MamM – Mährchen an meine Mutter Nr 1.081 bis 1.100
Überblick MamM 1.081 bis 1.100
1.081 Nachtmeister Stropp und der Fall Assekuranz I (*29.8.2020)
1.082 Nachtmeister Stropp und der Fall Assekuranz II (*3.+5.9.2020)
1.083 Nachtmeister Stropp und der Fall Assekuranz III (*12.9.2020)
1.084 Nachtmeister Stropp und der Fall Eberhart (*18.-19.9.2020)
1.085 Nachtmeister Stropp und sein eigener Fall (*25.9.2020)
1.086 Nachtmeister Stropp und der Fall Markrätsch (*1.10.2020)
1.087 Der singende Vogel (*9.10.2020)
1.088 Der Schlüssel am Wegesrand (*15.10.2020)
1.089 Selig sind die Kinder (*22.-23.10.2020)
1.090 Sonnenstein (*31.10.2020)
1.091 Der Tunnel (*5.+7.11.2020)
1.092 Die Steine selbst, so schwer sie sind (2) (*13.-14.11.2020)
1.093 Göttliche Arroganz? (*19.-20.11.2020)
1.094 Willst du mein werden? (*27.11.2020)
1.095 Liebe liest Liverino (*3.-4.12.2020)
1.096 Herzelinde und der Falter (*10.-11.12.2020)
1.097 König Ohnereich (*18.-19.12.2020)
1.098 Die Nacht ist fortgerungen? (*26.12.2020)
1.099 Darf der das? (*31.12.2020-1.1.2021)
1.100 Abermauer und Dennochbrücke (*8.1.2021)
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MamM 1.081 Nachtmeister Stropp und der Fall Assekuranz
I
„Mein lieber Rexilio“, nahm unser Stropp bald nach den letzten Ereignissen den Zaunkönig zur Seite, „meine Frau und ich
sind der Meinung, daß Ihr am besten Eure Zelte hier am Kühlebach abbrecht und mit uns an den Dortwehrer Grenzweg zieht. Das Paradies gibt es zwar auch dort nicht, aber Ihr habt da ständig Eure Freunde um Euch und könnt Euch dort etwas Neues –“
„Ja“, stimmte Rexilio bei, „hier ist mir vieles verleidet –“
„Und“, ergänzte unser Held, „wir dürfen nicht vergessen: Am schwersten fällt es uns, andern das zu vergeben, was wir ihnen angetan
haben; und Euch ist sehr viel Unrecht –“
„Das kannste laut sagen!“ seufzte der Zaunkönig.
„Ich denke“, bezeugte unser Igel seine Existenz, „viel werd’ ich hier nicht mehr zu tun bekommen, und dann können wir in wenigen Tagen –“
„Herr Nachtmeister! Herr Nachtmeister!“ wurde dieser
aufgeregt unterbrochen. „Du mußt sofort kommen! Ich –“
„Guten Abend, lieber Mann“, konnte der Angeredete eine gewisse erzieherische Neigung nicht unterdrücken, „könnten Sie mir bitte erst einmal Ihren Namen nennen? So kann ich alles von Anfang an besser einordnen.“
„Kobelburg“, lautete die Antwort, „von Kobelburg! Ich hab’ hier meinen
Gutshof, und also, du mußt sofort kommen. Es ist entsetzlich! Solch ein
Schaden!“
„Aha!“ folgerte unser Nachtmeister mit seinem berühmten Scharfsinn. „Es ist also nur ein materieller
Schaden; eine Leiche gibt es –“
„Fang nur nicht an, das zu bagatellisieren!“ erhitzte sich der Adelmann. „Wenn das so weitergeht, komm’ ich
noch an den Bettelstab! Sitten sind das heutzutage! Aber wehret den Anfängen! Wehret den –!“
„Auf Wiedersehen, lieber Rexilio“, wählte unser Stropp den Pfad des Klügeren, „die Pflicht ruft! Könntest du
so nett sein und mir meinen Lehrfreund nachschicken? Ja? Dann dank’ ich
dir; bis bald!“
Und mährsächlich, kaum waren Eichkater und Igel am Tatort eingetroffen, war auch schon unser Bruhno zur Stelle.
„Da hatte ich meine Lagerbunker“, zeigte Herr von Kobelburg gerade auf den Randstreifen des Talweges. „Und nun
alles geplündert und verwüstet! Ihr seht es ja selbst, –“
„Alles umgepflügt und umgewühlt“, bestätigte der kleine Bär. „Bauernlümmel?“
„Menschen?“ fragte unser Held verneinend zurück. „Die
schaden nicht im Kleinen! Das hier kommt ja nicht einmal auf einen Igelkilometer. –“
„Aber der Schaden geht in die Millionen!“ hatte der Eichkater eine andere Sehensweise. „Da fällt mir ein, du mußt das hier noch unterschreiben. Ansonsten ist schon alles
ausgefüllt. Hier –“
„Amtliche Schadensfeststellung?“ konnte unser Nachtmeister kaum glauben, was er da las. „Wozu brauchen Sie das denn?“
„Ist doch alles nur wegen der Versicherung!“ versuchte Herr von Kobelburg herunterzureden. „Meinst du, ich täte mein Vermögen nicht absichern? In d e
n unsicheren Zeiten?“
„Als die Menschen sich von Gott abwandten“, murmelte unser Stropp vor sich hin, „gründeten sie Assekuranzen;
nun tun es ihnen auch die Tiere nach. Nein, sehr geehrter Herr von Kobelburg, ich kann das hier nicht unterschreiben. Ich kann nur bestätigen, was ich hier sehe; welche Schätze Sie aber hier bisher
gelagert hatten, das kann ich nicht –“
„Und so etwas nennt sich dein Freund und Helfer!“ begann das Eichhörnchen loszuschimpfen. „Soll ich’s etwa selber unterschreiben? Da brauch’ ich einmal Hilfe vom Staat, und
was ist? Verraten und –“
„Ich mach’ Ihnen ein Angebot“, versuchte unser Igel zu beschwichtigen: „Ich werde in diesem Fall ermitteln;
und wenn dann der Täter ein Geständnis ablegt, dann müßte das der Assekuranz eigentlich genügen.“
„Na“, blieb Herr von Kobelburg skeptisch, „wer stiehlt und raubt, der ist auch unehrlich. Der wird wohl kaum
den ganzen Schaden –“
„Was hast du eigentlich als Prämie eingezahlt?“ fragte unser Bruhno bereits gekonnt, als täte er’s so
nebenbei.
„Na, den Zehnten!“ antwortete der Adelmann.
„Hui!“ pfiff unser Bär zwischen den Zähnen und rechnete wenig später seinem Lehrherren vor, als sie wieder alleine
waren: „Das ist in 10 Jahren ein ganzer Jahresertrag! Das lädt ja förmlich zum Betrügen ein.“
„Tscha“, seufzte unser Nachtmeister, „Versicherung und Betrug, die sind wie Sommer und Hitze; irgendwann
finden die immer zusammen. Zwar haben auch sie ihre Zeit, aber solange die Erde steht,
–“
„Glaubt Ihr etwa, der Eichkater hätte das dort unten selbst verwüstet?“
„Mein lieber Bruhno“, war unser Stropp ein wenig enttäuscht, „die Spuren dort unten sind doch eindeutig;
oder? Und ich denke, wir müssen hier im Pirschwäldchen gar nicht ganz bis zur Höhe – Da, da
sind sie schon!“
Im Nu waren Igel und Bär umzingelt, und mehr als ein Dutzend Gewehre richtete sich drohend auf sie.
„Es war die ehemalige Kinderbande“, berichtete unser Held am nächsten Morgen seiner Eheliebsten. „Nachdem ich ihnen wegen ihrer Unvorsichtigkeit noch einmal ins Gewissen geredet hatte, kam es dann sogleich heraus, daß sie für die Verwüstungen am Talweg
verantwortlich gewesen waren. Nur – große Schätze hätten sie dort nicht gefunden. Sie hätten sogar noch einiges zurückgelassen, –“
„– was du und Bruhno am Tatort gar nicht mehr gesehen habt“, ergänzte Frau Struppe. „Ist das nicht
merkwürdig? Entweder hat die ehemalige Kinderbande dich belogen oder dieser Gutsherr –“
„Oder es ist noch etwas im Busch“, erweiterte der Gatte den Horizont.
„Aber der Fall ist doch eigentlich gelöst; oder?“ hoffte
die Eheliebste auf ruhigere Zeiten.
„Hmh, hmh“, zweifelte unser Stropp sehr, „oder war nur das Tor zu einem viel größeren Fall. Ich achte, ich muß
mir mal diese Versicherungsgesellschaft genauer anschauen.“
Allein – an denen hat sich schon mancher die Zähne ausgebissen! Doch Gott
ist mit den Zuversichtlichen.
© Stiftung Stückwerken, *29.8.2020, freigegeben am 6.2.2024
Qouz-Note 3
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MamM 1.082 Nachtmeister Stropp und der Fall Assekuranz
II
„Guckt mal, Herr Nachtmeister“, wollte unser lieber Bruhno seine Entdeckung nicht für sich behalten, „eine große Zitrone dort drüben über den Lenebergen!“
„D e n Vergleich kannte ich noch nicht“, mußte unser Stropp schmunzelnd zugeben, „aber schön schaut’s schon
aus. Und alles so friedlich und dennoch in Bewegung. Gut, daß wir hier
hinaufgestiegen sind und uns über unsern guten Mond –“
„Romantischer Kitsch!“ drückte es eine 3. Stimme auf andere Weise aus; ohne Frieden. „Was ich nicht sammeln kann oder fressen, das ist nichts
wert!“
„Banane, nee, Ba-, Ba-“, suchte unser kleiner Bär.
„– Banause!“ wollte die 3. Stimme glänzen.
„Ach, so heißt du eigentlich“, freute sich Bruhno, mit Reinlegen gestraft zu haben.
„Aber das ist doch der Herr von Kobelburg“, versuchte unser Igel abzulenken. „Sie sind doch kein Banause, nicht
wahr?“
„Das tät’ ich mir auch verbitten!“ schien der Eichkater zu den Zeitgenossen zu gehören, die sich in allem für
hervorragend wähnen.
„Aber gut, daß ich Sie treffe“, war es nicht unseres Helden Art, auf der Lächerlichkeit anderer herumzureiten.
„Bei wem sind Sie eigentlich versichert?“
„Bei der AuA Assekuranz“, antwortete der Gutsherr. „Was ist eigentlich
aus Seinen Ermittlungen –“
„Könnten Sie da einmal einen Termin für mich vereinbaren?“ wollte unser Nachtmeister aus irgendwelchen Gründen nicht
auf die schwebende Frage eingehen. „Sie haben da doch gewiß bessere Kontakte als wir vom Bodenpersonal.“
„Das ist wohl anzunehmen“, sonnte sich Herr von Kobelburg. „Aber die kommen sogar zu Ihm nach
Hause. Was will Er denn versichern lassen?“
„Das ist es ja gerade“, griff unser Stropp mit seinem berühmten Scharfsinn gerne solche Zusammenhänge auf, die uns Menschen oft verborgen bleiben, „ich wollte mich gegen
Einbruch und Germanismus versichern –“
„Germanismus?“ tat sich für den Eichkater unvermittelt eine Wissenslücke auf. „Heißt das nicht anders? Ach so, jetzt verstehe ich: Er ist ja zur Zeit nicht zu Hause,
sondern – Ach, wo war das noch mal – ?“
„Am Dortwehrer Grenzweg“ siegte bei unserem kleinen Bären die Hilfsbereitschaft über berufliches Mißtrauen.
„Ja. ja. stimmt ja auch“, tat der Eichkater, als habe er nichts Neues erfahren, „ist ja überall bekannt! Was
ich Ihn noch fragen wollte und hab’ ja schon gefragt: Wie steht’s mit Seinen –“
„Am besten in den Morgenstunden“, wich unser Held wieder aus, „dann stehen wir nicht so unter Zeitdruck.
Wollen Sie das bitte der Assekuranz mitteilen? Dann dank ich Ihnen schon mal im voraus. Auf Wiedersehen!“
„Mein lieber Bruhno“, konnte der Lehrherr wenig später mahnende Worte nicht umgehen, „meine private Anschrift gebe ich nicht gerne heraus; erst recht nicht, wenn unser Haus ohne Aufsicht –“
„– und der Gesprächspartner nicht vertrauenswürdig ist“, ergänzte unser Bruhno. „Ich weiß, ich weiß, ich bin
manchmal etwas vorschnell.“
„Aber eine bekannte Gefahr ist kaum eine halbe Gefahr, hab’ ich mal in einem
spannenden Buch gelesen“, wollte unser Stropp seinen Lehrling entlasten; „wer weiß, wozu das gut ist? Ach so, daß ich’s nicht vergesse: Wenn die von der Assekuranz kommen, dann nimmst auch du bitte an dieser Besprechung
teil. Setz dich aber so, daß du mich gut sehen kannst. Und wenn ich dann
plötzlich mit dem rechten Auge heftig zwinkere und es gegebenenfalls noch reibe, dann fragst du bitte: «Und der Schatz im Keller?»
Gell, das kannst du behalten; es ist sehr wichtig.“
Das sei doch ein Kinderspiel, versicherte der kleine Bär, erhielt aber dazu keine weiteren Auskünfte.
Einige Tage später kam die AuA Assekuranz mährsächlich und löste die Abkürzung in ihrer Firma auf: Sie kamen nämlich zu zweit. Anscheinend ein Ehepaar, begann unser Nachtmeister sogleich, zu sammeln, einzuordnen und zu archivieren. Gehen meist seitwärts; vermutlich nicht aufrichtig.
Protzerich und Protzerine, war Frau Struppe nicht weniger emsig. Agelheid mit zierlichen
Goldkettchen an den Füßen und feinem Goldstaub auf der Brust, der jedoch wie der purpurne Glanz nur aus der Nähe zu bemerken war. Von
weitem schienen die beiden nur in Schwarz und Weiß gekleidet zu sein, als wären sie amtliche Respektpersonen, etwa auf gleicher Stufe wie Richter, Staatsanwälte oder Präsidenten. Atzilo trug keine Kettchen, aber einen wertvollen goldenen Ring und zeichnete sich mit Titeln aus: Konsul,
Professor und Doktor. Letzteres sogar in mehrfacher Ausfertigung, also zum Beispiel auch in italienischer Sprache.
Dennoch ein armer Mann, dachte unser Held. Er scheint sich irgendwie für minderwertig zu halten und erlebt
wohl immer wieder, daß er den Ansprüchen seiner Frau nicht genügen kann.
Und was fiel unserm Bruhno auf? Daß die beiden Versicherer mit Beziehungen prahlten. Als die Igelin einen gewissen kaufmännischen Sachverstand durchblicken ließ, warf Agelheid wie von ungefähr ein, sie duze sich mit
Steuereintreiber Häherich. Und als der Lehrherr, wie’s so seine Art war, hin und wieder aus der Bibel zitierte, verhehlte Atzilo nicht,
daß das Ehepaar eng mit Dompfaff Schein-Schäfer befreundet sei.
Und dann fing unser Stropp plötzlich an, mit dem rechten Auge zu zwinkern. Das Gespräch war inzwischen soweit
gediehen, daß über eine Einbruchdiebstahlversicherung verhandelt wurde. Die Versicherer rieten zu einer möglichst hohen
Versicherungssumme, Igelin und Igel beteuerten jedoch, nicht sehr wohlhabend zu sein. Tscha, und dann stellte unser kleiner Bär die
vereinbarte Frage.
„Lieber Bruhno, das hast du bestimmt nur geträumt“, reagierte unser Stropp überraschend heftig. „Da ist doch
gar kein Schatz. Und jetzt bitten wir um ein paar Tage Bedenkzeit. Ach so,
Sie wissen, daß ich im Fall von Kobelburg ermittelt habe?“
Selbstverständlich wußten das die beiden Elstern, aber das Ergebnis interessiere sie gar nicht. Ihre
vierteljährliche Inspektionen, natürlich verdeckt, hätten ergeben, daß die Versicherungssumme das 10fache des tatsächlichen Vermögenswertes betragen hätte und deshalb im Schadensfall auch nur 10%
auszuzahlen seien. Und selbst das müßte die AuA sogar verweigern, weil die Sicherheitsauflagen in gröblicher Weise nicht eingehalten
worden seien. Wo Wildschweine zu pflügen pflegten, da müsse ein Versicherungsnehmer sein Vermögen eben entweder in der Höhe oder in
großer Tiefe aufbewahren oder anderweitig sichern. Tscha, selbst wenn der Eichkater klagen wollte, so wären die Anwaltskosten gewiß
deutlich höher denn die Entschädigung, die ihm ein Gericht zusprechen könne. Pech gehabt!
„So ist der letzte Fall endlich gelöst“, meinte die Igelin hinterher.
„Und wird wohl ein weiteres Nachspiel haben“, ergänzte unser Stropp, „wenn mich nicht alles täuscht.“
Wer könnte aber unseren Helden täuschen!
© Stiftung Stückwerken, *3.+5.9.2020, freigegeben am 7.2.2024
Qouz-Note 4+
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MamM 1.083 Nachtmeister Stropp und der Fall Assekuranz
III
Zum letzten Fall hatte unser berühmter Nachtmeister ein weiteres Nachspiel angekündigt, – wenn ihn nicht alles täusche. Nun mag es auch
unter den Tieren viel Tarnung und Täuschung geben; aber daraus zu schließen, daß alles täusche, das wird unserem Stropp wohl niemand unterschieben wollen. Deshalb ahnen wir schon, daß da noch etwas im Busche ist und
begleiten unseren Igel zum Schauplatz jenes Nachspiels.
Der lag nämlich nicht im Kühlebachtal, auch nicht im Pirschwäldchen, sondern wohl an die 10 Igelmeilen davon entfernt. Für einen Igel normalerweise eine Strecke von mehreren Nachtreisen und selbst für unseren Helden viel, viel weiter als eine gewöhnliche
Nachtstreife. Was also tun?
Tscha, du mußt zwar nicht mit jedem gut Freund sein, aber es ist doch gut, wenn du mit niemandem zerstritten bist, der dir weiterhelfen kann. Gewiß erinnerst du dich noch an die ehemalige Kinderbande, die unser Nachtmeister bereits 2mal zu mehr Vorsicht ermahnt hatte, aber eben nicht zu
streng und nicht schulmeisterlich. Und jene, nun ja, inzwischen Jugendlichen konnte unser Stropp nun gut gebrauchen.
Lange zu suchen brauchte er sie nicht, denn bekanntlich hinterlassen sie ja jede Nacht sehr deutliche Spuren, insbesondere in den Eichwäldern. Er fand sie also und wurde mit ihnen schnell handelseinig: Sie durften ihn und Bruhno auf ihrem Rücken tragen und dafür am Ziel einen Garten
umgraben.
Wann? Tscha, das richtete sich nach dem, was Wastel heimlich zugetragen
hatte.
Um 4 Uhr in der Frühe, hatte der Waschbär berichtet, so hätten’s die Parteien ausgemacht; alle zur gleichen
Zeit. Bis Sonnenaufgang wären sie gewiß fertig. Vorsichtshalber habe er
Frau Struppe zu Frau von Nowotny gebracht, um sie aus der Schußlinie zu halten.
Schußlinie? Das hört sich ziemlich gefährlich an und mahnt zur Vorsicht und Besonnenheit. Zur äußersten Vorsicht! So wird es dich gewiß nicht wundern, daß unser Stropp und
sein Assistentenanwärter an jenem Morgen viel früher am, eh, am Schauplatz eintrafen als die, eh, die Erwarteten. Unsere Freunde mußten sich ja noch verstecken, und – es mußten noch einige Anweisungen gegeben und alles generalstabsmäßig vorbereitet
werden.
Zunächst führte unser Held die Wildschweine zu dem Teil seiner wilden Gärten, der bereits abgeerntet war. Hier
konnten die Schwarzkittel nach Herzenslust Suchen und Finden spielen, und unser Igel brauchte hier nicht mehr umzugraben; eine richtige
Gewinn-Gewinn-Lösung. Tscha, und du ahnst inzwischen vermutlich, wo der Schauplatz unseres Nachspiels liegt. Richtig! Am Dortwehrer Grenzweg, auf des
Igelpaares eigenem Grund und Boden.
Selbstverständlich überzeugte sich unser Nachtmeister auch noch höchstpersönlich davon, daß seine Eheliebste in Sicherheit war, ehe er zu unserem kleinen Bären
zurückkehrte.
Ach so, einen habe ich noch vergessen: Rexilio! Der Zaunkönig sollte ja hier an der Grenze eine neue Heimat
finden und war mit unseren beiden Freunden angereist; natürlich nicht auf einem Wildschwein, sondern – per Etappenflug. Nun, dieser Asylant war jetzt äußerst wichtig! Denn eine telephonische Verbindung
stand nicht zur Verfügung, und deshalb war es gut, daß Rexilio den Kurierdienst zwischen den einzelnen Streit- und Friedenskräften übernahm.
Tscha, das war alles gar nicht so einfach! Wenn du dir in etwa ein Bild von dem Schauplatz machen willst: Im
Norden hatte sich unser Stropp im Unterholz verborgen, im Süden unser Bruhno; und beide so, daß sie auch kein Windzug verraten
konnte. Im Nordwesten wühlte die ehemalige Kinderbande, und etwas außerhalb waren Frau Struppe und
die Schildkröte in Sicherheit gebracht worden. Ziemlich in der Mitte des Areals lag das Wohnhaus der Igel, ja, und von Norden her wurde
der Besuch erwartet; und nicht nur einer!
Als erstes kam kurz vor 4 Uhr etwas durch die Luft angereist, nicht sehr kunstreich und auch nicht übervorsichtig. Es hörte sich an wie ein Ehepaar, bei dem sich der Mann noch nicht mit der Rolle abgefunden hatte, der Klügere zu sein. Mit anderen Worten: Sie stritten sich.
Ich hab’s ja gleich gesagt! Du mußt ja immer recht haben! Und du das letzte Wort! Na ja, du kennst das sicher, und ich brauch’s deshalb nicht
weiter zu vertiefen. Jedenfalls war das Paar wohl nach Süden bestellt worden, ganz in die Nähe des Verstecks unseres
Bruhnos. Dort wurden die beiden von 2 Maskierten in Empfang genommen und darüber informiert, daß der Zeitplan ein wenig
durcheinandergeraten sei. Es befänden sich anscheinend Landarbeiter auf dem Gelände, deren Abzug erst abgewartet werden
müsse. Es sei bis dahin äußerste Stille anzuraten, und niemand dürfe sich vom Fleck rühren.
Einer der Maskierten schien sich jedoch für einen Niemand zu halten und entfernte sich bald darauf.
Wohin? Nach Norden, wo dicht an des Igels Versteck der 2. Ankömmling (oder genauer: 3.) erwartet
und kurz nach 4 Uhr in gleicher Weise unterwiesen wurde.
Eine Stunde verging, und noch immer war das Wühlen der vermeintlichen Landarbeiter zu vernehmen. Die 2. Stunde
verging, die 3. Stunde, und noch immer war nicht alles ruhig. Die Nerven der Wartenden waren aufs äußerste angespannt; und wie wir unseren Helden kennen, war das wohl beabsichtigt. Denn als endlich die
Sonne über die Leneberge stieg und vom Wühlen und Graben nichts mehr zu hören war, konnte das Ehepaar und den 3. niemand mehr halten;
selbst jener Maskierte nicht.
Als erste verlangten die beiden Eheleute, unverzüglich in das Igelhaus geführt zu werden; und zwar sogleich in
den Keller. Und als die beiden dort verschwanden, wurde gerade jener 3. ebenfalls ins Igelhaus geführt. Irgend etwas mußte dieser mitbekommen haben, irgend etwas, was ihm verdächtig erschienen war, und hast du nicht gesehen, stürzte auch er die
Kellertreppe hinab. Und peng, war die Kellertüre zugeschlagen und verrammelt und verriegelt.
Indessen kamen auch die anderen herbei, auch Frau Struppe und Emma von Nowotny. So konnten erst einmal alle zu
einem deftigen Spätstück geladen werden; und erst als abgeräumt und abgewaschen war, wurde der Keller wieder aufgesperrt.
Wie arme Sünder kamen verstaubt ein Herr von Kobelburg, eine Frau Agelheid und ein Herr
Atzilo zum Vorschein. Nun ja, zum Tode wurden sie nicht verurteilt, aber vor die Wahl gestellt:
entweder sofortige Ausweisung aus dem Gebiet diesseits des Lenebogens oder jeweils 100 Stunden gemeinnützige Arbeiten. Der Eichkater
könne dabei für die Aufforstung gesunder Mischwälder und die Anlage von Nußgärten sorgen, das Elsternpaar für das Düngen der Gärten und das Bewachen der Setzlinge.
„Hast du gehört“, fragte Frau Struppe hinterher unter 4 Augen ihren Gatten, „die Elstern waren sogar so dreist und haben vorgegeben, aus versicherungsmathematischen
Gründen das Einbrechen testen gewollt zu – eh, wer ein guter Einbrecher werden will, braucht also nicht mehr zu den Waschbären zu gehen, sondern sollte eine Versicherungslehre
beginnen?“
„Guter?“ fragte unser Stropp zurück, ehe sein gutes Herz siegte: „Auch wer Einbrecher genannt wird, kann sich zum
Guten ändern.“
© Stiftung Stückwerken, *12.9.2020,
freigegeben am 8.2.2024
Qouz-Note 3+
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MamM 1.084 Nachtmeister Stropp und der Fall Eberhart
„Bist du eigentlich gerne Nachtmeister?“ fragte einige Nächte nach den letzten Ereignissen unser Bruhno
seinen Lehrherren.
„Ach“, seufzte unser Stropp, „wenn du Nacht für Nacht so viele Verbrechen siehst und Tiere verdächtigen mußt, dann stimmt so etwas
bestimmt nicht freudig.“
„Aber dein Ruhm“, hielt der kleine Bär dagegen.
„Meinst du wirklich, ich könnte auf meinem Sterbelager stolz darauf sein, Tiere zum Verbrecher gemacht zu haben, und dankbar?“ verneinte unser Held.
„Aber zum Verbrecher wird ein Tier doch durch seine eigene Tat“, sah’s der Nachtmeisteranwärter anders.
„Tscha“, holte unser Igel seinen Lernjungen dort ab, wo dieser gerade war, „da hast du etwas Wahres, aber auch Betrübliches angesprochen: Oft ist es nur eine einzige Tat,
und schon gilt dieses Tier sein Leben lang und häufig noch darüber hinaus als Verbrecher; so es erwischt –“
„Ah, jetzt verstehe ich“, ging unserem Bruhno in der Nacht ein Licht auf: „Weil Ihr diese Tiere überführt, macht Ihr Euch mitschuldig daran, daß sie Verbrecher genannt
werden, –“
„– während andere, die vielleicht Ähnliches oder gar Schlimmeres getan haben, in Ehren gehalten werden“, ergänzte unser Stropp.
„Und mit was wollt Ihr sonst Euer Honigbrot verdienen?“ blieb der kleine Bär nüchtern.
„Vielleicht als Rechtsanwalt; dann könnt’ ich Unrecht –“
„Aber müßt Ihr dazu nicht erst studieren?“ gab der Nachtmeisteranwärter zu bedenken.
„Das wär’ wohl das geringste Hindernis“, nahm’s der Lehrherr leichter, „aber wir haben hier ja weit und breit kein Gericht, an dem ich zugelassen werden –“
„Und der Friedensrichter?“
„Der tät’ sich schön bedanken“, lachte unser Igel, „für solche neuen Sitten.“
„Aber wir andern Tiere haben doch auch Rechte“, schien unser Bruhno das Lager wechseln zu wollen, „und da wäre es doch gut, wenn diese durch einen kompetenten und mutigen
Mann –“
„– oder eine mutige Frau vertreten werden“, ergänzte eine weibliche Stimme, denn unsere beiden Freunde waren inzwischen vor Stropps Haustür, Verzeihung, der Tür des
Hauses von Frau Struppe und Herrn Stropp angekommen.
Gerade wollte sich das Ehepaar von ihrem kleinen Freund verabschieden, als es heftig im Unterholz krachte und prasselte. Tscha, ein Wildschwein macht eben keine Umwege.
„Eberhart!“ rief die Igelin sogleich und vorwurfsvoll aus. „Unsere schönen Bohnen!“
„Ihr müßt mir helfen!“ liebten wohl auch des Angesprochenen Gedanken und Wörter keine Umwege. „Lebensgefahr! Meine ganze Bande in die Flucht geschlagen und zerstreut! Duselkopp –“
„Was?“ entrüstete sich nun auch unser Held. „Heute, am
Sonntag, geht der seiner Mordlust nach?“
Aber es war nur allzu wahr! An die 40 Schüsse hatten der Jäger und seine Zechkumpane auf die ehemalige
Kinderbande abgegeben – ohne Rücksicht auf Morgenruhe und Leben. Getroffen hatten sie natürlich keinen von den Schwarzkitteln, aber
dann hatten sie die Hunde losgelassen, und da war es ratsam gewesen, die Bande aufzulösen und einzeln in alle Richtungen davonzulaufen.
Zwar war Eberhart zuversichtlich, daß alle heil entkommen seien, aber wo könnten sie nun Zuflucht finden? Vielleicht hier im Garten am
Dortwehrer Grenzweg, wo sie sich ja schon kürzlich hätten satt essen –
„Auf gar keinen Fall!“ war sich Frau Struppe sicher.
Doch ehe sie das in ihrer resoluten Art begründen konnte, lieferte ihr Eheliebster überzeugende Argumente: „Hier täten euch die Hunde immer finden, und selbst der
Friedensrichter könnte euch nicht schützen. Aber wir wollen mal sehen, ob ich euch trotzdem helfen kann. Dazu müßtest du mich aber ins Kühlebachtal tragen. Bruhno, kommst du mit?“
Frau Struppe maulte zwar, weil sie erst einmal auf ihrem Morgenbrot sitzenblieb, sah aber doch ein, daß Eile geboten war und junge Männer in schwarzen Kitteln oft sehr
hilflos sind.
„Am besten fragen wir erst einmal bei den Ziegen hier, ob sie euch Asyl gewähren wollen“, schlug unser Stropp, am Kühlebach
angekommen, vor.
Die Ziegen hießen Eberhart auch mit äußerster Herzlichkeit willkommen, als wären sie bei Katzen in die Schule gegangen. Das sei doch fromme Christenpflicht, Flüchtigen zu helfen, und gerne täten sie ein bißchen zusammenrücken, um mit den armen Verfolgten Gras und
Wasser zu teilen.
Gut, – der Kühlebach bot genug Wasser, aber was sie dann Eberhart als Weide anboten, war wirklich nur ein bißchen und – vollständig kahlgefressen; samt Sträuchern und allen zaghaften Ansätzen, aus denen in wenigen Jahren hätten ein paar Bäumchen werden können.
Für solche Barmherzigkeit bedankte sich unser Igel artig, doch wird unter Ziegen seitdem empört erzählt, ein kleiner Bär habe unartig und undankbar sogar die Zunge
rausgestreckt. Jedenfalls versuchten es die 3 Tiere wenig später bei einer Schafherde. Sie wurden sogleich zu dem ältesten Schaf geführt, das sie eingehend und zunehmend ablehnend musterte. Ganz besonders an Eberhart wurde Anstoß genommen. Er solle sich erst einmal gründlich
waschen und dann gefälligst seinen Sonntagspelz anziehen, wie es alle hier getan hätten.
„Was?“ geriet der junge Eber fast außer sich. „Schaut
euch erst einmal selber im Spiegel an, wie beschissen ihr alle ausseht! Das nennt ihr sauber und Sonntagspelz?“
Kritik an sich ist so ziemlich das Letzte, was Schafe bekanntlich von Fremden vertragen können. Und gar an
äußeren Dingen! Wer so etwas wage, störe die Einheit und sei auf der Stelle auszuschließen! Und wären die Hirtenhunde nicht gerade bei einer anderen Herde gewesen, so wäre der Ausschluß auch gleich mit Gewalt vollstreckt
worden.
Allein – die Asylsuchenden fühlten sich hier ohnehin nicht wohl und zogen von alleine weiter. Aber wohin
konnten sie sich noch wenden?
„Ob wir’s mal bei den Zottelrindern versuchen?“ schlug unser Bruhno vor.
„Bei den Schotten?“ bleib Eberhart skeptisch. „Die sind
doch erst recht knauserig.“
„Aber sie sind gutmütig“, gewann unser Igel dem Vorschlag Positives ab, „und legen nicht so viel Wert auf das Äußere.“
Nun ja, auf den Kopf gefallen waren jene Schotten nicht, und ihr Hausmeier machte gleich am Anfang deutlich, daß sein Hofgut Weideland sei und kein Acker, der umgepflügt
werden müsse. Aber weil alle Parteien mit offenen Karten spielten, fiel es unserem Nachtmeister nicht schwer, geschickt zu
vermitteln. Und so wurden sich alle bald einig, die Wildschweine dürften ihr Futter nur im Außenbereich sammeln, aber bei Gefahr in der
Rinderherde Schutz vor Hunden und Jägern suchen. Nur die Bauersleute dürften nicht erschreckt werden, und in der Nähe des Gutes seien
alle auffälligen Spuren zu vermeiden. Tscha, und im Gegenzug müßten die Schwarzkittel ein wenig bei der Dungverteilung helfen, damit
das Weideland saftig bleibe. Anschließend wurde unser Stropp wieder nach Hause gebracht, wo er gerechterweise den Anteil lobte, den
sein Lehrbub an der Lösung dieses Falles gehabt hatte.
„Ja“, sann er laut nach, „Verbrechen zu verhindern, das täte mir Spaß machen!“
© Stiftung Stückwerken, *18.-19..9.2020,
freigegeben am 9.2.2024
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MamM 1.085 Nachtmeister Stropp und sein eigener Fall
„Dann wär’s jetzt eigentlich an der Zeit, daß wir’s künftig etwas ruhiger haben“, ließ unser lieber Bruhno nicht lange nach den letzten dramatischen
Ereignissen seinen Wunsch einfließen.
„Tscha“, blieb unser Stropp schmunzelnd skeptisch, „als das Wünschen noch geholfen hat,
gilt wohl nur im Märchen. Bei uns ist die Ruhe oft eine Vorbotin von Sturm.“
Vorerst schien diese Nachtrunde jedoch nicht jenen Befürchtungen zu entsprechen, bis – ja, bis unsere beiden Freunde am Morgen nahe
zu ihrem Heim und Hof kamen.
„Nanu“, hielt unser Nachtmeister plötzlich inne, „was ist denn das?“
„Vogeleier“, erfaßte sein angehender Assistent sogleich, „zumindest deren – “
„Jetzt?“ wunderte sich unser Igel. „Wo doch kaum noch
ein Vogel brütet und viele unserer Freundinnen und Freunde in den Winterurlaub geflogen sind? Nein, da stimmt irgend etwas
nicht.“
„Und es ist auch merkwürdig, daß hier nur die Schalen herumliegen, und zwar kleingetreten“, ergänzte unser kleiner Bär; „aber vom Inhalt keine Spur.“
Allenfalls klebrige Reste an den Schalen“, bestätigte der Lehrherr. „Wollen wir beide mal zusehen, ob wir hier
einige Reste zusammenfügen können?“
Gerne half der Lernjunge dabei; und mährsächlich fanden die beiden doch so einiges, was sie zusammensetzen
konnten.
„Was macht ihr denn da?“ wurden sie mit einem Mal in ihren Ermittlungen gestört; und zwar durch eine Stimme von oben.
Erstaunt blickte unser Held auf und nutzte sogleich seine berühmte Beobachtungsgabe und sein phänomenales Gedächtnis: „Guten Morgen, Herr Schein-Schäfer. Ich dachte, Sie seien im Pirschwäldchen –“
„Herr Pfarrer!“ stellte der Dompfaff richtig.
„So heißen doch viele“, rechtfertigte sich unser Stropp, „aber Schein-Schäfer gibt’s wohl weit und breit nur einen. Außerdem müßt’ ich ja bald wieder umlernen, wenn Ihr demnächst Bischof –“
„Ach, hat Er auch was davon läuten gehört?“ schien sich der gewichtige Vogel geschmeichelt zu fühlen. „Interessant! Interessant! Aber Er hat mir noch immer nicht meine Frage beantwortet.“
„Wer?“ fragte unser Bruhno.
„Na, er“, ließ der Herr Pfarrer Ungeduld einfließen. „Was macht ihr da?“
„Dir zuhören“, hatte es unser kleiner Bär schon recht gut gelernt, hilfreiche Deiche gegen kränkende Wogen zu bauen. „Und herausfinden, was und wen du meinst.“
„Ich meine“, wurde des Vogels Stimme lauter, „was ihr euch an diesen Vogeleiern zu schaffen macht? Sind sie
Zeugnisse von Geburten, so müssen diese Kindlein noch getauft werden. Sind’s aber sterbliche Überreste, so müssen sie noch ausgesegnet
–“
„Was es ist“, bleib unser Nachtmeister sachlich und nachsichtig, „das versuchen wir gerade –“
„Ah, da kommt mir ein schlimmer Verdacht!“ zitterte nicht nur die Stimme des Geistlichen, sondern sein ganzer Körper. „Ihr habt hier ein Blutbad angerichtet und wollt nun eure Untat heimlich vertuschen.
Deshalb seid ihr schon zu früher Morgenstunde auf! Nein, nicht um in die Frühmesse zu gehen; nein, nein. Da hab’ ich euch Unholde auch noch nie gesehen. Und zur Beichte auch noch nicht. Na wartet, eure Untaten sollen alle Vögel hier in Dortwehr erfahren! Da könnt ihr euch auf was gefaßt machen! Und wenn das noch nicht reicht, werde ich euch vor Gericht stellen und die Todesstrafe fordern! Jawoll! Unschuldige Kindlein dahinzumetzeln, so was schreit zum Himmel! Das –“
Aber dann zog es der Würdenträger doch vor, sein Heil in der Flucht zu suchen, da unser Bruhno Anstalten machte, zu jener Schimpfwarte hinaufzusteigen.
Doch kam Ihre Geistlichkeit bald wieder, und das nicht allein! Alles, was unter den Wintervögeln Rang und
Namen hatte, kam herbeigeflogen: zutrauliche Rotkehlchen, schimpfende Amseln, turtelnde Tauben. Freilich – es war zuvorderst nicht des
Dompfaffs ganze Kirchengemeinde. Wer tief kirchengläubig war, wer demnächst kirchlichen Segen benötigte oder wer geschäftlich mit der
Kirche verbunden war, zweifelte nicht an des Dompfaffen Anklage oder hielt es zumindest nicht für ratsam, Zweifel laut zu äußern. Aber
es gab auch Vögel, denen die Wahrheit wichtiger war als eigene Vorteile und die es nicht glauben konnten, was dem in ihren Kreisen sehr beliebten Nachtmeister angelastet wurde. Auch sie kamen zwar herbei, hielten sich aber zunächst im Hintergrund auf.
Wen von denen, die unseren Helden kennen, wird es wundern, daß sein berühmter Scharfsinn die drohenden Gefahren bereits vorausgesehen hatte. Mit seinem Lernjungen hatte er sich noch rechtzeitig in sein Haus zurückgezogen, wo Frau Struppe in ihrer
Rolle als Gastgeberin zu Höchstformen auflief. Denn mit Feinden aus der Luft war nicht zu spaßen, und deshalb waren auch alle engen
Freunde ins Haus geholt worden: die Schildkröte Emma von Nowotny, der Waschbär Wastel oder der Zaunkönig Rexilio, um nur einige zu nennen. Rasch wurden Fenster und Türen verriegelt und verrammelt; und dann war der Vögelmob auch schon ante portas, aber non intra urbem – im Küchenlatein.
„Kindermörder! Kindermörder!“ schien irgend jemand als
Sprechgesang anzustimmen, was zunehmend an Resonanz gewann.
Eifrig spähte unser Igel durch ein Guckloch, um den Anstifter zu entdecken, denn er hatte einen schrecklichen Verdacht.
Nun ja, wir normalen Erdenwesen, die nicht mit solch einem außergewöhnlichen Scharfsinn bedacht worden sind, müssen uns noch etwas gedulden, aber schon nahte etwas, was
unsere Folter verkürzen kann.
„Was ist denn hier los?“ donnerte eine heisere Stimme in den Sprechgesang hinein, die diesen auf der Stelle
abbrechen ließ.
Nun ja, die einen sagten dies, die andern sagten das, und klüger wurde der Friedensrichter daraus nicht.
Deshalb zitierte er in strengem Befehlston den Nachtmeister herbei, der dem auch gleich unerschrocken nachkam; freilich – links und
rechts eskortiert von Bruhno und Wastel und gefolgt von, tscha, von Frau Struppe, die ihren Gatten auf diesem gefährlichen Gang doch nicht im Stich lassen wollte.
Wenn Blicke hätten töten können, hätte unser Igel gar nicht bis zu Reinherzson vordringen können. Aber dann stand er Rede und Antwort und wußte mit seinem berühmten Scharfsinn alle Anschuldigungen derart zu widerlegen, daß der Dompfaff und
seine Anhänger beschämt abziehen mußten. Dabei verlor der eigentliche Täter für einen Moment seine Deckung, ehe ihm der Gedanke kam,
ebenfalls davonzueilen. Zu spät! Noch rechtzeitig ließ ihn unser Stropp
verhaften und trieb ihn im Beisein des Fuchses derart in die Enge, daß er – wer? Na, Eichhorn Herr von
Kobelburg – zugab, die Eierschalen herbeigetragen zu haben. Es waren übrigens Hühnereier gewesen, die nur in der Lynchjustiz
hätten als Beweismittel anerkannt werden können.
© Stiftung Stückwerken,*25.9.2020,
freigegeben am 10.2.2024
Qouz-Note 3-
***
MamM 1.086 Nachtmeister Stropp und der Fall Markrätsch
„Hiero, Euär Gnadän“, lenkte eine Stimme, bei der die Laute ä und a überwogen und deren Marschrhythmus auf militärische Disziplin schließen ließ, „das, äh, wolltä ich, äh, Ihnän noch, äh,
zeigän. Ist doch, äh, eindeutig, nicht wahr?“
„Ist das“, schien sich eine heisere Stimme nicht ganz sicher zu sein, „ist das Blut?“
„Rosänblütänblättär, Härr, äh, Friedänsrichtär“, belehrte die 1. Stimme. „Wundärschönä Rosänblättär.
Allä abjerupft, äh, jästohlän, äh, und ermordät!“
„Und das da, Markrätsch?“ fragte die 2. Stimme weiter.
„Kindärspielzeuch, Härr, äh, Reinhärzson, äh“, kam als Auskunft zurück. „Äbänfalls jästohlän, äh
–!“
„Kinderspielzeug?“ staunte der Fuchs. „Aber das sind
doch Bucheckern, Eicheln, Kastanien und Nüsse.“
„Äbän, Herr, äh, Friedänsrichtär“, versuchte Markrätsch zu erklären. „Daraus machän die, äh, Mäusä ihrä, äh,
Spielsachän für, äh, die Kindärchän, äh.“
„Kannst du das nicht vernünftig sagen?“ zürnte Reinherzson ein wenig.
„Ihr Eichelhäher seid doch sonst so sprachbegabt. Also, die Mäusekinder spielen damit! Und was spielen sie?“
„Fuchs, du hast die Maus gestohlen“, begann der Vogel aufzuzählen, „oder
Hau den Fuchs oder Wer fürchtet sich vorm dummen Fuchs; nichts sehr Schmeichelhaftes für Euch –“
„Das will ich meinen“, erfreute es den Friedensrichter keineswegs. „So werden schon die unschuldigen Kindlein
zu Aufruhr und Aufsässigkeit und Respektlosigkeit angestiftet –“
„– gegenüber hohen Tieren“, ergänzte der Eichelhäher, „die es nur gut mit ihnen meinen –“
„Ganz recht! Ganz recht!“ teilte der Fuchs das Gefühl,
sich bestätigt zu sehen. „Und woher kennst du dich so gut aus?“
„Ein Polizist hat einen scharfen Blick dafür“, lobte sich Markrätsch nur indirekt, „vor allem, wenn er das Licht nicht scheuen muß.“
„Das ist doch eigentlich selbstverständlich“, versagte Reinherzson Hochachtung.
Ö, ö“, wagte der Vogel zu widersprechen, „mancher muß das Tageslicht scheuen und gibt vor, seinen Dienst nur des Nachts ausüben zu können. Und wird dafür sogar noch zu Unrecht –“
„Aber nicht in meinem Reich!“ war sich der Friedensrichter sicher.
„Und ein gewisser Nachtmeister Stropp?“ brachte der Tagespolizist in Erinnerung.
„Ja, der, aber –“
„Er hat Euch doch nicht etwa mit seiner Scheinheiligkeit auch geblendet?“ hoffte der Eichelhäher das
Gegenteil. „Schaut Euch nur mal um! Wo sind wir hier? Richtig! Dicht bei Stropps Haus und Hof. Und gerade hier liegt all das Diebesgut. Zufall? Das glaubt Ihr wohl selbst nicht. Soweit ich weiß, ist er noch nicht von seiner
Nachtschicht zurück. Deshalb sollten wir die Gunst der Stunde nutzen und seine Gattin polizeilich vernehmen. Sie ist doch gewiß eine Mitwisserin; und wenn sie sich durch meine geschickten
Fangfragen verplappert hat, dann können wir ihren Gatten gleich festnehmen.“
Die Notwendigkeit eines Verhörs sah auch der Friedensrichter ein, war aber bei der Geringschätzung von Frau Struppe skeptisch, sogar
sehr skeptisch. Die Igelin war nun mal keines schüchternen Wesens und ging Fangfragen nicht ins Netz. Ja, es kam gar nicht erst dazu, sondern sie ahnte sogleich, daß die beiden Amtspersonen nicht zu einem Höflichkeitsbesuch bei ihr angeklopft
hatten. Unerschrocken kam sie heraus, und dann war sie es, die hier die Fragen stellte. Schnell hatte sie den ungeheuren Verdacht herausgefunden, der da gegen ihren Eheliebsten im Raume, genauer: vor der Haustüre, stand.
„Das ist doch völlig absurd!“ schimpfte sie. „Mein
Stropp entblättert doch keine Blumen! Die bringt er ja noch nicht einmal seiner Frau! Auch nicht zum Hochzeitstag! Jedenfalls keine Schnittblumen. Nein, Blumen zu entweihen, das brächte er einfach nicht übers Herz. Und Kindern ihr
Spielzeug wegzunehmen, so etwas traut ihr ihm zu? Schämt euch! Daß mein
Gatte ein Herz für Kinder hat, das hat er wohl schon unzählige Male bewiesen! Wie kommt ihr überhaupt auf so abwegige
Gedanken? Habt ihr das etwa selber schon getan? Was? Das Urvertrauen von Kindern zu –“
„Guten Morgen“, bewahrten 2 Stimmen vor Überhitzung, und unser Stropp ergänzte: „hat jemand von euch den Frevel da draußen
angerichtet?“
„Stropp! Tätest du mir so etwas zutrauen?“ entrüstete
sich Frau Struppe. „Gerade hab’ ich dich noch –“
„Nein, nein“, beeilte sich unser Bruhno sogleich, „Euch täte er so etwas gewiß nicht zutrauen. Aber als wir gerade mit der Spurensuche beginnen wollten, haben wir euch 3 bemerkt, und da dachten wir, ihr wüßtet irgendwas.“
„Wüßtet irgendwas! Wüßtet irgendwas!“ äffte Markrätsch
nach. „Selbstverständlich wissen wir was! Ich und der Herr Friedensrichter sind sicher, daß der Nachtmeister diese schändlichen
Verbrechen verübt hat und du sein Komplize –“
„Du spinnst!“ hatte unser kleiner Bär schon deutliche Fortschritte gemacht, die richtigen Schlußfolgerungen zu
ziehen. „Wie könnte ein Igel auf Rosen klettern und deren Blütenblätter abreißen? Hast du das jemals –“
„Dann nimmt er eben eine Leiter“, gab sich der Tagespolizist noch nicht geschlagen, „oder fliegt –“
„Sagtest du: fliegt?“ hakte unser Bruhno sogleich ein.
„Und wer kann fliegen? Ein –“
„– Vogel“, ergänzte der Fuchs. „Markrätsch! Hat Er mir was zu sagen?“
„Das trau’ ich ihm nun wirklich nicht zu, Herr Friedensrichter“, waren Rachegedanken unserem Igel anscheinend fremd. „Am besten, wir gehen mal zu dem Diebesgut und nehmen die Spurensuche auf.“
Es dauerte auch nicht lange, da konnte unser Held eindeutige Spuren auf dem feuchten Boden zeigen und nachweisen, daß sie nicht vom Eichelhäher, sondern von einem anderen
Vogel stammen mußten. Genauer: von 2 Vögeln, die – so entdeckte es unser Bruhno – sehr lange Schwanzfedern haben mußten.
„Ich denke, sie werden bald wiederkommen“, ergänzte unser Stropp, „und ein lautes Geschacker anfangen, um mir alles in die Schuhe zu schieben. Das Motiv meine ich auch schon zu kennen. Ich denke, unser Tagespolizist kann sie
dann auf der Stelle festnehmen, zumal“, beiseite gewandt, „er ihren Dialekt ja gut beherrscht.“
„Aber warum hast du denn den Ruhm, die beiden Elstern festgenommen zu haben, deinem Feind überlassen?“ wollte Frau
Struppe hinterher wissen.
„Erstens, weil ich in Ruhe schlafen wollte“, antwortete der Eheliebste, „und zweitens, wenn du deinen Feind nicht zu deinem Freund machen kannst, so ist es immer noch
besser, ihn für dich arbeiten zu lassen denn gegen dich.“
© Stiftung Stückwerken, *1.10.2020, freigegeben am 10.2.2024
Qouz-Note 4
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MamM 1.087 Der singende Vogel
„Ach, wißt Ihr“, seufzte Donna Habenfang, „die Ehe ist das Grab der Liebe.“
„Das weiß ich nicht“, widersprach der Alte von der Halbinsel, „und manche behaupten, es gäbe
auch glückliche Ehen und manchem sei die Liebe wieder auferstanden. –“
„Ja, ja“, bitterte die Besucherin, „die Hoffnung stirbt zuletzt.
–“
„Jede?“ zweifelte der Alte sehr.
„Ich hab’ jedenfalls keine Hoffnung mehr“, resignierte Donna Habenfang. „Vor der Hochzeit, da denkst du, ER
sei ein Märchenprinz und alle müßten dich beneiden. Und nach der Hochzeit oder meinetwegen nach den Flitterwochen, da entpuppt sich
dieser Prinz als garstiger Frosch. So rum müßte eigentlich jenes Märchen erzählt –“
„Wem täte es dann noch Mut machen?“ gab der Alte zu bedenken.
„Es soll keine falschen Erwartungen wecken“, forderte die Besucherin, „darauf kommt es an!“
„Und deinen Frosch kannst du wirklich nicht mehr in deinen Prinzen zurückverwandeln?“ fragte der Alte
dennoch. „Auch nicht mit Zärtlichkeit?“
„Nee“, antwortete Donna Habenfang, „in DEM täte ich immer den Frosch sehen.“
„Also im Märchen“, schien der Alte sich auszukennen, „täte die Heldin dem Prinzen die Froschhaut einfach fortnehmen und vernichten, so daß –“
„Ja, ja, im Märchen!“ tat’s die Besucherin ab. „Und
warum enden die meisten Märchen mit der Hochzeit?“
„Das weiß ich nicht“, bekannte der Alte. „Vielleicht, weil schon vorher wichtige Weichen zu stellen sind“, und
er begann zu erzählen:
Ob’s wahr ist, weiß ich nicht, aber viele denken, im Märchen habe stets der Prinz die Prinzessin zu erobern und so müsse es auch im wirklichen Leben
zugehen. Allein – es wär’ einmal ein Prinz, bei dem war es umgekehrt.
Erich jagte keine Schürzen, Erich jagte keine Strumpfbänder, Erich jagte keine sonstigen Pfänder. Erich saß einfach auf seinem Schloß und ließ verbreiten, wer um seine Hand anhalten wolle, möge ihm gefälligst den Vogel Singeling
bringen.
Anscheinend war der Prinz hin und wieder schwermütig. Anscheinend konnte jener Vogel mit seinem Gesang Gemüter
wieder aufheitern. Und anscheinend galt der Prinz als gute Partie; denn
hätte sich sonst eine Prinzessin auf den Weg gemacht, die schwierige Aufgabe zu lösen? Tscha, du darfst eben nicht vergessen: Über wen
gibt’s die meisten Sagen? Über die Stutzer, die auf jedem Ball zu finden sind? Oder über die Abwesenden, die solchen Veranstaltungen aus dem Wege gehen?
Jedenfalls kann ich sogleich von 2 Prinzessinnen berichten, die sich jenem Prinzen und dessen Aufgabe gewachsen fühlten. 2 Schwestern! Gemeinsam wären sie stärker, dachten sie; und wenn sie jenen Vogel gefangen und zum Prinzen gebracht hätten, dann müsse eben das Los entscheiden, wem die Hochzeitsglocken zu läuten
hätten. Auf jeden Fall täten sie den Prinzen verblüffen und ihm beweisen, daß seine künftige Frau 100mal einfallsreicher sei als
er.
Die beiden setzten sich also in eine Kutsche, nahmen auch einen Käfig mit und Futter und ließen sich in jene Gegend fahren, wo der gesuchte Vogel sich zuletzt habe
blicken oder hören lassen. Dort wurde dann der Käfig aufgestellt, Futter hineingelegt, die Käfigtüre offengelassen und –
gewartet. Aber nicht lange; denn anscheinend war Singeling recht arglos oder ausgehungert: Er hüpfte einfach in den Käfig, und schon war er gefangen. Also auf
zum Schloß des Prinzen!
Erich war mährsächlich verblüfft, gleich 2 Prinzessinnen vor sich zu sehen, welche die Aufgabe anscheinend gelöst hatten. Aber – war’s wirklich der Vogel Singeling? Vom Aussehen schon; jedoch sein Gesang?
Bisher hätte der gefangene Vogel noch nicht gesungen, mußten die beiden Prinzessinnen zugeben; doch hätten sie
gehofft, er täte es schließlich beim Prinzen. Allein – der Vogel blieb noch immer stumm.
„Was hilft mir dieser Vogel, wenn er nicht singt?“ klagte der Prinz.
In ihrer Not öffneten die beiden Schwestern den Käfig, vielleicht täte der Vogel jetzt singen. Doch auf diesen
Ausgang hatte dieser nur gewartet! Schon war er aus dem Käfig gehüpft, hatte die Flügel ausgebreitet, ein offenes Fenster erspäht, und
– hast du nicht gesehen – war er davongeflogen. Damit mußten auch die beiden Schwestern ihren Abschied nehmen
und – sich unverheiratet nach Hause fahren lassen.
Nun hatten die beiden noch eine weitere Schwester, die hieß Andresa. Mit der sei’s nicht ganz richtig, hatten
die Schwestern hier und da hinter vorgehaltener Hand erzählt; die kriege gewiß keinen Mann ab.
Tscha, eine Prinzessin, die lieber zu Fuß geht, wird so manchem Prinzen nicht gefallen, der mit Pferden und Wagen durch die Lande jagt. Außerdem wurde von Andresa berichtet, sie spreche mit Tieren und Pflanzen, ja, übermittele sogar Grüße von den einen zu den andern. Auch singe und pfeife sie zuweilen und ahme Vogelstimmen nach. Nee, mit so einer
konnte es wirklich nicht ganz richtig sein. War Andresa aber deshalb falsch?
Der Vogel Singeling dachte anscheinend anders darüber. Jene beiden Prinzessinnen galten als richtig, waren ihm
gegenüber aber falsch gewesen. Zu Andresa aber faßte er gleich Zutrauen.
Sie war nämlich wie von ungefähr in die Nähe von Erichs Schloß gewandert, und da hatten sich die beiden getroffen. Also – zunächst
Andresa und der Vogel! Mit ihm hatte sie ihr Brot geteilt, ohne daß er um seine Freiheit hätte fürchten müssen. Und dann hatten die beiden gesungen. Manches kannten sie bereits beide, aber manches
brachte der Vogel seiner neuen Freundin bei und manches sie ihm.
Dabei verging die Zeit; und als gerade die Sonne untergehen wollte, stand Andresa plötzlich vor einem
Parktor. Sie klinkte es auf; und da nirgendwo ein Warnhinweis oder ein
Verbotsschild zu sehen war, ging sie in den Park hinein und sang weiter mit ihrem Begleiter.
Doch mit einem Mal stand ein Prinz vor ihr und – fragte sie mährsächlich, ob sie seine Frau werden wolle.
„Wenn du mich nicht einsperrst und auch meinen lieben Vogel –“
„Und was hat das jetzt mit meiner Ehe zu tun?“ konnte sich Donna Habenfang nicht länger zurückhalten.
„Das hast du ja gehört“, lachte der Alte. „Öffne deinem Mann Käfig und Fenster, vielleicht singt er dann
wieder, und du kannst von Herzen mit einstimmen; dann täte er bei dir bleiben aus freien Stücken. Andernfalls –“
Doch das hörte die Besucherin schon nicht mehr. Richtig?
© Stiftung Stückwerken, *9.10.2020, freigegeben am 2.5.2024
Qouz-Note: 2
***
MamM 1.088 Der Schlüssel am Wegesrand
„Ach“, seufzte Donna Truerknödl, „es ist alles so trostlos!“
„Alles?“ zweifelte der Alte von der Halbinsel sehr.
„Sonst täte ich’s wohl nicht sagen“, fühlte sich die Besucherin herabgesetzt.
„Ein Fuß über der dicksten und dunkelsten Wolke scheint bereits –“
„Ein billiger Trost!“ ging Donna Truerknödl noch tiefer in ihre Kummerhöhle. „Gebt Euch keine Mühe; Ihr versteht es nicht, zu trösten.“
„Ich weiß“, gab der Alte unumwunden zu, „aber ich tät’s gerne.“
„Was soll’s“, übte sich die Besucherin im Resignieren, „die Zeit des Frühlings und des Sommers ist vorbei, jetzt kommen nur noch die dunklen und kalten –“
„Und die Farben?“ warf der Alte ein.
„Farben des Abschieds und der Vergänglichkeit“, tat’s Donna Truerknödl ab, „und alles so dunkel und kalt. –“
„Das kalte Blau ist eigentlich keine Farbe des Herbstes“, widersprach der Alte.
„Aber das Grau des kalten Nebels und die Leichentücher des Winters“, ergänzte die Besucherin überleitend.
„Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“,
murmelte der Alte, schüttelte sich aber dann, als wolle er sich von diesem Bild befreien. „Nein, wird er’s nicht dennoch suchen?
Und schneller geh’n sein Fuß,
wenn er auf dem –“
„Ver-Tröstung!“ blieb Donna Truerknödl abweisend. „Kein Trost!“
„– Heimweg ist“, war der Alte wohl nicht mehr jung genug, um schneller zu reagieren. „Eigenartig, wie das auf
uns wirkt, wenn wir unseren Weg plötzlich als Heimweg entdecken“, und er begann zu erzählen:
Judith war – irgendwie anders als ihr älterer Bruder. Bei Johann mußte alles seine Ordnung haben, möglichst mit Ecken und Kanten und geraden Linien. Das siehst du schon
daran, wie er die Neustadt plante. Seine Eltern hatten das nämlich in seine Hände gelegt, um ihn nach und nach an seine künftige
Regentschaft heranzuführen. Die Straßen, angelegt wie ein Schachbrett, und entsprechend sollten sie auch heißen.
„Aber da gibt’s ja gar keine heimeligen Gäßchen!“ rief Judith aus, als sie den Entwurf eines Tages zu Gesicht
bekam. „Nee, da möcht’ ich nicht leben.“
Verständlich, sobald du weißt, daß Judith bei Wind und Wetter im Schloßpark zu finden war. Wozu? Zum Spielen natürlich! Und was? Brücken bauen! Durch den Park schlängelte sich nämlich ein Bach, ein bißchen zu breit
für ein Mädchen, um ihn zu überspringen, und ein bißchen zu tief für eine Prinzessin, um ihn schicklich zu durchwaten, selbst wenn du nicht allzuviel Wert auf Schicklichkeit legst. Und da die Prinzessin nicht gerne Umwege machte, sondern am liebsten spontan ihrer Nase nach lief, baute sie möglichst viele Brücken. Erst aus Holz, später auch aus Steinen; denn Mauern gab’s rings um den Schloßpark ja
genug und somit auch viele Steine.
Johann fand das gar nicht gut, was seine kleine Schwester da machte, weil’s eben nicht in Ordnung war.
Überhaupt hatte sich zwischen den beiden ein Verhältnis entwickelt, das über eins wie Katz’ und Hund hinausging und eigentlich genannt werden mußte: Sie waren einander spinnefeind. So unverständlich ist das gar nicht.
Von Kindesbeinen mußte Judith Tag für Tag erleben, daß sie nie ganz frei war, sondern sich stets mit dem begnügen mußte, was ihr Bruder übrigließ. Das fing schon morgens an der Frühstückstafel an. Gut, anfangs hatte es da noch
gewisse Rücksichten gegeben, aber daran konnte sich die Prinzessin nicht mehr erinnern.
Tscha, und Johann schien es seiner Schwester sehr übelzunehmen, daß sie ihn schon lange vor ihrer Volljährigkeit um Haupteslänge überragte. Welcher Kronprinz schaut schon gerne zu seiner nachrangigen Schwester auf! Und
welcher ältere Bruder glaubt nicht, daß seine jüngste Schwester bevorzugt werde!
Schließlich kam es soweit, daß Judith sich am Tag ihrer Volljährigkeit kein großes Fest wünschte, sondern ihr Erbe; und damit zog sie sogleich von dannen.
Solange du Geld hast, bist du umgeben von Freundinnen und Freunden, die dir beim Ausgeben eifrig helfen. Hast
du aber kein Geld mehr, entdeckst du, daß sie’s nicht wert waren und dir nun die kalte Schulter zeigen. Um nicht zu verhungern,
entschloß sich Judith schweren Herzens, nach Hause zurückzukehren. Und je näher sie der heimatlichen Residenz kam, desto gewisser war
sie, auf die Barmherzigkeit ihrer Eltern nicht vergeblich zu hoffen. Allein – als sie das elterliche Schloß betreten wollte, wurde sie
daran von der Schloßwache gehindert. Sie beharrte zwar auf ihrem Willen, aber schließlich ließ der König ihr ausrichten, sie sei
unerwünscht und des Landes zu verweisen. Wie? Der König? Ja, der neue König!
Für Judith brach eine Welt zusammen! Benommen wankte sie zum Friedhof, aber dort fand sie nur Minna, die alte Schloßverwalterin. Nein, die Eltern lägen doch nicht auf einem gewöhnlichen
Friedhof. Ob sie, Judith, noch nie von der Krypta unter der Schloßkirche gehört habe? Doch dort durfte die Prinzessin nicht hin. Ja, ihr Bruder schickte sogar 3 Landjäger,
die sie umgehend über die Grenze brachten.
Immerhin hatte ihr Minna einen Laib Brot mitgegeben, der kleiner und kleiner wurde, solange sie ihn mit niemandem teilte. Nun, zum Teilen mußt du halt Augen haben, die auch das Leid anderer Menschen wahrnehmen und deren Mangel. Judiths Augen aber schauten nur auf den Weg und ihren eigenen Schatten, so war sie des Kummers voll. Aber wer unterwegs ist, der muß auch trinken; und an einer Quelle war’s, da sprach
sie ein junger Mann an, ob sie ein Stück Brot für ihn habe.
„Ich hab’ eh am Leben keine Freud’ mehr“, antwortete Judith und teilte ihr letztes Stückchen Brot; und es ward
nicht –
„Und was hat das mit mir zu tun?“ konnte sich Donna Truerknödl nicht länger zurückhalten. „Regnet mir jetzt auch das Manna –“
„Wer weiß“, baute der Alte dieser Welle eine Düne. „Die beiden blieben jedenfalls zusammen, denn sie brauchten
einander. Der junge Mann aber war ein König, der jedoch nicht in sein Schloß zurückkehren konnte, weil er den Schlüssel verloren
hatte. So suchten sie gemeinschaftlich; aber der Prinzessin war es immer
wieder, als mahne sie eine Stimme, sie wären noch zu groß und müßten kleiner werden. Und erst als jedes in seinen eigenen Augen so
klein war, wie – na, etwa wie ein treues Hündchen, gewahrten sie den Schlüssel in einem sonderbaren Blütenkelch liegen. Und beiden ward
nun der Weg zu jenem Schloß zum Heimweg. Und schon bald konnten die Hochzeitsglocken – Schade“, seufzte der Alte, als er sich
allein sah, „daß sie weder suchen noch teilen wollte. Sie ist wohl noch nicht soweit.“
© Stiftung Stückwerken, *15.10.2020, freigegeben am 3.5.2024
Qouz-Note: 4
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MamM 1.089 Selig sind die Kinder
„Ach, es ist alles so schrecklich!“ klagte Donna Dunkeleisen.
„Alles?“ fragte der Alte von der Halbinsel
verneinend.
„Wenn es einen Gott gäbe“, ließ sich Besucherin nicht aufhalten; „wie
könnte er so etwas alles zulassen?“
„– und sich somit alleinschuldig machen?“ ergänzte der Alte. „Es ist schon ein sonderbares Spiel, das der Mensch da treibt! Geht es ihm gut,
schreibt er sich das allein selber zu; geht es ihm aber schlecht, dann trägt dafür Gott die
Alleinschuld. Wozu willst du da Gottes Existenz leugnen? Dir käme damit doch dein Sündenbock –“
„Behauptet Ihr nicht, Gott sei allmächtig?“ ließ sich Donna Dunkeleisen nicht
beirren. „Warum greift er dann nicht ein, wenn er angeblich die Liebe ist?“
„Auf Warum-Fragen gibt es keine hinreichenden Antworten“, wich der Alte aus. „Glaubst du etwa, Gott habe den Menschen dazu geschaffen, daß er als Marionette diene?“
„Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich glauben soll“, bekannte die Besucherin freimütig.
„Niemand soll etwas“, mußte sich der Alte selbstverständlich mal wieder an seinem Reizwort reiben, „und welcher Mensch weiß schon was?“
„Aber Ihr, die Geistlichkeit, schreibt doch vieles vor“, versuchte Donna Dunkeleisen ihrem Gesprächspartner eine Zwickmühle zu bauen, „was wir glauben sollen.“
„Erstlich bin ich kein Geistlicher“, protestierte der Alte, „und zweitens halte ich nicht viel von Geboten.
Der herrschende Gott ist nicht anziehend und auch nicht fruchtbar, aber der dienende. Was könnten wir Menschen glücklich sein, wenn wir
diesem dienenden Gott vertrauten, wie’s Kinder tun!“ Und er begann zu erzählen:
Wenn eine Brücke zusammenbricht, dann hat es da meist schon lange zuvor einen feinen Riß gegeben. Da ist dann
Wasser eingedrungen, dann Frost, und irgendwann haben diese Kräfte die ganze Brücke zerstört. So ist es auch mit menschlichen
Brücken.
Irgendwann gab’s vielleicht eine leichte Erschütterung, und seither hat Max seinen Vater mit anderen Augen gesehen; und bald auch der Vater seinen ältesten Sohn. Das entfremdete die beiden immer mehr
und neigte den Vater immer mehr dessen jüngeren Sohn zu. Das verstärkte die Eifersucht auf Paul
und beschleunigte alles. Schließlich forderte Max sein Erbe und zog damit in die Fremde. Den Thron aber erhielt Paul, der jüngere Bruder.
Du kannst dir sicher vorstellen, daß dieser Auszug nicht in Frieden erfolgte und daß der ältere Bruder nach Gerechtigkeit dürstete; seiner Gerechtigkeit! Welch ein Wahn, zu glauben, einen gerechten Krieg führen zu
können! Wie ein schneeweißer Mantel, der allen Schmutz verdeckt, aber nicht verhindern kann, daß es bis zum Himmel stinkt.
Von seinem Erbe kaufte sich Max Söldner und Waffen, doch keine Uniformen. Einen offenen Krieg scheute er, denn
dessen Ausgang wäre ungewiß gewesen. Nein, er machte es hinterlistiger: Er schickte die Traurigkeit als Vortruppe.
„Was muß ich tun“, überlegte Max, „um ein ganzes Volk traurig zu machen und all seiner Kraft zu berauben? Ich
will bei den Kindern anfangen! Wenn sie nicht mehr fröhlich sind, ist viel gewonnen.“ Also: verloren!
Wenn sie nicht mehr herzhaft lachen, sondern allenfalls aus Schadenfreude. Wenn sie keine fröhlichen Lieder
mehr singen. Wenn sie zu Stubenhockern werden und nicht mehr miteinander spielen, sondern allenfalls gegeneinander. Dazu schickte Max seine Söldner, verkleidet als Händler, in seine Heimat, dort das entsprechende Spielzeug unter die Kinder zu
bringen; und immer wieder neues. Anfangs selbstverständlich als Geschenk
von einem, der es gut mit ihnen meine; nach und nach aber gegen Geld; denn
bei ihren Kindern sparen Eltern zuletzt. Die Rechnung des ehemaligen Kronprinzen ging auf.
Doch er konnte noch andere Register ziehen. So schickte er seine Söldner in seine Heimat, dort sonderbaren
Samen auszusäen. Dieser ging auf, wuchs und nahm derart überhand, daß bald kein Grün mehr zu sehen war. Auch nicht im Frühjahr. Keine goldenen Ähren im Sommer. Kein leuchtendes Laub im Herbst. Überall dieses graue Kraut. Freilich – es war eßbar, so daß niemand zu hungern brauchte; aber leuchtende Augen
machte sein Genuß nicht. Und die Lerche sang nicht mehr in den Lüften, und die Nachtigall nistete nicht mehr in den dichten Büschen,
und die Zugvögel zogen ohne Verweilen weiter. Selbst die Bienen, Hummeln und Wespen wanderten aus und mit ihnen alle Vögel, die zu
singen wußten. Und die Menschen in der Heimat erhoben nicht mehr ihren Blick, sondern schauten nur noch zu Boden.
Und Max ließ sonderbare kleine Kügelchen in seine Heimat bringen und überall auslegen. Aus diesen Kügelchen
verbreitete sich aber kein Wohlgeruch, sondern der Gestank von Verfall und Verwesung. Wer hätte da noch frei und gern durch Wald und
Wiesen wandern wollen! Ach, es war eine trostlose Zeit!
Nun war’s aber mit dem neuen König nicht ganz richtig; so munkelten jedenfalls viele seiner
Untertanen. Paul schien irgendwie – nun ja, irgendwie zurückgeblieben zu sein. Stell dir vor, er sang nicht nur in seiner Badewanne, sondern auf offener Straße. Er
duzte jedermann und wußte selbst dann noch zu lachen, wenn die Gesichter in seiner Umgebung vor Kummer, Sorgen oder Bitterkeit versteinert waren. Und – Paul schien seine Regentschaft als Kinderspiel aufzufassen. Na, so
was!
Und ward er auf die große Traurigkeit in seinem Lande angesprochen, pflegte Paul zu sagen, der Vater werde es schon richten, und dann werde wieder alles gut
sein. Und das behauptete er ernsthaft, obwohl den Vater schon lange niemand mehr zu Gesicht bekommen hatte.
War es etwa der alte König, der seinen jüngsten Sohn eines Abends daran hinderte, eine sonderbare Ameise zu zertreten? Diese bedankte sich jedenfalls bei Paul und machte ihm Mut, ihr sein Herz auszuschütten.
Ach, meinte sie zuversichtlich, da seien Blatt und Borke noch längst nicht verloren; der König möge sie nur
machen –
„Märchen, Märchen!“ konnte sich Donna Dunkeleisen nicht länger zurückhalten. „Alles nicht wahr!“
„Die sonderbare Ameise hielt Wort!“ ließ sich der Alte nicht ausbremsen. „Zunächst tauchten unzählige Käfer
auf und vergruben die stinkenden Kügelchen. Außerdem fielen Scharen von Mücken, Flöhen und Läusen über jeden Söldner her, der es wagte,
seinen Fuß in jenes Königreich zu setzen. Tscha, und dann kam der Eisvogel und brachte den Winter und mit diesem einen Frost, daß sich
alle Ameisen, Käfer und sonstigen Insekten in warme Höhlen und Höhlungen flüchten mußten, um nicht zu erfrieren. Jene grauen Pflanzen
konnten das nicht, sondern erstarrten und zerbrachen in unzählige kleine Stücke. Aber endlich zog der Frühling ein, und alles grünte
und blühte wieder, daß es eine Art hatte. Da kehrte auch die Vogelwelt zurück, suchte, fand und bezog Quartier und Bleibe. Und wie so alles gedieh und sang und jubilierte, da hielt auch die Kinder nichts mehr in ihren Stuben. Alles erwachte zu neuem Leben. Max aber ging es in der Fremde schlechter und
schlechter, so daß er sich endlich ein Herz faßte und –“
Aber da gewahrte der Alte, daß er allein war.
© Stiftung Stückwerken, *22.-23.10.2020, freigegeben am 4.5.2024
Qouz-Note: 2
***
MamM 1.090 Sonnenstein
„Wie geht’s?“ diente es Don Dörrensiepen lediglich als Einleitung. „Bei uns jedenfalls herrscht mal wieder Krieg.“
„Dann täte ich ihn schnellstens abwählen und in die Wüste schicken“, empfahl der Alte von der Halbinsel.
„Ja, das sagt sich so leicht“, lachte der Besucher bitter, „aber Ihr als Junggeselle habt da wohl gar keine Ahnung. Wenn Ihr so viele Jahre mit meiner Alten verheiratet –“
„Verzeih bitte, ich sagte nicht, daß du deine Eheliebste in die Wüste schicken solltest, sondern den –“
„Eheliebste, hahaha“, bitterte Don Dörrensiepen weiter; „das ist sie wohl nur, weil die Vielweiberei
hierzulande –“
„Immerhin hast du sie mal geliebt“, vermutete der Alte; „oder?“
„Zumindest dachte ich es“, räumte der Besucher ein, „aber irgendwann kommt das Faß zum Überlaufen, und dann –“
„Soso“, war der Alte etwa langsam im Begreifen, „das Faß kommt, nicht das –“
„Was tätet Ihr denn machen“, versuchte Don Dörrensiepen sich mit Beispielen zu rechtfertigen, „wenn Euch Eure Frau einen andersfarbigen Knopf unterjubelt oder Euch die
Strümpfe künstlerisch stopft oder Euch die falsche Krawatte bereitlegt? Was? Wie?“
„Vermutlich ihr eine neue Brille schenken –“
„Nee, nee, nee“, stellte der Besucher richtig, „das ist kein Versehen; das tut sie mit Fleiß! Aber ich zahl’s ihr auch mit gleicher Münze heim und leg’ noch was als Zins –“
„Ehe als Wettbewerb in Gehässigkeiten?“ faßte der Alte zusammen. „Na, dann ist es wirklich ein Segen, daß ich Junggeselle geblieben bin“, und er begann zu erzählen:
Sonnenstein war schon ein sonderbarer König! Kein großer Redner, der die
Massen begeistern konnte. Kein erfolgreicher Feldherr, der neues Land eroberte. Kein reicher Kaufmann, der seine Raubzüge auf gesetzlich erlaubte Weise durchführte.
Eher wie eine Zeder, die langsam wächst, aber stetig und ohne Lärm.
Das siehst du schon daran, wie er mit den Todesurteilen umging. Er weigerte sich, sie zu unterschreiben, und
warf sie zerrissen ins Feuer. Ja, er schaffte sogar das Amt des Henkers ab.
Warum? Darauf gibt’s bekanntlich keine hinreichenden Antworten. Immerhin
wußte Sonnenstein schon einiges dazu zu sagen. Um Schuld zu ermessen, brauche es viel Zeit, gab er zu bedenken, und die könnte er gewiß
viel sinnvoller einsetzen. Und selbst wenn er sich für ein Todesurteil viel Zeit nähme, wär’s am Ende doch nur Stückwerk. Gäbe es je eine Alleinschuld? Ja, sei nicht er als König an jedem Verbrechen
mitschuldig, weil er versäumt habe, es zu verhindern? Außerdem: Nehme etwa die Zahl der Verbrechen ab, wenn im Gewand von Strafe ein
neues Verbrechen daherkäme? Gutes könne nur gedeihen, wenn es gedüngt und gepflegt werde.
Und doch, hielten dem des Königs Kritiker entgegen, müsse das Unkraut gejätet und müßten alle Schädlinge ausgerottet werden, um eine gute Ernte zu erzielen.
Während dabei gute Saat zertreten und vergiftet werde? fragte der König weiter. Nein, er wolle sich um das Gute kümmern, dann täte das Böse verkümmern und sogar noch zu Dung werden.
Freilich war eine solche Ansicht schon damals sehr selten; und wer ein solches Ziel anstrebt, dessen Weg führt
immer wieder an einem Wacholder-Ginster vorbei. Hast du keinen Gefährten, der dir Mut macht und von der nächsten Quelle weiß, dann
wirst du an einem solchen Strauch niedersinken und so lange liegenbleiben, bis ein Engel dir neue Kräfte überbringt. Hast du aber kein
Auge für Engel, dann ist es gut, wenn du dir einen Gefährten suchst, einen Jonadab; oder eben eine –
Sonnenstein jedenfalls hatte davon gehört, daß die Prinzessin Raphaela von einem Drachen entführt worden sei und auf einem Schloß in
den wilden Bergen gefangengehalten werde. Tscha, König, wie hältst du es jetzt mit deinen
Prinzipien?
Eine gute Frage! Was hülfe es, wenn Sonnenstein Raben nach jenem Schlosse schickte, um die Prinzessin zu
ernähren? Käme sie dadurch frei? Täte er aber mit dem Drachen kämpfen und
diesen töten, mit was könne er dann das Blut von den Händen abwaschen und zu seinen Prinzipien zurückkehren?
Wenn du glaubst, in eine Zwickmühle zu geraten, dann geh entweder zu deiner Fee oder zu Fuß. Sonnenstein
entschied sich für das Wandern.
Es war wohl an irgendeinem Ufer, da geriet der König wie von ungefähr in einen großen Schwarm von Sängerinnen.
Und hast du nicht gesehen, hatte sich schon eine auf seine Hand gesetzt und – zugestochen. Schon holte Sonnenstein mit der Hand aus, um
zuzuschlagen, da erinnerte er sich noch rechtzeitig seiner Devise und ließ den Arm sinken. Hätte denn ein Schlag den Stich ungeschehen
gemacht? Wußte er, der König, ob das Tier nicht noch in dessen Leben viel Gutes tun konnte? Die Mücke entdankte sich nicht, sondern ermunterte Sonnenstein, sie zu rufen, wenn er einmal in Not sei.
Der König nahm sich vor, es sich zu merken, wanderte noch eine Meile oder mehr und legte sich am Rande eines Wäldchens zum Schlafen nieder. Doch noch lange vor Sonnenaufgang wurde er durch ein lautes Gepolter unsanft geweckt.
Schon war er aufgesprungen, hatte seine Waffe gezogen, da kam es ihm noch rechtzeitig in den Sinn, daß er die Schlafstörung nicht mehr ungeschehen machen könne. Wußte er denn, ob das Tier nicht noch in dessen Leben viel Gutes tun konnte? Auch die
Wildsau entdankte sich nicht, sondern sagte dem König ihre Hilfe zu, falls er sie einmal brauchen werde.
Sonnenstein wollte sich das gut merken, setzte sich, griff nach seinem Rucksack und wollte gerade ein Stück Brot hervorholen, da gewahrte er, daß er über Nacht zum
Herbergsvater geworden war. Schon ergriff er einen Knüppel, um zuzuschlagen, da wurde es ihm bewußt, daß das von seinem ungebetenen
Gast verzehrte Brot durch eine Hinrichtung wohl kaum zu einer Brotvermehrung führen werde. Wußte er denn, ob das Tier nicht in dessen
Leben noch viel Gutes tun konnte? Auch die Maus entdankte sich nicht, sondern –
„Kindermärchen!“ konnte sich Don Dörrensiepen nicht länger zurückhalten. „Da siegt das Gute immer. Aber in der Wirklichkeit –“
„– da siegt das Gute erst recht“, ergänzte der Alte schmunzelnd, „wenn du die ewige Herrlichkeit mit einbeziehst. Bei Sonnenstein gewann das Gute sogar schon vorher eine wichtige Schlacht. Denn mit
Hilfe der Mücken konnte er den Drachen vertreiben und dann mit Hilfe der Wildschweine und Mäuse die Prinzessin befreien. Und – um’s
kurz zu machen – wenn sie nicht gestorben sind –“, aber das hatte der Besucher nicht mehr wissen wollen; er war bereits
gegangen. Hoffentlich setzte er etwaige Mücken nicht gegen seine Eheliebste ein, sondern gegen den Ehekrieg!
© Stiftung Stückwerken, *31.10.2020, freigegeben am 4.5.2024
Qouz-Note: 2-
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MamM 1.091 Der Tunnel
„Wie geht’s Euch?“ wollte Donna Nörgenheim gar nicht wissen, sondern schien sich selber angesprochen zu
fühlen. „Mir jedenfalls gar nicht gut. Als hätte mich ein Pferd –“
„Was gehst du auch so dicht dran“, zeigte der Alte von der Halbinsel kaum Mitgefühl.
„Ihr habt gut reden“, blieb’s der Besucherin nicht verborgen. „Ihr lebt ja sozusagen als
Einsiedler. Aber ich, ich hab’ Nachbarn!“
„Die deine Nächstenliebe brauchen?“
„Die sie arg strapazieren!“ stellte Donna Nörgenheim richtig. „Gegen 1 Uhr gehen die einen noch mal vor die Tür, um zu rauchen; und dabei palavern
sie so laut, daß niemand schlafen kann. Und zwischen 4 und 5.40 Uhr knallen die andern bereits ihre Fensterläden auf. Und dann noch der Zeitungsjunge, der laut seine schrägen Lieder, eh, Töne pfeift und an den Briefkästen klappert. Ja, und obendrein noch die Laubharker, die nach der Devise arbeiten: Je mehr Lärm, desto wirkungsvoller und desto mehr Respekt. Na, dann rechnet mal zusammen, auf wieviel Stunden Schlaf ich da –“
„Und für jeden deiner Nachbarn ist Jesus am Kreuz gestorben, und –“
„Na, die hatten’s auch gewiß nötig“, ergriff die Besucherin ihren Schild, „so rücksichtslos sind die!“
„– jeden hat Gott lieb“, fuhr der Alte fort.
„Frommes Geschwafel!“ kommentierte Donna Nörgenheim erzürnt. „Dann soll er gefälligst dafür sorgen, daß diese –, diese Rüpel nicht mehr meine Nachtruhe stören. Oder hat er mich etwa gar nicht lieb?“
„Doch“, versuchte der Alte hilflos, den angerichteten Schaden zu begrenzen. „Ich mein’ ja nur – Also,
die Perspektive, eh –“
Und da er nicht mehr weiterwußte, begann er zu erzählen:
Fredrixen war kein König zum Vorzeigen. Eine freie Rede zu halten, nee,
das war nicht sein Ding. Bei solchen Gelegenheiten waren stets die Pausen länger als die Wörter, – nein, Worte ist hier am
passendsten. Aber nach diesen mußte er so lange suchen, daß sie seinen Zuhörern gar nicht mehr ins Bewußtsein drangen; denn in den Pausen waren deren Gedanken längst woanders hinspaziert.
Auch im Handeln war Fredrixen nicht der Schnellste; jedenfalls was Veränderungen anbetraf, wie sie von der
Jugend so gerne gefordert werden und mal unter der Flagge von Reformen segeln und mal unter der Flagge von Neuerungen.
Somit war Fredrixen kein König nach dem Geschmack der Jungen; und da die Alten nach und nach vom Tode außer
Landes gebracht wurden und immer mehr Junge nachrückten, hatte der König bald nicht mehr die Mehrheit seines Volkes hinter sich, sondern gegen sich.
Unübersehbar wurde das, als das Volk Krieg forderte. Nun kannst du für einen Krieg immer Gründe und Anlässe
finden, aber nie eine Rechtfertigung. So dachte jedenfalls der König.
„Kinder“, sprach er, „gegen welches Gebot – verstößt ein Krieg – nicht? – Wollt ihr – Eltern – ihrer
Söhne – berauben? – Wollt ihr – Menschen – zu Bestien – machen, denen – nichts mehr –heilig ist? – Wollt ihr – aus blühenden Gärten und – wogenden Feldern – Wüsten machen?
– Dazu hat – uns Gott – seine Schöpfung – nicht –“
„Hoho! Hoho!“ brüllte das Volk. „Hier sind Priester und Prophetenkinder, die wollen unsere Waffen segnen, und dann werden wir den Feind –“
„Aber das ist doch – Gotteslästerung!“ versuchte der König, durch- und einzudringen. „Ihr mißbraucht – Gottes Namen – für einen – Zweck, zu dem er – sich niemals – bekennen kann. – Er ist ein Gott – aller –“
„– und der Gerechtigkeit!“ überbrüllte ihn das Volk.
„Ist nicht seine Hand wie ein Hammer und ein Schwert, das alles zerschlägt? Krieg! Wir wollen Krieg! Auf, in den Krieg!“
Fredrixen wollte widersprechen, richtigstellen, aber er drang nicht mehr durch, so groß war das Geschrei des Volkes. Des aufgewiegelten Volkes; denn bei jedem Krieg steht viel Geld auf dem Spiel, das
aus den Taschen vieler in die Taschen weniger gelenkt werden soll.
Der König zog sich in seine Privatgemächer zurück, und noch am gleichen Abend verließ ein Wandersmann das Schloß durch die Hinterpforte. Kein Mond schien; doch in der Dunkelheit bewahrte der Blick zu den Sternen den
Wanderer davor, im Kreise zu gehen. Solange er sich auf freier Flur befand!
Aber als seine Füße in einen Wald lenkten und bald sogar in einen dichten Nadelwald, sah der Mann die Sterne nicht mehr. Da senkte er
seinen Blick und – sah gar nichts mehr. Und als nun auch noch ein schlimmes Wetter aufzog, hätte der Wanderer am liebsten alles
hingeworfen und sich mit.
Aber da gewahrte er mit einem Mal, und das trotz des Unwetters, daß ein Brunnen in der Nähe sein müsse. Der
Mann trat hinzu und – wurde freundlich angesprochen, ob er mit ihr ein Gerstenbrot teilen wolle und einen Becher frischen Wassers.
Der Mann nahm’s dankend und gerne an und teilte im Gegenzug seine Sorgen mit dieser anscheinend schon recht betagten Frau: Sein ganzes Leben sei vergeblich
gewesen!
Die Frau widersprach ihm, denn sein bisheriger Weg habe ihn doch hierhin geführt; nun müsse er nur
weitergehen. Und sie riet dem Mann, dabei nach oben zu schauen, um auf dem richtigen Weg zu bleiben.
Der Mann befolgte den Rat auch; doch schon bald wurde es auch über ihm finster, und seine Schritte hallten,
als wären neben, über und unter ihm nur Felsen und Mauern. War er in einen Bergwerksstollen geraten? Drohte irgendwo ein Abgrund? Oder? Aber hatte die Frau nicht geraten, weiterzugehen? Vorsichtig, aber stetig tat er’s
und ließ seine Füße, seine Hände und seine Ohren erforschen, was seinen Augen –
„Was für ein Quatsch!“ konnte sich Donna Nörgenheim nicht länger zurückhalten. „Soll ich etwa in ein Bergwerk ziehen, um endlich meine Nachtruhe zu haben?“
„Niemand soll etwas“, konnte es der Alte mal wieder nicht lassen, „jedenfalls ging Fredrixen kraft des Brotes, kraft des Wassers und kraft des Rates wohl 3 Nächte und 3 Tage und – trat schließlich aus seinem Tunnel hinaus. Und da die Sonne bereits untergegangen
war, brauchte der König nicht lange, um seine Augen wieder in den Dienst zu nehmen. Und sie gewahrten ein Land in voller Blüte, wo
Nachtigallen hin und wieder sangen und der Abend nach Frühling duftete. Und auf einer Bank am Wegesrand saß eine junge Frau und
lächelte den Wanderer an, als müsse dieser sie kennen. War sie etwa –? Im
Tunnel war ihm hin und wieder so gewesen, als wandere er nicht alleine, wenn auch kein Schatten zu sehen gewesen war und kein Schritt zu hören. Andreja heiße sie; nicht Andrenein. Da
faßte Fredrixen sich ein Herz, den Kriegstreibern daheim nicht das Feld zu überlassen, sondern zurückzukehren und seinem Volk den neuen Frühling zu bringen. Zwar mußte er wieder durch den Tunnel, aber nun war er nicht allein und wußte, daß der Tunnel –“
Doch allein war inzwischen wieder der Alte.
© Stiftung Stückwerken, *5.+7.11.2020, freigegeben am
6.5.2024
Qouz-Note: 3-
***
MamM 1.092 Die Steine selbst, so schwer sie
sind (2)
„Glaubt“, druckste Donna Ungelick herum, „glaubt Ihr eigentlich an das Fegefeuer?“
„Das von DANTE?“ fragte der Alte von der Halbinsel zurück. „Nö, denn wer Menschen sortiert und ausgrenzt, müßte eigentlich –“
„Ich mein’: so allgemein“, war die Besucherin nicht darauf erpicht, eine literarische Reise anzutreten.
„Also, ich glaube“, räumte der Alte ein, „daß es im Jenseits unterschiedliche Bereiche gibt und unter deren Bewohnern unterschiedliche Zufriedenheit. Und daß es auch drüben Entwicklung gibt; aber beweisen kann ich das –“
„Ja, und daß wir hier auf dieser Erde“, hakte Donna Ungelick ein, „den Seelen drüben durch unsere Gebete helfen –“
„Nun ja“, schränkte der Alte ein, „wenn wir uns nicht gerade zu Gottes Anweiser aufspielen und –“
„Ich dachte da an den Kaiser Nero“, wartete die Besucherin mit einem Beispiel auf; „für den hab’ ich sogar gebetet.“
„Weil er dir nie etwas getan hat?“ dämpfte der Alte.
„Wie steht’s aber mit deiner Mutter? Hattest du nicht –“
„Das ist ganz was anderes“, versuchte Donna Ungelick richtigzustellen, „die hat so viel in meinem Leben kaputtgemacht, da kann ich –“
„Und wie willst du das Nero verständlich machen“, gab der Alte zu bedenken, „daß du ihn sozusagen zu dir einlädst, deine Mutter aber
– Doch ich will mir den Mund nicht fuselig reden“, und er begann zu erzählen:
Es wär’ einmal ein junger König, der hieß Erbsenzahl. Nun, das Taufregister liegt mir jetzt nicht vor, aber
das tut auch nichts zur Sache. Jedenfalls schien jener König seinen Namen als Amt und Auftrag aufzufassen und alles mit peinlicher Genauigkeit zu behandeln. Im Schloß durfte kein einziges Staubkorn zu finden sein, kein Spinnenfaden, keine Fluse. Mahlzeiten, Audienzen, Sitzungen hatten pünktlich zu beginnen und pünktlich zu enden.
Und Steuern waren auf den Kreuzer genau zu entrichten.
Tscha, du kannst dir sicher gut vorstellen, daß diese Pingeligkeit einer schnellen Vermehrung des königlichen Vermögens sehr im Wege stand und Erbsenzahl somit nicht zu
den Reichsten dieser Welt gerechnet wurde. Deshalb erscheint es uns verwunderlich, daß Prinzessin Diana dennoch damit einverstanden war, sich von jenem König heiraten zu lassen.
Heimlich wurden schon die 1. Hochzeitsvorbereitungen getroffen, da kam es der Prinzessin wie von ungefähr in den Sinn, einen Ball zu geben; vielleicht war’s ja der letzte in allein eigener Regie. Zu diesem Fest war
selbstverständlich auch Erbsenzahl geladen, aber auch manch anderer Prinz.
Der Ballabend kam also, und den 1. Tanz gewährte Diana ihrem, eh, vorgesehenen Ehemann; aber dann tanzte die
Prinzessin nur noch mit einem: dem Prinzen Siegbert. Dieser Prinz stellte wirklich alle anderen Männer im Ballsaal in den Schatten:
sicheres Auftreten, strahlendes Gesicht und jener ungewisse Duft nach unermeßlichem Reichtum.
„Wenn der mir zu Füßen läge“, dachte Diana im stillen, „dafür täte ich 10, was sag’ ich, 100 Erbsenzahls hergeben!“
Dem König schienen diese Gedanken nicht ganz verborgen geblieben zu sein. Denn als nun Siegbert gebeten wurde,
ein Lied zu singen, und für die Ausführung einen überwältigenden Applaus erntete, da trat auch Erbsenzahl an den Flügel, als wolle er einen Wettstreit bestehen. Allein – sein schnarrender Bariton konnte dem strahlenden Tenor des Prinzen nicht das Wasser reichen und erntete mehr mitleidvoll verzogene
Gesichter denn Begeisterung.
Als dem König diese Schmach bewußt ward, konnte er nicht mehr an sich halten, trat von hinten an Siegbert heran und versetzte diesem einen derartigen Stoß, daß der Prinz
wie ein gefällter Baum zu Boden stürzte und reglos liegen blieb. Tot? Oder
zumindest mit bleibenden Schäden? – Darüber machte sich Erbsenzahl keine großen Gedanken; er dachte nur: Fort! Fort von hier! Auf der Stelle!
Nachdem dieser Gedanke umgesetzt war, gab es Platz für Neues: wohin? Auf sein Schloß. Weiter? Fort; Hauptsache:
fort! Irgendwohin.
Immerhin packte Erbsenzahl daheim noch einen Rucksack für die Reise. Dann wanderte er in die Nacht
hinaus.
So eine Nachtwanderung kann etwas Schönes sein: der weite Sternenhimmel über dir, rauschende Wälder, ein murmelnder Bach. Aber davon gewahrte der König überhaupt nichts. Warum nicht? Nun, der König dachte! Er dachte an seine Braut und wie treulos sie sich verhalten
hätte. Und je mehr er an sie dachte und je mehr er ihr grollte, desto schwerer wurde sein Rucksack. Dann dachte Erbsenzahl auch an den Sängerwettstreit. Puh, dieser –, dieser
dahergelaufene Aufschneider konnte doch gar nicht singen! Das war doch alles Blendwerk! Dieser Schuft! Hatte sich mit schmachtenden Blicken und Schmelz in der Stimme seine
Zuhörerinnen um den Finger gewickelt! Geradezu verhext! Zwar kam sich der
König bei diesen Gedanken wie ein gerechter Richter vor, aber sein Rucksack, der wurde noch schwerer. Und dann dieser Sturz! Erst provozieren; und dann alles markieren! Nur, um ihn, Erbsenzahl, unmöglich zu machen! Und noch schwerer drückte der Rucksack,
so daß dieser kaum noch zu tragen war.
Als der König am andern Morgen Rast machte und seinen Rucksack öffnete, da fand sich’s, daß der ganze eingepackte Proviant zu Stein
geworden war. Gut, die Steine ließen sich ausschütten und anscheinend zurücklassen, aber dadurch entstand kein neuer
Proviant. Und als der König weiterwanderte und wieder seinen alten Gedanken nachhing, da wurde der Rucksack wieder schwerer und
schwerer. Und als dieser wieder geöffnet wurde, da war er erneut voller –
„Und was hat das mit meiner Mutter zu tun?“ konnte sich Donna Ungelick nicht länger zurückhalten.
„Tscha“, meinte der Alte, „wer sich seinen Rucksack immer wieder mit Steinen füllt, mit dem hat es seine gute Fee nicht leicht. Allein – dem König knurrte der Magen, und wie von ungefähr lenkten Erbsenzahl seine Füße in das Reich von Siegberts Eltern. Dort verdingte er sich mal hier, mal dort, um sein täglich’ Brot zu erhalten;
natürlich so, daß ihn dort niemand erkannte. Tscha, und dabei erfuhr Erbsenzahl, daß der Prinz an jenem Abend keinen Schaden genommen
hatte. Daß bald Hochzeit sein würde. Und – welche Schuhe der Prinz bisher
getragen hatte. Ja, frag nur mal einen erfahrenen Schuhmeister, was ihm abgetragene Schuhe alles erzählen können! Und jedes Mal, wenn Erbsenzahl eine neue Geschichte aus des Prinzen Vergangenheit erfahren hatte und weiterzog, war sein Rucksack
leichter. Und als schließlich der Tag der Hochzeit kam, da –“
Aber dem Alten war seine Zuhörerin inzwischen abhanden gekommen.
© Stiftung Stückwerken, *13.-14.11.2000, freigegeben am 6.6.2024
Qouz-Note: 3+
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MamM 1.093 Göttliche Arroganz?
„Stimmt das eigentlich“, wollte sich Donna Mauerstein vergewissern, „was sie von Euch reden?“
„Ist die Flüsterpost wahr?“ fragte der Alte von der Halbinsel zurück.
„Jedenfalls ist meist was Wahres dran“, gab sich die Besucherin sicher. „Ich mein’, eh, es heißt, – Ihr wäret
vom rechten Glauben abgewichen.“
„So?“ sah’s der Alte wohl anders. „Und was ist der
rechte Glaube?“
„Daß unsere Kirche die rechte Arche ist“, wurde Donna Mauerstein deutlicher, „und nur sie zu Gott –“
„Tscha, wer ist die Kirche?“ parierte der Alte. „Und was
ist, wenn die, welche vorgeben, die Kirche zu sein, dem Ziel nicht näher –?“
„Was? Ihr zweifelt an der göttlichen Führung in unserer Kirche?“ entsetzte sich die Besucherin.
„Ich zweifle an niemandem, der ehrlich und aufrichtig ist“, stellte der Alte richtig, „zumindest ist das meine Absicht.“
„Auch wenn er nicht unserer Kirche angehört?“ konnte Donna Mauerstein ein gewisses Lauern in ihrer Stimme nicht
verbergen.
Der Alte blätterte jedoch in seinem abgegriffenen Buch, bevor er es mit der Frage weitergab: „Hier, wie liesest du?“
„Der HERR ist nahe allen, die ihn anrufen, allen, die ihn mit Ernst anrufen“, las die Besucherin, bevor sie einschränkte:
„Sofern sie unserer Kirche angehören!“
„Siehst du“, kommentierte der Alte, „da hatte David ein weiteres Herz als du; und wie weit mag erst das Herz Gottes sein, der da allen Menschen helfen will“, und er begann zu
erzählen:
Es wär’ einmal ein König, der hieß –, ja, der hieß Wolkenküppel; vermutlich weil er nicht sehr groß, sondern
sehr lang war. Ja, so ein langer Lulatsch wird schon mit einer schweren Hypothek belastet! Denn kaum ist er seinen Kinderschuhen entwachsen, sieht er auf alle anderen Menschen hinab, und alle andern Menschen müssen zu ihm
aufsehen; sofern sie sich keiner Hilfsmittel bedienen oder sich wie ein Luftballon aufblasen.
Nun, Wolkenküppel war nicht der 1., der seine Länge mit Größe verwechselte und sich mächtig was darauf einbildete; und er wird auch nicht der letzte sein. Und so einer ist auf der Brautschau sehr
wählerisch! Er sieht eben über vieles hinweg. Und hat mal eine Schöne seine
Augen auf sich lenken können, so ist’s nur für eine kurze Zeit; denn schon wandert sein Blick weiter, vergleicht und stellt fest, daß
auch andere Mütter attraktive Töchter haben.
Und dann sein blaues Blut! Ja, sein königliches Blut! Auch darauf bildete sich Wolkenküppel mächtig was ein. Also, eine bürgerliche Braut
wäre für ihn nie in Frage gekommen.
Joa, und dann sein Wissen! Wie ein gelehriger Papagei wußte Wolkenküppel vieles auswendig
aufzusagen. Angeblich alle Psalmen; da wäre ich bereits beim 119. ins Stocken
geraten. Doch all sein Wissen vermochte ihm nicht zu raten, wie er seinem Volk helfen könne.
Dieses war nämlich von einer schlimmen Seuche heimgesucht worden, die bei vielen zum Tode bei lebendigem Leibe führte. Wie das zu verstehen ist? Nun, die Menschen atmeten, aßen und tranken zwar noch, aber
was sie zu sich nahmen, wurde nicht mehr in Kraft umgesetzt. Ihre Herzen waren schwach, es ging keine Wärme mehr von ihnen aus, und
ihre Augen waren verfinstert.
Immerhin hatten die Ärzte eine Pforte entdeckt, von der sie sich Rettung versprachen. Sie sagten nämlich dem
König, dem Volk fehle es am Wasser des Lebens. Aber da Wolkenküppel dieses Wasser nicht zu machen wußte, schien jene Pforte nur der
Anfang eines langen Weges zu sein.
Wir müssen es aber dem König zugute halten, daß er sich selbst auf die Suche nach jenem Wasser machte und das nicht auf andere abwälzte. Er setzte sich also auf sein Pferd und ritt davon. Wohin? Eine gute Frage! Auf jeden Fall über die Grenze; denn soviel stand für Wolkenküppel fest: Das Wasser des Lebens war nicht in seinem (des Königs) Reich zu
finden; sonst wäre ihm, dem König, das gewiß zugetragen worden.
Nun hatte aber der Hengst, den der König ritt, eine Liebschaft zu einer rossigen Stute angefangen, die er nicht unvollendet zu lassen gedachte. Kaum lag also die Grenze hinter ihm, hielt er im Laufe an, bockte, warf seinen Reiter ab und galoppierte unverzüglich heimwärts zu seiner
Verabredung.
Mühsam und etwas benommen schleppte sich der König an den Wegesrand und blieb dort völlig zerschlagen liegen.
Von dort sah er nun alles aus einer ganz neuen Perspektive: Er mußte zu allem, was dort vorüberzog, aufschauen. Zur Prinzessin, die in
ihrer prächtigen Kutsche vorüberrasselte. Welch ein abschätziger Blick! Mit
so einem mach’ ich mir doch nicht meine zarten Hände schmutzig! Gewiß selber schuld! Strafe muß sein! – Auch die Barmherzigen Schwestern, die vorüberwallten, halfen
dem Verletzten nicht. Immerhin sprach jede von ihnen ein inniges Gebet;
aber da der Hilfsbedürftige ein Fremder sei und nicht auf Klostergebiet liege, seien sie nicht zuständig, so leid es ihnen täte.
Schließlich kam noch eine Bettlerin des Weges. Die aber kniete sich sogleich nieder, untersuchte aufmerksam
den Verletzten und meinte dann, hier könne nur das Wasser des Lebens helfen.
„Aber das such’ ich doch auch!“ jammerte Wolkenküppel. „Doch keiner weiß, wo es zu finden ist.“
„Nein?“ ließ die Bettlerin Zweifel einfließen und ein Lächeln. Dann zog sie ein kleines Fläschchen hervor, öffnete es und wollte es dem Verletzten an die Lippen setzen.
Der aber wehrte energisch ab: „Dann hast du doch gar nichts mehr!“
„Wasser des Lebens, das du mit andern teilst“, wußte Angelika wohl aus Erfahrung, „wird nicht –“
„Und was hat das jetzt mit unserer heiligen, allein seligmachenden Kirche zu tun?“ konnte sich Donna Mauerstein
nicht länger zurückhalten.
„– weniger“, war der Alte noch zu sehr in Fahrt. „Was meinst du: Ist Arroganz eine göttliche
Eigenschaft? Ich jedenfalls glaube: Wann immer ich auf andere Menschen hinabblicke, mache ich was falsch. Darf ich einen einzigen Menschen davon ausschließen, mit mir das Vaterunser zu beten?
Ich glaube: nein. Erst recht nicht, wenn zumindest einer von uns Wasser des Lebens hat.“
Doch die Besucherin hieß nicht Brückenstein (Noch nicht!) und war inzwischen
gegangen.
© Stiftung Stückwerken, *19.-20.11.2000, freigegeben am 6.6.2024
Qouz-Note: 2
***
MamM 1.094 Willst du mein werden?
„Seid mal froh“, seufzte Donna Hosentrager, „daß Ihr nicht verheiratet seid!“
„Mal?“ war’s dem Alten von der Halbinsel
nicht treffend genug.
„Ihr hört nachts niemanden, der einen ganzen Wald zersägt, –“, war die Besucherin nicht zum Zuhören gekommen, sondern zum Ablasten.
„Dafür hab’ ich Nachbarn“, versagte der Alte Mitleid. „Spätestens 5.45 Uhr knallen die Türen und Fensterläden,
oder noch früher klappert die Zeitungsbotin mit den –“
„– Ihr braucht auf niemanden Rücksicht zu –“
„Na ja“, hatte der Alte einen anderen Blickwinkel, „ich könnte mich ja nachts rächen, wenn ich zu Bett gehe, und ebenfalls –“
„– und Ihr braucht niemanden ständig zu ermahnen“, blieb Donna Hosentrager lieber bei ihren eigenen Leiden.
„Ihr Männer habt ja sowieso Bohnen in den Ohren, aber bei den Ehemännern ist wohl auch noch das Gedächtnis arg –“
„Ja, ja“, schien der Alte da was wörtlich zu nehmen, „drum prüfe, wer sich ehelich will verbinden, ob er die Richtige kann finden“, und er begann zu erzählen:
Es wär’ einmal eine Prinzessin, die hieß Eva, war lieblich anzusehen, sittsam und in allen Geschicklichkeiten einer
tüchtigen Schaffnerin bewandert. Ja, das waren noch Zeiten! Vielleicht
hätte sogar ich mich in sie verguckt.
Jedenfalls – war’s schon damals so, daß sich die Anziehungskraft einer Frau auf die Männer in gleicher Richtung entwickelte wie ihre Herrschsucht; also, die der Frau! Somit zählte unsere Prinzessin nicht zur 1. Wahl. Dennoch gebrach es ihr nicht an Verehrern, sei es, weil es Männer gibt, die tiefer blicken, sei es, weil es Männer gibt, die, eh, die fehlsichtig
sind oder die falsche Brille tragen. Doch, doch, die gibt es! Hör dich nur
mal um, wie Ehemänner später über ihren Brautstand, also ihren Leimrutengang, urteilen und was sie da auf den Augen gehabt hätten. Und
wir werden ja noch hören, wie es Eva erging.
Als sie nicht mehr als kleines Mädchen galt, ward sie eines Abends auf einem Ball angesprochen, und zwar von einem Mann, ob sie ihn nicht an seinem Geburtstag besuchen
wolle.
„Warum eigentlich nicht?“ sprach die Prinzessin zu sich.
„Was du hast, das hast du! Und wer zu wählerisch ist, wird einmal zu einer alten Jungfer!“
Sie sagte also zu und hielt auch Wort.
Nun hatte aber Schmalhans erst vor wenigen Monaten sein Erbe angetreten, das da bestand aus: Krone, Thron und – und einer
Köchin. Nein, nicht als Leibeigene, sondern er durfte nur dann sein Erbe antreten, wenn er die bisherige Köchin in Diensten
behielt. Tscha, und da war der Hase im Pfeffer beerdigt! Köchin
Löffelholz hatte zum Beispiel bei den Gewürzen kein glückliches Händchen! Nun, wenn etwas fehlt,
kannst du’s ja bei Tisch noch einmal nachwürzen. Aber ist zuviel gewürzt, dann hilft nur noch eins: viel Wasser! Ja, und die hehre Backkunst hatte ihre Pforten für Löffelholz auch noch nicht geöffnet!
Von diesen Umständen bekam Eva bereits an jenem Geburtstag eine Kostprobe. Statt mit Torten und leckeren
Kuchen aufzuwarten, legte die Köchin nur ein Weißbrot auf den Tisch, stellte die Butterdose und einen Teller mit Rosinen dazu und bedeutete dem König, sich und seinem Gast daraus einen Stuten zu
basteln. Nichts Ungewöhnliches, wie Eva wohl richtig vermutete.
Und als dann zum Abend ein warmes Essen auf den Tisch gestellt wurde, dem es an ausreichender Kochzeit schmeckbar gebrach, da machte Eva kurzen Prozeß, als wäre sie
bereits die neue Königin. Sie ließ alles in die Küche zurücktragen, stieg hinterdrein, band sich eine Kittelschürze um und stellte sich
selber an den Herd.
Was dann aufgetragen wurde, hatte mancherlei Konsequenzen. Das Abendessen mundete trefflich, es dauerte lange
und machte den König sehr leutselig. Er erzählte viel von sich und seinen bisherigen Erfolgen, so daß er in seinen Augen wuchs und
wuchs und sich, so sagte er selbst, noch nie in seinem Leben so wohl gefühlt hätte. Und dann passierte es!
Der König erhob sich, trat vor seinen Gast, sank auf seine Knie und stellte die bedeutsame Frage: „Willst du mein – meine Köchin werden?“
Wortlos langte Eva nach dem Brotkorb auf dem Tisch, leerte ihn, reichte ihn so dem König und rauschte davon.
Tscha, nun weißt du, warum mancher junge Mann den Brotkorb wegbringen läßt, wenn er mit seiner Angebeteten tafelt.
Der 2. Verehrer, den Eva besuchte, war aus anderem Holze. Das Abendessen war zwar nicht überwältigend, aber
die Stimmung besserte sich nachher zusehends. Auch Jowanni schien zu den Schnellentschlossenen zu gehören, denn
auch er erhob sich zu vorgerückter Stunde plötzlich, trat zur Prinzessin, kniete nieder und fragte mit flehendem Nachdruck: „Willst du mein – meine Bettgenossin werden?“
Nein, nein, nein! Jowanni war kein Wüstling!
Urteile nicht vorschnell! Er hatte nämlich Mäuse in seinem Schlafzimmer und vor ihnen große – na, ja, sagen wir: großen
Respekt. Und nun hoffte er, seine Nächte künftig zu zweit tapferer zu bestreiten. Solltest du also einmal von einem Mann gebeten werden, bei ihm zu übernachten, erkundige dich erst einmal, ob er Angst vor Mäusen habe, bevor du
–
„Wollt Ihr mich verulken?“ konnte sich Donna Hosentrager nicht länger zurückhalten. „Oder habt Ihr etwa einen über den Durst –“
„Jedenfalls rauschte Eva sogleich von dannen“, war der Alte noch zu tief in seiner Mährchenwelt. „Aber beim 3.
König, da war alles anders. Leowin hatte seine Kinderschuhe noch nicht ausgezogen und galt
allgemein als verspielt. Immerhin lud auch er Eva zu sich ein, also auf sein Schloß, und begann, mit ihr zu spielen. Wörtlich! Ein Brettspiel!
Jedenfalls eins, bei dem auch gemogelt werden kann. Als aber der König Eva als ehrlich erfunden hatte, legte er mit einem Mal seine
Hände auf die ihrigen und fragte: «Darf ich dein Spielgefährte werden?» Eva willigte sogleich ein, denn erstlich wurde sie hier nicht
angebetet; zweitens haben Kinder das Lachen, Singen und Staunen noch nicht verlernt; und drittens wissen sie sich schneller zu vertragen.“
Doch das hörte die Besucherin schon nicht mehr, denn sie war mit ihren alten Lasten davongerauscht.
© Stiftung Stückwerken, *27.11.2000, freigegeben am 7.6.2024
Qouz-Note: 2-
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MamM 1.095 Liebe liest Liverino
„Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll“, klagte Donna Drachenstein und schaute auf ihre Schuhe.
„Das geht schon in der Nacht los! Da schnarcht er, als ob er einen ganzen Wald abholzen –“
„Dann säg eben mit“, war der Alte von der Halbinsel wenig trostreich, „oder sammle das Holz
–“
„– wolle“, war die Besucherin in Fahrt. „Und wenn er nicht schnarcht, dann steht er auf und schlurft auf’s
–“
„Versuch’s mal mit Filzpantoffeln“, riet der Alte, „oder laß ihn auf Socken gehen. Freilich weiß ich nicht,
wie sauber es –“
„Und dann dieses Schmatzen beim Essen!“ war Donna Drachenstein nicht zu bremsen. „Oder Schlimmeres!“
„Er ißt eben lutherisch“, kommentierte der Alte, „und es ist ein Zeichen, daß es ihm –“
„Daß mir das Essen nicht mehr schmeckt!“ stellte die Besucherin richtig. „Besuch einladen oder mal außerhalb essen gehen, das ist nicht mehr –“
„Und seid wann verhält er sich so?“
„Eigentlich, seitdem er die Firma –“
„Sein Unternehmen“, verbesserte der Alte.
„Meinetwegen – verkauft hat“, antwortete Donna Drachenstein. „Vorher war er ja kaum zu Hause. Immer für die Firma –“
„Und davor nicht?“ unterdrückte der Alte sein Besserwissen.
„Ist mir jedenfalls nicht aufgefallen“, wollte die Besucherin nichts ausschließen.
„Und doch habt ihr einander mal geliebt“, unterstellte der Alte und begann zu erzählen:
Helwines und Liverinos Haussegen war in die Jahre gekommen. Daß er schief gehangen hätte, mag ich nicht behaupten, denn in den Chroniken ist dazu nichts überliefert. Das könnte darin seine Ursache gehabt haben, daß des Paares Augen anders blickten denn zuvor.
Der Königin Blick war in jener Zeit stets gesenkt, als habe sie ihre Augen nur noch dazu, Hindernisse auf ihrem Wege zu bemerken. Einen Blick für ihren Gatten hatte sie nicht mehr.
Liverino dagegen schaute hin und wieder noch auf seine Ehefrau, aber was er dort vorfand, gefiel ihm überhaupt nicht mehr. Das Haar hatte seinen Glanz verloren; das Gesicht welkten Blässe und
Falten; und die Mundwinkel waren deutlich nach unten gezogen und hatten die Gegenrichtung verlernt. Und da die Königin ihren Gemahl nicht mehr anblickte, konnte sich dieser auch nicht mehr in ihren Augen spiegeln; sie war ihm fremd geworden, und nichts von ihr zog ihn mehr an.
Ob’s stimmt, daß ein Unglück selten allein komme? Für den König war’s nämlich nicht die einzige
Entfremdung. Ihm erschien auch sein Volk nicht mehr als vertraut. Wie
konnten Menschen einander töten? Wie konnten Menschen einander bestehlen?
Wie konnten Menschen einander betrügen und belügen? Gut, Liverino war von Anfang an ein strenger König gewesen, und Verbrechen waren
auch schon in den ersten Jahren seiner Regentschaft verübt worden. Aber da hatte es noch Hoffnung gegeben, daß sich das bessern
werde.
Und glücklich sahen seine Untertanen auch nicht aus. Eigentlich so wie Helwine. War er, der König, mit all seinen Regierungsplänen also gescheitert? War gar sein
Leben vergeblich gewesen?
Sollte er deshalb abdanken? Sollte er sich von seiner Frau trennen? Ist jemand, der so fragt, überhaupt noch König?
In seiner Not ging Liverino zu seiner Fee; zu seiner guten Fee! Es war in jenen Tagen des Jahres, in
denen der Himmel sich von seiner trostlosen Seite zeigt, der nasse Weg die Füße gleiten läßt und nur noch an den Eichen einzelne Blätter an eine lebendige Zeit erinnern. Doch im Westen schimmerte es heller, aber der König gewahrte nur desto deutlicher die kahlen Zweige der Buchen.
Bei der Fee angekommen, schüttete er ihr sein Herz aus. Was tat das gut! Und als er schließlich fragte, ob er abdanken und sich von seiner Frau scheiden solle, klang’s nicht ganz frei von Hoffnung.
„Soll?“ hakte die Fee ein, die bisher schweigend, aber interessiert zugehört hatte. „Wer hat denn solche Gebote aufgestellt? Ich kenne eher das Gegenteil: Du brauchst
deine Wurfschaufel nicht ins Korn zu werfen, sondern darfst dich deinen Aufgaben stellen; und du brauchst das Tischtuch nicht zu
zerschneiden, sondern darfst weiterhin dein Brot brechen und teilen.“
„Aber es hat doch alles keinen Zweck mehr!“ fiel der König in seine Resignation zurück. „Es ist – es ist alles tot!“
„Na, dann komm mal mit“, lud die Fee ein und geleitete ihren Gast in ihren Garten. Dort blieb sie bei einigen
Obstbäumen stehen und fragte: „Was siehst du?“
„Obstbäume“, antwortete Liverino, „als wären sie tot.“
„Dann nimm mal einen Zweig in die Hand“, empfahl die Fee, „und schau genauer hin. Na?“
„Wahrhaftig!“ staunte der König. „Da zeigen sich schon
die neuen Knospen! Warum habe ich das zuvor nicht gesehen? Brauch’ ich eine
Brille?“
„Die wäre nur ein Hilfsmittel“, gab die Fee zu bedenken, „das du verlegen oder gar zerbrechen könntest. Nein,
halte es diesen Winter mit deiner Frau und deinem Volk noch einmal aus, und dann komm in meine Sehschule; und bring deine Frau gleich
mit. Und für die Zeit eurer Abwesenheit setzt du einen tüchtigen –“
„Und was hat das mit mir und meinem Mann zu tun?“ konnte sich Donna Drachenstein nicht länger
zurückhalten. „Noch kürzlich hat mir der Doktor bestätigt, daß meine Augen völlig –“
„Tscha“, blieb der Alte skeptisch, „wer weiß, ob dein Arzt richtig hingeguckt hat? Helwine und Liverino kamen
jedenfalls im Frühjahr zur Fee und waren erstaunt, nicht in ein Klassenzimmer geführt zu werden, sondern in Gewächshaus und Garten. Dort wurden ihnen Blumen, Gemüsepflanzen, Sträucher und Obstbäume anvertraut, und beide hatten darauf zu sehen, daß alles am besten gedeihe zur
Nahrung und zur Freude. Dazu hatten sie zu lesen, was ein jedes brauche.
Anfangs verstand das Paar die Pflanzen nicht immer richtig; auch mußte es erst lernen, daß nicht alle Pflanzen gleichviel Licht, Wind
und Wasser wünschten. Aber nach und nach lasen Herwine und Liverino in den Pflanzen eindringlicher; und insbesondere bei den Blumen war’s ihnen, als strahlten jene – Wärme zurück.
Tscha, und als die beiden die Sehschule wieder verließen und auf ihr Schloß zurückkehrten, nahmen sie sich dort in die Arme. Denn sie
lasen nicht mehr das, was dein Nächster verdient, sondern, was deine Nächste braucht. Und darauf kommt es –“
Allein – auch dieses Mal war dem Alten seine Zuhörerin längst abhanden gekommen.
© Stiftung Stückwerken, *3.-4.12.2000, freigegeben am 7.6.2024
Qouz-Note: 3+
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MamM 1.096 Herzelinde und der Falter
„Wißt Ihr“, verneinte Don Kummerthal, „seitdem SIE tot ist, da ist – da ist alles so trostlos, –“
„Alles?“ schien beim Alten von der Halbinsel die Erkenntnis über das Mitgefühl zu triumphieren.
„Ach, Ihr versteht mich nicht!“ war der Besucher überzeugt. „Wie könntet Ihr auch! Ihr habt nicht das verloren, was ich –“
„Weil ich’s nie besessen habe“, lief der Alte Gefahr, den bekannten und wohl sehr beliebten Wettkampf zu beginnen: Wem geht es am schlimmsten?
„Überall brauch’ ich SIE“, kämpfte Don Kummerthal auch tüchtig weiter, „überall vermiß’ ich –“
„Und dir ist nichts von IHR geblieben?“ zweifelte der Alte sehr.
„Das ist es ja“, vertiefte es des Besuchers Schmerz: „Ich greife neben mich, und da ist niemand mehr. Kein
Atmen. Keine Antwort. Noch nicht einmal das Rascheln IHRES –“
„Ja, hast du denn nur IHR Kleid geliebt?“ fragte der Alte unbarmherzig. „Und nicht, was drinnen –“
„Ich versteh’ Euch nicht“, verhüllte Don Kummerthal den Gedanken: Ihr versteht mich nicht, bevor es aus ihm herausbrach: „Ach, keiner versteht mich!“
„Da hast du recht“, zeigte der Alte noch immer keine Wärme, „dein Weg ist dein Weg und nicht der Weg eines andern. Aber komm; wenn wir beide jetzt eine Strecke gemeinsam weitergehen, könnten wir
manches ähnlich gewahren“, und er begann zu erzählen:
Es wär’ einmal eine Blume, die hieß – die hieß Herzelinde. In den gelehrten Büchern wirst du
ihren Namen vergeblich suchen; oder kennst du etwa einen Naturforscher, der je die Seele gesehen hätte oder die Liebe? Außerdem schien Herzelinde auch für keinen Menschen irgendeinen Nutzen abzuwerfen: keine eßbaren Früchte, kein Holz zum Bauen oder zumindest zum
Verheizen, noch nicht einmal leuchtende Blüten, mit denen du in Vase oder Kranz hättest Ehre einlegen können.
Eigentlich ein richtiges Mauerblümchen, wenn es wenigstens aus oder an einer Mauer gewachsen wäre. Aber nein,
noch nicht einmal das, sondern Herzelinde stand etwa einen Kniefall von einem Weg entfernt; einem Weg am Rande des Dorfes. Kein Weg für die Wanderer, sondern allenfalls für die Herrinnen und Herren, die mal schnell ihre Hunde ausführen wollen. Aber eigenartig: Kein Hund rannte unsere Blume über den Haufen; und du weißt gewiß,
wie tolpatschig Hunde sein können. Kein Hund stupste sie mit seiner Schnauze um; und du weißt gewiß, wie neugierig Hunde sein können. Und kein Hund suchte unsere
Blume geschäftlich auf; und du weißt gewiß, wie geschäftstüchtig Hunde sein können.
Dennoch war Herzelinde trotz dieses Schutzes nicht glücklich. Alle anderen Blumen erhielten Besuch von
Hummeln, Bienen und Schmetterlingen; nur sie nicht. Noch nicht einmal eine
Fliege verirrte sich zu ihr. Und die Menschen, – na, du weißt, wie achtlos sie sein können.
Eines Tages, nein, eines Abends, denn die liebe Sonne war schon untergegangen, kam doch jemand herbeigekrochen und ließ sich zu Tisch bitten. Welch eine Freude! Freilich – nach Herberge fragte er nicht, sondern zog bald wieder
weiter, nachdem er sich gestärkt hatte. Aber er sagte beim Abschied zu, wiederkommen zu wollen. Und stell dir vor: Er hielt Wort!
Als er aber zum 6. Mal wiederkam, da mußte er mitteilen, daß dies das letzte Mal sei. Er müsse leider eine
weite Reise antreten, von der er nicht mehr zurückkehren könne. Aber so sie einander liebbehielten, wäre er der festen Zuversicht, daß
sie sich einmal wiedersehen täten und dann nie mehr trennen müßten.
Wie konnte das möglich werden, sintemal Herzelinde doch eine Blume war? Gelehrte hätten dafür nur ein
spöttisches Lächeln übrig gehabt. Aber wenn du liebst, dann siehst du mit dem Herzen und weit über den Horizont hinaus.
Doch zunächst zeigte unsere Blume Traurigkeit über den Abschied. Das hatte ihr Freund jedoch bedacht und
weihte sie deshalb in ein Geheimnis ein. Dann senkte er sein Köpfchen tief in ihren Blütenkelch hinein, legte drunten etwas ab, küßte
unsere Blume noch einmal zärtlich und breitete mit einem Mal Flügel aus und flatterte in den scheidenden Tag hinein. Tscha, das ist
auch etwas, was ein Gelehrter nicht fassen könnte.
Ach so, du willst wissen, was jener – jener Freund abgelegt hatte? Nun, wieder etwas, was du mit den Augen
nicht hättest fassen können; zumal sich die Blütenblätter unserer Blume gleich wieder darüber schlossen. Und schon bald war es mit unserem Blümchen zusammengewachsen, daß du’s nicht mehr hättest unterscheiden können.
Aber sonderbar: Fortan nahmen die Blüten unserer Blume eine herzförmige Gestalt an und – verströmten Wärme; und wenn sich Hummeln, Bienen und Schmetterlinge zur Nachtruhe begaben, läutete es leise von Herzelinde her wie Abendfrieden. Da kannst du dir sicher vorstellen, daß alle mit ihr gut Freund sein wollten.
Alle? Nicht immer sofort! Einmal kam ein hungriger
Wolf herbei und wollte unsere Blume fressen. Aber dem stellte Herzelinde vor die Sinne, daß sie dann mit ihren Herzblüten in ihm
stecken täte und er hinfort nie mehr auf die Jagd gehen könne. Ein Wolf aufs Jagen verzichten? Nein, den Tausch wollte er nicht machen und ging lieber auf den Vorschlag ein, Herzelinde und deren Nachkommen künftig gegen alles Böse zu
beschützen.
Ein anderes Mal wollte ein Keiler seinen Acker bestellen und herrschte unsere Blume an, aus dem Weg zu gehen.
Das könne sie nicht, antwortete Herzelinde, sie sei doch bodenständig und keine heimatlose Gesellin wie Tier oder Mensch. Werde er sie
aber umpflügen, so werde hier nie mehr etwas wachsen. Er könne aber schon mal nach Plätzen Ausschau halten, wo alle 7 Jahre eine Frucht
von ihr zu einer neuen Blume heranreifen könne, und dort den Boden vorbereiten. Das wolle er tun, versprach der Keiler, denn damit habe
sein Leben einen Sinn erhalten.
Tscha, und dann kam da noch ein Mäuschen und wollte die Wurzeln unserer Blume abfressen. Das verbat sich diese
aber entschieden und schlug ihm –
„So ein gefühlsduseliger Quatsch!“ konnte sich Don Kummerthal nicht länger zurückhalten. „Glaubt Ihr etwa,
damit irgend jemanden trösten zu können?“
„– statt dessen vor“, konnte der Alte nicht bremsen, „in ihrem Schutze zu wohnen und als Mietzins dafür Sorge zu tragen, daß alle 7 Jahre die Frucht zu dem Acker des
Keilers –“
Doch inzwischen war der Alte wieder allein. Er mußte eben noch lernen, daß ein mit Wermut gefülltes Glas erst
geleert werden muß, ehe du es behutsam mit Wein füllen kannst und die Hoffnung auf das Wiedersehen zu keimen beginnt und Freude aufblüht und fruchtet.
© Stiftung Stückwerken, *10.-11.12.2000, freigegeben am 8.6.2024
Qouz-Note: 1-
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MamM 1.097 König Ohnereich
„Seid Ihr eigentlich aus der letzten Predigt schlau geworden?“ fragte Don Dalblick.
„Ist das denn der Sinn einer Predigt?“ zweifelte der Alte von
der Halbinsel sehr.
„Sie soll uns zu einer höheren Erkenntnis führen“, rechtfertigte sich der Besucher, „und von einer Klarheit zu der andern
–“
„– und von einer Wahrheit in die andere?“ brummte der Alte. „Wer hat diesen Gedanken nur in die Welt gesetzt! Ein Freund der Wahrheit? Ein Mensch mit Rückgrat und Verantwortungsbewußtsein? Meine Erfahrung sagt mir: eher
ein an Opportunismus Erkrankter, ein Vertreter, der alles verkaufen würde, Hauptsache seine Provision ist hoch –“
„Aber in Eurem Buch dahinten steht“, gab sich Don Dalblick nicht geschlagen, „Gott will, daß alle
Menschen zur Erkenntnis kommen –“
„– der Wahrheit“, ergänzte der Alte. „In der Einzahl!“
„Also soll eine Predigt doch –“
„Nichts soll sie!“ konnte sich der Alte bei der Wiederholung seines Reizwortes nicht länger zurückhalten. „Erst recht nicht, uns aufgeblasen machen. Selbstverständlich orientiert sich eine
echte Predigt an der Wahrheit; allein – sie wird von Menschen gehalten, die unzulänglich sind. Und gut, wenn sie dazu stehen. Welcher Prediger hat noch nie eine Bibelstelle falsch
zitiert? Noch nie Zusammenhänge hergestellt, die sich nicht belegen lassen?
Sich noch nie versprochen? Sich noch nie geirrt? Zweifellos darf eine
Predigt auch Verständnis öffnen. Aber – wie haben’s jene beiden Jünger damals erlebt? Ihr Herz brannte, und das hat sie zur Umkehr bewogen. Oder nimm den Stephanus. Seine Predig bewirkte genau das – Doch ich merke, ich mach’s gerade nicht besser“, und er begann zu erzählen:
Eine Königin und ein König hätten aber 2 Söhne. Doch kurz nach der Geburt des jüngeren Sohnes verschied die
Königin, und seitdem war dem älteren Sohn sein Zuhause entschwunden. Nicht nur, daß er fortan alles mit seinem neuen Brüderchen zu
teilen hatte, nein, dieses wurde gar in allem bevorzugt. Zerbrach es etwa ein Spielzeug des Kronprinzen, fand dieser für eine Anklage
nirgendwo Gehör, sondern erntete sogar noch den Vorwurf, warum er nicht besser auf sein Brüderchen achtgegeben hätte. Niemand strich
mehr sanft über des Kronprinzen Haar und flüsterte, er sei ihr guter Junge. Ach, es waren alle gegen ihn!
Und als der Kronprinz am Tag seiner Volljährigkeit vor seinen Vater trat und sein Erbe verlangte, da wartete er vergeblich auf ein Wort des Bedauerns.
Wer gehen wolle, den müsse er ziehen lassen, sprach der Vater, und das, was die Eltern an bleibenden Werten vererben könnten, hätten die beiden Söhne schon längst
empfangen. Und von dem Rest werde er dem Schatzmeister Anweisung geben, daß er den Anteil sogleich auszahle. Freilich – was vergänglich sei, vermöge keinen bleibenden Segen zu bringen. Aber
jenes Erbe, das der bisherige Kronprinz schon habe, möge ihn am Leben erhalten. Und dann folgte noch ein Adieu!
Rätselhafte Worte! Doch sobald seine Kutsche die Grenze passiert hatte, entfielen sie dem
Königssohn. Erst als der letzte Heller verpraßt war und der Prinz anfing zu darben, kamen sie ihm wieder in den Sinn. Und sonderbar, er begann, sich nach seinem Vaterhaus zu sehnen, und machte sich auf den Rückweg.
Kutsche und Pferde hatte er nicht mehr halten können und längst verkauft, deshalb blieben ihm nur des Schusters Braunen übrig, die schon bessere Tage gesehen
hatten.
Gleich nach der 1. Nacht ging’s ihm sogar ans Leben, weil’s ein Wolf von ihm forderte. Doch statt vor
Entsetzen um Gnade zu wimmern, glitt ein Lächeln über des Prinzen Gesicht. So, als höre er gerade einem Märchen seiner Mutter zu und
sei gewiß, daß ein gutes Herz immer siegen werde. Dann holte er sein Frühstücksbrot hervor und teilte es mit dem Wolf. Dieser aber war derart verdattert, daß er’s sogar aus des Prinzen Hand fraß und sehr darauf achtgab, seinen – ja, seinen neuen Freund nicht zu
verletzen.
Wer im Reich der Märchen bewandert ist und mich ein wenig näher kennt, weiß, daß in jenen Landen geteilte Speise nicht weniger wird. Somit reichte sie auf der weiteren Wanderschaft nicht nur für Prinz und Wolf, sondern auch noch für einen Bären und schließlich für einen Adler,
die ebenfalls das Leben des Prinzen forderten und statt dessen Speise zum eigenen Leben erhielten. Und blieben! Als treue Gefährten!
Endlich kamen die 4 Freunde vor das väterliche Schloß der Prinzen. Allein – kein Vater kam heraus und lief
ihnen entgegen. Kein Vater schaute erwartungsvoll zum Fenster heraus. Kein
Vater herzte und küßte sie. Nur eine Schar Wachsoldaten kam mit angelegter Flinte herzu und forderte im Namen des neuen Königs dazu
auf, Schloß, Stadt und Land auf dem schnellsten Wege zu verlassen. Tscha, das Gleichnis vom
verlorenen Sohn geht eben anders als das vom verlorenen Bruder! Nun war unser Prinz gänzlich heimatlos, und traurig zog er
mit seinen getreuen Tieren über die Grenze.
Aber sobald er seine Augen aufhob, gewahrte er, daß es vielen Menschen noch schlechter ging. Er hatte ja seine
3 Freunde, und die ergänzten trefflich, was ihm selber mangelte. Der Adler mit seiner Weitsicht, der sich über alle Nebel erheben
konnte, um zu bezeugen, die Sonne scheine dennoch. Der Bär mit seiner gutmütigen Gelassenheit, der immer wieder daran erinnerte: Nichts
werde so heiß gegessen, wie’s gekocht sei. Und der Wolf mit seiner Ausdauer. Und obwohl’s ja Raubtiere waren und sie ihre Natur nicht verleugnen konnten, hielten sie mit dem Prinzen guten Frieden.
Das gewahrten auch manche Menschen, die sich zerstritten hatten. Und etliche trauten sich und baten den
Prinzen, ihren Streit zu schlichten. Unser Freund brauchte sie nur mit seinen freundlichen Kinderaugen anzublicken, da fiel es ihnen
ins Herz, und das leitete sie zum Frieden.
Auch Hungernde wurden von unserem Freund gespeist, bis sie gelernt hatten, daß nicht die Habgier den Hunger stillt, sondern das Teilen.
Und die Gefangenen und die da einsam im Dunkeln sitzen, wurden von unserem Freund besucht, und –
„Aber wie soll denn jetzt eine gute Predigt sein?“ konnte sich Don Dalblick nicht länger zurückhalten.
„Eine gute Predigt ist ein Geschenk von Gott“, versuchte der Alte, der Ungeduld friedlich zu begegnen. „Aber den Gefangenen und
Einsamen steckte unser Freund ihre Lichter an. Mit seinem Licht. Und es ward dadurch nicht weniger; und es ward dadurch nicht kälter. Freilich – du kannst andere Kerzen
nur anstecken, wenn deine eigene –“
Doch da gewahrte der Alte, daß er inzwischen allein war.
© Stiftung Stückwerken, *18.-19.12.2000, freigegeben am 8.6.2024
Qouz-Note: 2
***
MamM 1.098 Die Nacht ist
fortgerungen?
„Nee, es ist schon eine trübselige Zeit“, suchte Don Düstertal Entlastung. „Und jetzt noch der Winter – Morgens noch nicht hell und nachmittags –“
„Solange die Erde steht“, setzte der Alte von der Halbinsel zum Zitat an, ehe er seine Untiefe bemerkte, „wird nicht aufhören –“
„– schon dunkel“, war der Besucher nicht gekommen, um zuzuhören. „Nirgendwo noch Freude –“
„So?“ zweifelte der Alte rücksichtslos. „Ich seh’
–“
„Und hier tut’s weh, und das geht nicht mehr“, setzte Don Düstertal sein Klagelied fort, „und der ist gestorben, und die schreibt nicht mehr, überall bekümmerte –“
„Und die Kinder?“ hielt der Alte dagegen.
„Ha!“ lachte der Besucher bitter auf. „Wann habt Ihr zum
letzten Mal ein Kind singen gehört? Vielleicht auf einer Bühne für Ehre und Geld. Aber auf der Straße oder im Garten? Allenfalls bevor sie eingeschult
werden; aber danach sehen sie genauso bekümmert drein wie ihre Eltern. Oder
sie verkaufen ihr Lächeln, wenn sie sich davon einen Vorteil versprechen. Ach, es ist eine böse, trübselige –“
„Und ist niemand, der sie tröste?“ ließ der Alte Hoffnung
einfließen. „Laß uns lieber unsere Flügel ausbreiten und in das Land des Trostes hinüberfliegen“, und er begann zu erzählen:
Es wär’ einmal ein junger Mann, der hieß Lichtenbring. Der hatte seinem Meister 7 Jahre lang gedient und wollte nun nach Hause ziehen. Zwar hatte er die 7
Jahre lang für seine Arbeit Kost und Logis erhalten, einen Lohn aber nicht; der war wohl mit dem Lehrgeld verrechnet
worden.
Dennoch wollte sein Meister seine Zufriedenheit mit Lichtenbrings Diensten irgendwie ausdrücken. Den
Meisterbrief könne er nicht ausstellen, aber Lichtenbring dürfe als letzte Arbeit etwas für sich selber herstellen, und er, der Meister und Lehrherr, wolle daraus ein Meisterwerk machen und dann
mit auf den Weg geben.
Nun war aber der Meister ein Lichtwerker, der zwar auch Kerzen machte, weil die sich ja durch Gebrauch verzehren und deshalb immer wieder nachbestellt werden
müssen; aber er stellte auch Lampen und Laternen her, die lange zu halten hatten, weil’s damals so Sitte und dem Handwerk eine Ehre
war.
Tscha, und was machte nun Lichtenbring als Abschlußstück? Eine ganz kleine Taschenlaterne! Und stell dir vor, der Meister gab ihr ein Licht, das sich nicht verzehrte, sondern jedes Mal aufleuchtete, wenn die Laterne aufgeklappt
wurde. Und mit diesem Licht zog Lichtenbring also los.
Nun, da er seinen Kinderschuhen noch nicht lange entwachsen war, tat er das, was wohl jedes Kind getan hätte: Sobald es dunkel geworden war, probierte er seinen Endlohn
aus. Das Licht war so stark, daß es Konturen deutlich zeigte, Farben jedoch nicht. Lustig war’s vor allem, wenn der junge Wandersmann Bäume anstrahlte und sich dann die sonderbarsten Gestalten vor ihm erhoben.
Jedoch – mit einem Mal klappte er seine Laterne geschwind zusammen. Wieso? Er hatte nämlich Stimmen gehört. Stimmen, die es nicht gut mit ihm zu meinen
schienen. Räuber? Vorsichtig versuchte er, sich in den Schutz eines
Wäldchens zurückzuziehen. Dumm nur, daß er eben noch so lange mit seinem Licht herumgespielt hatte und sich seine Augen nun erst einmal
an die Dunkelheit gewöhnen mußten. Wie eine Schlange kroch er abseits und – kam noch einmal glimpflich davon. Mährsächlich eilten auch bald einige verdächtige Gestalten des Weges, aber sie bemerkten unseren Freund nicht, und schon waren sie
vorüber. Und ehe sie zurückkommen und ihn finden konnten, war er schon davongehuscht.
Fortan war er vorsichtiger im Gebrauch seiner Taschenlaterne. Stubenhocker können sich das ja gar nicht
vorstellen, wieviel du in der Nacht noch ohne Lampe sehen kannst! Selbst wenn der Mond noch nicht aufgegangen ist oder sich seine Mütze
tief ins Gesicht gedrückt hat. Gut, ob’s auf dem Weg Hundekot ist oder Laub oder ein Stein, das kannst du nur schwerlich
erkennen, aber ob ein Ast auf dem Weg liegt oder eine Pfütze lauert, das gewahrst du meist rechtzeitig. So sich deine Augen an
die Dunkelheit gewöhnt haben und du nicht träumst oder in den Himmel guckst.
Freilich – wenn du nicht im Kreis gehen willst, mußt du schon in die Höhe schauen und hierzulande den Polarstern suchen. Oder wenn du durch den Wald wanderst, dann siehst du oft nur oben an den Wipfeln, wie der Weg verläuft; vor allem im Nadelwald oder wenn die andern Bäume ihr volles Laubkleid tragen. Da
kann dich der Schein deiner Laterne schon davor bewahren, zu stolpern, zu fallen oder gar abzustürzen.
Gerade hatte sich der Wald gelichtet, da hörte Lichtenbring plötzlich Hilferufe. Sogleich schickte er den
Strahl seiner Laterne auf die Suche, doch das kam gar nicht gut an!
Sie könne überhaupt nichts mehr sehen, rief die Stimme, und er möge seine – na, denk dir selber ein Schimpfwort aus – Lampe ausmachen!
Daß Licht blenden kann, hätte unser Freund als Lichtwerker eigentlich wissen müssen, aber er gehorchte dennoch nicht. Zwar strahlte er dem fremden Mädchen jetzt nicht mehr ins Gesicht, aber daß er den Schein seiner Lampe nun über die vielen sumpfigen Stellen
gleiten ließ, die hier trennten, erstickte jede Hoffnung.
Jenes Mädchen fing auch gleich an zu jammern, hier komme es lebend nie mehr raus.
Aber da besann sich unser Freund, suchte mit seiner Laterne einen Pfad, fand ihn auch, prüfte ihn selber und holte Hestianne zu sich auf den festen Weg. Dabei fand es sich, daß auch jenes Mädchen eine Laterne bei
sich hatte. Jedoch – das Licht war nicht stark genug gewesen, um den Pfad zu finden. Dafür war es aber von wärmender Kraft, und das kam den beiden Wandersleuten bald –
„Hört doch auf mit Eurem dummen Geschwätz!“ konnte sich Don Düstertal nicht länger zurückhalten. „Schon Euer
Buch dahinten verheißt eine solch trübselige Zeit, –“
„Wer aber sein Licht leuchten läßt“, hielt der Alte dagegen, „braucht über die Finsternis nicht zu klagen.
Deshalb gründeten die beiden Wandersleute in der nächsten Stadt eine Lichtschule; weil ja so viele Menschen nicht mit dem Licht
umzugehen wissen. Freilich – wer sich vom Licht abwendet und davorstellt, der sieht vor allem seinen eigenen Schatten. Und wer gar seine Augen schließt, dem kann selbst ein Lichtenbring nicht helfen.
Jedoch – eine Hestianne! Denn ihr warmer Schein –“
Doch selbst dafür war Don Düstertal nicht empfänglich; er war gegangen. Und da er seine Sorgen und seinen Kummer nicht hatte loswerden können, hatte er ihn wieder mitgenommen.
© Stiftung Stückwerken, *26.12.2020,
freigegeben am 11.11.2023
Qouz-Note: 3
***
MamM 1.099 Darf der das?
„Also“, maß Don Strengler diesem Wort keine Bedeutung bei, „ein Selbstmörder sollte seine Gedichte für
sich behalten und nicht auch noch unters Volk –“
„Ich kenne keine Selbstmörder“, wollte sich der Alte von der Halbinsel auf sein
Lehrstühlchen setzen, „sondern –“
„Nee, das glaub’ ich Euch“, versuchte der Besucher es wegzuziehen, „die sind ja schon alle tot!“
„Ich hab’ noch nie einen Menschen gekannt“, dehnte der Alte aus, „der aus der Selbsttötung ein Gewerbe oder einen Beruf –“
„Das will ich auch hoffen!“ merkte Don Strengler nichts.
„Und es mag ja sein“, räumte der Alte ein, „daß niemand unschuldig ist, der sich das Leben nimmt; aber ist er
daran alleinschuldig?“
„Er ist aber der Täter und deshalb voll dafür verantwortlich“, urteilte der Besucher.
„So?“ zweifelte der Alte sehr. „Auch der
Kranke? Und kennst du einen einzigen Menschen, der sein eigenes Leben nicht verkürzt?“
„Also, das ist wohl was anderes“, ließ es Don Strengler nicht gelten. „Und mag es sein, wie es sein mag, auf
jeden Fall soll ein Dichter, der sich umbringen will, seine Werke verschließen; und hat er sich umgebracht, dann sind seine Werke aus
dem Handel und aus den Bibliotheken zu entfernen, erst recht aus den kirchlichen Gesangbüchern, wo sie nichts zu suchen haben! Auf daß
sich dieser Sauerteig nicht weiter –“
„Drehen wir’s herum“, sah’s der Alte anders: „Helfen wir den Dichterinnen und Dichtern, daß sie keine Hand an sich legen, dann braucht auch niemand eine Hand an ihr Werk
zu legen. Sind sie aber gescheitert, so ist Gottes Gnade größer und kann auch ihnen das Tor zum
Paradies öffnen. Wer aber könnte mit all den Verzweifelnden und Scheiternden Mitleid haben, wenn nicht sie?“ Und er begann zu erzählen:
Es wär’ einmal ein strenger, eh, harter Richter, der hieß – na, der hieß Richthöfer. Der ließ sich eines Tages
vom Fährmann über jenen breiten Strom bringen, um ins Paradies einzugehen. An dessen Tor fand
sich’s aber, daß er abgewiesen wurde, denn in jenem Reich würden keine Richter gebraucht. Da half ihm auch nichts, daß er einwandte,
sein ganzes Leben lang für die Gerechtigkeit geeifert und gekämpft zu haben; und nach der habe sich bekanntlich schon der hochwürdige
Petrus gesehnt. Eben! ward ihm entgegengehalten, und wo die Gerechtigkeit bereits wohne, da wäre
kein Bedarf nach deren Nachahmung. Am besten, er versuche es mal an den Pforten der Hölle.
Dies tat Richthöfer auch, wenn auch mißmutig. Ja, gab der Höllenpförtner zu, das sei schon ein treffliches
Höllenhaus, in dem lauter Richter wohnten. Vor allem, wenn sie mit andern strenger ins Gericht gingen denn mit sich selbst. Oder bestechlich seien und opportunistisch. Aber in dem allen habe er, Richthöfer,
sich bisher nicht ausgezeichnet; eher im Gegenteil. Und deshalb könne er
nicht eingelassen werden.
Das ist schon mißlich, wenn dich weder Paradies noch Hölle haben wollen und du über jenen Strom eigentlich nicht mehr zurück kannst, weil du deine Kleider nicht mehr
hast. Aber da müßte doch was zu machen sein! Was die Hölle wünschte, wußte
Richthöfer nun; aber das Paradies? Jedenfalls kein Richten, sondern
irgendwie das Gegenteil.
Nun ja, das Fragen kostet nichts (außer Zeit, und oft mußt du auch noch von deinem hohen Roß
absteigen), deshalb sprach Richthöfer noch einmal am Tor zum Paradies vor, wer denn zur Zeit dort willkommen sei. Jeder, – der
seine Gaben für seine Aufgaben einsetze und sie nicht ins Schweißtuch wickele, wurde geantwortet; eben, die dem Leben
anhingen. Ob ihm mit einem Beispiel gedient werden könne, fragte der Richter weiter. Eher mit einem Gegenbeispiel, lautete die Antwort, denn wenn Canorina so weitermache und
auch keinen Fürsprecher finde, könne sie den ihr zugedachten Platz vorerst nicht einnehmen.
Und hast du nicht gesehen, fand sich Richthöfer in einem großen Konzerthause wieder. Und dort, in einer
Umkleidekabine, fand er dann jenes Mädchen: nicht als stolze Primadonna, sondern als ein Häuflein Elend.
„Ich schaff’ das nicht! Ich schaff’ das nicht!“ klagte
es wieder und wieder. „Ich weiß den Text nicht mehr, der Hals ist so trocken, und je mehr ich mich aufrege, desto schlimmer
wird’s! Ich will das alles nicht mehr!“
Da es sich nicht mehr zu raten wußte, griff es nach ihrem Handtäschchen. Zunächst widerwillig, aber dann
kramte es hastig ein Döschen hervor, entnahm ihm etwas und schluckte dieses gierig hinunter. Und schon begannen die Augen zu
strahlen; und als es zur Bühne schritt, schien es zu schweben. Für
niemanden sichtbar folgte ihm Richthöfer.
Das Konzert wurde ein voller Erfolg. Canorina sei noch einmal über sich hinausgewachsen, hieß es in der
nächsten Ausgabe der Zeitungen; sie sei eine Göttin des Gesangs, ward sie auf den Olymp gehoben. Allein – für Menschen geht es von dort immer bergab. Schon am Morgen nach dem Konzert
erfaßten die gefeierte Sängerin Zittern und Krämpfe.
Und Richthöfer begleitete Canorina heimlich weiter. Ihre Höhenflüge, ihre Abstürze. Sie stürzte ab, wenn sie auf die Bühne trat, ohne vorher nach ihrem Wundermittel gegriffen zu haben. Dann war ihre Angst so groß, zu versagen, daß sie wirklich versagte. Und unbarmherzig
wurde in der nächsten Ausgabe der Zeitungen über sie der Stab gebrochen. Aber das traf sie gar nicht so heftig, und deshalb schob sie
auch keine Erkältungen, Migräne oder Sündenböcke vor. Viel unbarmherziger war ihr Blick in den Spiegel.
Noch gab sie jedoch nicht auf, sondern stieg zu neuen Höchstleistungen auf. Sie begnügte sich nicht mehr mit
fremdem Liedgut, sondern schrieb Text und Musik fortan selber und ließ ihre ganze Seele dort einfließen. Publikum und Kritik waren
begeistert! Doch der Preis war hoch! Denn nun mußte Canorina nicht nur an
den Konzerttagen Höchstleistungen vollbringen, sondern eigentlich jeden Tag. Und bald griff sie jeden Morgen nach ihrem
Handtäschchen.
Eines Tages aber war jenes Döschen leer. Weinend brach Canorina zusammen. Als sie sich dann etwas erholt hatte, griff sie zu Papier und Feder und schrieb ihren Abschiedsbrief.
Aber bevor sie diesen Abschied nehmen konnte, ward sie von Richthöfer in einen tiefen Schlaf versetzt und im Traum einen Tag weiter geführt. Und sie sah, wie ein großer Schatten auf alle ihre Lieder fiel, so daß es ihr war, als wären sie nie –
„Dacht’ ich mir’s doch!“ konnte sich Don Strengler nicht länger zurückhalten. „Und es ist ja mein Reden: Das Werk eines Selbst–, eh, der sich umbringt, ist wertlos!“
„Es sieht nur so aus“, stellte der Alte richtig. „Schatten löschen die Sonne
nicht aus, sondern bestätigen deren Licht. Und der Richter führte die Sängerin in einen Obstgarten und dort zu einem Baum,
den drohte ob dessen Größe der Sturm zu fällen. Da kam der Gärtner und schnitt alle Wassertriebe ab. Nun hielt jener Baum stand und blühte im Frühling auf zu neuem Leben. Und als Canorina wieder
erwachte, zerriß sie den Abschiedsbrief und begann damit zu leben, daß wir Menschen nur Stückwerk –“
Doch Stückwerk war Don Strengler anscheinend zu wenig, denn er war inzwischen gegangen.
© Stiftung Stückwerken, *31.12.2000-1.1.2021, freigegeben am 8.6.2024
Qouz-Note: 1-
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MamM 1.100 Abermauer und Dennochbrücke
„Gut“, räumte Don Heckendörner ein, „es sind auch Menschen, aber so was hat bei uns nichts zu suchen!“
„Weil’s nichts mehr zu finden gibt?“ rutschte es dem Alten von
der Halbinsel heraus.
„Das ist nicht christlich!“ wurde Don Bogenband
deutlicher. „Mag einer noch so anders sein, dennoch soll er freien Zugang zu uns –“
„Ihr sollt eure Perlen nicht vor die Säue werfen“, widersprach der andere Besucher. „Das sind Worte Jesu! Und ein fauler Apfel –“
„– ist ein fauler Apfel und kein Mensch“, stellte der Alte richtig. „Und auch das mit den Schweinen – Es
scheint mir oft, als machten die Menschen aus den Bibelzitaten ein viel zu kleines Tischtuch. Und dann versuchen sie damit den Tisch zu
decken, aber es reicht hinten und vorne –“
„Kommet her, alle“, versuchte Don Bogenband auszubessern, „wollt Ihr doch nicht als zu kleines Tischtuch –“
„Ach“, seufzte der Alte, „drängt mich doch nicht immer in die Rolle eines Bibel-Auslegers und Schriftgelehrten. Ich bin’s nicht, und ich kann das gar nicht alles erfassen, was in einem Wort liegt, das göttlich ist.“
„Dennoch habt Ihr gewiß Eure Meinung“, drängte Don Bogenband weiter.
„Ja“, gab der Alte zu, „doch wie oft habe ich mich schon geirrt! Oder mit einem Becher versucht ein
Meer auszuschöpfen. Nein, der Baum der Erkenntnis ist
nicht der des Lebens, das ist so eine Richtschnur, die schon viele Jahre für mich Gültigkeit hat“, und er begann zu erzählen:
Es wär’ einmal ein Königssohn, der hieß – eh, der hieß Sammelrat. Und da es damals Sitte war, daß Koch,
Konditor und Zimmermann auf die Walze gingen, ward auch unser Kronprinz in die weite Welt geschickt, um in seinem Handwerk recht bewandert zu sein.
Sammelrat tat das auch und zunächst mit Lust und Freude ob seiner Freiheit. Kein Vater lag ihm nun in den
Ohren, daß dieses verboten sei und jenes sich für einen Prinzen nicht schicke. Niemand schrieb mehr böse Briefe an den König, um sich
über dessen Sohn zu beschweren. Und niemand mehr versuchte sich bei dem Prinzen einzuschmeicheln, um irgendeinen Vorteil zu
erlangen.
Freilich – nach und nach lernte der Prinz auch die Schattenseiten kennen. Kein Vater stand nun für ihn gerade
und brachte wieder in Ordnung, was der Sohn verbockt hatte. Auch war Sammelrat den Menschen, denen er nun in der Fremde
begegnete, viel gleichgültiger. Tscha, und weil das Reisegeld bald aufgebraucht war, mußte er erfahren, was einer gilt, der sich als
Tagelöhner verdingen muß.
In Hohenmauern jedenfalls nicht viel und als Fremder. Am Stadttor wollte
ihn schon niemand einlassen, aber in der Dunkelheit der Nacht fand er doch noch ein Mauerpförtlein, durch das er in die Stadt schlüpfen konnte.
Welch eine gespenstische Stadt! Eng die Gassen, hoch die Hauswände und – kalt! Obwohl doch so viele Mauern gegen die kalten Winde abschirmten! Aber kein warmes
Licht schien aus den Häusern. Jedenfalls nicht auf die Gasse. Nach dieser
Seite fehlte es an Fenstern. Gucklöcher, ja, die gab es genug! Aber eben
nicht, um hinauszugeben, sondern um hineinzuholen: Nachrichten, Nachreden und vor allem Angst.
„Geh weiter, wir brauchen dich hier nicht“, so lautete die übliche Antwort, wenn der Prinz in den folgenden Tagen wegen Arbeit, Kost und Logis vorsprach.
Dabei mangelte es in dieser Stadt an so vielem! Es gab nur einen Bäcker, nur einen Brunnen und – Gab’s hier
überhaupt einen Arzt? Nur an Richtern, da gab’s mehr als genug.
Und am Morgen des 3. Tages kam der Feind und legte Bollwerk rings um die Stadt. Nein, wozu die Stadt erstürmen? Das hätte Tote und Verwundete in den eigenen Reihen
kosten können. Und wozu etwas zerstören, was du dann hättest wieder aufbauen müssen. Nein, der Feind hatte sich mit der Zeit verbündet, und die schickte den Hunger in die Stadt und die Zwietracht.
Gut, daß der Prinz einen geheimen Gang entdeckte, der ihn unter Stadtmauer und Erde weit ins Land führte, bis zu einem Gebüsch – hinter dem Belagerungsring und außer
dessen Sichtweite. Von hier wanderte Sammelrat weiter und lebte unterwegs von dem, was er in Scheunen, Ställen und Gärten
fand.
Üppig war das nicht, aber es reichte bis nach Siebenbrücken, einer Stadt an der Grenze, die durch einen breiten Strom festgelegt
war. Den überquerten jedoch, ihr ahnt es schon, 7 Brücken. Eine Stadtmauer
hatte es mal gegeben, aber die war schon längst niedergelegt. Somit wurden auch keine Stadttore gebraucht, ja, sogar auf
Brückenpforten, Schlagbäume und Zollhäuschen wurde inzwischen verzichtet. Wer kommen wollte, konnte also kommen, wie er war; und wer wieder gehen wollte, konnte auch das unbehelligt tun. Und damit schienen die
Bürger gar nicht schlecht zu fahren, denn an den breiten Alleen der Stadt prangten viele prächtige Paläste. Für die Händler wirkte
Siebenbrücken nämlich wie ein Magnet; kein Zoll, keine Marktsteuer, das versprach mehr Profit, selbst wenn davon ein kleiner Teil als
Preisnachlaß an die Kunden weitergegeben wurde. So drangen auf dem Marktplatz auch Stimmen aus sozusagen aller Herren Ländern an des
Prinzen Ohr; und Arbeit und Brot gab’s für den Prinzen genug.
Freilich – Reichtum zieht auch Diebe an und Räuber und den Feind. Und da dieser offene Bahn hatte, ward das
Rathaus eines Tages auf Anhieb und ohne Blutvergießen erobert. Tscha – war Sammelrat vom Regen in die –
„Eben!“ waren sich die beiden Besucher sogar mal einig.
„Was denn nun? Hohe Mauern wollt Ihr anscheinend nicht empfehlen; und viele
Brücken auch nicht –“
„Tscha“, lachte der Alte, „die Siebenbrückener wußten jedoch den Feind davon zu überzeugen, eine Kuh nicht zu schlachten, die noch viele Jahre Milch geben
könne. Auch waren gerade einige Bank–, ja, Bankräuber in der Stadt, die drohten dem Feind damit, Kredite zu kündigen, falls er die
Stadt nicht in Frieden lasse. Jedenfalls – nachdem Sammelrat in seine Heimat zurückgekehrt war und nachdem er dort den Thron bestiegen
hatte, baute er seine neue Residenz nach eigenen Vorstellungen. Auch an einem breiten Strom, aber dessen Wasser ward in mehreren
Grabenringen um die Stadt geleitet. Aber die Ufer waren durch Mauern, Gebück und weichen, nachgebenden Böden derart gesichert, daß
jeder Mensch nur über eine der 12 Brücken in die Stadt gelangen konnte. Und diese Brücken waren an Anfang und Ende mit Toren bewehrt
und konnten eingezogen werden. Und an diesen Toren mußte sich jeder Mensch ausweisen und der Wahrheit verpflichten. Und wer’s nicht tat, wurde nicht eingelassen; und wer sich nicht an das hielt, was er
einmal unterschrieben hatte, der wurde wieder –“
Doch nun bemerkte der Alte, daß er mal wieder alleine war.
© Stiftung Stückwerken, *8.1.2021, freigegeben am 8.6.2024
Qouz-Note: 3-
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