König aber nahm das Lob als Ermutigung und ordnete die nächste Neuerung an: Zuckerkuchen für die Armenhäuser.  Ihm war nämlich zugetragen worden, daß es den Armen viel zu oft an Brot mangelte.  Die Hofschranzen waren selbstverständlich wieder voll des Lobes: Endlich ein Landesherr, der auch ein Herz für die Armen habe!  Daß Zuckerkuchen auch krank mache und es immer noch zu viele Arme gab, die hungerten, übersahen sie.
     Der König aber nahm das Lob wieder als Ermutigung und ordnete die nächste Neuerung an: Tausende Fremde in sein Land zu lassen.  Und sie kamen in Scharen: verfolgt um ihres Glaubens willen oder ihrer Meinung oder ihres Standes;  Arme;  Menschen, denen Verbrechen zur Last gelegt worden waren.  Die Hofschranzen waren wieder voll des Lobes: Lodewin sei ein ganz Großer der Weltgeschichte, der viel für den Weltfrieden und die Menschenrechte getan habe und für Handel und Wandel.  Tscha, im Schloß und dessen näherer Umgebung wurden auch keine Fremden angesiedelt, aber draußen im Land sah’s anders aus: Da versuchte mancher Fremde den Junker oder sogar den Pascha zu spielen und nicht nur die Alteingesessenen, sondern auch andere Neubürger zu unterdrücken.  Doch solche „Zwischenfälle“ wurden von des Königs Ohren ferngehalten.
     Lodewin nahm das Lob seines Hofes also wieder als Ermutigung und ordnete weltmännisch die nächste Neuerung an: seine Soldaten an ausländische Fürsten zu vermieten.  Tscha, auch wenn’s die Hofschranzen wieder lobten, fiel’s dem König dennoch bald auf die Füße, so daß er das Springen lernte.  Und das brauchte er auch, da er vom Thron und aus Schloß und Land gejagt wurde.  Was Bess’res als den Tod finde er überall, sprach der Soldat und jagte seinen Feldherrn davon!
     Nun war’s für Lodewin mit dem Herrschen erst einmal vorbei!  Statt dessen mußte er dienen und jede Arbeit annehmen, um zu überleben.  Da glaub bloß nicht, er wäre dafür gelobt und gepriesen worden!  Nee, er mußte Bierlachs spielen, bei dem nur die Miesen angeschrieben werden.  Und hatte sich der ehemalige König Kost und Logis ausbedungen, dann mußte er stets befürchten, daß er vom Essen nicht satt wurde und die Schlafstelle nicht wetterfest war.  Tscha, wie hatte ich ihn anfangs beschrieben?  Walzerklänge drangen jedenfalls nicht mehr an sein Ohr, sondern Zucht-, Trauer- und Elendsmärsche.  Solche Klänge machen trübsinnig, und Trübsinn hebt nicht den Blick, sondern senkt ihn auf die Schatten, daß du die rettenden Abzweigungen nicht mehr gewahrst.  Und fehlt deiner Arbeit die Freude, machst du sie nicht gut, so daß dein Trübsinn weiter zunimmt.
     Da hilft wohl nur, wenn dich jemand anstößt.  Gut, freundlich schaust du nicht auf, aber du schaust auf!  Und wenn dich dann noch so ein Lächeln trifft wie das von Angelika, dann kann’s bis ins Herz hereinwärmen.  Bei Lodewin ging da jedenfalls im Innern etwas auf, und es dauerte nicht lange, da hatte er all seinen Kummer hinausgeschüttet.  Und schon war Platz für Hoffnung und Zuversicht.
     Wenn er vorerst mit Kost und Logis vorliebnehmen wolle, schlug Angelika vor, dann habe sie Arbeit genug für ihn, und er brauche sich künftig nicht mehr Tag für Tag neu zu verdingen.
     Nun ja, wer weiß, was es zu essen gab und ob das Strohlager nicht mit Mist gefüllt war;  Lodewin hatte da ja schon seine Erfahrungen gesammelt.  Aber – es kam viel besser als erwartet;  zunächst jedenfalls.  Die 1. Mahlzeit war mit Gutem aus dem Garten zubereitet und wohl auch mit mehr;  und Lodewin durfte sich nach langer Zeit satt essen.  Und die Schlafkammer war sauber und so hergerichtet wie für einen lieben Gast.  Freilich – am nächsten Morgen ging’s los mit der Arbeit, und da mußte Lodewin immer wieder eingestehen, daß er vieles nicht gelernt hätte.
     „Ich kann nicht, das gibt’s hier nicht!“ hielt Angelika jedes Mal entschieden dagegen.  „Auf jeden Fall kannst du es noch lernen.“
     „Und was hat das, bitte schön, jetzt mit mir zu tun?“ konnte sich der Besucher nicht länger zurückhalten.
     „Nichts, wenn du’s nicht aufgreifst“, hatte der Alte anscheinend sein Kinderstühlchen verlassen.  „Angelika jedenfalls war Gärtnerin, und in ihrem Garten lernte Lodewin nach und nach, sich von der Herrschaft des Entgeltens zu befreien.  War es nicht schon Freude die Fülle, wenn die Pflanzen unter seiner Pflege gediehen?  Und wenn ein jeder Mensch dazu beiträgt, daß das Gute in seinem Nächsten gedeiht, was braucht er da noch Lob und Ehre?
     Doch darauf konnte der Besucher keine Antwort geben;  er war inzwischen gegangen.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 26.11.2023

Qouz-Note: 3-

 

 

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MamM 1.103  Was könnte alles passieren?

„Unsere Silberhochzeit wollen wir im nächsten Jahr noch feiern“, blickte Donna Mercator in die Zukunft, „und dann lassen wir uns scheiden.“
     „So?“ drückte der Alte von der Halbinsel seine Verwunderung in den Klang eines einzigen Wortes.
     „Einvernehmlich!“ schränkte die Besucherin die Bandbreite der Motive ein.  „Wir werden immer älter, und eines Tages kommt der –  Na ja, einer muß dann ins Altenspital, und der Ehegatte müßte dann dafür aufkommen.  Seht Ihr, und das will ich nicht!  Soll mein Mann etwa an seinem Lebensabend hungern müssen, nur um mein Sterben zu – ?
     „Wie viele Jahre ist er denn jünger als du?“ fragte der Alte wie von ungefähr.
     „Jünger?“ verneinte Donna Mercator.  „Ich bin jünger!  Über 11 Jahre!“
     „Ach so!“ schien’s den Alten nicht besonders zu überraschen.  „Und wie sicher ist es, daß er bald in einem Spital gepflegt werden muß?
     „Was weiß ich?“ betonte die Besucherin das 3. Wort und dachte dabei keineswegs an jenen griechischen Philosophen.  „Hört Euch doch nur um, was alles passieren kann!  Meine Tante hat sogar eine Hypothek aufnehmen müssen, weil mein Onkel noch so lange im Spital gelebt –, Leben war das eigentlich gar nicht mehr zu nennen!“
     „Und deshalb sein Eheversprechen zu brechen“, konnte der Alte noch immer nicht nachvollziehen, „nur weil vielleicht irgendwann –“
     „Vorbeugen ist besser als Heilen, –“
     „– sprach der Dachdecker“, ergänzte der Alte, „bevor er vom Dach –“
     „Ihr könnt ja gar nicht mitreden“, legte Donna Mercator nach, „Ihr seid ja Junggeselle!“
     „Und dafür kann ich Gott täglich danken“, lachte der Alte, bevor er zu erzählen begann:
     Es wär’ einmal ein junger König, der hieß, eh, der hieß Michelpaul;  für manchen Sprachkundigen schon ein Gegensatz in sich.  Also?  Also brauchte er dringend eine Frau, um damit leben zu können;  mit seiner Widersprüchlichkeit!  Aber welche?
     Gut, es gibt Männer, die meinen, sie brauchten nur auf ihrem Sofa zu sitzen, dann käme die richtige Frau schon herbei.  Frau?  Vielleicht;  wenn er was zu bieten hat!  Aber richtige?  Jedenfalls wollte’s Michelpaul nicht abwarten, sondern sich erst einmal einen Überblick verschaffen, wie groß und vielfältig das Angebot sei.  Und das durch Augenschein und Ohrenklang.  Und – um nicht zu lange Umwege zu machen, wollte er sich einem Führer anvertrauen.
     Zunächst fiel sein Auge, also, dessen Blick, auf Geheimrat Stubenhock.  Der war auch sogleich bereit, seinem König mit Rat und – eh, beizustehen, genauer: zu sitzen.  Nein, warnte der Geheimrat eindringlich, der König bleibe am besten daheim;  denn unterwegs könne er auf Glatteis geraten, ausrutschen und sich übel weh tun.  Nein, solch ein Risiko sei die Sache nicht wert.  Außerdem könnten sich bereits jetzt im Winter Gewitter entladen, Majestät könnten von einem Blitz getroffen werden, und dann sei alles aus!  Der Schaden für Volk und Land sein nicht abmeßbar!  Und werde der König nicht sogleich fündig, dann laufe er sogar Gefahr, von einem Sonnenstich heimgesucht zu werden;  und so etwas wolle er seinem Volk doch wirklich nicht antun;  also der König!
     Michelpaul hatte zwar aufmerksam zugehört, aber so richtig überzeugt hatte ihn das Gehörte nicht.  Nichts zu tun, das ist zwar immer eine Alternative, aber eben nur eine und nicht die einzige.  Deshalb wandte sich der König an seinen anderen Geheimrat, und mährsächlich – Forchtenrath war sogar bereit, mit seinem König loszugehen.  Tscha, loszugehen, das ist eine notwendige Voraussetzung, um an ein Ziel zu gelangen, aber eben keine hinreichende.  Das zeigte sich schon an der 1. Wegkreuzung.  Der Weg nach links sei nicht zu empfehlen, denn dort gäbe es häufig Astbruch, wenn nicht sogar Baumschlag –  Du weißt, was ich meine.  Und zum Weg nach rechts sei auch nicht zu raten, denn dort sei es in der Vergangenheit zu manchem Überfall durch Räuber gekommen.  Wie oft?  Also er, Forchtenrath, wisse von mindestens einem, und der sei sogar in den Chroniken festgehalten worden.  Und geradeaus?  Nee, riet der Geheimrat eindringlich ab, dort sei mit Wildschweinen zu rechnen;  und wie die einen zurichten könnten, wolle der König gewiß nicht ausprobieren.  Hier, da könnten Majestät bereits sehen, wie der Wegesrand aufgewühlt sei.  Eindeutig Spuren von diesen höchst gefährlichen Schwarzkitteln.  Wenn der König auf seinen Rat, Forchtenraths, hören wolle, dann laute dieser, der Rat: umkehren!  Sofort umkehren!
     Nee, Michelpaul war doch nicht zu einem Vergnügungsspaziergang aufgebrochen!  Der Geheimrat möge ruhig umkehren, dann gehe er, der König, eben alleine weiter.  Und so kam es nun auch.
     Gut, die Wühlspuren waren nicht zu übersehen, und hin und wieder hörte der König Gepolter aus den Gebüschen am Wegesrand, vor allem als es dunkler wurde.  Angefallen wurde Michelpaul jedoch nicht.  Statt dessen gewahrte er etwas, was du eben erst siehst, wenn es dunkel wird auf deinem Weg: ein Licht.  Der König lenkte seine Schritte dorthin, stand bald vor einem kleinen Häuschen und – zögerte.  Anklopfen oder –  Wer weiß, wer hier wohnt!  Räuber?  Eine Hexe?  Ein –
     Da ging auch schon die Türe auf, und eine freundliche Stimme lud ein, einzutreten.
     Habe sie denn keine Angst vor ihm, fragte Michelpaul drinnen.
     „Angst?“ lachte die junge Eigentümerin jener freundlichen Stimme.  Sei das nicht Sterben bei lebendigem Leibe?  Dafür sei ihr das Leben zu schade.  Und Angst gar vor einem Menschen, der ihr, Sieglinde, in die Augen blicken könne?  Das sei doch grotesk!  Außerdem stehe sie unter höchstem Schutz.  Und wenn die schützende Hand über ihr abgezogen werde, dann doch nur, um sie, Sieglinde, besser tragen zu können.
     Ob sie etwa an Feen und Zauberer glaube, wollte der –
     „Eben!“ konnte sich Donna Mercator nicht länger zurückhalten.  „Das ist Aberglaube, Ammenmärchen, also unchristlich!“
     „So?“ lachte der Alte.  „Ammenmärchen ist gar nicht so abwegig.  Jedenfalls blieb der König über Nacht, – sittsam, natürlich, und am nächsten Morgen zogen die beiden gemeinsam weiter.  Tscha, für einen König die passende Frau zu finden, das ist nicht so einfach wie die Suche nach einem passenden Kleidungsstück!  Sieglinde mochte den König auf Kandidatinnen aufmerksam machen, wie, ja, wie sie wollte, stets paßte irgend etwas nicht.  Schließlich gestand Michelpaul, daß er sich ein Leben ohne Sieglinde nicht mehr vorstellen könne, was immer die Zukunft bringen werde.  Die Begleiterin sah’s ähnlich, denn Leben bestehe nur, wenn die Liebe die größte über –“
     Allein – die Besucherin war inzwischen gegangen.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 27.11.2023

Qouz-Note: 3

 

 

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MamM 1.104  Dukatenglanz und Morgenroth

„Doch“, kleidete Don Krötentanz seinen Stolz in Dankbarkeit, „Gott hat mich reich gesegnet!  Mein Sohn verdient gut, meine Tochter hat ein eigenes Pferd und ist gut verheiratet, und ich und meine Frau bewohnen ein stattliches Palais und fahren in einer prächtigen Kutsche aus.  Aber Ihr?
     „Tscha“, lachte der Alte von der Halbinsel, „mich muß der Teufel wohl vergessen haben und seine Herrlichkeit mit –“
     „Von nichts kommt eben nichts!“ hatte der Besucher  nicht zugehört.  „Hilf dir selbst, dann –“
     „–erlebst du immer wieder, daß du mit deinem Latein nicht weit kommst“, ergänzte der Alte.
     „Eben!“ fühlte sich Don Krötentanz bestätigt.  „Ich bin auch ohne Latein was geworden.  Dagegen –“
     „Was?“ hakte der Alte ein.  „Also eine Sache?  Ein Spielball –?
     „Aus Euch spricht doch nur der Neid“, unterbrach der Besucher, „und den erkennt bereits Eure Bibel dahinten als die Wurzel alles –“
     „Das ist zwar falsch zitiert“, ließ der Alte leichten Tadel einfließen, „aber ein Übel ist der Neid schon.  Doch wie sagt’s schon jener Chevalier: Was ist Dukatenglanz gegen Morgenroth!“  Und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein Prinz, der hieß, ja, der hieß Dukatenglanz und war folglich bestimmt kein Hungerleider.  Und da er sogar der Kronprinz war, durfte er sich frühzeitig in seine künftigen Geschäfte einarbeiten.  Gut, ein Kind war er nicht mehr, als er die Leitung der Königlichen Hofapotheke übernahm, aber große Erfahrungen hatte er noch nicht sammeln können.  Jedoch – verstellte ihm so auch nichts den Blick für alles, was möglich war.  Ein alter Mann hätte bestimmt Bedenken gehabt, alle Apotheker von der Hofapotheke abhängig zu machen.  Dukatenglanz verfügte jedoch schon bald, daß niemand im ganzen Lande Arzneimittel verkaufen dürfe, er habe sie denn von der Hofapotheke bezogen.  Und somit waren auch alle Arzneimittelimporte aus dem Ausland untersagt, wenn diese nicht über die Hofapotheke liefen.  Damit aber die einheimischen Apotheker nicht darben mußten, durften sie eventuelle Nachteile über die Preise an ihre Kunden weitergeben.  Es ist nicht auszuschließen, daß hieraus die gemeine Rede entstand, das seien Apothekenpreise, wenn etwas unverhältnismäßig teuer ist.  Die Königliche Hofapotheke entwickelte sich jedenfalls prächtig, und der Kronprinz konnte neue Herausforderungen suchen.
     Die fand er in der Königlichen Reichspost.  Auch hier wäre ein alter Mann wohl etwas vorsichtiger gewesen, aber Dukatenglanz führte schon bald eine wichtige Neuerung ein.  Er ließ nämlich den Bürgern Postkästen verkaufen, die in allen Posthaltereien aufgestellt wurden und wo sich die Bürger ihre Post selber abholen konnten.  Die Königliche Reichspost sparte damit Zustellwege und bekam dafür auch noch Geld.  Aber was hätte ein Bürger davon gehabt?  Und als gemeinnützige Spende wäre der Postkastenkauf bestimmt nicht anerkannt worden.  Tscha, es kommt eben drauf an, wie du etwas verkaufst!  Die Bürger wurden nämlich behutsam an die Frage herangeführt: Willst du, daß jeder in deiner Familie weiß, welche Post du erhältst und von wem?  Und wenn du so an den einen oder anderen Postkurier denkst, dann kannst du diese Frage auch auf die Hausgemeinschaft und Nachbarschaft ausdehnen.  Nun, die Sache mit den Postkästen war ein voller Erfolg – anscheinend für beide Seiten.  Tscha, Dukatenglanz hatte aber alle Kaufverträge auf den 1. April datiert.  Und als nach etlichen Monaten kaum noch Geld durch den Abschluß neuer Verträge reinkam, fand plötzlich jeder Altkunde ein Schreiben der Reichspost in seinem Postkasten.  Und darin wurde er aufgefordert, künftig eine vierteljährige Schutzgebühr zu entrichten.  Nun ja, du kannst dir gewiß denken, daß die Zahlungsintervalle bald verkürzt und die Höhe der Gebühren weiter ausgereizt wurde.  Die Königliche Reichspost hatte sich für das Königshaus zu einem Goldesel entwickelt, so daß sich Dukatenglanz eine neue Herausforderung suchen konnte.
     Die fand er in der Großköniglichen Reichs- und Wechsel-Tesoreria, kurz: GRuWT.  Die vermehrte ihren Reichtum bisher so, daß sie sich Geld gegen ein geringes Entgelt, zum Beispiel 2%, borgte und dieses Geld für, sagen wir: 10%, „weiterverlieh“.  Ja, du hast richtig gehört: Banken dürfen auch in Leihgeschäften Geld fordern;  woanders gilt so etwas als Betrug.  Nun gut, eh, nicht gut genug für den Kronprinzen;  denn wenn du nachrechnest, beträgt der 2. Zins nur das 5fache des 1.  Das ließ sich steigern;  und deshalb bot die GRuWT allen Bürgern an, bei ihr mindestens 1.000 Taler zu hinterlegen, und dafür wolle sie jährlich 2,1% an Zinsen gutschreiben und außerdem für alle Einkäufe eines jeden das Geld an die Verkäufer überbringen.  Und das garantiert umsonst.  Eine prima Sache!  Der Bürger brauchte sich künftig keine Geldkatze mehr umzuschnallen, wenn er auf den Markt ging, und du weißt vermutlich, wie es da zu manchen Zeiten an Taschendieben wimmelt.  Lies nur Charles DICKENS!  Binnen weniger Wochen waren der GRuWT bereits mehrere Millionen Taler geborgt worden.  Geborgt?  So dachten die Bürger.  Die GRuWT sah’s aber als ein Geschenk auf Lebenszeit an;  denn wieder waren die Verträge auf den 1. April datiert.  Deshalb glich der vereinbarte Zins bald einem Bergsteiger, der auf einer Gletscherzunge ins Rutschen geraten ist.  Bald betrug der Zins für das „Weiterleihen“ durch die Bank das 10.000fache des Borgzinses an die Bürger.  Damals ein märchenhaftes Ausmaß.  Und wer sich gar erdreistete, von den hinterlegten Talern 2 oder 3 zurückzuerbitten oder dies versehentlich tat, sah sich plötzlich enormen Gebühren gegenüber.  Das trieb manchen Bürger in den Ruin und Schuldturm.
     Aber plötzlich erschien Morgenroth.  Eigentlich war sie bereits längere Zeit im Lande, aber wer gibt auf eine Bettlerin acht?  Der bisherige König schon!  Da sich nämlich sein Sohn bei der Brautsuche viel zu wählerisch erwies, bestimmte der Vater einfach, Dukatenglanz müsse jene Bettlerin heiraten, erst dann wolle er abdanken.  Und so geschah’s auch.
     Schon bald gab’s die ersten Veränderungen.  So begannen Steinklopfer und Steinleger die Pflastersteine gegen billige Kupfermünzen auszutauschen.  Bist du schon mal mit deiner Kutsche über solch eine Straße gefahren?  In den Gärten wurden keine Blumen, auch kein Gemüse gepflanzt, sondern Kreuzermünzen.  Und die ersetzten auch das Brot, das die Bäcker anboten, ja, sogar an den königlichen Hof lieferten.  Und als eines Morgens die königliche Tafel nicht mit Brot, sondern mit Münzen gedeckt war, da –
     „Aber das ist doch lächerlich!“ konnte sich Don Krötentanz nicht länger zurückhalten.  „Geld regiert die Welt und wird sie immer –“
     „– dennoch nicht ernähren“, gab der Alte zu bedenken.  „Und wenn du Welt als das, was menschlich ist, auslegst, so mag’s durch Geld regiert werden.  Aber es gibt auch andere Reiche.  Das Reich des Sanften und Leisen.  Das Reich der Farben.  Das Reich der Musik.  Und da zählt es nicht, ob du Geld hast und wieviel, sondern ob’s dein Herz erreicht.  Und mit diesen Reichen machte Morgenroth ihren Gemahl nun bekannt.  Kannst du’s mit Geld aufwiegen, wenn die Kraniche vom Frühling künden?  Kannst du’s mit Geld aufwiegen, wenn der Kirschbaum blüht?  Oder wenn die Nachtigall den Abendsegen singt?  Und die Menschen waren darin wieder verschwistert und konnten wie Kinder fromm und fröhlich –“
     Jedoch – der Besucher wollte das wohl nicht und war inzwischen gegangen.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 27.11.2023

Qouz-Note: 3-

 

 

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MamM 1.105  Die 4 Prinzen

Es wären einmal 4 Prinzen, die hatten einen Thron geerbt.  Da aber dieser Thron nur Platz für einen von ihnen bot, kamen sie überein, daß abwechselnd jeder von ihnen König sein dürfe.  Aber für wie lange?  Tscha, was hättest du vorgeschlagen?
     Die 4 Brüder meinten jedenfalls, sie wollten’s erst einmal für ein Jahr probieren.  Also teilten sie das Jahr in 4 Abschnitte;  und wenn du an die 12 Monate denkst und in der Schule gut aufgepaßt hast, wirst du bestimmt zustimmen: Das war keine schlechte Idee!  Allein – in der Schule hast du gewiß auch gelernt, daß die Monate nicht alle gleicher Länge sind.  Da gibt es 7 Monate mit 31 Tagen, 4 mit 30 Tagen und einen mit 28 und alle 4 Jahre mit 29 Tagen.  Nun ja, es waren doch Brüder, und sie wollten darüber keinen Streit anfangen.  Deshalb bestimmten sie für das 1. Jahr: Der 1. Prinz dürfe 93 Tage regieren, der 2. auch, aber der 3. und der 4. hätten sich mit jeweils 90 Tagen zu begnügen;  und dann wollten sie weitersehen.  Und so kam es denn auch.
     Lenzing, du, der legte los, daß es eine Wucht und Freude war!  Er begann zunächst mit lauen Lüftchen, und die lockten schon bald die Osterglocken hervor, die da in die Höhe sprießen und dann freundlich mit ihren gelben Blüten nicken.  Aber wohl nur Sonntagskinder, und von denen nicht einmal alle, hören diese lieben Blumen herzlich läuten.  Gelb und Grün waren Lenzing jedoch noch nicht genug, deshalb ließ er nun auch die Tulipanen wachsen und aufblühen, als wollten sie mit dem Abendrot wetteifern.  Und dann, dann blühten endlich die Rosen!  Was war das für eine bunte Vielfalt!  Aber auch ein Gebrumme und Gesumme!  Und – herrliche, königliche Düfte!  Indessen hatte Lenzing aber auch die Wiesen, Wälder und Felder grünen lassen.  Und Kirsche, Schwarzdorn und Apfelbaum schmückten sich, als hätten sie Hochzeit oder Kindtaufe.  Und dann die Vogelwelt!  Hoch stieg die Lerche in die Lüfte, damit jeder auf ihr Loblied achte und sich nicht durch ihr Aussehen ablenken lasse.  Ähnlich dachte wohl auch die Nachtigall und gab, im Gebüsch verborgen, ihr Abendständchen.  Nur der Kuckuck war nicht so bescheiden und machte überall seinen Namen bekannt.  Na, da war sich Prinz Lenzing nach 93 Tagen sicher: Gewiß würden die Menschen ihn als alleinigen König haben wollen.
     Jedoch –  sein Bruder Korning war auch nicht ohne!  Der ließ die Kornfelder reifen, so daß sie in der Sonne leuchteten wie pures Gold.  Und wer so eine Landschaft zu sehen weiß, der fühlt sich unermeßlich reich.  Und Sonnenblumen wuchsen in die Höhe, größer als der größte Mensch;  und dann strahlten sie, als wollten sie jedem Menschen Freude bereiten.  Allein – damit die Menschen seinen Bruder schnell vergaßen, ließ es Korning auch sehr warm werden, was die Menschen träge macht.  Um’s jedoch nicht zu übertreiben, mußte er es hin und wieder blitzen und donnern lassen, – auch damit’s sich die Menschen merkten, welche Macht er habe.  Na, da war Korning nach 93 Tagen der 2. Prinz, der sich sicher war, zum alleinigen König bestimmt zu sein.
     Doch noch war nicht aller Tage Abend, und Wiening bestieg den Thron.  Tscha, der war nicht auf den Kopf gefallen und verzauberte die Menschen mit seinen Farben.  An den Apfelbäumen leuchteten lockend die reifen Früchte.  Und wer zu faul war, diese zu pflücken, dem fielen sie sogar vor die Füße.  Und wer nicht aufpaßte, dem fielen sie sogar auf den Kopf;  – nun ja, weniger die Äpfel, aber desto häufiger die Eicheln.  Und in den Lüften gaben die Kraniche ihre großen Konzerte.  Daß sie’s zum Abschied taten, wußten nur die Eingeweihten.  Ansonsten machte Wiening den gleichen Fehler wie sein Bruder Korning: Die Musik der Vogelwelt vernachlässigte er zu sehr.  Statt dessen heulten die Winde auf und rüttelten an Türen und Fensterläden, als wollten sie in unguter Absicht was wegtragen.  Das machte manchen unter den Menschen schon angst.  Freilich – wenn diese Winde die Blätter von den Bäumen rissen und in den Lüften tanzen ließen, dann war das lustig anzusehen.  Und wer da sicher von drinnen aus dem Fenster zuschaute und dazu noch etwas aus den Weinbergen zu sich nahm, der war guter Dinge und pries den Prinzen.  Na, damit war sich auch Wiening nach 90 Tagen sicher, er dürfe bald den Thron allein für sich haben.
     Noch gab es jedoch Eising, und der wollte seine 90 Tage nicht ungenutzt verstreichen lassen.  Eisige Winde ließ er kommen, lange Nächte, und oft war es am Tage so dunkel, daß es die Menschen trübsinnig machen konnte und sie sich gar keine grünen Wälder, blühenden Gärten und lustige Vogellieder mehr vorstellen konnten.  Und sie kamen sich vor ihrem Prinzen ganz klein und ohnmächtig vor.  Nun machen Trübsinn und Kleinmut träge, und so etwas gefällt noch nicht einmal der Katze, wenn sie eine Maus in ihre Gewalt gebracht hat.  Also zauberte Eising wundervolle Blumen an die Fensterscheiben, hängte an die Dächer lange Zapfen wie aus durchscheinend’ Glas, und dann – dann schneite es!  Weiße Flöckchen tanzten in der Luft, suchten gute Freundschaft, fanden sie, und bald war alles eingehüllt wie mit weißer Watte: Felder, Wälder, Wiesen – die ganze Welt!  Jedenfalls das ganze Reich!  Und wie von der Hand eines großen Künstlers!  Na, nun war sich auch der 4. Prinz sicher, daß er der richtige alleinige König für die Menschen sei.
     Die dachten aber ganz anders.  Nein, sie meinten, sie könnten sich gar nicht mehr an alle Regierungszeiten genau erinnern.  Am besten, die 4 Prinzen wechselten sich noch 2 weitere Jahre auf dem Throne ab.  Die 4 Prinzen waren’s zufrieden, jedoch – sie sannen sich manches aus, als wären sie Frauen, deren List bekanntlich schon der weise Sirach als unüberbietbar würdigte.
     Ganz besonders rührig zeigte sich da Lenzing.  Er wies nämlich etliche seiner Dienstleute an, ihn auch außerhalb seiner Herrschaftszeit in Erinnerung zu halten.  So sang die Amsel noch einen Monat lang unter Prinz Korning.  Manche Schmetterlinge, Bienen und Wespen tanzten, summten und brummten sogar noch unter Wiening;  nur die Maikäfer hatten auf Zusatzkonzerte keine Lust.  Auch Mohn- und Kornblumen hielten noch lange die Erinnerung an Lenzing wach.  Ganz besonders bunt trieb er’s aber mit dem Prinzen Eising.  Kaum 4 Wochen saß der auf seinem Thron, da zeigten sich bereits die 1. Herolde Lenzings: Schneeglöckchen, Winterlinge (ein Tarnname!) und Tausendschön.  Ja, mancher Mensch dachte sogar beim Anblick der Christrose an Lenzing.  Und die Stare waren auch schon lange vor Lenzings Amtsantritt guter Dinge;  und wer den Blick hob und die Ohren spitzte, freute sich über den Zug der Kraniche.
     Ach, als aber nach den beiden weiteren Jahren die Menschen wieder gefragt wurden, wen sie für den besten Regenten hielten, da antworteten die meisten Entwachsenen, das wäre ihnen völlig egal;  denn entweder müßten sie drinnen arbeiten und hätten keine Zeit oder hätten eben mehrmals ins Ausland zur Erholung zu verreisen.  Nur die kleine Johanna sah das anders.  Sie freue sich unter Lenzing auf die Kirschblüte und bei Korning auf die warmen Abende, an denen sie länger aufbleiben dürfe, und bei Wiening auf das Rascheln der Blätter, das Sammeln von Kastanien und Eicheln und das Basteln sowie bei Eising, ja, auf Weihnachten!  Und auf einen lustigen Schneemann, den sie dann fröhlich ihren Puppen zeigen könne.  Eigentlich könnte alles so wie bisher weitergehen, bis sie selber groß genug sei, um Königin zu werden.  Und so kam’s denn auch!  Aber wo denn eine Königin Johanna regiere?  Wer weiß, wer weiß?  Vielleicht ist sie so klug, im Hintergrund zu bleiben und jeden tun zu lassen, was er gut und gerne kann.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 28.11.2023

Qouz-Note: 2

 

 

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MamM 1.106  Verwüstungen

„Nehmt nur die letzte Nacht“, wartete Donna Schuldheiß gleich mit einem Beispiel auf.  „3 Uhr!  Laut die Fensterläden aufgestoßen!  Dann die Haustür zugeknallt!  Ich hab’ wohl 3 Stunden wach gelegen.“
     „Wie lange dauerte die eigentliche Ruhestörung?“ hakte der Alte von der Halbinsel nach.
     „Vielleicht 5 Minuten“, antwortete die Besucherin, „vielleicht auch 10, aber daraus sind für mich –“
     „Eben!“ bestätigte der Alte.  „Es hat sich immens ausgeweitet.  Wo müssen wir also –“
     „Und das ist ja jetzt kein Einzelfall“, war Donna Schuldheiß nicht zum Zuhören da, „eigentlich jede Nacht.  Entweder zur Mitternacht, weshalb wir vor Mitternacht nicht mehr zu Bett gehen können;  oder um 6 Uhr oder 4 Uhr oder jetzt eben 3 Uhr.  Wir sind da einfach machtlos!  Wenn das so weitergeht, lauf’ ich noch –“
     „– ansetzen?“ beendete der Alte seinen Satz.
     „Na, bei diesen Kerlen“, brauchte die Besucherin nicht lange zu überlegen.  „Ausländer!  Von jenseits des Gebirges, wo ja alles Übel herkommt.  Herrenmenschen!  Rüpel!  –“
     „Vermutlich so schnell nicht erziehbar –“
     „Ich hab’ schon zu meinem Mann gesagt“, sah’s Donna Schuldheiß ähnlich: „Die reinsten Affen: Wer den größten Lärm macht, ist bei denen König.  Und wenn es Menschen gibt, die vom Affen abstammen, dann –“
     „Kennst du wirklich keinen einzigen Einheimischen“, fühlte sich der Alte verpflichtet, nachzuschieben, „der sich ähnlich verhält?  Gerade hier am See –“
     „Das sind die ausländischen Touristen!“ gab sich die Besucherin sicher.
     „Auch im Winter in Abwesenheit?“ zweifelte der Alte sehr.  „Halten wir also fest: Die 10 Minuten Ruhestörung kannst du vorerst nicht beheben, die 3 Stunden Grübeleien aber könntest du gewiß verkürzen.“
     Und bevor Donna Schuldheiß ihrem Protest Luft machen konnte, begann er zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein junger König, der hieß, – der hieß Siegfried.  Und der hatte sich sattsam auf sein Amt vorbereitet.  Er hatte nämlich so viele Heldengeschichten gelesen, wie er nur kriegen konnte.  Geradezu verschlungen!  Und wer wird in diesen Geschichten als Held gepriesen?  Wer guten Frieden hielt und seine Soldaten als Erntehelfer einsetzte?  Wer Kasernen zu Spitälern umbauen ließ?  Gefängnisse zu Werkstätten und Schulen?  Nein, in diesen Schunderzählungen wurde als groß gepriesen, wer möglichst viele Kriege geführt hatte. Er brauchte sie noch nicht einmal alle gewonnen zu haben;  und wer kann schon einen Krieg „gewinnen“?  Hauptsache, seine erzielten Gebietsgewinne gingen durch seine Niederlagen nicht verloren.  Auf die Spitze getrieben, läßt sich sogar über diese Schunderzählungen sagen: Je mehr Elend diese sogenannten „Helden“ über die Menschen gebracht hatten, desto mehr Größe wurde ihn beigemessen.  Durchschaut diesen Irrsinn aber ein junger Mensch?
     Siegfried zunächst jedenfalls nicht.  Gleich an seinem 1. Arbeitstag nach seiner Krönung ließ er in seinem Arbeitskabinett an der Wand eine große Landkarte anbringen;  und zwar seinem Sekretär gegenüber, so daß er sie von hier immer vor Augen habe.  Tscha, und dann brauchte er Buntstifte.
     Mit denen färbte er erst einmal alle Enklaven ein;  aber nur schwach.  Warum?  Na, denk mal nach.  Radiergummi!  Dämmert’s nun?  Enklaven sind nämlich Gebiete im eigenen Reich, die einer fremden Macht unterstehen.  Und wenn du diese fremde Macht vertrieben hast, dann sind’s keine Enklaven mehr und du brauchst sie nicht mehr besonders zu kennzeichnen.  Wie du eine fremde Macht vertreibst?  Zum 1. wohl durch Tausch: Enklave gegen Exklave, die dir bisher in einem fremden Land untersteht.  Zum 2. als Bank: Entweder du kaufst die bisherige Enklave oder du gewährst dem andern Herrscher einen Kredit und nimmst die bisherige Enklave als Pfand.  Und 3. durch Säbelrasseln oder sogar Säbelgebrauch.  Das beginnt schon bei Zöllen und geht weiter über behördliche Genehmigungen, Straßensperren und nähert sich über Warnungen und Drohungen der Kriegserklärung.  Auf jeden Fall brauchst du schlagkräftige Soldaten.  Nun, da ich nicht möchte, daß du’s nachahmst, will ich mir die Einzelheiten ersparen.  Schon bald hatte Siegfried alle Enklaven seinem Reich einverleibt.
     Nun widmete er sich den Exklaven.  Da drückte er schon stärker auf die Buntstifte;  denn die Farben wollte er nicht wieder ausradieren.  Wieso auch?  Das gaben ausgezeichnete Brückenköpfe!  Nun mußte noch die „beste“ Reihenfolge gefunden werden, und auf ging’s!  Nein, nicht für den König selber;  der reiste nur zu den Siegesfeiern an oder wenn alles sicher war.  Zum Marschieren hatte er doch seine Soldaten.  Und um die loszuschicken, ließ sich immer ein Anlaß finden: Hilferufe aus den Exklaven, Kränkungen oder ein Verbrechen, das einem Fremden zugeschoben und dann als Schuld auf dessen Landsleute ausgeweitet werden konnte.  Jedenfalls dehnten sich auf des Königs Landkarte die bunten Flächen deutlich aus,  verharmlosend „Gebietsgewinne“ genannt.
     Allein – über einige Folgen dieser zunehmenden Größe schweigen sich die sogenannten Heldenerzählungen gerne aus: Partisanen und – Umzüge.  Die einen zerstören verbittert aus dem Untergrund, die andern arrangieren sich und strömen in die Hauptstadt.  Und wenn du dort Augen und Ohren offenhältst, kannst du manchmal denken, du seiest im Ausland.  So etwas mag sogar seinen Reiz haben, aber nicht für jeden.  Die Folge: Es gibt Streit!
     Und plötzlich hast du Krieg im eigenen Lande!  Dann nämlich, wenn Menschen nicht mehr für etwas kämpfen, vor allem für ein Ideal, sondern: gegen Menschen;  und dabei sind beide Wörter zu betonen!  Und dieser Krieg macht nicht an der Haus- oder Wohnungstüre halt.  Wer sich durch Gewalt gegen Fremde durchsetzt, der will sich so auch in seiner Familie behaupten;  und wer gegen Fremde unterliegt, wird’s an seinen Angehörigen auslassen wollen.
     Siegfried hatte seine Barbarina schon aus Liebe geheiratet, obwohl – sie in vielem anders dachte als er.  Doch durch die vielen Konflikte in seinem Reich wurde aus dem Dennoch auf dieses Obwohl ein Leider.  Bald hing der Haussegen nicht mehr nur schief, sondern drohte von der Wand –
     „Das kann ich bestätigen“, konnte sich Donna Schuldheiß nicht länger zurückhalten: „Durch die ständigen Ruhestörungen streiten sich mein Mann und ich viel häufiger.  Deshalb sollten endlich Polizei und Ausländerbehörde –“
     „Ausweisungsbehörde?“ änderte der Alte fragend.  „Barbarina wußte sich schließlich nicht anders zu helfen, als ihren Gatten in Nacht und Nebel in einen Garten zu bringen, den sie vor den Mauern der Residenzstadt erworben hatte.  Mit einer hohen und dichten Dornenhecke umgeben, war aus ihm ohne den Willen der Königin ein Entkommen unmöglich.  Tscha, wollte der König auf die Dauer nicht verhungern, mußte er den Garten bestellen und pflegen.  Ging dies durch Verwüstungen?  Die Königin ließ es ihren Eheliebsten versuchen, und das Ergebnis war: wucherndes Unkraut.  Nun ließ sie ihn tüchtig umgraben und gab ihm dann guten Samen.  Und es war schon eine Kunst, jedem die rechte Pflege angedeihen zu lassen.  Auf diese Weise lernte Siegfried –“
     Doch die Moral von der Geschicht’ müssen wir wohl selber ziehen;  denn die Besucherin war inzwischen gegangen.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 13.12.2023

Qouz-Note: 4

 

 

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MamM 1.107  Der heimatlose Prinz

„Als ich das gehört hab’“, war Donna Steinigen noch immer bestürzt, „also, das Lied sollte nicht mehr gesungen werden!“
     „So?“ fühlte sich der Alte von der Halbinsel jedenfalls von der Berechtigung dieser Forderung nicht überzeugt.
     „Wer sich so etwas zuschulden kommen läßt“, blieb die Besucherin in Fahrt, „nein!  Und dann noch Selbstmord –“
     „Selbsttötung!“ stellte der Alte richtig.  „Und selbst das ist noch fraglich.  Oder warst du damals zugegen?  Wieso hast du ihm da nicht deine Hilfe –“
     „Ihr wißt ganz genau, daß ich nicht dabei war!“ zürnte Donna Steinigen.  „Also, bitte!  Aber es gibt genug Quellen, die’s überliefert haben.  Und die sind noch nicht einmal so alt wie der Bericht über jenen Judas Ischariot.  Oder bezweifelt Ihr das etwa auch?  Also, daß er Selbstmord –“
     „Selbsttötung!“ wiederholte sich der Alte.  „Jedenfalls habe ich damals die Leichenschau nicht durchgeführt;  und mein Heil ist bestimmt nicht davon abhängig, welche Todesart mir da als glaubwürdiger erscheint.  Aber eine Bezeichnung, die halte ich für echt christlich, zumal sie sogar durch den Evangelisten Johannes überliefert wird, der sonst nicht gut auf jenen Judas zu sprechen ist.  Im sogenannten hohepriesterlichen Gebet nennt Jesus nämlich jenen Judas: das verlorene Kind.  Kann nicht wiedergefunden werden, was –“
     „Aber in Eurem Buch da steht auch über Judas geschrieben“, hielt die Besucherin dagegen: „Es wäre ihm besser, daß er nie geboren wäre!  Als Worte Jesu!“
     „Tscha“, meinte es der Alte nicht zustimmend, sondern bedauernd, „der Baum der Erkenntnis ist nicht der des Lebens.“
     „Und deshalb“, hatte Donna Steinigen wohl nicht richtig zugehört, „sollte dieses Lied nicht mehr gesungen werden.“
     „Nun“, gab der Alte zu, „ich habe schon überlegt, ob ich an jenen Menschen erinnern darf.  Aber nehmen wir mal an, es wäre alles wahr, was über jenen Menschen Schlechtes berichtet wird;  wer hätte das Recht, die Tür hinter jener armen, fortgejagten Seele für immer zuzuschlagen?  Der Güte Gottes Grenzen zu setzen?  Freilich – mit Menschen, die heucheln, könnte ich darüber nicht sprechen“, und er begann zu erzählen:
     Es ist nicht das 1. Märchen, das ich über einen Prinzen erzähle, der nicht der Kronprinz war;  ich weiß es wohl.  Und doch wird’s wohl wieder ganz anders.  Es wär’ also mal ein Prinz, der hieß –, der hieß Leonbert und war eben seiner Eltern 2. Kind.  Somit war er nicht für die Thronfolge bestimmt, es sei denn, sein älterer Bruder täte vorzeitig sterben, und das ohne Nachkommen.  Eine Voraussetzung, der gewiß mancher Bruder nachgeholfen hat, nicht aber Leonbert.  Also mußte er seinem Leben einen anderen Sinn geben, und der bestand nach damaliger Auffassung entweder darin, die militärische oder die geistliche Laufbahn zu beschreiten und sich von ihr in die Chroniken vermeintlicher Unsterblichkeit tragen zu lassen.  Zwar deutete vieles darauf hin, daß sich Leonbert zu einem bärenstarken Hünen entwickeln werde, allein – die Erfahrung lehrt nur allzu oft, daß kriegerische Menschen eher von anderer Statur sind.  Also auch hier.
     Deshalb zeigte der Prinz schon sehr früh, daß er mehr zur geistlichen Laufbahn geneigt sei.  Die Eltern waren’s zufrieden, berieten sich mit ihrem Hofprediger, und der leitete die entsprechenden Vorbereitungen ein.  Nun halt dich aber fest!
     Denn als erstes wurde Leonbert in den größten Gasthof unten in der Residenzstadt geschickt;  eben zur Ausbildung.  Was das mit dem geistlichen Stand zu tun hat?  Na, schau dich mal um!  Sehen die Prälaten und Bischöfe aus wie Hungerleider?  Na, also!  Denen kommt es durchaus zustatten, wenn sie der Zubereitung von Trüffeln und Wildbret kundig sind und wissen, wo im Keller der beste Wein lagert.  Und es schadet auch nicht, wenn sie gut geschult sind, mit Zechprellern und ungebetenen Gästen wirksam umzugehen.  Na ja, und eine gewisse Trinkfestigkeit –.  Leonbert bildete sich jedenfalls zum Feinschmecker, Weinkenner und Lebemann heran, der die Feste zu feiern wußte, wie sie fielen.
     Und dann?  Dann erhielt Leonbert auf dem Schloß Privatunterricht: in der Rechenkunst, der Redekunst, den toten Sprachen, den Weltsprachen, der Botanik, der Philosophie,–  Ach, wofür?  Na, um die Aufnahmeprüfung für ein Theologiestudium bestehen zu können.  Die nehmen keine Ungebildeten!  Und wie’s mit dem Religionsunterricht gewesen sei?  Der war nicht so wichtig, wenn du mal von gewissen Grundkenntnissen absiehst.  Überhaupt machen zu gute Bibelkenntnisse viel zu kritisch und beenden einen geistlichen Aufstieg vorzeitig.
     Jedenfalls bestand unser Prinz die Aufnahmeprüfung glänzend;  doch bevor er sein Studium antreten konnte, schickte ihn der Hofprediger zur Ausbildung in – ein Kredit-Spar-Wechselhaus.  Wozu das?  Na, du lernst den Umgang mit Geld.  Tätest du etwa Vertrauen zu einem Seelenhirten haben, der sich darauf nicht versteht?  Du lernst den Umgang mit Menschen, die Geld haben;  das du gerne in deinem Hause hättest.  Ja, das fängt schon bei der Sprache an: sicher, bequem, verschwiegen oder (wenn du’s als Fremdwort haben willst:) exklusiv, lukrativ und fair.  Tscha, und du lernst den Umgang mit Menschen, denen du bedauerlicherweise die Tür weisen mußt.  Jaha – schau dich nur um!  Ein geistlicher Emporkömmling ist eben nicht Jesus, der bekanntlich den Bankgeschäften nicht sehr zugetan war.  In welcher Kirche ist wirklich jeder willkommen?
     Um’s kurz zu machen, denn es ist mir doch etwas auf die Zeit geschossen: Leonbert lernte viel, Leonbert bestand alle Prüfungen an der Hochschule mit Auszeichnung, Leonbert kletterte und kletterte nach oben.
     Und er predigte gewaltig!  Für die Ansprache der sogenannten unteren Schichten kam ihm seine Ausbildung im Gasthof zugute, für die Ansprache der reichen Spender seine Banklehrzeit und für die Ansprache derer, die sich für gelehrt hielten, sein breit angelegter Privatunterricht.  Und – wenn’s galt, auf die Tränendrüsen zu drücken, – na, da brauchst du nur einen Küchenjungen zu fragen.  Allein – seine gewaltigen Predigten hatten auch die Wirkung, daß sich viele Honoratiorinnen mit seinem Namen schmücken und in ihren Salons beehren wollten.  Und dort blickte er in Abgründe, von denen wir weniger bemittelten Menschen uns kaum eine Vorstellung machen können.  Sonntags trugen aber alle in der Kirche wieder ihre Maske der Ehrbarkeit.
     Umgang färbt ab, insbesondere der mit faulen Früchten, und so wurde auch Leonbert zum Maskenträger.  Wer aber damit beginnt, hört meistens nicht eher damit auf, bis er demaskiert wird.  So auch Leonbert.  Und nun fielen nicht nur die über ihn her, die kein Geld für eine Maske haben, sondern viel mehr diejenigen, die eine eigene Demaskierung unbedingt verhindern wollen.  Leonbert wurde mit Schimpf und Schande davongejagt;  und wohin er auch floh, die üble Nachrede holte ihn bald ein, und zwar angereichert.
     „Recht so!“ konnte sich Donna Steinigen nicht länger zurückhalten.
     „Recht?“ zweifelte der Alte sehr.  „Wer ist ohne Sünde?  Leonbert war jedenfalls irgendwann seines Daseins überdrüssig und wollte es beenden.  Auf dem Weg, den er zu seinem letzten Gang ausersehen hatte, begegnete ihm jedoch Anja.  Und weil die ihn um Brot bat und er keins bei sich hatte, mußte er mit Anja wieder umkehren und genas durch die Liebe von seinem Unwesen.  Jenem Dichter aber war auf dessen letzten Gang die Liebe anscheinend nicht begegnet oder nicht aufgefallen.  Noch nicht, denn bei Gott ist kein Ding –“
     Aber die Besucherin war inzwischen gegangen;  maskiert?
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 13.12.2023

Qouz-Note: 4+

 

 

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MamM 1.108  Entsetzlich

„Und was sagt Ihr zu diesem Fall?“, wollte Donna Steinigen den Triumph in ihrer Stimme nicht unterdrücken.
     „Fall?“ machte der Alte von der Halbinsel von seinem Mangel an Klarheit keinen Hehl.
     „Pünktlich zum 7. Geburtstag ihrer Tochter“, fuhr die Besucherin fort, „bringt sich diese – diese –“
     „– dieser Mensch“, versuchte der Alte weiterzuhelfen.
     „Rabenmutter“, verbesserte Donna Steinigen, „um!  Na, da könnt Ihr bestimmt nichts mehr schönreden;  was?  Ein zutiefst abscheuliches Verbrechen!  Diese Selbstmörderin –“
     „Halt!  Halt!“ unterbrach der Alte.  „Ja, es ist entsetzlich und läßt zurückscheuen.  Und jedes Töten ist ein Verbrechen, ob durch Handeln, Anstiften, Dulden oder Unterlassen.  Und somit wäre auch jeder Rufmord ein Verbrechen –“
     „Wollt Ihr etwa damit sagen –“, erhitzte sich die Besucherin.  „Aber das ist doch ungeheuerlich!  Alle Zeitungen berichten doch, daß es Selbstmord –“
     „Mit 100prozentiger Gewißheit?“ zweifelte der Alte sehr.  „Mancher Tod sah wie eine Selbsttötung aus und war in Wirklichkeit von einem anderen herbeigeführt worden.  Oder geh nur mal in ein Armenspital und schau dir an, wie Menschen durch Arzneien verändert werden.  Wenn wir aber die wahren Umstände nicht kennen, dürfen wir da verurteilen?
     „Soll so etwas etwa weiter um sich greifen?“ hielt Donna Steinigen dagegen.  „Da tut Abschreckung –“
     „Ist’s nicht schon entsetzlich genug?“ stellte sich der Alte hinter seine Frage.  „Böses mit Bösem zu vergelten, schafft das etwa eine bleibende Gerech–“
     „Und das Kind?“ brachte sich die Besucherin auf einem neuen Schauplatz in Stellung.  „Völlig unschuldig an diesem Selbst–“
     „Wird ein armes Kind reicher“, zweifelte der Alte sehr, „wenn wir es mit dem Rufmord, gut: Ruftötung, seiner Mutter bedenken?  Freilich – Pandoras neue Büchse ist geöffnet, so daß auch ich es leider nicht totschweigen kann“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal eine Prinzessin, die hieß –, die hieß Haselstern, denn braun wie die Haselnuß war ihr Haar und ebenso waren’s ihre Augen, und ihre Eltern setzten große Hoffnungen in ihre Tochter.
     Allein – es begab sich aber, daß die Königin schwer erkrankte und ihr Leibarzt nur ein Mittel kannte, das hier mochte helfen können;  das mußte der Kranken aber zu jeder vollen Stunde gegeben werden.  Na, da kannst du’s dir sicher gut vorstellen, daß es sich Haselstern nicht wollte nehmen lassen, die Krankenwache zu halten.  Das ging auch viele Tage, Nächte und Wochen gut.  Doch eines Abends nickte das Mädchen ein, und als es wieder erwachte, war die Mutter kalt und tot.  Da konnte der Vater noch so sehr trösten wollen, die innere Stimme in seiner Tochter konnte er nicht zum Schweigen bringen: Du bist schuld am Tode deiner Mutter!
     Weil aber der König bald einsehen mußte, daß er mit seinem Latein am Ende war, schaute er sich um, ob ihm jemand helfen könne.  Weit und lange zu suchen brauchte er nicht, denn gleich in der Nachbarschaft residierte eine Gräfin, deren Mann zwar noch in den Vaterstand getreten war, bald darauf aber aus dem irdischen Leben.  Diese Gräfin erklärte sich gerne bereit, bei Haselstern Mutterstelle zu vertreten, die neue Königin zu werden und mit ihrer Tochter in das königliche Schloß überzusiedeln.  Und so kam’s denn auch.
     Nun verstand sich die neue Königin aber als Gottes irdische Statthalterin zur Sicherheit von Zucht und Ordnung und nicht als barmherzige Dienerin aller Bürger und Gäste.  Folglich setzte sie jeden Menschen, der ihren Argwohn erweckte, auf die eine Schale ihrer Waage und auf die andere, was sie ihm als Schuld vorzuwerfen wußte.  Was meinst du, welcher Mensch kann schon seine Schuld aufwiegen?
     Haselstern jedenfalls nicht.  Ja, du hast recht gehört: Die neue Königin machte selbst vor der königlichen Familie nicht halt – mit Ausnahme von 3 Menschen.  Haselstern gehörte nicht zu diesen 3 Ausnahmen, und es war ihr, als drückte bei ihr die neue Königin die Schuldwaagschale noch zusätzlich mit dem Daumen nach unten.  Milde war in den Augen der Stiefmutter jedenfalls nicht zu finden, und bald blickten auch die Augen des Vaters anders und kälter und abweisender denn vordem.  Haselstern hatte ihr Zuhause verloren!  Und weil sie selbst vor ihrem eigenen Spiegelbild glaubte die Augen niederschlagen zu müssen, behielt sei diese Blickrichtung bei und sah keine Heimat mehr und nirgends Trost und Zuspruch.
     In ihrer Not verließ sie eines Abends das Schloß, die Residenzstadt, das Land.  3 Nächte und 3 Tage ging sie, ohne sich irgendwo lange aufhalten zu lassen.  Was sollte sie auch essen, da sie weder Proviant noch Dukaten, noch Taler mitgenommen hatte?  Wozu auch?  Zum Leben glaubte sie keinen Ort auf dieser Erde mehr finden zu können, und zum Sterben brauchst du weder einen vollen Magen noch eine gefüllte Geldkatze;  es verlängert’s nur.
     Eigentlich waren ihr bereits diese 3 Tage Wanderschaft ein Sterben.  Schneeglöckchen, Winterlinge und Krokusse am Wegesrand erreichten nicht mehr ihr Herz;  auch nicht der Gesang von Meise und Amsel oder das sonst ansteckende Lachen des Spechtes.  Sie nahm auch keine Wegabzweigungen wahr, sondern überließ alles ihren Füßen.  Die folgten zunächst stets der breiten Straße zur Grenze;  und da diese durch einen Gebirgskamm bestimmt wurde, mußten die Füße jenseits darauf achten, bergab zu gehen.  So kam es, daß die Prinzessin nicht im Kreise ging, obwohl ihre Augen weder auf Sonne noch Sterne, noch sonstige Wegweiser achteten.  Am Ende des 3. Tages brach Haselherz zusammen – mit ihrer letzten Erwartung: vor einem verschlossenen Himmelstor wieder aufzuwachen und – abgewiesen zu werden.
     Diese Erwartung ging nicht in Erfüllung.  Statt dessen spürte sie beim Erwachen, daß sie in etwas Warmes eingehüllt war.  Es mußte ein Mantel sein.  Noch etwas benommen öffnete sie ihre Augen.  Ja, es war ein Mantel.  Doch noch ehe ihr Blick weiterwandern konnte, fiel ein Schatten auf ihr Gesicht, und eine Hand hob ihr Kinn, daß sie aufschauen mußte.  Und sie gewahrte 2 Augen, als wären’s Spiegel;  und darin –
     „Aber was hat das mit jener Selbstmörderin zu tun?“ konnte sich Donna Steinigen nicht länger zurückhalten.  „Ihre Haselaug’ oder wie sie heißt, die hat sich ja nicht selber –“
     „– all das Gute, das in ihr war“, beendete der Alte seinen Satz.  „In Augen, die verurteilen, findest du so etwas nicht.  Dann ward mit der Prinzessin Brot und Wein geteilt.  Und erst als der fremde junge Mann ihr beim Aufstehen geholfen hatte, bemerkte sie einen weiteren Grund dafür, weshalb der Fremde ihren Blick auf sich gelenkt hatte: Sie war in der Nacht am Rande eines aufgelassenen Steinbruchs zusammengebrochen, kaum 3 Schritte vom Abgrund entfernt.  Daß die Prinzessin einige Zeit später die Nachricht erhielt, es habe ihr in jener verhängnisvollen Nacht am Bette ihrer Mutter jemand ein Schlafmittel in den Nachttrunk getan, ist für dieses Mährchen nicht so wichtig.  Auch nicht, wer dies veranlaßt hatte.  Jedenfalls fand Haselstern einen neue Heimat, in der sie sein durfte, wie sie war, in der sie dazu stehen konnte, was sie gewesen, und in der sie werden durfte, wozu sie Gaben erhalten hatte.  Selig sind die barmherzigen Augen, in denen sich spiegelt, was Gutes –“
     Allein – wieder war die Besucherin vorzeitig gegangen.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 13.12.2023

Qouz-Note: 4+

 

 

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MamM 1.109  Kommt ein Vogel geflogen

„Unser Herr Pfarrer hat am Sonntag aber sehr schön gepredigt“, schwärmte Donna Andechtler, „findet Ihr nicht auch?
     „Ich hatt’s jetzt nicht gesucht“, nahm’s der Alte von der Halbinsel zu wörtlich.  „Und Predigt?  War’s nicht eigentlich eine Lesung?  Nun ja, der Apostel Paulus hat in seinen Briefen –“
     „Weil er’s nämlich ausgefeilt hat“, war die Besucherin bei der 2. Frage hängengeblieben.  „Ihm war eben jedes einzelne Wort wichtig.  Vielleicht hat er sogar vor dem Spiegel geübt, um –“
     „Gottesdienst als Theatervorstellung?“ überlegte der Alte und schüttelte den Kopf: „Nee, das ist nicht das, was ich gerne –“
     „Eifersüchtig?“ argwöhnte Donna Andechtler wohl nicht ohne Grund.
     „Gewiß!“ stritt’s der Alte auch gar nicht ab.  „Die Eitelkeit ist mir ein Schatten, der mir immer –“
     „Seht Ihr!“ fühlte sich die Besucherin bestätigt.  „An unserem Herrn Pfarrer könntet Ihr Euch gewiß noch ’ne Scheibe –“
     „Ich glaub’ nicht, daß mir das bekommen würde“, hob’s der Alte mal wieder auf die wörtliche Ebene.  „Aber mir erscheinen die frei gehaltenen  Predigten glaubwürdiger.  Hier, wie liesest du?“  Damit schlug er sein abgegriffenes Buch auf, blätterte darin und wies dann auf eine bestimmte Stelle.
     „So sorget nicht, wie oder was ihr antworten oder was ihr sagen sollt“, las Donna Andechtler, „denn der Heilige Geist wird Euch zu derselben Stunde lehren, was ihr sagen –“
     „– dürft“, ergänzte der Alte, um sein Reizwort zu vermeiden.
     „Ja, ja“, meinte es die Besucherin nicht als Zustimmung, „und die häufigsten Wörter sind dann: ihr Lieben, liebe Gemeinde sowie und.“
     „Und je nach Mentalität auch: ja“, schlug der Alte überraschend in die gleiche Kerbe.  „Na und?  Hauptsache, der Prediger wird nicht größer als seine Predigt.  Und diese Gefahr erscheint mir beim Ausfeilen und Ablesen –“
     „Ist nicht das Wort Gottes eines unserer höchsten Güter?“ entrüstete sich Donna Andechtler.  „Dann soll es auch in einer standesgemäßen Verpackung –“
     „Brunnenwasser im Geschenkkarton?“ war des Alten Spottlust anscheinend noch stärker als die Neigung, auf sein Reizwort zu reagieren, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein Prinz, der hieß –, der hieß Reinherz.  Ja, doch: Kronprinz Reinherz.  Na ja, ob jetzt die Henne das Ei gelegt hat oder ob die Henne aus dem Ei geschlüpft ist, jedenfalls – dieser Reinherz trug seinen Namen durchaus zu Recht.  Blaue Augen, treuherziger Blick und einfältiger Sinn.  Nee, die berühmten Tragödien der Engländer, Franzosen und Deutschen hatte unser Prinz gewiß nicht gelesen und auch nicht gesehen.  Darf so einer überhaupt einmal König werden?
     Nun, das Ergebnis einer Erziehung siehst du meist erst, wenn es zu spät ist.  Frag nur mal meine Eltern.  (Die Besucherin nickte mitfühlend.)  So auch hier.  Allein – die Eltern konnten sich wenigstens mit dem Gedanken trösten, daß die Erziehung eines Mannes bekanntlich in der Ehe weitergeht und dort schon manche überraschenden Erfolge gezeitigt hat –, also: habe.  Jedoch – nicht sie, die Eltern, mußten mit der Hausfrau und Eheliebsten auskommen, sondern Reinherz.  Und – das darf nicht vergessen werden – das beste Ergebnis werde nicht durch Strenge und ängstlichem Gehorsam erreicht, sondern auf dem Gartenboden von Liebe und Zuneigung.  Deshalb kam für Königin und König eine Heiratspolitik nach habsburger Muster gar nicht erst in Betracht.  Nein, Reinherz möge selbst auf Brautschau gehen, um die Richtige zu finden.
     Tscha, wie hättest du’s angefangen?  Bestimmt so, wie du’s gewohnt gewesen bist: anspannen lassen, Proviantpaket füllen lassen, Geldkatze mästen und in die Kutsche werfen, hinterherklettern, und los geht’s!  Wohin?  –  Erst mal bis zur Grenze, hinüber und dann drüben weitersehen.  Dumm nur, daß Reinherz zum Weitersehen aus der Kutsche stieg und der Kutscher die Gelegenheit beim Schopfe ergriff;  in Gestalt des Peitschenstiels.  Und fort rollten Kutsche, Proviantpaket und Geldkatze.  Treue darfst du eben von Kutschern und Geldkatzen nicht erwarten.  Und turnerische Begabungen von einem Kronprinzen auch nicht.  Er lief zwar zeternd hinter der Kutsche her;  aber beim Versuch, hinten aufzuspringen, verschätzte er sich, taumelte und fiel der Länge nach in den Straßenkot.
     Arglos, wie er war, bemühte er sich, gleich in der nächsten Stadt saubere Kleider zu bekommen.  Allein – für nichts bekommst du auch nichts.  Und siehst du außerdem nicht vertrauenerweckend aus, dann herrscht beim Bettelvogt das Mißtrauen, und er läßt dich aus der Stadt weisen.  So auch hier.  Beschmutzt, durstig und hungrig zog Reinherz von dannen.  Dennoch war sein Gang nicht sinnlos gewesen, sonst hätte ich ihn wohl auch gar nicht erwähnt.  Der Prinz hatte nämlich in jener Stadt wie von ungefähr aufgeschnappt, daß die Prinzessin Rosenhaar einen Eheliebsten in die Lehre nehmen wolle, falls dieser das nötige Lehrgeld entrichte.  Gut, diese Bedingung hatte Reinherz zwar gehört, aber welcher Prinz sieht im Gelde ein Problem?  Mehr Kopfzerbrechen bereitete da die Frage, wo jene Prinzessin zu finden sei.
     Da gewahrte er mit einem Mal einen kleinen Vogel, der ihm zu bedeuten schien: Folge mir!  Er tat’s, und siehe da, der Prinz gelangte so zu einer Quelle, stillte dort seinen Durst, ward vom Vogel mit Früchten von Feld und Wald versorgt und jeden Abend zu irgendeinem Schutz für die Nacht geleitet.  So wanderte Reinherz 3 Tage durch die freien Lande.
     Der nächste Tag aber hatte es in sich!  Gleich am Morgen kam ein Schweinehund herbeigesprungen und wollte den Prinzen zu Boden werfen und womöglich Schlimmeres.  Aber der kleine Vogel hielt das scheußliche Tier immer wieder zum Narren, daß es stets ins Leere sprang und schließlich ermattet liegenblieb.
     Gegen Mittag kam ein gräßlicher Drache daher und wollte den Prinzen töten.  Aber der kleine Vogel lenkte das Ungeheuer geschickt zu einem nahen Teich, in dem es sein Spiegelbild für einen viel gefährlicheren Gegner hielt, so daß der Prinz unbehelligt weiterwandern konnte.
     Und kurz vor Sonnenuntergang kam eine prächtige Kutsche gefahren.  Die hielt an, und aus dem Fenster beugte sich eine Standesperson von bestrickendem Äußeren: kupferrote Mähne, grell geschminkter Mund, betörender Duft.  Sie sei die Prinzessin Rosenhaar und lade den jungen Mann ein, zu ihr in die Kutsche zu steigen.  Aber der kleine Vogel zeigte an, daß er da nicht zuraten könne, und das brachte Reinherz zur Besinnung: Jenes Frauenzimmer duftete doch gar nicht nach Rosen;  folglich konnte es auch gar nicht die gesuchte Prinzessin –
     „Das ist doch lächerlich!“ konnte sich Donna Andechtler nicht länger zurückhalten.  „Und was hat das mit unserem Herrn Pfarrer –“
     „Nichts“, gab der Alte bereitwillig zu, „solange er mehr scheinen will als sein.  Unsere beiden jedenfalls gelangten ohne weitere Hindernisse zu einem wilden Schloß.  Und unter dem Tor verwandelte sich der kleine Vogel mit einem Mal in die Prinzessin Rosenhaar, hieß erlöst den Prinzen mit einem Kuß willkommen, und im Abendrot wehte der liebliche Duft wahrer Rosen herbei: Verlaß dich nicht auf deinen Verstand, sondern –“
     Doch auch diese Besucherin war vorzeitig gegangen.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 13.12.2023

Qouz-Note: 4

 

 

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MamM 1.110  Zaubertrank oder Alstertaler?

„Also“, fand Donna Schmächtlein einen Anlaß, sich auszusprechen, „so einen Zaubertrank könnte ich manches Mal auch gebrauchen.“
     „So?“ war’s dem Alten von der Halbinsel noch zu unbestimmt.
     „Ja“, begann die Besucherin zu schwärmen, „sich stark zu fühlen und endlich vor niemandem mehr Angst haben zu müssen.“
     „Geht das überhaupt?“ fragte der Alte eher verneinend.
     „Sicher!  Mit dem richtigen Zaubertank –“
     „– bekäme ich vermutlich Angst vor mir selber“, ergänzte der Alte.
     „Wie das?“ konnte sich dem Donna Schmächtlein nicht anschließen.  „Ihr tätet alle Feinde besiegen –“
     „Außer dem Feind in mir selber“, schränkte der Alte ein.  „Denk mal an den König David oder Elia oder die Donnerskinder.  Nee, ist’s wirklich gut, wenn jemand übermächtig –“
     „Habt Ihr’s denn lieber“, führte die Besucherin die Gegenseite ins Gefecht, „wenn wir alle ängstlich mit den Zähnen klappern und das Hasenpanier –“
     „Nö“, stellte der Alte richtig, „sonst täte ich nicht so oft nein sagen.  Beide Extreme taugen nichts für uns Menschen.  Jedoch –“
     „Ich dachte, Ihr seid ein Mann der Märchen“, unterbrach Donna Schmächtlein. „Da solltet Ihr doch –“
     „Nichts soll ich“, kam der Alte an seinem Reizwort einfach nicht vorbei.  „Aber – gibt’s nicht was Bess’res denn den Zaubertrank?“ und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein Prinz oder König, nein, als Prinz hatte er mehr Zeit, der hieß, – ja, der hieß Martin.  Darunter stellt sich bestimmt niemand eine dürre Vogelscheuche vor, sondern jemanden, der sein Schwert schon zu führen weiß und als Hausvater ein Segen für die ganze Tischgemeinschaft ist.  Doch für den Hausvater mangelte es noch an vielem und Wesentlichem.  Denn Kinder hatte Martin noch keine in Auftrag gegeben, und zum Haus gebrach es ihm zwar nicht an einem Gebäude, aber an der Eheliebsten.  Und damit sind wir wieder beim Hauptthema der Mährchen: Wie lassen sich eine und einer zusammenbringen, daß sie künftig mehr wert sind als 2.  Denn wenn’s weniger ergäbe, dann wären ja die Tragödienschreiber zuständig.
     Des Mährchens eine war auch bald gefunden;  allein – leider gab es mehr als einen, der sich für einen hielt.  Und da kommt nun der Zauberer Böschenbach ins Spiel.  Der verkaufte nämlich gegen teure Taler und Dukaten einen Zaubertrank, der angeblich unbesiegbar mache.  Natürlich nicht für immer;  denn was ein guter Zauberer ist, der ist auch ein guter Kaufmann und Apotheker.  Nun ja, gut hier nicht moralisch, sonder eher im Sinne von einträglich;  einseitig einträglich!  Ach so, du mußt auch noch wissen, daß die Prinzessin Fredeborg in einem Schloß wohnte, das von einem breiten und sumpfigen Wassergraben umgeben und dessen Zugbrücke hochgezogen war.  Und das war nur eins von 3 Hindernissen.
     Tscha, was soll, eh, was kann ich sagen, – wer was auf sich hielt und es sich leisten konnte, kaufte von Böschenbach den Zaubertrank, setzte sich in seine Kutsche, fuhr zu jenem Wasserschloß und – kam bald wieder.  Wieso das?  Weil er sich verausgabt hatte und dennoch nicht zur Prinzessin vorgedrungen war.  Ein Zaubertrank vermag zwar anscheinend körperliche Kräfte zu verleihen, aber keine geistigen;  zumal das für den Zauberer viel zu gefährlich wäre.  Nun, mit der Zeit zehrte jenes Abenteuer nicht nur an den körperlichen Kräften der Prinzen und sonstigen Kandidaten, sondern auch an den finanziellen.  Sicher – wenn du reich und herrschend bist, kannst du dir deine Ausgaben von deinen Armen erstatten lassen;  aber irgendwann haben auch die kein Geld mehr, und dann hilft nur noch wenig: das Spielkasino, die Geldmacherei oder das Verschulden.  Aber alle 3 Mittel gleichen einer Lore, die immer schneller auf den Abgrund zurast und nicht mehr zu bremsen ist.
     Indessen hatte wohl eine gute Fee unseren Martin vor dem Zaubertrank bewahrt und ihm anscheinend eingegeben, zu Fuß zu gehen.  Denn wenn er für Prinzessin Fredeborg der Richtige sei, so konnte er sich sagen, kam er allemal früh genug.  Und weil er eben ohne Zaubertrank nicht protzig durch die Lande rasselte, gewahrte er manches, was dir beim Blick aus einer rasenden Kutsche gar nicht bewußt wird.
     Stell dir vor, Martin entdeckte Pflanzen, die über Nacht weit mehr als eine Manneslänge wachsen konnten.  Und Schlingpflanzen, die jenen nicht nachstanden und nicht zu zerreißen waren.  Außerdem gewahrte er Tiere, die sich so klein machen konnten, daß sie von den Raub- und Mordtieren übersehen wurden.  Und – Martin bemerkte Pflanzen, die wollte kein Tier fressen oder niedertrampeln;  sondern sie waren so lieblich anzusehen, daß ihnen alles, was lebt und webt, nur Gutes tun wollte.  Sonderbar – kam Martin durch Dörfer und Städte, dann war’s ihm, als hätten viele Kinder große Ähnlichkeit mit jenen lieblichen Pflanzen.
     Endlich erreichte auch Martin jenes Wasserschloß;  das heißt: Er sah’s in der Ferne und davor die Bescherung;  nämlich, was die anderen Kandidaten mit ihrem Zaubertrank angerichtet hatten.  Stell dir vor, sie hatten mit ihrer ungestümen Kraft versucht, den Schloßgraben trockenzulegen.  Und wie?  Durch weitere Gräben!  Die Folge?  Der Sumpf um das Schloß war breiter und breiter geworden.  Was für eine Torheit!  Martin dagegen besann sich seiner Schieß- und Schlingpflanzen, suchte sie, fand sie und versetzte einige von ihnen auf des Sumpfes Ufer.  Schon nach 3 Nächten war über den Sumpf eine sichere Brücke gewachsen, so daß es Martin wagen konnte, auf ihr den Sumpf zu überqueren.
     Da hörte er plötzlich lautes Räderrasseln hinter sich.  Er drehte sich um und sah zu seinem Entsetzen, daß eine Kutsche kurz vor ihm hielt und ihr eilig der Zauberer Böschenbach entstieg.  Gut, daß sich Martin mit einem Mal an jene Tiere erinnerte!  Er machte sich also ganz klein, und hast du nicht gesehen, stürmte der Zauberer an ihm vorbei, taumelte und stürzte in den Sumpf.  Im Nu verwandelte sich der Sumpf in einen Graben klaren Wassers, und über der Stelle, wo der Zauberer versunken war, öffnete eine Seeblume gerade ihre Blüte.  Und schon war die Zugbrücke heruntergelassen, aber sie war nicht lang genug, so daß Martin seine Pflanzenbrücke nun gute Dienste leisten konnte.
     Jedoch – am Schloßtor erwartete ihn nicht eine anmutige Prinzessin, sondern ein garstiger Drache.  Da kamen Martin jene lieblichen Pflanzen in den Sinn, und ein Lächeln wandelte sein Gesicht, als sähe er keinen schrecklichen Feind, sondern einen Freund vor sich.  Und siehe, der Drache ward zu einer zahmen Eidechse, hinter der jetzt die Prinzessin in aller –
     „Und wenn sie nicht gestorben sind, –“, konnte sich die Besucherin nicht länger zurückhalten.  „Wenn ich Euch so erzählen höre, dann wünschte ich, Eure Mährchen würden wahr.“
     „Als das Wünschen noch geholfen hat“. zitierte der Alte lachend und geleitete die Besucherin hinaus.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 28.11.2023

Qouz-Note: 3-

 

 

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MamM 1.111  Nachtwächter Friedhelm Drömelberch

Wißt Ihr, in hohem Ansehen stehen wir nicht;  wir Nachtwächter.  Oder könnt Ihr Euch bei uns etwa einen jungen, eifrigen Draufgänger vorstellen?  Nee, nicht wahr.  Alt, grau, mümmelnd, langsam, müde und –  Vielleicht kommt’s daher, weil uns keiner kennt.  Oder eben nicht von der richtigen Seite kennt.  Denn wen wir nachts treffen, den müssen wir meist zurechtweisen.  Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, was und wen –
     Liebe Grüße von meinen Freunden !
     Osterglocken!  Erst seit 2 Tagen seh’ ich sie aufgeblüht.
     Darf ich wiedergrüßen?  Ach, eh’ ich’s vergesse: Du machst doch mit in unserer Grußgemeinschaft?
     Seht Ihr, sie nickt.  Is’ so ’ne Erfindung von mir.  Denn wenn ich jeden Gruß einzeln ausrichte, dann kommt im Laufe des Jahres immer mehr zusammen.  Das geht los mit den Christrosen.  Seht Ihr, da drüben blühen noch welche.
     Liebe Grüße auch!  Von der Grußgemeinschaft!
     Ja, dann die Schneeglöckchen.  Tausendschön.  Winterlinge.  Krokusse.  Märzbecher.  Primeln.  Veilchen.  Und eben jetzt auch Osterglocken.  Und dann dort drüben die liebe Schildkröte.
     Liebe Grüße von meinen Freunden und von der ganzen Grußgemeinschaft!  Danke.  Werd’ ich ausrichten;  wenn ich’s nicht vergess’.
     Ja, so ’n büschen tüdelig bin ich schon.  Sie läßt immer den lustigen Igel grüßen.  Hier, hier ist er schon.
     Schönen Gruß von der lieben Schildkröte!  Und von meinen Freunden!  Und von der ganzen Grußgemeinschaft!  Schönen Abend noch!
     Wieso, der wär’ aus Ton?  Sind wir Menschen nicht auch nur aus Lehm und Wasser?  Gut, da is’ noch Odem mit dabei.  Aber Sie, – das ist nicht oft zu merken.  Bei mir leben sie eben alle;  und wenn sie’s bei Ihnen nicht tun, Sie, dann fehlt Ihnen was!  Denken Sie doch mal nach: War’s nicht als Kind anders?  Und?  Sind Sie jetzt glücklicher?
     Nehmen Sie nur das Haus dort!  Ein stattliches Stadtpalais.  In der Remise eine prächtige Kutsche.  Tag und Nacht Köchin, Kutscher, Kammerpersonal zu Diensten.  Ein richtiger Kannitverstan;  wenn  Sie wissen, was ich meine.  Glücklich?  Ich will Ihnen mal was sagen: Der Mann hat Angst!  Jawohl!  Angst!  Mehrmals soll ich in der Nacht an seinem Haus vorbeigehen und nach dem Rechten schauen.  Und davon gibt’s mehrere!  Deshalb darf ich auch nicht Nacht für Nacht die gleichen Runden drehen.  Noch nicht einmal blasen darf ich oder die Stunde ansagen.  Nein, das haben diese reichen Herren durchgesetzt: Die Einbrecher sollen mich nicht berechnen können.  Sagen Sie, wären Sie auf solche Anordnungen gekommen, wenn Sie glücklich wären?
     Und Sie, ich denk’ manches Mal: Na und?  Was tät’ es schaden, wenn dort jemand einbrechen täte?  Dann kämen das Geld und die Juwelen eben von dem einen Räuber zum andern.  Oder können Sie sich von Ihrer Hände Arbeit eine prächtige Kutsche und ein stattliches Stadtpalais leisten?  Ich könnt’s nicht;  und wenn ich Tag und Nacht schuften täte!  Nee, so ’n Reichtum ist entweder geerbt;  gut, dann ist jemand gestorben: meine Anteilnahme!  Oder durch Glücksspiel;   davor bewahr’ und Gott!  Oder eben durch Wegnehmen;  also Rauben.
     Heh!  Ihr da!  Stehengeblieben!  Halt!
     Die wollten wohl ’nen Bruch machen.  Weshalb ich eingeschritten bin?  Ich hätte eben was anderes gesagt?  Nee, das war nur nicht zu Ende gedacht.  Seh’n Sie: Durch Raub und Einbruch wird nichts besser, sondern geht vieles zu Bruch.  Vielleicht wohnen dort drüben auch Kinder in dem Haus.  Was sollen die denken?  Haben Sie mal was von Urvertrauen gehört?  Und schließlich ist das ja mein Beruf: Verbrechen zu verhindern!  Ich bin eben kein Gendarm.  Für den kann es gar nicht genug Verbrecher geben;  Hauptsache, er kann Täter ermitteln, verhaften und verurteilen lassen.  Und wenn mal ein Unschuldiger darunter ist, dann – unvermeidliche Nebenwirkung!  Wenn aber das Verbrechen gar nicht erst geschieht, dann gibt’s auch keine Nebenschäden.
     An die andern Räuber käme ich aber nicht ran?  Die mit Vatermörder und weißer Weste rauben?  Nun ja, als Nachtwächter nicht;  da bleibst du ja immer draußen.  Die verkehren nicht mit mir.  Vielleicht gibt’s mal zu Weihnachten ein Almosen.  Durch einen hochnäsigen Lakaien.  Sonst geht alles den Dienstweg.  Also streng nach Vorschrift: erst –
     Schön’ guten Abend, lieber Brunnen!  Liebe Grüße von meinen Freunden und der ganzen Grußgemeinschaft.  Darf ich?
     Hier füll’ ich mir immer meine Wasserflasche.  Wollen Sie auch ’nen Schluck?  Dann blicken die Augen gleich wackerer.  Jaha, ein Nachtwächter darf eben nachts nicht einnicken.
     Danke, lieber Brunnen.  Und der liebe Gott erhalte uns gesund und warm genug!
     Anfangs hatt’ ich sogar gewünscht: erhalte uns sauber.  Aber das kam nicht gut an, Sie!  Ob er etwa schmutzig wäre?  Daran können Sie sehen: Du mußt dich immer selber unter deine Worte stellen.  Von der Kanzel hinunterpredigen, das hilft überhaupt nichts.  Nur, was du dir selber sagen kannst, damit darfst du dich auch an andere wenden.  Nehmt nur morgens die Zeitungsfrau!  Die denkt wohl, sie könnte mit den Zeitungskästen nicht laut genug klappern.  An die komm’ ich einfach nicht ran.  Tät’ ich sie ermahnen, na, dann täte sie es hinter meinem Rücken desto doller –
     Und ich darf zurückgrüßen, lieber Brunnen?  Danke.  Werd’ ich machen, wenn ich’s nicht vergesse.
     Ja, das Alter hinterläßt schon seine Spuren!  Ich werd’ immer vergeßlicher!  Da fällt mir ein, ich war’ ja mit den Vatermördern und weißen Westen noch nicht ganz fertig.  Stellen Sie sich vor: Ich krieg’ sie doch!
     Also, jetzt mal ganz unter uns!  Du sagst, also ich heiß’ Friedhelm, also, du sagst es jetzt nicht weiter: Du, ich hab’ zu Hause eine Feder, die – die macht unsichtbar!  Und mit der geh’ ich in die Häuser hinein und guck’, was sich machen läßt.  Vor allem bei den Kindern.  Die Erwachsenen sind ja nicht so empfänglich.  Zu viele Dornen, zu viele Steine.  Aber die Kinder, da ist noch nicht soviel festgetreten.  Freilich – wo nur das Kommerzienblatt oder Der moderne Gesellschafter gehalten wird, da komm’ ich selbst mit meiner Feder nicht rein.  Aber manche Familien halten noch den Alstertaler Boten, und der hat in jeder Ausgabe eine ganze Seite für Kinder.  Gut, wenn’s ihnen abends vorgelesen wird, dann sind sie bald eingeschlafen.  Aber was will ich mehr, wenn sie’s mit in ihre Träume nehmen?  Die sind dann das gute Land, und ohne dem wär’ alles Säen vergeblich.
     Dank?  Ehre?  Was soll ich denn mit – also, was hätte ich von so was?  Kein Ofen, an dem du dich im Alter und in den kalten Tagen wärmen kannst!  Nee, wenn ein einziges Kind gewahrt: Da ist jemand, der glaubt an das Gute in mir;  ist das nicht mehr wert als Dank und Ehr’ und alle Schätze dieser Welt?  Und manchmal ist mir, als ob da einer so ähnlich denkt.  Adjes!
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 10.12.2023

Qouz-Note: 2-

 

 

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MamM 1.112  Zu Befehl!

„Stand ja drin, daß ich ihn wählen soll“, rechtfertigte sich Donna Trotter, „sogar mit Ausrufezeichen!  Ist ja auch ’ne fesche Erscheinung der Don Ladestock.  Major der Reserve.  Wenn der Bürgermeister geworden wäre, ja, dann –  Aber leider denken nicht alle so.  Hatte er Euch auch geschrieben?
     „Du meinst diese Wurfsendung im Briefkasten?“ deutete der Alte von der Halbinsel.  „Ja, ich hab’s sogar gelesen.  Aber hast du das Wort »bitte« in diesem Schreiben gefunden?
     „Nein.  Wozu auch?“ war die Besucherin an einem Zweck eigentlich gar nicht interessiert.  „Ich erwarte von einem Bürgermeister Selbstbewußtsein.  Entschiedenheit.  Sicheres Auftreten.  Und keine Untertänigkeit.“
     „Na ja“, sah’s der Alte anders, „einen Bürgermeister von Gottes Gnaden kenne ich nicht;  eher von –“
     „Er ist aber in unserer Stadt die Obrigkeit“, argumentierte Donna Trotter, „und wo Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet!  So steht’s in Eurem abgegriffenen Buch dort;  jawoll!  Soll ich mich etwa gegen die Obrigkeit auflehnen?
     „Soll?“ grollte der Alte ob seines Reizwortes.  „Niemand soll etwas.  Allein – ich dachte, in unserer Stadt seien wir Bürger die Obrigkeit. –“
     „Da denkt Ihr wohl viel zu plebejisch und aufwieglerisch“, tadelte die Besucherin.  „Wir Bürger wählen zwar unser Oberhaupt, aber mit Amtsantritt ist es unser Oberhaupt und somit –“
     „Aber dann hättest du doch den bisherigen Amtsinhaber wählen müssen“, folgerte der Alte, „und nicht seinen –“
     „Wenn er’s mir befohlen hätte“, nannte Donna Trotter ihre Bedingung, „hat er aber nicht.  Und damit zeigt sich doch, daß –“
     „– wer herrschen will, befehlen muß?“ ergänzte der Alte ohne Überzeugung.  „Das ist schon ein Eiertanz im Christentum mit der weltlichen Obrigkeit!  Einerseits sei sie von Gott, andererseits entspricht sie aber nicht den christliche Idealen“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein Mädchen, das hieß, eh, das hieß Katharina;  also, darauf war sie getauft.  In ihren Kinderschuhen wurde sie Katrin gerufen;  na ja, bis etwa zu ihrer Hochzeit.  Und später im Lehnstuhl Käthe.  Ja, und stell dir vor: Diese Katrin wollte unbedingt Prinzessin werden!  Sie ging also zu ihrer Fee, äußerte diesen Wunsch, und die Fee hatte nichts dagegen.  Nun ja, wenn ich mir jetzt vorstelle, alle Mädchen wollten das werden –  Weshalb eigentlich nicht?  Aber wie wirst du Prinzessin?
     Na, dazu hatte unsere Katrin schon einiges in Erfahrung gebracht.  So war ihr erzählt oder vorgelesen worden: Eine wirkliche Prinzessin könne nicht auf einer Erbse schlafen, selbst wenn diese unter 20 Matratzen und 20 Daunendecken liege.  Tscha, dachte unsere Katrin, so was muß geübt werden!  Sie fing erst einmal mit einer Dauendecke an, aber – vielleicht hatte unsere Katrin diese Erbse beim Umdrehen auf die andere Seite irgendwie verschoben, jedenfalls erwachte sie, unsere Katrin, am nächsten Morgen und mußte feststellen, 8 Stunden geschlafen zu haben.  Wahrscheinlich wohnte sie in keinem Mehrfamilienhaus.  Und der Zeitungsbote war wohl geräuschlos.  Und die Nachbarn keine lärmenden Paschas oder keifenden Matronen.  Allein – der 1. Versuch war gründlich danebengegangen!  Was nun?  Am besten: wieder zur guten Fee!  Und die riet von diesem Übungs-Nichtschlafen dringend ab.
     „Kind, das kannst du doch noch üben, wenn du alt bist!“ verschob’s die Fee.  „Gibt es denn nichts Wichtigeres?
     „Doch, das gab’s schon!  Denn aus den Märchen wußte unsere Katrin, daß sich eine Prinzessin üblicherweise irgendwann einen Prinzen angelt.  Also, Waidmanns–, eh, Petri Heil!  Und stell dir vor, es dauerte nicht lange, da kam unsere Katrin an einen Teich, und in diesem Teich badete gerade ein junger Mann.  Nicht irgendeiner!  Nein, an dem Pferd, das am Ufer weidete, war zu sehen, daß der junge Mann der Träger einer Prinzenkrone sein müsse.  Natürlich nicht jetzt beim Baden!  Aber in die Pferdedecke war solch eine Krone eingestickt;  und wer Prinzessin werden will, kennt sich selbstverständlich mit Kronen aus.  Geh also ruhig davon aus, daß unsere Katrin sehr wohl zwischen einer Prinzenkrone und einer Freiherrenkrone zu unterscheiden wußte.  Freilich – die Pferdedecke konnte ja gestohlen sein!  Jedoch – du weißt ja inzwischen, daß unsere Katrin nicht auf den Kopf gefallen war;  der war der rechte Probierstein gleich zur Hand.  Sie warf also hurtig ihre Angel aus, und –  Nein, der junge Mann brauchte keinen Köder zu verschlucken, es reichte doch schon, daß er sich in der Angelschnur verfing.  Und schon war er aufs Land gezogen und lag zappelnd unserer Katrin zu Füßen.  Die nicht faul, griff sogleich nach ihrem Probierstein, und siehe da: Der junge Mann blickte ihr in die Augen und erkannte in ihr seine Prinzessin!  Da konnte sie ihn ruhigen Gewissens von der Angelschnur befreien und ihn sich abtrocknen und wieder ganz ankleiden lassen.  Dann bestieg unsere Katrin das Pferd, und der Prinz mußte nebenhertraben und durfte zur Belohnung die Angelrute tragen.  Wohin?  Wohin sie der junge Mann geleiten durfte?  Na, auf sein Schloß!  Und als die beiden das erreichten, war’s nicht mehr zu widerlegen: Wilhelm war tatsächlich, also: mährsächlich, ein Prinz.  Na, nu’ kommst du!
     Nun meinte aber unsere Katrin aus den Märchen erfahren zu haben, eine notwendige Eigenschaft einer Prinzessin sei das Herrschen.  Ich weiß nicht, welche Schundgeschichten ihr als kleines Kind erzählt worden sind, aber –  Zum Glück sah’s ihre Fee so ähnlich wie ich.  Jedenfalls – unsere große Katharina (denn so fühlte sie sich jetzt) fing mit dem Herrschen gleich bei ihrem Willi an.  Ja, du hast recht gehört!  denn Wilhelm klang schon damals viel zu sehr nach Kaiser und Eroberer.
     „Willi, mach mal dies und mach mal das!  –  Geh mal hierhin, geh mal dorthin!  Hol mir dies, hol mir das.  Und das auf der Stelle!“
     Jaha, klingt gar nicht so fremd, nicht wahr?  Jedenfalls nicht als Bitte sowie ohne Dank.  Alles auf der Grundlage von Befehl und –“
     „Und was hat das jetzt mit unserem Bürgermeister zu tun?“ konnte sich Donna Trotter nicht länger zurückhalten.
     „Och“, wurde der Alte etwas verlegen, als sei er gerade beim Einnicken ertappt worden, „vorerst nichts.  Unsere Katharina aber wurde durch ihr fortgesetztes Herrschen von Tag zu Tag kleiner, Prinz Wilhelm durch seine Hilfsbereitschaft dagegen von Tag zu Tag größer.  Bald war’s nicht mehr zu übersehen;  und wenn die beiden unten über den Marktplatz oder durch den Stadtpark lustwandelten, dann munkelten die Untertanen: Seht, da gehen Katharina die Kleine und Willi der Große.  Das kam irgendwann auch unserer Katrin zu Ohren.  Ja, du hörst, ich hab’ den Glauben an sie nicht verloren.  Und nach Absprache mit ihrer Fee änderte sie sich und war fortan bestrebt, so groß zu werden wie –“
     Doch nun bemerkte der Alte, daß ihm mal wieder eine Zuhörerin abhanden gekommen war.
© Stiftung Stueckwerken, freigegeben am 14.12.2023

Qouz-Note: 3-

 

 

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MamM 1.113  Nachtmeister Stropp und der Fall Krothenbrück

Ich bin bereits mehrmals gefragt worden, wie’s unserm Nachtmeister Stropp, seiner Eheliebsten und seinen Freundinnen und Freunden gehe.  Nun ja, wir dürfen nicht vergessen, daß das Wetter in den letzten Wochen nicht dazu angetan war, den Winterurlaub zu verkürzen.  Und weil viele Tiere ähnlich dachten, sind wohl nicht so viele Verbrechen begangen worden wie sonst, also in den wärmeren Monaten.  Oder – da ich nicht allwissend bin – die Spuren der Verbrechen sind so rasch beseitigt worden, daß niemand mehr ermitteln konnte.  Und – du darfst nicht vergessen: Unser Freund wollte umsatteln!  Also nicht mehr nach einem Verbrechen irgendwelchen Schuldigen nachreiten, sondern lieber dazu beitragen, daß Verbrechen gar nicht mehr verübt werden.  Tscha, und schon sind wir in der neuen Geschichte!
     „Herr Nachtmeister!  Herr Nachtmeister!“ wurde unser Held am Ende seiner 1. Dienstnacht in diesem Jahr aufgehalten.  „Da drüben liegt eine Leiche.“
     „Guten Morgen, Herr Distelflink“, bewies unser Stropp mal wieder seine guten Umgangsformen.  „Ich bin weder Sargschreiner noch Totengräber.  Was –“
     „Aber du bist doch Kriminalist“, rechtfertigte sich der gefiederte Journalist.  „Ich dachte, dir müßten alle Kriminalfälle gemeldet werden.“
     „Liegt denn ein Verbrechen vor?“ zeigte unser Igel etwas mehr Interesse.
     „Er liegt da in seinem Blute“, antwortete der Vogel, „und ist ganz tot und – eh, platt.“
     „Also nicht mehr zu identifizieren“, folgerte unser Held mit seinem berühmten Scharfsinn.
     „Doch.“ wurde ihm aber dieses Mal respektlos widersprochen.  „Herr Krothenbrück hat ihn als seinen leiblichen Bruder identifiziert.“
     „Aha“, weckte unser Nachtmeister mal eben seine schlummernden Talente, „ich schließe von dem Namen auf einen Kröter, also einen männliche Kröte.“
     „Ganz genau!“ erhielt er dieses Mal die verdiente Bestätigung.  „Eindeutig Mord!“
     „Na, da wäre ich eher vorsichtig“, hatten unseren Stropp die vielen Berufsjahre geprägt.  „Und wo liegt die Leiche?
     „Na, dort drüben“, wies Herr Distelflink mit dem Schnabel gen Norden, „im Kühlebachtal.“
     „Aber das ist ja gar nicht mein Revier!“ wandte unser Held ein.
     „Ist doch nur ’nen Klacks“, sah’s der Gesprächspartner anders.
     „Jaha, für einen Stieglitz mag das zutreffen“, räumte unser Igel ein, „aber für mich ist’s ein Marathonlauf;  und wohl mehr als einer!“
     „Ist aber schon mit Herrn von Reineck abgesprochen“, blieb der gefiederte Herr unbarmherzig, „daß du den Fall übernehmen –“
     „Was bildet der sich ein?“ wollte sich unser Nachtmeister beinahe entrüsten.  „Wer ist das überhaupt?
     „Na, der neue Friedensrichter“, lautete die Auskunft, „und du weißt ja: Mit einem Fuchs ist nicht zu spaßen!“
     „Wer kann da noch Spaß an seiner Arbeit haben?“ griff’s unser Stropp auf.  „Nein, nein, das ist nicht gut fürs Amtsklima.  Wie soll – eh, wie komm’ ich denn jetzt da überhaupt hin?  Eine Mietdroschke ist hier derzeit nirgendwo aufzutreiben.“
     „Wozu bist du Nachtmeister?“ erwiderte Herr Distelflink keck.  „Laß dir was einfallen!  Ich flieg’ denn schon mal voraus.  Bis gleich!“
     „Der hat gut reden!“ brummte unser Held.  „Ich hab’ jetzt Feiermorgen und will erst mal eine Runde schlafen.  Danach können wir in Ruhe weitersehen.“
     Oder weitersehen lassen!  Denn es war die Eheliebste, die den richtigen Anstoß gab.  Natürlich verbat sich Frau Struppe solch eine weite Dienstreise erst einmal für ihren Gatten.  Und das aus Sorge!  Sie könne so etwas nur genehmigen, wenn er, ihr Gatte, sich schützender Kräfte versichern könne.  Erst ward an Bruhno gedacht, aber der war bekanntlich infolge seiner heldenhaften Kämpfe Invalide.  Aber dann fiel der Name Wastel, und von den Waschbären heißt es ja, das seien unberechenbare Kämpfer.  Und auch als Reittier zu gebrauchen!  Nun, die Eheliebste sagte zu, sich darum zu kümmern;  ihr Gatte möge ruhig schon mal zu Bett gehen.  Ja, ja, auch ein Segen des Alters: Ist der Klapperstorch nicht mehr zu fürchten, schläft es sich ruhiger im Ehebett;  –  tscha, bis dann leider die Blasenleiden kommen.
     Soweit war’s aber bei unsern beiden Eheleuten noch lange nicht.  Kaum hatte unser Held nach geruhsamem Schlaf sein Nachtmahl eingenommen, standen auch schon der Bär und Wastel draußen vor der Tür, um ihren Freund abzuholen.  Jedenfalls war’s noch einigermaßen hell, als die 3 unten im Kaltenborntal ankamen.  Herr Distelflink hatte zwar nicht gewartet, aber du weißt ja, wie ausgeprägt der Spürsinn unseres Nachtmeisters ist.  Schon bald war der Tatort –  Doch, das ist hier das treffende Wort: denn – die Leiche war nicht mehr zu finden.  Aber die Blutspuren waren eindeutig und die –  Na, ich will dir den Appetit nicht verderben.
     „Das war bestimmt der Schlendertünnes“, meldete sich mit einem Mal ein Schusterbaß, „der meinen Bruder auf dem Gewissen hat.“
     „Ach, guten Abend, Herr – Herr Krothenbrück“, reagierte unser Igel, ohne zu erschrecken.  „Ihr habt –“
     „Schaut“, rief der Kröter“, da hinten kommt er schon.  Nehmt euch nur in –“
     „Keine Angst“, versuchte unser Stropp zu beruhigen, „den knöpf’ ich mir gleich mal vor.“
     Nun, um’s kurz zu machen, der Schlendertünnes konnte seine Unschuld nicht beweisen.  Mit Absicht habe er’s gewiß nicht getan, und wenn er’s verursacht habe, dann täte es ihm sehr leid.  Aber ob der Herr Nachtmeister wisse, daß er, der Schlendertünnes, in diesem Tal wohl nicht die größte Gefahr darstelle, da dieser Weg auch für Fuhrwerke genutzt werde, vor allem von Bauern, Fischern, Jägern und jungen Leuten auf der Fahrt zu ihrer –
     „Ablenkung!“ protestierte Herr Krothenbrück.  „Alles Ablenkung!  Ich fordere einen peinlichen Prozeß vor dem Friedensrichter und die Todesstrafe!  Jawoll!  Rache für –“
     „Moment!“ drängte unser Igel zur Besonnenheit.  „Damit würde Euer Bruder nicht wieder lebendig, aber eine weitere Leiche zu beklagen sein.  Wie wäre es mit Buße statt Strafe?  Und ich wüßt’ auch schon: welche!  Du, Schlendertünnes, hast ja recht, dieser Talweg ist ein gefährliches Pflaster für euch Kröten.  Deshalb schlage ich folgende Buße vor: Statt dich hinrichten zu lassen, sorgst du dafür, daß hier künftig keine Kröte mehr überfahren oder zertreten wird, sondern jede unbehelligt vom Pirschwäldchen zu ihren Teichen gelangt.“
     „Na ja“, berichtete unser Stropp nach seiner Dienstreise zu Hause, „es dauerte etwas, bis Herr Krothenbrück einsah, daß es allen Beteiligten zum Besten gereiche.  Der Schlendertünnes will jedenfalls gleich damit anfangen, sichere Über–, eh, wohl eher Untergänge einzurichten und Sammelstellen, und Herr Krothenbrück will alle seine Verwandten und Nachbarn –“
     „Stropp, Stropp!“ lobte die Eheliebste.  „Eine weise Entscheidung.  Ich bin richtig stolz auf dich!“
     „Mit Dank zurück!“ antwortete unser Igel.  „Denn ohne dich und deine Anregungen wär’ ich gar nicht soweit gekommen.“
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Qouz-Note: 4

 

 

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MamM 1.114  Nachtmeister Stropp und der Fall Schnätterhämd

„Warum habt Ihr denn neulich nicht auf uns gewartet?“ erkundigte sich unser Stropp wenige Tage nach seinem letzten Kriminalfall.
     „Du kamst doch mit einem Gangster“, rechtfertigte sich Herr Distelflink.
     „Gangster?“ rätselte unser Nachtmeister nur kurz.  „Ach so, Ihr meint meinen Freund, den Waschbären.  Der ist doch kein Räuber –“
     „Na“, blieb der Vogel skeptisch, „von dieser Sippschaft wird in unserer Verwandtschaft viel Übles berichtet.  Wozu trägt er denn sonst ’ne Maske?
     „Und wozu tragt Ihr Eure?“ fragte unser Held zurück.  „Außer in der Farbe seh’ ich da keinen –“
     „Das ist doch keine Maske“, klärte der Distelfink auf, „das ist Kriegsbemalung!“
     „Ach, dann seid Ihr also der Indianer unter den Vögeln“, ließ unser Igel eine umfassende Bildung erahnen.  „Gegen wen habt Ihr denn das Kriegsbeil –?
     „Gegen die Todfeinde meiner Familie!“ war Herr Distelflink mit seiner Antwort schneller als die Frage.  „Katzen, Habichte, Eulen, Krähen, Elstern, Eichhörnchen, Marder und eben auch Gangsterbären.“
     „Mein Freund Wastel ist kein Gangster!“ konnte es unser Stropp nicht einfach so stehenlassen.  „Aber mir gegenüber tragt Ihr Eure Maske ja –“
     „Das ist keine Maske!“ wurde der Stieglitz doch etwas ungehalten.  „Und jetzt muß ich los!  Du hast mich schon viel zu lange –“
     „Weshalb denn so eilig?“ lag das Forschen unserm Nachtmeister wohl im Blut.
     „Der Herr im Haus erspart den Zimmermann“,  war dem Vogel die Weltliteratur anscheinend nicht ganz fremd.
     „Ja, ja“, sprach unser Held wohl aus Erfahrung,


„hat die Frau ’nen Mann, ja, dann
spart sie sich den Zimmermann!“

 

     „Ach, Är baut ’nä Kinderstube“, erweiterte sich plötzlich die Gesprächsstrecke zu einer Gesprächsrunde.  „Wo denn genaa?“
     „Ich wüßte nicht, was dich das angeht!“ gab sich der Distelfink äußerst abweisend.
     „Ich wärd’ doch noch mol frogen dürfen!“
     „Wer bist du überhaupt?“ übernahm’s Herr Distelflink sogleich.
     „Na, Old Schnätterhämd“, tat der Gefragte überrascht. „der größte Westmonn aller Zäten!“
     „Ph!“ feixte der Stieglitz.  „Und kann kein Hochdeutsch!  Ich muß denn mal.  Tschüs!“
     „Wohin –?
     „Und Ihre Gattin“, versuchte unser Stropp dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, „ist die größte Ostfrau –“
     „Die Gustel, mänst du?“ vergewisserte sich der Westmann.  „Die ich mir für dieses Johr räserviert hob’?  No, die kommt aus Äsenoch;  dos liegt in Middel–“
     „Also die größte Mittelfrau aller –“
     „Nu’ werd’ mol nich’ frech!“ gebrach es dem Gesprächspartner an Selbstironie.  „Aber mol unter uns, wo baat denn dieser – dieser Indioner –?
     „Wozu wollen Sie das überhaupt wissen?“ distanzierte sich unser Nachtmeister entschieden von einer Auskunftei.
    „No, viellächt hob’ ich ’ne Stelle bei der Vogelbost in Aassicht“, hielt sich der Westmann unbestimmt.
     „Ein Stockerpel?“ zweifelte unser Held sehr.
     „Jaha“, brachte es Old Schnätterhämd nicht in Verlegenheit, „Zustellung nicht nur per Luft, sondern auch zu Londe und zu Wosser.“
     „Weißt du“, berichtete unser Held wenig später beim Frühmahl seiner Eheliebsten, „der Kerl ist mir irgendwie verdächtig.  Seine Großspurigkeit.  Spricht ein nachgemachtes, schlecht nachgemachtes, Sächsisch.  Und dann seine Neugier.  Am liebsten tät’ ich ihn belauschen, –“
     „Du gehst jetzt erst mal zu Bett!“ kannte Frau Struppe kein Pardon.  „Wozu hast du denn den Bruhno?
     „Keine schlechte Idee!“ war der Gatte doch ein wenig taktlos;  als ob von seiner Eheliebsten etwas anderes zu erwarten wäre!
     Jedenfalls hatte unser Bär nichts dagegen, eine Tagesschicht zu übernehmen, und wußte am nächsten Abend so einiges zu berichten.
     „Das ist mir ein tapferer Held!“ färbte es unser Bruhno mit Ironie.  „Watschelt mit seiner Frau zum Friedhof hinauf, kommt doch da der Schlendertünnes von unten, bepackt wie ein Esel.  Die Ente watschelt noch ein wenig vor dem Schlendertünnes her, fliegt dann aber angsterfüllt über den Friedhofszaun.  Und er, dieser Westmann?  Statt sich mutig dem Schlendertünnes in den Weg zu stellen, fliegt er schnatternd hinterdrein.  Da hätten Schwan und Ganter aber ’ne andere Courage gezeigt!  Wo doch deutlich zu sehen war, daß der Schlendertünnes kein Schießgewehr –“
     „Sonst noch etwas Auffälliges?“ drängte unser Igel auf Wesentliches.
     „Ach so“, besann sich unser Bär, „dieser Westmann scheint eifrigen Kontakt mit Diebes-, Raub- und Mordgesindel zu pflegen: Krähe, Elster, Eichkater, Falke  –  Sogar ein Habgier –“
     „Habicht!“ verbesserte die Igelin.
     „Ja, richtig!“ bestätigte der angehende Meistergeselle.  „Und eine Katze.  Verstehen konnte ich nicht viel, sonst hätten sie mich entdeckt.  Aber irgend etwas wie Straßennamen und Bäume und so was wie Rangordnungen –“
     „Rangordnungen?“ klang’s Frau Struppe zu abwegig.
     „Vielleicht 3. Eiche von Mittag?“ war der Scharfsinn des Lehrherren geweckt.  „Oder 5. Ahorn von –?
     „Ja“, dämmerte es unserem Bruhno, „das könnte angehen.“
     „No, Nochtmästerlän“, lud sich frech ein schnatternder Jemand dazu, „du braachst mer nich’ mähr zu sogen, wo jäner Stieglitz zimmert;  ich hob’s aach so raasgefunden!  Joha!  Ich bin –“
     „– verhaftet!“ ergänzte unser Igel resolut, und schon hatte sein Assistent den Erpel in den Schwitzkasten genommen.
     „Mörder!“ schnatterte der falsche Westmann aufgebracht, ehe unser Bruhno nachdrücklicher wurde.
     „Ruft nur Eure Freunde!“ deutete unser Stropp.  „Wollten Sie auch Herrn Distelflink an die verraten?  Das ist Beihilfe zum Mord!  Und darauf steht –“
     Anfangs pochte der Verhaftete noch auf die Kronzeugenregelung, aber die schlimmsten Verbrecher waren Vögel!  Wie hätte ihnen der Prozeß gemacht werden können?  So legte sich der Erpel bald darauf, Mitleid zu erwecken.  Nein, was kam da für ein Sumpf an Verbrechen zum Vorschein!  Schon mehrmals sei ihm seine brütende Gattin ermordet worden;  und nicht nur ihm!  Inzwischen kämen hier in der Gegend 4 bis 5 Männchen auf ein Weibchen.  Da habe er sich eben durch Schutz- und Trutzbündnisse absichern müssen.
     „Und viele Vogelkinder dem Tode preisgegeben?“ sah’s unser Nachtmeister nicht so harmlos.  „Zur Buße kommt Ihr jetzt mit und helft, die Wohnung des Distelfinken durch Hundsrosen abzusichern!  Und meinetwegen könnt Ihr Euch dort im Erdgeschoß selber ein Nest bauen.“
     „Wozu so gnädig?“ wollte die Eheliebste bei der nächsten Gelegenheit wissen.
     „Die einzige Chance, daß er lernt“, rechtfertigte sich der Gatte: „Gute Nachbarschaft ist besser denn Feindschaft!“
© Stiftung Stueckwerken, freigegeben am 14.12.2023

Qouz-Note: 4

 

 

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MamM 1.115  Nachtmeister Stropp und der Fall Kobelbauer

„Wo habt Ihr eigentlich das Lesen und Schreiben gelernt?“ fragte unser Bruhno seinen Lehrherren.
     „Hm“, war unser Stropp erst einmal sprachlos, „vermutlich unterwegs.  Die Menschen werfen ja soviel weg;  sogar Bilderbücher.  Und wenn dann bei den Bildern noch Buchstaben stehen, dann läßt sich da schon einiges kombinieren.  Oder wenn die Menschen andern etwas vorlesen und dann dabei einnicken, dann kann ein geschulter Verstand schon was damit –“
     „Und wessen Verstand nicht so ausgebildet ist“, hielt der kleine Bär seinen Lehrmeister nicht für ein Durchschnittstier, „was kann der tun?
     „Üben!  Üben!  Üben!“ litt unser Nachtmeister nicht an Größenwahn.  „Was ich kann, das können andere –“
     „Na ja“, blieb sein Begleiter skeptisch, „da bin ich mir nicht so sicher.“
     „Aber du hast es doch auch gelernt“, gab unser Igel zu bedenken.
     „Ja, mit den Kindern“, räumte unser Bruhno ein.  „Aber die wurden dadurch eingebildet und wollten irgendwann nicht mehr mit mir spielen.  Aber mal was anderes: Kennt Ihr einen Herrn Kobelbauer?
     „Den Eichkater?“ vergewisserte sich unser Held.  „Was ist mit ihm?
     „Als ich da neulich dem Entenpärchen gefolgt bin“, berichtete unser Bär, „da kam er auch herzu und tat sehr großspurig.  Er werde demnächst eine große Erbschaft machen und habe dann ausgesorgt.  –“
     „Will er denn sterben und sich selbst beerben?“ waren die Gedankengänge unseres Stropps zuweilen etwas ungewöhnlich.
     „Wie kommt Ihr denn darauf?“ wunderte sich sein Lehrling.
     „Ausgesorgt hast du eigentlich erst“, versuchte es unser Nachtmeister zu erklären, „wenn du ans Ende deiner Erdenreise angekommen bist, und selbst da kannst du dir noch Sorgen machen um deine Hinterbliebenen.  Das ist eben die Illusion der Habgierigen: irgendwann zufrieden zu sein.  –  Sonderbar: Was will denn der bei meiner Eheliebsten?
     „Tatsächlich!“ staunte jetzt auch der Meisterlehrling.  „Herr Kobelbauer!“
     „Na, Stropp“, hatte der Eichkater die Nahenden auch entdeckt, „du siehst aber schlecht aus!  Machst es wohl nicht mehr lange, was?  Horch e’mal –“
     „Wie reden Sie von meinem Ehegatten!“ konnte Frau Struppe so etwas nicht dulden.  „Durch meine Fürsorge wird der Sie noch viele Jahre überleben;  da können Sie Gift –“
     „Na, na, na“, versuchte Herr Kobelbauer zu beschwichtigen, „wer wird sich denn über einen kleinen Scherz so aufregen?  Was?  Wie?  Warum ich überhaupt hier bin?  –  Ich kaufe Altpapier auf.  Habt Ihr was für mich?
     Unauffällig war der kleine Bär hinter das Eichhörnchen getreten und signalisierte nun dem Igelpaar, den Geschäftsmann auf einen späteren Zeitpunkt zu vertrösten.  Und so wurde ihm angeboten, daß er am nächsten Abend noch einmal vorsprechen könne;  er war’s zufrieden.
     Beim Frühmahl, als die 3 wieder unter sich waren, wurde unser Bruhno natürlich um eine nähere Erklärung gebeten;  und da wußte er Sonderbares zu berichten.  Ihm sei nämlich eingefallen, daß er den Eichkater vor einiger Zeit bei Schreibübungen beobachtet habe.  Er, der Bär, habe sich zunächst nichts Besonderes dabei gedacht.  Aber plötzlich sei Herr Kobelbauer durch irgend etwas aufgeschreckt worden und davongesprungen, während ein Windstoß das Schreibpapier erfaßt und ein paar Schritte weitergetragen habe.  Nun ja, wer einmal Nachtmeister werden wolle, der dürfe seine Augen nicht verschließen, und so habe er, Bruhno, sich das Papier etwas genauer angeschaut.
     „Und stellt euch vor“, hob unser kleiner Bär die Spannung noch weiter, „was finde ich?  Das bei den Übungen unterste Blatt trug die Überschrift: Testament.  Und die anderen Blätter waren handschriftliche Stücke, von denen – je nach Bedarf – Wörter oder Buchstaben mit festem Druck nachgeschrieben worden waren und so ihre Spuren auf dem untersten Blatt hinterlassen hatten.  Sogar an der Unterschrift hatte sich dieser Gauner schon –“
     „Testamentsfälschung!“ hatte es unser berühmter Held blitzschnell erfaßt.  „Aha!  Und jetzt hat er es augenscheinlich auf uns abgesehen.  Deshalb kauft er also Altpapier –“
     „Und ich dachte, er wollte damit seine Wohnung tapezieren“, konnte die Igelin auch Fehleinschätzungen zugeben, ohne daß ihr dabei ein Zacken aus der Krone gefallen wäre.  „Ich hätt’s ihm gerne überlassen, denn mein Mann kann einfach nichts wegwerfen!  Wenn er mich nicht hätte, müßte er ständig anbauen, um alles –“
     „Aber Ihr Gatte ist doch noch gut in Schuß“, war unserem Bruhno noch manches verborgen, „wieso rechnet dieser Gauner schon jetzt –“
     „Mir gehen da immer mehr die Augen auf!“ entsetzte sich die Eheliebste.  „Der sammelt bestimmt noch viel mehr als mein Guter, und da täte es mich nicht wundern, wenn er auch –  Kaum auszudenken, aber dem Kerl traue ich sogar einen Mord zu!“
     „Schon möglich, daß er sich nicht mit Testamentsfälschungen begnügt“, räumte unser Igel ein, „denn Geduld ist nicht seine starke Seite.  Aber –“
     „– jetzt müssen wir erst einmal an morgen abend denken“, lenkte unser kleiner Bär das Gespräch, „und da schlage ich vor, dem Gauner lauter Schriftstücke unterzujubeln, deren Unterschrift deutlich von Eurer üblichen abweicht.  Wenn er dann ein gefälschtes Testament –“
     „Du brauchst niemanden zu täuschen –“, unterbrach unser Stropp: „Je älter ich werde, desto mehr sehe ich ein, daß da was Wahres dran ist, mein lieber Bruhno.  Wer ein Verbrechen begeht, macht schon genug Fehler;  da brauchen wir gar nicht –“
     „Und der Mordanschlag?“ war die Hausherrin nicht so gelassen.  „Willste das etwa auch tatenlos auf dich zukommen –?
     „Was immer geschieht, es ist Gottes –“
     „Jetzt wird er auch noch fromm!“ besorgte sich die Gattin.  „Ist dir dein letztes Stündchen denn wirklich schon so nah?
     Nun, wir werden’s ja gleich hören.  Der Eichkater bekam also am nächsten Abend sein Altpapier, und einige Abende später brachte Herr Kobelbauer noch eine Flasche Gänsewein-Auslese vorbei.  Angeblich aus besonderer Dankbarkeit.  Und – Frau Struppe möge davon am besten nichts erfahren.  Unser Held nahm’s an und ließ dabei die Bemerkung fallen, den Wein gleich beim nächsten Frühmahl versuchen zu wollen.  Tscha, was der Eichkater vor Schadenfreude überhört hatte, war: Unser Igel meinte einen chemischen Versuch.  Denn als Meister seines Faches war er selbstverständlich auch in diesen Dingen bewandert.  Joa, und am nächsten Tag, so gegen Mittag, stand denn Herr Kobelbauer mit 2 Hähern vor der Tür, klopfte Frau Struppe aus dem wohlverdienten Schlaf, sprach kurz und kalt sein Beileid aus und forderte sie auf, das Haus zu räumen;  denn er, Herr Kobelbauer, sei mit diesem Testament hier als Alleinerbe eingesetzt.  Nur – plötzlich stand auch unser Nachtmeister im Türrahmen, ließ sich das Testament zeigen und wies es eindeutig als Fälschung nach.  Denn es enthalte Wörter, die er nie verwende, erst recht nicht: mein letzter Willi!  So waren die beiden Amtspersonen nicht vergeblich gekommen und konnten den Eichkater abführen;  vermutlich war’s also auch dieses Mal nicht Stropps letzter Fall.
© Stiftung Stueckwerken, freigegeben am 14.12.2023

Qouz-Note: 3-

 

 

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MamM 1.116  Nachtmeister Stropp und der Fall Jubilo

„Ihr hattet recht“, wußte unser Bruhno einige Tage nach dem letzten Fall zu berichten, „Herr Kobelbauer ist längst wieder auf freiem Fuß.“
     „Und?“ erwies sich der berühmte Scharfsinn unseres Stropps wieder als einzigartig.  „Hat er sie reingelegt?
     „Das habt Ihr auch vorausgesehen?“ staunte der kleine Bär.  „Ja.  Der Eichkater hatte den beiden Hähern für seine Freilassung eine reich machende Entdeckung versprochen.  Er könne ihnen nämlich verraten, wo ein großer Eichelschatz verborgen sei.  –“
     „Gewesen sei, nehme ich mal an“, verbesserte unser Igel.  „Die Beschreibung wird sie wohl nicht in die Irre geführt haben;  aber als sie ans Ziel kamen, wurden sie nur an Erfahrungen reicher.“
     „Stimmt genau!“ bestätigte der Meisterlehrling fast ehrfürchtig.
     „Und sie werden sich hüten, das Eichhörnchen wieder einzufangen“, ergänzte unser Nachtmeister, „er könnte sie ja verraten, und ich traue es ihm durchaus zu.  Uns beide aber werden sie vorerst meiden und allenfalls eine Lügengeschichte auftischen.  Ach, mich widert –“
     „Herr Nachtmeister!  Herr Nachtmeister!“ unterbrach eine Stimme von einem nahen Ast.  „Gut, daß ich dich treffe!  Stell dir vor, dieser Kobelsauer –“
     „Kobelbauer, Herr Distelflink“, verbesserte unser Bruhno.
     „Kobelbauer, meinetwegen“, zeigte der Vogel wenig Dankbarkeit für diese Unterbrechung.  „Jedenfalls huscht der schon seit 2 Tagen ständig um unsere Wohnung herum.  –“
     „Irgendwo muß er ja huschen“, war unser Held noch nicht beunruhigt.
     „Aber meine Gattin ist doch in freudigen Umständen!“ rechtfertigte der Stieglitz sein Anliegen.  „Und jeder weiß, wie weit Eichhörnchen ihre Ostereiersuche ausdehnen.  Selbst im Mai und Juni sind wir vor diesem Mordgesindel nicht sicher.  Nein, du mußt unbedingt sofort kommen und entweder Tag und Nacht Wache halten oder den Kerl hinter Schloß und Riegel gefangenhalten, bis –“
     „Also, da hab’ ich ja wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden!“ trat nun Frau Struppe herzu.  „Mein ehrenwerter Gatte ist Nachtmeister und kein Landsknecht!  Weshalb haltet ihr Vögel nicht mehr zusammen?  Frag doch mal die Schwarzdrosseln und Buchfinken, ob ihr euch nicht bei der Wache abwechseln könnt.  Erst wenn das nicht klappert, –“
     „Klappt“, rutschte es unserm kleinen Bär verbessernd heraus.
     „Bei mir heißt’s klappert;  verstanden?“ war die Igelin immerhin eine Frau Meisterin.  „Jedenfalls – erst dann könnt ihr meinetwegen wiederkommen.  Unser Nachtmeister ist doch nicht nur für dich alleine da.“
     Nun ja, geehrt fühlte sich Herr Distelflink durch diese Ansprache nicht, aber der Vorschlag von Frau Struppe hatte ja auch so einiges für sich;  und deshalb –  Nein, der Vogel bedankte sich nicht, sondern flog einfach davon.
     Freilich –  so ganz uneigennützig war das Eingreifen der Igelin nicht gewesen, denn sie hatte irgendwie Lust zu einem Ausflug hinauf zur Tränenstraße bekommen und wußte Gatten und Meisterlehrling geschickt davon zu überzeugen, daß auch ihnen so etwas guttun werde.  Und natürlich Wastel!  Denn der Waschbär war zu der großen Ehre ausersehen, Igelin und Igel zu tragen.  Und so lustwandelten die 4 Tiere bald dort oben vor sich hin und genossen die Aussicht und den Sonnenuntergang.
     „Hört!“ hielt unser Held plötzlich inne.  „Daß ich das noch mal erleben darf!  Schaut, da oben ist er!“
     Nun ja, so rasch ließ sich der Gesuchte nicht entdecken, aber nach ein paar genaueren Anweisungen riefen auch die 3 anderen aus: „Ein Löweneckerchen!“
     Und schon kam es herabgeschossen und stellte sich als Herr Jubilo vor.  Er kannte sogar unseren Nachtmeister, weil auf den Bölcer Wiesen einst Verwandte von ihm gewohnt hatten.  Und vielleicht erinnerst du dich noch daran, daß unser Igelpärchen anfangs am Kirchweg nach Bölce gewohnt und von dort ihr Ruhm eigentlich seinen Anfang genommen hatte.  Inzwischen waren dort auch die Lerchen vertrieben worden, obwohl damals zuweilen 4 Sängerfamilien friedlich nebeneinander gelebt hatten.  Aber die Menschen hatten ihre Steinwüste immer weiter ausgedehnt.
     „Und was dort noch als Feld bestellt wird“, berichtete Herr Jubilo, „das ist für uns Vögel lebensgefährlich!  Stellt euch vor, kaum sind die 1. Halme in die Höhe gewachsen und könnten unseren Wohnungen Deckung geben, da kommt auch schon der Bauer mit Pferd und Wagen, metzelt ganze Alleen von Kornbäumen nieder und verspritzt dabei ein Stinkewasser;  ja, und Gift!“
     „Gift?“ entsetzte sich Frau Struppe.  „Das ist ja Mord!“
     „Mir dreht sich schon der Magen um“, beklagte sich das Löweneckerchen, „wenn’s vom Wind über die Felder verteilt wird.  Deshalb bin ich mit meiner lieben Frau nach hierhin ausgewichen.  Aber kaum hatten wir die Kinderstube fertig, was wird mir da zugetragen?  Auch hier soll in den nächsten Tagen gestunken und gegiftet werden!  Warum hat uns Tiere der liebe Gott nur mit solchen Schädlingen geschlagen?  Da könnte –“
     „Damit wir ihnen unsere Überlegenheit zeigen“, war ein gutgelaunter Vogel mit seiner Antwort zur Stelle.  „Bauer Gallenleider braucht nur zu kommen, dann meißele ich ihm die Räder seines Wagens entzwei, daß dieser umstürzt und –“
     „– sich alles Schädliche auf die dort wohnenden Tiere ergießt?“ sah unser Held weiter.  „Nein, Herr Klopfmeister, das müssen wir geschickter anfangen!  Wenn dieses Stinkewasser und dieses Gift wirklich so gesund und ungefährlich sind, dann möge zunächst dieser Bauer derjenige sein, der’s an sich selber ausprobiert.  Ich denke, wir müssen unverzüglich den Bauernhof aufsuchen und eine Ortsbegehung machen;  vielleicht fällt mir dann das Richtige ein.“
     Vielleicht?  Na, da kennen wir unseren Nachtmeister aber besser!  Und mährsächlich: Noch in der gleichen Nacht gab es auf jenem Bauernhof ein verdächtiges Getrampel und Gepolter, als wolle eine Horde Wilder einen festgefahrenen Wagen weiterschieben.  Doch der Bauer schlief so fest, daß er nichts davon mitbekam.  Und der liebe Mond, der jede Gestalt hätte genau beschreiben können, petzt bekanntlich nicht.  Jedenfalls schlief Bauer Gallenleider am nächsten Morgen viel zu lange.  Und als er sich endlich benommen von seiner Lagerstatt erhob und von seiner Schlafkammer nach unten tappen wollte, da wehte ihm von dort ein entsetzlicher Gestank entgegen.  Unten im Flur war alles naß, sogar in Küche und gute Stube hatte sich die üble Brühe ergossen.  Woher?  Tscha, von dem Tankwagen, der draußen vor der Haustür stand.
     Freilich – diese Lektion mußte noch mehrmals wiederholt werden, bis unsere Lerchen unbehelligt und zahlreicher in den Winterurlaub fliegen konnten.
     Tscha, leg dich nie mit einem Igel an;  erst recht nicht mit unserm Nachtmeister, seiner Eheliebsten und ihren Freunden!
© Stiftung Stueckwerken, freigegeben am 14.12.2023

Qouz-Note: 3-

 

 

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MamM 1.117  Nachtmeister Stropp und der Fall Maienei

„Schön’ guten Morgen, die Herrschaften“, begrüßte eine höfliche Stimme, doch ohne Wärme, die zum Spätstück versammelte 4köpfige Gesellschaft.  „Schau, schau, Frau Nowotny ist auch schon –“
     „Von Nowotny, Herr Atzilo!“ korrigierte Frau Struppe.  „Und außerdem sind wir beide keine Herrschaften, –“
     „Aber die Hosen zu Hause anhaben, was, Stropp?  Hahaha!“ lachte der Elster.
     „Meine Frau laßt besser in Ruhe“, warnte unser Nachtmeister, „sonst ißt sie mit Euch Kirschen, daß für Euch nur Stein und Stiel –“
     „Haha!“ spottete Atzilo.  „Hast wohl selber schon mal deine Erfahrungen damit gesammelt;  was?  Also, die Herrschaften, warum ich bei euch vorbeischau’: Tät’ euch gern ein paar Frühstückseier –“
     „Wie Ihr seht“, blieb unser Igel höflich und gelassen, „sitzen wir hier beim Spätstück, und – meintet Ihr etwa Vogeleier?
     „Was denn sonst, du Döskopp!“ wurde der Vogel ausfallend.  „Ich tät’ sie euch recht günstig –“
     „Vogelkinder?“ meldete sich nun auch unser Bruhno zu Wort.  „Du Lümmel, willst uns Kinder zu essen –“
     „Werd ja nicht frech, du Schnösel!“ gab der Elster zurück.  „Alles, was Gott geschaffen hat, dienet uns zur Speise;  so hat’s am Sonntag noch der Herr Pfarrer gepredigt, jawoll!  Ich hab’ genau zugehört, –“
     „– um Gelegenheit zu suchen, das Silber zu stehlen?“ dachte die Igelin laut und argwöhnisch.
     „Und wenn, was geht’s dich an, du dumme Kuh?“ verneinte Atzilo.
     „Bruhno?“  Mehr brauchte Frau Nachtmeisterin nicht zu sagen, gab aber mit den Augen die Richtung vor.
     Schon war unser kleiner Bär aufgesprungen, und obwohl er ja gar nicht fliegen konnte, gelang es ihm dennoch, den Störenfried zu verjagen.
     „Ich weiß nicht, ich weiß nicht“, hatte selbst unser Held seine Grenzen, „irgendwie riecht das, was wir gerade gehört haben, sehr nach Verbrechen.  Schlimmen Verbrechen!  Bruhno, bist du sehr müde?
     „Nein“, antwortete der Nachtmeisterlehrling sofort.
     „Darf ich dich bitten, mal bei Distelflinks vorbeizuschauen?“, fragte unser Stropp.  „Ich hab’ da irgendwie ein ungutes Gefühl.“
     Unser kleiner Bär sah’s auch als Vertrauensbeweis und kam seinem Auftrag sehr gewissenhaft nach.  Bereits zum Abendstück wußte er Verdächtiges zu berichten.  Das Nest sei anscheinend verlassen, und ein Elstervogel habe sich dort rumgetrieben.
     „Atzilo?“ war’s für Frau Struppe eigentlich gar keine Frage.  „Dacht’ ich’s mir –“
     „Dazu war ich nicht nah genug herangekommen“, hatte unser Bruhno gelernt, sich vor einem vorschnellen Urteil zu hüten.  „Denn plötzlich trat dieser Schlendertünnes hinzu und hat ihn verscheucht.  Ich hab’ also Posten gefaßt;  – ja, ich bin wohl auch ein paarmal eingenickt –“
     „Du hattest ja auch Doppelschicht“, nahm ihn die Schildkröte in Schutz, „da hätt’ ich auch nicht immer wach bleiben können.“
     „Danke, Frau von Nowotny“, wußte es unser kleiner Bär zu schätzen.  „Jedenfalls hab’ ich dann beobachtet, wie ein Stieglitz eine lange Feder aus dem Nest gezogen und sehr sorgfältig an den Kiefernnadeln befestigt hat.  –“
     „Trauerflor?“ rätselte unser Igel hörbar.  „Die Trauerbräuche sind ja sehr unterschiedlich.  Könnte sein, daß –“
     „Soll ich mal ein Rotkehlchen zum Nest schicken?“ schlug unser Bruhno vor.
     „Du weißt, daß die bei ihren Beobachtungen nicht sehr zuverlässig sind“, entschied sein Lehrherr abschlägig.  „Es war ja in der letzten Zeit sehr windig.  Waren denn am Boden irgendwelche Spuren von der Vogelmutter oder ihrer Brut zu finden?  Eierschalen oder –“
     „Nein“, versicherte der Lehrling glaubhaft.  „Und selber raufzuklettern, das erschien mir –“
     „Nein, nein, nein!“ warnte die Igelin eindringlich.  „Ich mach’ mir schon genug Sorgen um euch!“
     „Also einen andern Vogel“, brachte unser Bruhno einen neuen Vorschlag, „oder einen Eichkater –“
     „Was hätten wir davon?“ traf’s unser Held mit seinem berühmten Scharfsinn wieder auf den Punkt.  „Wir wüßten immer noch nicht, ob’s Mord oder Unfall oder Herzinfarkt war.  Wenn ich mich recht erinnere, war’s Frau Distelflinks 1. Niederkunft.  Und selbst wenn wir herausfinden, es sei Mord gewesen, ungeschehen machen können wir ihn nicht.  –“
     „Und der Täter läuft inzwischen frei herum!“ sah’s Frau Struppe anders.  „Und das Morden geht lustig weiter;  wie?
     „Das ist der springende Punkt, liebe Frau“, hütete sich unser Igel, seiner Eheliebsten zu widersprechen.  „Entscheidend ist doch, daß wir das künftige Morden verhindern.  Da müssen wir eben –“
     „Ostereier gefällig?“ war ein Hausierer herzugetreten, der sein Geschäft besser verstand denn der Elster.  „Möchten die Damen einmal kostenlos probieren?
     „Ostern ist doch längst vorbei“, brummte die Igelin.  „Außerdem essen wir keine Kinder!“
     „Wer wollte Ihnen denn so was zumuten?“ ließ sich der Kaufmann nicht so leicht abwimmeln.  „Seh’ ich etwa aus wie ein Eichkater?  Und auf Bäume klettern wir Eierhasen auch nicht.  Hier, Eure Ladyschaft, versucht mal!  Feinste und köstlichste Schokolade!  Aus dem Hause Pfefferkorn!  Jaha, höchste Qualität!  Aber Eure Ladyschaft haben recht: Das sind natürlich keine Ladenhüter vom Ostergeschäft, sondern garantiert frische Maieneier.  Und gefüllt mit auserlesenem Blumenwein.  –“
     „Gefüllt?“ war’s unserm Bruhno wie ein Stichwort.  „Ich hab’ da eine Idee!  Herr Pfefferkorn könnte doch eine Garge –“
     „Charge!“ verbesserte Frau Nachtmeisterin.
     „Richtig!“ dankte es der kleine Bär schulmeisternd.  „Also, die füllen wir mit der Jauche von Bauer Gallenleider –“
     „Und fallen dabei in die Jauchegrube?“ nahm’s der Meister selbst in die Hand.  „Außerdem hatte unsere letzte Aktion bei ihm eine sehr schlechte Presse.  Nein, Herr Pfefferkorn, bei uns können Sie ohne Scheu reden;  Sie verstehen sich doch gewiß darauf, Tiere süchtig zu machen.  Ich seh’s Ihnen an.  Keine Angst, ich werde Sie nicht verhaften, sondern hier geht’s darum, daß Sie sich neue Kundschaft erschließen und dann an sich binden.  Ich dachte dabei an: Elstern, Krähen, Eichhörnchen, Marder und dergleichen mehr.  Wenn die erst einmal auf den Geschmack gekommen sind, dann –“
     „– werden sie alle anderen Eier verschmähen“, ergänzte der Eierhase und rieb sich geschäftstüchtig die Vorderpfoten.  „Da ließe sich was machen.  Viel machen!“
     Wünschen wir, daß den Worten auch Taten folgen;  dem Vogelgesang käme es gewiß zugute.
© Stiftung Stueckwerken, freigegeben am 14.12.2023

Qouz-Note: 3-

 

 

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MamM 1.118  Giezli

„Jedesmal, wenn ich den sehe“, bekannte Donna Bierlachs, aber nicht glücklich, „kommt alles wieder hoch.  Ich kann das einfach nicht –“
     „Verdauungsstörung?“ wagte der Alte von der Halbinsel als Diagnose.  „Das kann vielerlei Ursachen haben: unzureichendes Kauen, ein nervöser –“
     „Wollt Ihr Euch etwa über mich lustig machen?“ argwöhnte die Besucherin.
     „Wenn du’s dann leichter nehmen könntest“, wollte es der Alte nicht ausschließen, „warum nicht?  Belasten wollte ich dich jedenfalls –“
     „Das wollte ich Euch auch geraten haben“, warnte Donna Bierlachs vor einem gemeinsamen Kirschenessen.  „Es ist schon alles schlimm genug –“
     „Aber Ehrlichkeit ist doch besser, als sich selber etwas vorzumachen“, suchte der Alte nach Positivem.
     „Und das Vaterunser?“ fühlte sich die Besucherin keineswegs beruhigt.  „Nach der herrschenden Lehre in unserer Kirche wird auch mir nicht –“
     „Manche Christen“, seufzte der Alte, „bringen die Schöpfungsgeschichte mit der Theorie von dem Urknall derart durcheinander, daß sie wähnen, Gott habe alles in einem Nu erschaffen.  Anscheinend waren sie schon lange in keinem Garten mehr;  denn sonst wüßten sie, daß alles auf dieser Erde seine Zeit braucht.  Das gilt auch für die Bereitschaft, einander zu vergeben.  Da gibt’s wohl kaum einen Urknall;  und Narben bleiben noch lange sichtbar.  Aber – vielleicht hilft, was der Dekan am Sonntag gesagt hat: Wer nicht vergeben kann, ist sich seines Reichtums nicht bewußt.  Er sieht nicht die richtigen Größenverhältnisse.  Ja, wenn wir auf Schuld sehen, dann erscheint sie uns vermutlich als viel zu groß und überragt den vermeintlichen Schuldiger bei weitem“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal eine Königin und ein König, die hatten ein einziges Kind, eine Tochter, und die hieß –, die hieß Giezli.  Wie sie zu diesem Namen gekommen ist, wurde nicht überliefert, aber – da sind wir schon wieder bei den Vergrößerungsgläsern.  Auch ein Name kann so etwas sein.  Nimm nur den Namen Artur.  Benimmt sich ein Artur ein bißchen unbeholfen und täppisch, schon heißt es: Sein Name bedeutet ja Bär;  und damit wird das Tageswetter als Jahresklima ausgelegt.  So auch bei Giezli.  Weigerte sie sich, im Gasthaus Trinkgeld zu geben, wenn das Essen nicht geschmeckt hatte oder die Bedienung unhöflich gewesen war, schon wurde das ihrem Namen zugeschrieben.  Und das wurde auch nicht anders, nachdem sie Königin geworden war.
     „Kein Wunder, daß die keinen Prinzen abbekommen hat“, wurde hinter ihrem Rücken gemunkelt, „so eine Geizhälsin ist erst attraktiv, wenn sie kurz vor ihrem Grabesrand steht und es ums Beerben geht.“
     Tscha, so schnell richten die Menschen;  ohne die Angeklagte anzuhören oder ihr einen Rechtsbeistand zu gewähren;  ohne Berufungsmöglichkeit;  ohne Gnade, die doch das Visum aller Königlichen ist.
     Versuchen wir, es besser zu machen, und werden wir Giezli zum Harun al Raschid.  Und der hätte bald herausgefunden, daß wir Menschen ein unterschiedliches Vorstellungsvermögen von Zahlen haben;  erst recht Giezli.  Wenn sie 3 Taler sah und daneben einen Turm von 1.000 Talern, dann wußte sie das schon richtig einzuschätzen.  Aber was machst du mit einem Turm aus 10.000 Talern und einem aus 20.000 Talern?  Erst recht, wenn sie weit auseinander stehen und der 1. Turm dir viel näher ist.  Und dann darfst du nicht vergessen, es war bereits die Zeit des Papiergeldes.  In der königlichen Schatzkammer lagen nicht mehr Berge von Gulden und Talern;  denn die seien nach Ansicht der Wechselbankerte sicherer bei ihnen aufgehoben.  Nein, diese Herren des Geldes hatten dafür Schatzbriefe und Wechsel ausgegeben, und die füllten nun die königliche Schatzkammer.  Und wer sich da nicht in die Kunst der Buchführung eingearbeitet hat, verliert schnell den Überblick über sein Vermögen.
     Das siehst du auch an folgender Begebenheit.  Wie in aller Welt gab es auch in den Landen der Giezli Bettler;  aber ist das, wo es so etwas gibt, noch Reich zu nennen?  Nein, war Giezli überzeugt und versuchte, dem nach Kräften abzuhelfen.  So wird es dich nicht verwundern, daß sei ihre Bettler ansprach und ausfragte.  So auch den Felix.  Und der antwortete ihr, er brauche nur den Jahreslohn eines einfachen Tagelöhners, um nie mehr betteln zu müssen.  Denn davon wolle er sich einen Garten vor den Toren der Residenzstadt kaufen.
     Nun ja, ich weiß nicht, ob ich einen Jahreslohn erübrigen könnte.  Auch der Königin kam der Betrag recht groß vor, aber er war ja als Darlehen gemeint.  Sie wies also ihr Schatzamt an, diesen Jahreslohn auszuzahlen, und Bettler Felix kaufte sich davon auch sogleich seinen Garten.
     Bereits einen Monat später bekam er dort Besuch von der Königin;  die erwartete nämlich, daß ihr auf der Stelle das Darlehen auf Heller und Pfennig zurückgezahlt wurde.  Nö, weigerte sich Felix, das ginge jetzt noch nicht.  Er habe doch erst einmal Garten, Samen und Gerätschaften kaufen müssen, und den Rest des Geldes brauche er, um bis zur 1. Ernte überleben zu können, und bis dahin seien es noch etliche Monate.  Wolle ihn die Königin etwa wieder an den Bettelstab bringen?
     Nein, das wollte Giezli nicht;  und sie mußte sich auch entgegenhalten lassen, daß kein schriftlicher Vertrag über Zins und Schuldentilgung vorliege.
     Aber, so versicherte Felix, es sei unstrittig, daß er das Geld nicht als Geschenk erhalten habe, sondern zurückzahlen müsse, aber damit könne er erst nach den 1. guten Ernten beginnen.
     Nun ja, behauptete ich, die Königin wäre zufrieden auf ihr Schloß zurückgekehrt, so entspräche es nicht der Wahrheit.  Sie kam sogar im nächsten Monat wieder und erhielt statt des Geldes die gleichen Antworten und Beteuerungen.  So auch im folgenden Monat, doch da hatte sie auf der Rückreise einen Auftrag im –
     „Und was hat das alles mit meinem Problem zu tun?“ konnte sich Donna Bierlachs nicht länger zurückhalten.
     „Nichts, wenn du keine Königin bist“, antwortete der Alte mit einem Schmunzeln, das nicht bemerkt wurde.  „Giezli kam jedenfalls im nächsten Monat mit ihrem letzten Jahresabschluß wieder, und es fand sich, daß Felix den zu lesen verstand.  Freilich – die Sonne war längst untergegangen, als Felix der Königin erklärte, was er entdeckt habe.  Sie habe nämlich ein jährliches Einkommen, das 600.000mal größer sei als jenes Darlehen an ihn.  Wenn sie mal nach oben blicke, dann sei der Polarstern mit jenem Darlehen vergleichbar und all die anderen Sterne, die sie sähe, mit ihrem jährlichen Einkommen.  Wie vielen Bettlern könne sie damit wieder auf die Beine helfen, ohne arm zu werden?  Und das Jahr für –“
     Aber da mußte der Alte mal wieder gewahren, daß ihm für das glückliche Ende seines Mährchens die Zuhörerin abhanden gekommen war.
© Stiftung Stückwerken, 16.12.2023

Qouz-Note: 3-

 

 

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MamM 1.119  Spiegel der Sonne oder Die 7 leeren Kreuze

„Was haltet Ihr eigentlich von der neuen Bibelübersetzung“, fragte Donna Pilgerleid, „wie sie künftig in unserer Kirche verwendet werden soll?
     „Soll!“ rieb sich der Alte von der Halbinsel mal wieder an seinem Reizwort.  „Da liegt der Haken!“
     „Wieso?“ konnte die Besucherin nicht folgen.
     „Da mußt du schon die fragen, die diesen Haken dort hineingelegt haben“, antwortete der Alte.  „Grundsätzlich ist nichts gegen neue Übersetzungen zu sagen, wenn sie einen Text aus einer anderen Sprache vor allem verständlicher machen.  Allein – jede Übersetzung ist eine Verminderung und eine Anreicherung des Originals.  Nehmen –“
     „Also immer eine Fälschung?“ folgerte Donna Pilgerleid.
     „– wir eine Eisenbahnbrücke als Bild hinzu“, schien der Alte unbekümmert fortfahren zu wollen.  „Je näher die Übersetzung der Entstehungszeit des Originals, desto besser passen die Schienen zur damaligen Spurweite, aber desto schwieriger der Anschluß an die heutige Spurweite.  Bei den heutigen Übersetzungen ist es genau –“
     „Hakt der Vergleich nicht sehr?“ hatte die Besucherin anscheinend früher kaum mit Eisenbahnen gespielt und ergänzte spöttisch: „Fürchtet Ihr etwa Entgleisungen?  Vielleicht solltet Ihr einen Umsteigebahnhof –“
     „Jeder Vergleich hat seine Grenzen“, nahm’s der Alte nicht übel, „und ist ebenfalls Verminderung und Anreicherung;  also streng genommen: nie ganz wahr.  Gut, verlassen wir das Bild!  Werden wir konkreter!  Eine neue Übersetzung kann bereichern;  wenn sie aber eine altbewährte und gute verdrängen soll, dann ist das wie Vertreibung aus Heimat.  Vergiß nicht: Viele Menschen sind mit unserer alten Übersetzung aufgewachsen und haben sogar täglich darin gelesen.  Manches Zitat ist in ihren Sprachschatz übergegangen, und nun sollen sie diese Heimatklänge verlassen und tatenlos zusehen, wie ihre Heimat durch Fremdes besetzt wird?  Menschen aus deren Heimat zu vertreiben, das ist ein schweres Verbrechen!“  Und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein kleines Städtchen, das hieß –, das hieß Jungerfeld.  Ursprünglich von Bauern gegründet, hatte es in den letzten Jahren, bevor diese Geschichte an Fahrt aufnimmt, das genommen, was Politiker einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung nennen.  Die Zeitungsleute hatten es geschäftstüchtig übernommen und sich keine Gedanken darüber gemacht, ob der Turner wieder heil von seinem Reck herunterkommen werde.  Auf dem Papier war nämlich alles zu schön.  Was zu schön?
     Nun – nach Jungerfeld war ein Spiegelhändler gekommen und hatte den Bauern ein kleines Vermögen versprochen.  Für was?  Na, für ihr bisheriges Vermögen.  Zumindest mit ihrem Barvermögen und auf gesicherte Kredite sollten sie dem Mann Spiegel abkaufen.  Nein, nicht für die Mütter und Töchter, um deren Schönheit weiterzubilden, sondern um sich die Sonnenkraft untertan zu machen.  Im Grunde waren’s auch keine richtigen Spiegel, aber unter diesem Namen ließ sich das Spezialglas besser verkaufen;  denn sag selbst: Zauberspiegel klingt doch viel eindringlicher denn Zauberglas.  Und dieser sogenannte „Spiegel“ konnte mährsächlich zaubern: Öfen heizen, Badewasser aufwärmen und – Maschinen antreiben!  Und alles angeblich kostenlos!
     Schnell war ein Bauer für Vorführungszwecke gefunden, und schon bald waren die meisten Dächer in Jungerfeld mit solchen „Spiegeln“ bedeckt.  Ja, sogar auf bisherigen Gärten und Feldern wurden „Spiegel“ aufgestellt.  Bald rentierte es sich sogar, daß der Spiegelhändler in Jungerfeld eine eigene Glashütte mit angegliederter Glasfabrik bauen ließ und in Betrieb nahm.
     Tscha, du ahnst es schon: Es rentierte sich alles insbesondere für den bisherigen Händler und nunmehrigen Fabrikanten.  Bei den Bauern sah das anders aus.  Zwar stellte die Sonne ihre Kraft wirklich kostenlos zur Verfügung, aber die Kredite für den Kauf der sogenannten Spiegel waren nicht umsonst, sondern mußten mit Zins und Zinseszins zurückgezahlt werden.  Und diese Lasten drückten schwerer als früher die Ausgaben für Brennholz und Kohle.
     Hast du Sorgen, dann heb deine Augen auf, damit sie etwas finden, das dir neuen Mut macht.  Vordem half da bereits ein Blick aus dem Fenster, ein Gang durch das Städtchen oder um dieses herum;  eben durch die Heimat.  Aber diese Heimat war inzwischen entschwunden und durch eine Glaswüste ersetzt worden.  Sogar Kirche und Leichenhalle hatte das Glas nicht verschont.  Nur die Windmühle hatte sich als Denkmal der einstigen Heimat behaupten können;  denn der Windmüller hielt nichts vom Schuldenmachen und wußte sich mit der Kraft der Winde zu begnügen.  Seine Tochter Sally dachte genauso, aber sie hatte unten im Städtchen 9 Freundinnen und nahm an deren Schicksal und Nöten innigen Anteil.
     Ja, Nöten!  Vor dem Haus keine Heimat mehr und drinnen: Sorgen, Streit, Vorwürfe und Verzweiflung.  Zwar ließen sich mit der Kraft der Sonne bekanntlich auch Maschinen antreiben, was zusätzliches Geld einbrachte;  doch was der eine Bauer konnte, das konnte der andere Bauer bald auch, so daß schnell ein häßlicher Konkurrenzkrieg in Jungerfeld herrschte, dem eine Schlechtigkeit nach der andern zum Opfer gebracht werden mußte.
     Das alles bekümmerte die 9 Freundinnen derart, daß sich eine nach der andern über den breiten Fluß setzen ließ und nimmer wiederkam.  Nur ein leeres Holzkreuz erinnerte auf dem Jungerfelder Totenacker jeweils an die Entschwundene.  Und Sally?  Wollte sie auch –“
     „Bitte, bitte, kommt endlich zur Sache!“ konnte sich die Besucherin nicht länger zurückhalten.  „Was hat das alles mit der neuen Bibelübersetzung zu tun?
     „Eh, die Brücke dahin baust du am besten selber“, ließ sich der Alte nicht aus seinem Konzept bringen.  „Als echtes Windmüllerkind ließ sich Sally jedenfalls nicht so leicht umpusten und verwehen.  Sie wartete einen kräftigen Rückenwind ab, und dann ging sie drunten von Haus zu Haus, hörte zu, knüpfte ihre Fäden und verband so Familie mit Familie zu Nächsten.  Schließlich waren alle eine einzige Nachbarschaft, die alles Sonnenglas und auch alle damit verbundenen Schulden übernahm.  Und da nun alle mit einer Stimme sprachen, bekam es der Glasfabrikant derart mit der Angst zu tun, daß er schleunigst von dannen zog und neue Opfer suchte, durch die er sich leichter bereichern könne.  Und Sally und die Jungerfelder, zerstörten sie jetzt alles Zauberglas?  Mitnichten!  Nein, sie begannen, aus ihrer Glaswüste wieder eine Heimat zu machen.  Und Heimat ist doch kein totes Museum, sondern lebt in Veränderung, aber harmonisch.  Und nun fingen die Gesichter der Jungerfelder wieder an, zu leuchten;  nicht als Spiegel äußerer Strahlen, sondern es kam von –“
     Allein – die Besucherin hatte das nicht mehr hören wollen und war inzwischen gegangen.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 16.12.2023

Qouz-Note: 4

 

 

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MamM 1.120  Nachtmeister Stropp und der Fall Haselwurm

„Und auf was seid Ihr in Eurem Leben stolz, Herr Nachtmeister?“ fragte der kleine Bär eines Morgens beim Spätstück.
     „Na ja, stolz –“, zögerte unser Stropp, „ist Stolz eine gute Eigenschaft?  Aber deine Frage, lieber Bruhno, zeugt schon von einiger Weisheit: unser Leben von dessen Ende her zu werten.  Also, ich bin dankbar, daß ich meine Eheliebste gefunden habe und sie es bis jetzt bei mir ausgehalten –“
     „Ja, das kannst du ruhig laut sagen“, nahm Frau Struppe kein Blatt vor den Mund, „einfach war es nicht.  Doch haben meine Ermahnungen hin und wieder auch Früchte getragen;  und du bist wenigstens kein hoffnungsloser Fall.  Und – wenn ich ehrlich sein soll: Ich hab’s bis heute nicht bereut;  sonst wär’ ich ja nicht bei dir –“
     „Und auf Eure gelösten Kriminalfälle“, hielt unser kleiner Bär als Junggeselle nicht viel vom Süßholzraspeln anderer Leute, „seid Ihr darauf gar nicht stolz?  Meines Wissens habt Ihr jeden Fall –“
     „Nicht jeden“, war unserm Igel die Wahrheit wichtiger denn Anerkennung, „denk nur an die Stieglitze.  Nein – nun ja, ich bin auch nur ein Tier, und manchmal kitzelt es schon meine Eitelkeit, wenn die Ermittlungen zum Ziel geführt haben.  Aber – ich sag’s in letzter Zeit immer häufiger: Einen Täter zu überführen, nee, das ist nicht das oberste Ziel.  Denn 1. wird die Tat dadurch nicht ungeschehen gemacht;  2. gibt es eigentlich keinen Alleinschuldigen;  3. schafft die anschließende Verurteilung viel zu oft neues Unrecht, an dem ich mir als Ermittler somit Mitschuld aufbürde;  und 4. müßte ich mich viel mehr darauf konzentrieren, künftige Verbrechen zu verhindern, mich also arbeitslos zu –“
     „Du sollst sofort an den Kaltebach kommen“, störte eine Stimme, der Humor und Spott nicht ganz fremd zu sein schienen, die friedliche Spätstückidylle.
     „Guten Morgen, Herr Klopfmeister“, war unser Held kein Freund von Hektik, sondern von höflichen Umgangsformen, „braucht Ihr einen Arzt?  Dann fliegt am besten –“
     „Nee“, antwortete der Vogel, „sonst wär’ ich bestimmt nicht hier.  Nein, es geht um einen Mord, und ein Ehepaar will dir mit seiner Zeugenaussage unter die Flügel greifen.“
     „Und was sagt der Friedensrichter dazu?“ hakte unser Nachtmeister nach.
     Ach, der –“, tat’s der Specht lachend ab, „der kümmert sich doch nicht mehr um uns.  Der hat doch nur seine Jagd im Kopf;  und er muß seinen Vorrat an Kirschlikör aufbrauchen, weil es bald neuen gibt.  Nee, der einzige, auf den noch einigermaßen Verlaß ist, bist – eh, bin ich;  und deshalb sollst du sofort –“
     „Mein lieber Freund“, mußte Frau Struppe ihr Temperament sehr zügeln, „niemand soll etwas, erst recht nicht der Herr Nachtmeister;  verstanden?  Der Herr Nachtmeister hat nämlich jetzt Feiermorgen, und dieser hat der Pflege des Familienlebens zu dienen.  Und dann ist mein lieber Gatte kein Vogel und muß somit für den weiten Weg erst einmal eine Fahr- oder Reitgelegenheit bestellen.  Vor Sonnenuntergang werden wir heute jedenfalls nicht in jenem Tal eintreffen.  Das kannst du deinem Ehepaar ausrichten;  und wenn die beiden dafür kein Verständnis haben, na, dann führen die wohl ein Eheleben, das gewiß kein Himmel auf Erden ist.  Und nun noch zu dir!  Eigentlich ist an unserer Spätstückstafel genug Platz für Gäste;  da dir aber ein Gruß für uns zu schade war und du den Gruß unseres Nachtmeisters nicht erwidert, geschweige dafür gedankt hast, heb dich bitte von dannen;  und gute Besserung!“
     Oy,  oy, oy, waren das deutliche Worte!  Da er sein Ansehen durch längeres Bleiben nicht mehr verbessern konnte, flog Herr Klopfmeister sogleich mit Gelächter davon.
     Als Reittier mußte am Abend wieder Wastel herhalten, der aber die Igelin wenigstens davon überzeugen konnte, bei dem schwülen Wetter sei ihm ein Igel als Last genug.  In Windeseile ging die Hinreise natürlich nicht vonstatten.  Es waren in den Vorgärten zu grüßen: 4 Schildkröten, 3 Igel, 4 Gänse, ein Erpel, ein Entengansschwan (dessen Schöpfer eine genaue Zuordnung offengelassen hatte), Pfingstrosen, verspätete Tulpen, scheidende Vergißmeinnicht, Akelei, Flockenblumen, Rhododendron, Flieder, Löwenmaul, Löwenzahn, wilde Erdbeeren und eine verfrühte Ringelblume.  Und als Nachtmeister kannst du dich ja nicht mit einem Kopfnicken begnügen, sondern mußt auch nach dem Ergehen fragen, trösten oder dich bemühen, dich mitzufreuen, willkommen heißen und verabschieden.  –  Ja, wenn die Menschen wüßten, wieviel Schönes an Blüten, Düften und Früchten sie solcher Seelsorge verdanken, sie wären – dankbarer und damit viel freudiger.
     Jedenfalls – war der Tatort im Kaltebachtal schnell gefunden, aber zur Stelle war nur der Ehemann, der so sehr in Zeitnot war, daß er sich mit einem Gruß nicht aufhalten wollte.
     „Ich hab’s genau gesehen, eh, den Täter“, kam der Mann gleich zur Sache, „er hat sich einen Stock genommen und mehrmals auf die Leiche hier eingestochen.“
     „Die Leiche?“ hakte unser Held mit seinem berühmten Scharfsinn sogleich ein.  „Dann liegt allenfalls der Tatbestand der Leichenschändung vor.  Aber – ich sehe hier überhaupt keine Einstichstellen, Herr Atzilo –“
     „Aber ich hab’s genau gesehen“, wollte sich der Elster nicht beirren lassen, „und es war der Schlendertünnes.  Es ist höchste Zeit, daß du diesen Schwerverbrecher endlich dingfest –“
     „Ist es ein schweres Verbrechen“, fragte unser Igel verneinend, „Nesträuber daran zu hindern, unschuldige Kinder –“
     „Seht mal, Herr Nachtmeister“, hatte unser Bruhno etwas Wichtiges bemerkt, „genau wie beim Fall Schlichensiepen, den Ihr mit Eurer Gattin noch vor meiner Zeit aufgedeckt habt: nur der Schwanz.  Anscheinend hat –“
     „– der Schlendertünnes mit dem Stock lediglich den Schwanz der Blindschleiche an den Wegesrand – eh, befördert“, berichtete unser kleiner Bär am nächsten Morgen beim gemeinsamen Spätstück, „und wir vermuten, daß die Elstern von der Blindschleiche reingelegt worden sind.  Darüber haben sie sich derart geärgert, daß sie wenigstens dem Schlendertünnes eins auswischen wollten.“
     „Was ihnen aber nicht gelungen ist, mein lieber Bruhno“, ging Frau Struppe uneigennützig weiter, „weil du so gut aufgepaßt hast.  Ich glaub’, auch für dich können wir dankbar sein und daß du seit bald 2 Jahren bei uns bist.“
     „Wo du recht hast, da hast du recht“, stimmte unser Stropp dem zu.  „Danke, lieber Bruhno.  Weiter so!“
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 11.1.2024

Qouz-Note: 3

 

 

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