MamM – Mährchen an meine Mutter Nr 1.061 bis 1.080

 

 

 

Überblick MamM 1.061 bis 1.080

 

1.061  Brillenschlange (*2.-3.4.2020)
1.062  Der sitzende König (*11.4.2020)
1.063  Brüderliches Stühlerücken (*17.4.2020)
1.064  Das Nadelöhr (*24.4.2020)
1.065  Der innerste Garten (*30.4.2020)

 

1.066  Valentinleben (*7.-8.5.2020)
1.067  Alles Gute (*15.5.2020)
1.068  Lyrfried (*23.5.2020)
1.069  Der Abreißkalender (*30.5.2020)
1.070  Königeter, Königinter, Kindter (*5.-.6.6.2020)

 

1.071  Das Reich Ellenbogen (*12.6.2020)
1.072  Madig (*18.6.2020)
1.073  König Basta (*26.6.2020)
1.074  Wider oder für (*2.+4.7.2020)
1.075  Deine treuen Hände (*9.-10.7.2020)

 

1.076  Entlasten (*17.7.2020)
1.077  Firlifanz (*23.7.2020)
1.078  Nachtmeister Stropp und der Fall Kühleborn (*30.7.2020)
1.079  Nachtmeister Stropp und der Fall Reginia (*7.8.2020)
1.080  Nachtmeister Stropp und der Fall Rexilio (*14.8.2020)

 

 

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MamM 1.061  Brillenschlange

„Ja, ja“. gab sich Donna Leistenschlag als Wissende, „die Deutschen drüben leben, um zu arbeiten, und wir Italiener arbeiten, um zu leben.
     „Italienerinnen!“ stellte der Alte von der Halbinsel richtig.  „Und was weißt du noch von den Deutschen?
     „Strenge Polizisten sind sie“, brauchte die Besucherin nicht lange zu überlegen, „da sind wir zum Glück großzügiger, –“
     „– so daß hier auf den Straßen immer noch mehr Menschen sterben als drüben“, konnte der Alte seinen Hang zur Ironie nicht genügend zügeln.  „Was noch?
     „Der Deutsche wähnt, immer alles besser zu wissen“, begann Donna Leistenschlag aufzuzählen, „hat kein Gefühl für Schönheit, weiß nicht zu genießen, ist geizig, kalt und berechnend –“
     „Und die Italienerin?“ kürzte der Alte ab.
     „Das genaue Gegenteil!“ antwortete die Besucherin prompt.  „Sie ist kinderlieb, temperamentvoll, hat einen ausgeprägten Familiensinn, das Herz ist ihr wichtiger als der Verstand, sie ist einfach lebendiger.  Der Deutsche feiert eine Hochzeit wie einen Leichenschmaus, die Italienerin einen Leichenschmaus wie eine –“
     „Bist du dir da ganz sicher?“ schien der Alte zu zweifeln.
     „Ich kenn’ doch meine Landsleute!“ felste Donna Leistenschlag.  „Ein deutscher Mann käme für mich niemals in Frage!  Selbst wenn er unsere Sprache beherrschte, was ja bereits fast unmöglich ist.  Und dann der deutsche Magen!  Der verträgt doch gar –“
     „Und wie viele Deutsche kennst du?“ bleib der Alte skeptisch.
     „Och“, gab sich die Besucherin – ja, wie wohl? – „’ne ganze Menge.  Aber was ich eben über die gesagt habe, ist ja allgemein bekannt.
     „Einer, verallgemeinert, das gibt allgemein“, murmelte der Alte vor sich hin, „zuweilen auch gemein“, bevor er zu erzählen begann:
     Es wär’ einmal ein König, der hieß Blaugust.  Der war eines Tages mit seinem Latein am Ende.  Und weil ihm selbst sein Italienisch nicht weiterhalf, machte er es so, wie’s normalerweise eine Prinzessin tut: Er versprach seine Hand derjenigen, die ihn aus seiner mißlichen Lage zu erlösen wisse.
     Was Frauen an einem Mann finden, vermag ich nicht nachzuvollziehen.  Wenn mir eine Frau schöntut, dann blick’ ich üblicherweise erst einmal an mir hinunter, ob ich mich zu gut angezogen habe, oder schnuppere, ob ich irgendwie nach einem großen Vermögen rieche, und bin mir einigermaßen sicher: Frauen wollen immer nur –  Aber das tut jetzt nichts zur Sache.  Blaugust hatte sich jedenfalls nicht über einen Mangel an Kandidatinnen zu beklagen, aber – helfen konnte ihm keine.  Ob’s alles Deutsche waren?  Jede begann nämlich sogleich mit ihren Vorschlägen, ohne vorher gefragt zu haben, worin denn die Lage des Königs so mißlich war.  Ist das jetzt typisch deutsch, oder ist das allgemein –
     Nun, ich will dich nicht beleidigen, und ich erzähl’s ja alles, gerade weil sich nicht alles über einen Kamm scheren läßt.  Das sehen wir schon an Klara, denn bei der war alles anders.  Die stieg bereits am Tor des Residenzstädtchens aus ihrer Kutsche und ging dann zu Fuß durch die Gassen zum Schloß hinauf und – hielt ihre Augen offen.  Und das war schon unerhört, was sie da sah, ja, weil es eben nicht unsichtbar war: Außer ihr gab es hier anscheinend keinen Menschen, der keine Brille trug.  Waren die hier alle augenkrank?  Und Klara fragte diese und fragte jene und hörte sich um.
     Und das kam dabei heraus: Im Lande war plötzlich das Gerücht aufgetaucht, es sei eine Seuche im Anzug.  Schnell hatte sich diese Kunde verbreitet, und alle Bürgerinnen und Bürger waren in großen Ängsten.  Da sei mit einem Mal ein Gelehrter aufgetreten und habe behauptet, er wisse, wie der Seuche zu steuern sei.  Sie werde durch böse Blicke übertragen, weshalb jeder, wirklich jeder, der sich im Lande aufhalte, eine besondere Brille tragen müsse.  Dem hatten andere Gelehrte kaum etwas entgegenzusetzen und wenn, dann wurden sie überhört.  Denn erstens rief das Volk nach schneller Hilfe, und zweitens wurden in die führenden Zeitungen sogleich große Anzeigen gesetzt, die für diese besondere Brille warben.   Tscha, welcher Journalist oder welcher Hofbeamte hätte sich da mit einer abweichenden Meinung hervorwagen wollen?  Also wurden jene Brillen staatlich verordnet, und jedermann mußte sie nicht nur tragen, sondern auch zuvor selber kaufen und bezahlen.  Und glaub’ bloß nicht, daß die billig waren!  Und ein Bürger überwachte den andern, ob dieser sich streng an die neue Verordnung hielte.
     Was aber war an der Brille so besonders?  Nun, in das Gestell war vorne eine kleine Schlange eingeprägt.  Gut, das mag nichts Außergewöhnliches sein.  Aber die Gläser waren gefärbt und – hatten eine besondere Zauberkraft.  Vielleicht hattest du mal nachts wenig Schlaf und hast dann am nächsten Morgen immer wieder kleine schwarze Schatten gesehen.  Oder du hast mal kurz in die Sonne geblickt und dann woanders hin und dabei gemerkt, daß sich Bilder überlagert haben.  Und so ähnlich war’s auch mit jener Brille.  Begegnete ein Bürger jemandem, der ihm sympathisch war, so übertrug die Brille auf diesen alle positiven Eigenschaften aller anderen Sympathischen.  Umgekehrt war’s bei der Begegnung mit einem Unsympathischen.  Da kannst du dir gewiß schnell ausmalen, daß daraus viel Unfrieden erwuchs und Feindschaft.  Und das war die mißliche Lage, in der sich Blaugust befand;  denn jene Brille war gleich einem Meißel, der alle Sympathie und alle Antipathie auf Dauer in Stein eingrub.
     Als Klara das alles erfaßt hatte, konnte sie endlich beim König vorsprechen und auf Hilfe raten.
     Blaugust war sehr verwundert, als er hörte, wie geschickt Klara zunächst alle Zusammenhänge offenlegte, bevor sie –
     „Aber das ist doch alles abwegig!“ konnte sich Donna Leistenschlag nicht länger zurückhalten.  „Welcher Mensch täte sich solch eine Brille aufsetzen?  Und selbst bildlich –“
     „Meine Mährchen sind eben keine Bilderrätsel“, igelte sich der Alte ein.  „Jedenfalls herrschte bald wieder Frieden im Lande, nachdem der König Klaras Vorschlag nachgekommen war.  Ach so, wie der Vorschlag lautete?  Klara riet dazu, alle jene Brillen einzusammeln und bei ihr abzuliefern.  Und sie schmolz auf irgendeine geheime Weise alle jene Brillen ein und fertigte – manche sagen: zauberte – daraus kleine Wandspiegel, die jeder im Lande in seinem Flur aufhängen mußte;  es waren aber Spiegel der Wahrheit.  Warum Wandspiegel?  Weil du sie nicht drehen und auf andere Menschen ausrichten kannst.  So sah jedermann in diesem Spiegel nur –“
     Jedoch nun sah auch der Alte etwas, nämlich, daß er wieder alleine war.  Und so bleibt es ein Geheimnis, ob Klara und Blaugust ein Paar wurden und wie sie weitergelebt haben.
© Stiftung Stückwerken, *2.-3.4.2020, freigegeben am 12.2.2024
Qouz-Note 3-

 


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MamM 1.062  Der sitzende König

„Daß das die Kirche durchgehen läßt“, wollte Donna Severina nicht fassen.  „Bei solchen Gedanken müßten sich jedem Rechtgläubigen die Haare sträuben!
     „Und jeder Rechtgläubigen die Dauerwelle“, meinte der Alte von der Halbinsel hinzufügen zu müssen.
     „Das läßt sich auch mit dem jugendlichen Alter des Verfassers nicht entschuldigen“, blieb die Besucherin in Fahrt.
     Der Alte wußte zwar noch immer nicht genau, wovon sie sprach, ahnte aber wohl in etwa die Richtung und gab deshalb zu bedenken: „Waren wir beide nicht auch mal jung?  Haben wir damals nicht auch hin und wieder über die Stränge geschlagen, daß sich manche und mancher von den Alten entsetzt haben?
     „Aber so etwas gehört sich einfach nicht!“ verharrte Donna Severina.  „Wehret den Anfängen!  Und ist es nicht gerade die heutige Jugend, die immer nur nörgelt und meckert?
     „Hast du da nicht gerade ein Gegenbeispiel angeführt?“ fragte der Alte zurück.  „Es gibt einen humorvollen englischen Schriftsteller, der so etwas – in unsere Sprache übersetzt – nennt: Da sind Räder in den Rädern.  Und so ist es wohl auch.  Da ist auf der einen Seite die Jugend mit ihrer impulsiven Energie;  auf der anderen Seite stehen die Älteren, ebenfalls voller Energie, aber mehr auf Dauer ausgelegt.  Beide Räderwerke könnten sich gut ergänzen.  Doch viel zu oft blockieren sie sich: die einen mit respektloser Besserwisserei, die andern mit ihren lähmenden Bedenken –“
     „Deshalb sollte eben die Kirche klar die Richtung vorgeben und deren Einhaltung streng –“
     „– und alle andern trotten nur noch gehorsam hinterher?“ ergänzte der Alte.  „Was wäre das für eine trübselige Todeskarawane!“  Und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein Prinz, der hieß Nathalius, und der hatte sich endlich auf seines Vaters Thron gesetzt.  Natürlich hätte ich jetzt auch von Krone, Krönung und Zepter sprechen können, aber mit dem Thronsitzen ist eigentlich bereits das Wesentliche gesagt.  Während in anderen Reichen die Könige von Pfalz zu Pfalz reisten, saß Nathalius auf seinem Thron.  Während andere Könige in den Krieg zogen, saß Nathalius auf seinem Thron.  Während andere Könige wenigstens des Nachts durch die Gassen streiften, um ihres Volkes Stimme zu hören, saß Nathalius auf seinem Thron.
     Jaha, es ging sogar das Gerücht um, Nathalius übernachte auf seinem Thron;  denn – vom Volk wurde niemand in den Thronsaal eingelassen.  Wer hätte da dieses Gerücht widerlegen können?  Das Reich war nämlich streng eingerichtet.  Oben der König, darunter die Provinzgouverneure (ebenfalls mit sitzender Tätigkeit), darunter die Amtleute (ebenfalls mit sitzender Tätigkeit) und darunter die Kanzleigehilfen und Schreiber, die zwar ebenfalls meistens saßen, die aber die einzigen waren, an die sich die einfachen Bürgerinnen und Bürger direkt wenden durften.
     Nun ja, und wenn diese es taten, dann wurde der Dienstweg beschritten: Der Kanzleigehilfe erstattete seinem Amtmann Meldung, der seinem Gouverneur und der dann seinem König.  Wenn du das Kinderspiel „Stille Post“ kennst, kannst du dir wohl denken, was da manches Mal herauskam;  zumal Nathalius zuweilen Tage hatte, an denen er doch etwas zerstreut war.  Das Sitzen stärkt eben nicht unbedingt die Konzentrationsfähigkeit;  allein – eine Frucht vom Baume der Erkenntnis, die sogar in Schule und Hochschule verschmäht wird.
     Na ja, jedenfalls – auf den Dienstweg folgte dann der Befehlsweg, mündend in den Weg des Gehorsams und abgeschlossen durch den Weg der Vollzugsmeldung.  Ich will dich jetzt nicht langweilen, sondern nur 3 Beispiele auswählen, die zeigen können, wie es im Reiche des Nathalius zuging.
     Einmal wollte ein Amtmann für seine Tochter eine Hochzeit ausrichten und bat deshalb auf dem Dienstweg untertänigst den König, dieses Fest zu bewilligen.  Beim König kam jedoch alles als ein Gesuch für eine Trauerfeier an.  Deshalb ward auf dem Befehlsweg Staatstrauer angeordnet, schwarze Trauerkleidung und alle Fahnen auf Halbmast zu setzen.  Dies wurde auf dem Gehorsamswege auch strengstens umgesetzt;  und auf dem Wege der Vollzugsmeldung wurde dem König untertänigst für dessen überwältigende Güte gedankt.
     Ein andermal kam auf dem Dienstwege ein Gesuch daher, durchlauchtigst den Bau einer Arbeitersiedlung zu genehmigen.  Dies erreichte den König zwar richtig, aber auf dem Befehlsweg wurde leider angeordnet, eine Fabrik als Stätte der Arbeit zu errichten.  Auf dem Gehorsamsweg wurde daraus ein riesiges Fabrikgebäude, in dem dann die Arbeiterfamilien zu hausen hatten.  Ja, dieses abscheuliche Machwerk wurde sogar vom Gouverneur mit einem Preis ausgezeichnet für vorbildliches städtisches Bauen, bevor sich auf dem Wege der Vollzugsmeldung der untertänigste Dank zum König aufmachte.
     Tscha, und dann die Sache mit dem Volksliederbuch!  Das Volk brauche ein neues Gesangbuch, um noch mehr zusammenzuwachsen;  so ward es dem König auf dem Dienstweg überbracht.  Der König tat zwar so, als wäre er der oberste Liedexperte, ernannte aber einen obersten Hofliedermacher und befahl ihm, das bisherige Liederbuch vollständig zu überarbeiten und gegebenenfalls alte Texte und Weisen gegen neuartige auszutauschen.  Auf dem Gehorsamswege wurde das neue Gesangbuch auch vollendet, gedruckt und verbreitet,  aber – wer etwas von Dichtung und Musik verstand, hätte darin keine 10 Lieder gefunden, bei denen das Herz hätte aufgehen können;  der Rest klang einfach scheußlich oder war textlich verhunzt.  Auf dem Wege der Vollzugsmeldung aber –
     „Kommt endlich zur Sache!“ mahnte Donna Severina ungeduldig.  „Was hat das alles –“
     „Gemach, gemach!“ ließ sich der Alte nicht drängen.  „Irgendwann fiel’s sogar dem König auf, daß unten im Residenzstädtchen niemand mehr sang;  weder Braut noch Bräutigam, noch nicht einmal die Kinder.  Tscha, und dann ist das ständige Sitzen ja nicht gesund.  Schließlich fühlte sich der König derart krank, daß er alle Ärzte zu sich rufen ließ und demjenigen, der ihn heile, versprach, einen Wunsch zu erfüllen.  Und niemand wußte dem König zu helfen, denn es war ihnen ja nicht befohlen worden, sondern nur wie ein Handel angeboten.  Endlich aber trat eine Ärztin zum König, die kam aus der Fremde und hatte wohl in der hochgelehrten Stadt Padua studiert.  Diese Juttata war zuvor erst einmal durch das Residenzstädtchen gewandert, hatte sich umgesehen und umgehört und dabei schnell gewahrt, wo der Pfeffer im Osterhasen lag.  Jedenfalls verordnete sie mit ernstem Gesicht dem König, täglich 3 Stunden in den Gassen, Gärten und Parks seiner Residenzstadt spazierenzugehen und sich dabei jeweils mit 3 Menschen seines Volkes offen zu unterhalten;  und das, ohne den Dienst- und Befehlsweg zu betreten.  Und plötzlich war’s im Lande wie ein Frühling.  Und der König genas;  und nicht nur er.  Und Juttata wünschte sich –“, aber da merkte der Alte, daß seine Zuhörerin inzwischen gegangen war.
© Stiftung Stückwerken, *11.4.2020, freigegeben am 13.2.2024
Qouz-Note 4+



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MamM 1.063  Brüderliches Stühlerücken

„Er hat sich mit seinem Vater überworfen“, berichtete Donna Schustersen und führte dieses Ergebnis auf eine Ursache zurück, „denn er wollte sein Geschäft nicht übernehmen.
     „Der Sohn wollte also nicht das Geschäft des Vaters übernehmen?“ kämpfte sich der Alte von der Halbinsel durch die Fürwörter.  „Das kann’s geben;  aber deswegen müssen sie doch nicht in Unfrieden –“
     „Tätet Ihr’s begrüßen“, fragte die Besucherin verneinend, „wenn Ihr was aufgebaut hättet und Eure Kinder wollten es nicht bewahren?  Spätestens nach Eurem Tode fiele alles in sich –“
     „Ist das denn die Schuld der Kinder?“ schien der Alte zu rätseln.  „Oder des Vaters, der nicht rechtzeitig dafür gesorgt hat, daß sein Werk auch ohne ihn weiterleben –“
     „Schuster, bleib bei deinem Leisten!“ zitierte Donna Schustersen.
     „Was wäre aus uns geworden“, konnte selbst der Alte nicht ausdenken, „wenn alle Nachkommen Adams so geredet und gehandelt hätten?
     „Jene Zeit liegt ja sowieso im dunkeln“, ließ es die Besucherin nicht gelten.  „Mein Vater sagte immer: »Du kannst, wenn du willst, was du sollst.«“
     „Und lief noch immer mit seinen Waffen den wilden Tieren hinterher, weil seine Vorfahren Jäger gewesen waren?“ ergänzte der Alte zweifelnd.  „Unsere Gaben sind unterschiedlich, und wir haben nur über die Beziehung zwischen Vater und Sohn gesprochen.  Aber es gibt auch ein mütterliches Erbteil.  Nein, ich denke, ein jeder erfülle die Aufgaben, für die er Begabungen empfangen hat.“  Und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein König, der hatte 3 Söhne: Folgewalt, Reinwalt und Friedewalt.  Da er aber das Reich zusammenhalten wollte, konnte nur einer seiner Söhne den Thron erben;  und das war nach der Sitte des Landes der älteste.  Für den 2. Sohn war es Sitte, diesen für eine geistliche Laufbahn zu bestimmen, ob er einmal Bischof oder Fürstabt werde.  Und der 3. Sohn?  Der sollte nach der Sitte des Landes die militärische Leiter erklimmen und möglichst Obrist, General oder gar Generalfeldmarschall werden.
     Also wurde Folgewalt von Kindesbeinen an im Regieren ausgebildet, Reinwalt in den alten Sprachen und theologischen Wissenschaften, tscha, und Friedewalt im Reiten, Fechten und Schießen.  Und alle fanden das in der Ordnung, nur die Mutter nicht;  denn sie hatte einen anderen Blick auf ihre Kinder und in sie hinein.  Allein – der König hörte nicht auf sie und tat alle ihre Einwände ab als Weiberphantasien.
     Kaum war auch der jüngste Sohn volljährig geworden, da starb der König, und Folgewalt wurde zum Nachfolger gekrönt.  Jedoch – war das ein Jammer!  Folgewalt fühlte sich in seinem neuen Amt ganz und gar nicht wohl.  Gut, er hatte ausgezeichnete Lehrmeister gehabt, die ihn in allem trefflich ausgebildet hatten, was ein König braucht: Rechtswesen, Kameralistik, Baukunst (um nur 3 Beispiele zu nennen).  Auch hatte der König vor seinem Tod dem Kronprinzen manche Aufgabe übertragen, um diesen auch in der Praxis auszubilden.  Aber immer hatte der Vater genau vorgegeben, was zu tun sei und wie es getan werden müsse.  Jetzt aber war der Vater nicht mehr da.  Sicher, bei bekannten Aufgaben brauchte Folgewalt nur so zu handeln, wie er’s immer getan hatte.  Aber was war mit dem Neuartigen?  Menschliche Wertvorstellungen ändern sich;  die Wissenschaft preist neue Erkenntnisse an;  die Kaufleute entdecken neue Wege, sich zu bereichern.  Was durfte nun der König erlauben?  Was mußte er verbieten?  Das konnte dem Folgewalt niemand sagen;  und wenn, dann waren die Vorschläge so vielfältig, daß er’s niemals allen hätte recht machen können.  Ach, es war ein Jammer!
     Indessen ward Reinwalt von der Geistlichkeit unterwiesen.  Er lernte, die Bibel in deren Urtexten zu lesen.  Er lernte kennen, wie die Kirchenväter die Schrift auslegten.  Und er erfuhr, was seine Zeitgenossen davon hielten.  Aber jeder von ihnen sah nur einen Ausschnitt und blendete den Rest aus.  Und Reinwalt gewahrte, daß die Früchte vom Baume der Erkenntnis nicht beleben, ja, noch nicht einmal der Gesundheit dienen.  Und wer seine ganze Zeit und seine ganze Kraft dafür einsetzt, von jenem Baum zu ernten, der hat weder Kraft noch Zeit für die Früchte vom Baume des Lebens.  Aber gerade nach diesen Früchten sehnte sich Reinwalt und hätte sie gerne gepflückt und mit allen Menschen geteilt.  Und wenn er sich umblickte, sah er viel Wahn, viel Bequemlichkeit, viel Heuchelei;  und alle erwarteten von dem Prinzen, es ihnen nachzutun.  Aber kein einziger unter den Geistlichen schien des Prinzen Sehnsucht zu teilen.  Und Reinwalt fühlte sich wie ein Fremder in der Fremde und weigerte sich, irgendein Gelübde abzulegen.  Deshalb blieb ihm selbst die unterste Sprosse auf der geistlichen Leiter versagt.
     Und Friedewalt?  Der jüngste Königssohn?  Der erlernte zwar das Kriegshandwerk, aber – nur in der Theorie.  Was half es ihm, die militärische Laufbahn mit einem Offizierspatent zu betreten, wenn er sich weigerte, auf dem Schlachtfeld Orden und Ehren zu sammeln?  Er konnte einfach keinen Menschen töten, noch nicht einmal aus der Ferne oder in der Dunkelheit.  Ansonsten machte es ihm nichts aus, gehorchen zu müssen, hatte er doch auch Soldaten unter sich, die ihm zu gehorchen hatten.
     „Dann muß sich eben jeder ändern!“ konnte sich Donna Schustersen nicht länger zurückhalten.
     „Selbst ein Chamäleon ändert nur sein Äußeres“, wandte der Alte ein, „und wird weder zum Adler noch zum Karpfen, noch zum Elefanten.  Nein, in unserem Mährchen änderte sich etwas anderes: Die Königinmutter setzte sich auf den Thron und ordnete alles neu.  Da Friedewalt das Gehorchen nicht zuwider war, aber das Kriegen, tat sie den Prinzen zu den Geistlichen.  Der bisherige König Folgewalt aber kam zum Militär, weil ihm zur Selbständigkeit die Begabung fehlte.  Da er aber ein ausgeprägtes Rechtsbewußtsein hatte, mußte die Königinmutter nicht befürchten, er werde sich in Unrechtes verstricken lassen.  Tscha, und nun räumte sie den Thron für – Reinwalt.  Bei wem könnte es ein Volk besser haben als bei einem König, der es mit Früchten vom Baume des Lebens versorgt?  Und solange ein König seinem Volke so dient, ist er am richtigen –“
     Aber da mußte der Alte mal wieder gewahren, daß ihm seine Zuhörerin inzwischen abhanden gekommen war.
© Stiftung Stückwerken, *17.4.2020, freigegeben am 14.2.2024
Qouz-Note 3



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MamM 1.064  Das Nadelöhr

„Ich finde“, hatte Donna Etepetete weder etwas verloren noch gesucht, „wir Reichen dürfen unseren Reichtum auch zeigen.
     „Setz dein Licht nicht unter einen Scheffel“, zitierte der Alte von der Halbinsel sinngemäß, „sondern auf einen –“
     „Eben!“ fühlte sich die Besucherin bestätigt.  „Es geschieht doch zum Lob Gottes, der uns so reich gesegnet hat.
     „Ach“, staunte der Alte.  „Seltsam, daß dies die Reichen immer so genau wissen.  Ihr Reichtum sei Ausdruck göttlichen Segens und – verdient!
     „Von nichts kommt nichts“, war sich Donna Etepetete sicher.
     „Und dennoch warnt Jesus vor dem Reichtum –“
     „Vor dem betrüglichen Reichtum!“ stellte die Besucherin richtig.
     „Der wie Dornen das Wort Gottes erstickt“, ergänzte der Alte sinnend.  „Hast du denn diese angeblich betrügliche Variante des Reichtums schon mal kennengelernt?
     „Nein“, war Donna Etepetete überzeugt, „jedenfalls nicht bei mir.
     „Merkwürdig“, überlegte der Alte, „auch ich kenne keinen einzigen Reichen, der sich von seinem Reichtum betrogen fühlt.  Und doch sagte Jesus jenem Jüngling, –“
     „Soll ich etwa unser sauer verdientes Geld verschleudern“, schien die Besucherin zu ahnen, auf welche Begebenheit der Alte anspielte, „damit dann die Armen reich sind?  Das ist doch absurd!  Nein, da hat irgend jemand was falsch übersetzt oder falsch behalten.
     „Gleich 3 Evangelisten?“ zweifelte der Alte sehr.  „Nur Johannes beläßt es in den Büchern, die zu schreiben wären.  Hab aber keine Angst, ich komm’ dir schon nicht mit Geboten“, und er begann zu erzählen:
     „Es wär’ einmal eine Königin und ein König, die lebten – nun ja, die gingen auf großen Füßen;  obwohl – auch das –trifft’s nicht richtig;  denn meistens saßen sie.  Jedenfalls hießen sie Brauselina und Sauseletto.
     Tscha, mit den Ehen ist das ja so eine Sache: Haben sich 2 ausgesucht und gefunden und trauen sich, sich trauen zu lassen, dann sind sie sich sicher, Gott habe es zusammengefügt.  Allein – es ist wohl die alte Zauberin Zeit, die Brillen verteilt, die anderes zeigen;  zum Beispiel ursprüngliche Gaben als schwere Bürden.  Und – kein Mensch hat nur gute Seiten.
     Bei Brauselina war es wohl eine jener anderen Seiten, daß sie Gulden und Talern keine gute Herbergsmutter sein wollte.  Freilich – die Eingangstür war immer weit geöffnet, als könne sie (Brauselina) an Gästen nicht genug kriegen;  aber kaum waren diese eingetreten, ward ihnen weder Tisch noch Stuhl angeboten, und schwups! waren sie wieder an der frischen Luft und laufend.  Trotzdem war der Andrang zunächst groß, und dafür hatte eben Sauseletto zu sorgen.
     Der arme Mann!  Anfangs holte er’s aus der königlichen Schatzkammer, die am Tage der Hochzeit noch gut gefüllt gewesen war.  Aber schon bald wurde ihre Schwindsucht sichtbar, so daß sich der König neue Quellen erschließen mußte.  Also die Steuern erhöhen?  Tscha, wenn da nicht die Landstände gewesen wären, die da ein gehöriges Wörtchen mitzureden hatten.  Na, dann mußte Sauseletto eben Geld verleihen, zumal viele Bankiers davon bekanntlich steinreich geworden sind.  Allerdings – darfst du den, dem du Geld gibst, nicht deinen Bruder nennen, sondern einen Fremden, was sehr einsam machen kann.  Und – du mußt erst einmal selber Geld haben;  und zwar Geld, von dem Brauselina nichts weiß.  Also weiter!  Du kannst dir auch Geld leihen, am besten von einem Bruder.  Jedoch – wenn du’s gleich an deine Frau weiterleiten mußt und sie Brauselina heißt, wirst du’s nie zurückgeben können.  Selbst ein Alchimist kann dir da nicht aus der Klemme helfen, denn er kann nur eine geringe Menge Gold herstellen, und das allenfalls, wenn du ihm zuvor eine große Menge davon gegeben hast.
     Was nun, wenn du weder betteln, stehlen noch borgen kannst oder willst?  Bleibt nur noch das Glücksspiel.  Und Sauseletto spielte und spielte und – erlebte immer wieder das eherne Gesetz dieser Zunft: Die Bank gewinnt immer!  Aber der König war nicht die Bank und – verlor und verlor und verlor.  Und zu Hause wartete ungeduldig die zeternde Ehefrau, die das Ausbleiben von Talern und Gulden zutiefst beklagte.  Zuletzt setzte der König sein ganzes Königreich und seine Ehefrau obendrein und – verlor!  Zwar verzichtete der Bankhalter grinsend auf die weibliche Zugabe, da er das 6. Gebot nicht brechen dürfe, aber – das Reich war der König los und mußte noch in der gleichen Nacht sein Schloß verlassen;  ohne Hab und Gut, außer: Brauselina.  Ach, war das ein Jammer!  Teure Kleider, teurer Schmuck, teure Kutschen, alles war auf einen Schlag verloren.
     Da war’s mit dem Sitzen vorbei;  und schon bald waren die großen Füße klein und blasig gelaufen.  Einen König wollte auch niemand einstellen: weder Kaufmann noch Meister;  ja, noch nicht einmal ein Hausvater wollte die beiden für seinen Weinberg dingen.  Da blieb dann doch nur noch das Stehlen übrig;  und mährsächlich nahm sie ein Hauptmann in seine Bande auf.  Der versprach sich nämlich davon wertvolle Hinweise darüber, wo die Reichen ihre Schätze verbergen.  Als aber Sauseletto zum 1. Mal auf einen Überfall mitgenommen wurde, da gingen ihm die Augen auf.  Denn in dieser Zunft hatte das Leben eines Mensche schon damals den gleichen Wert wie heute auf den Landstraßen: nicht mehr als das Leben eines Sperlings.  Der verstoßene König mußte sogar selbst dazwischengehen, um einen Mord zu verhindern.  Folglich konnte er nicht länger mit seiner Frau in jener Bande bleiben, die sich dennoch auf ihre Art eindrucksvoll und nachhaltig bedankte.  Es ward nämlich das Gerücht verbreitet, der König sei unter die Räuber gegangen und habe dabei noch nicht einmal vor einem Mord zurückgeschreckt.
     „Das ist ja furchtbar!“ konnte sich Donna Etepetete nicht länger zurückhalten.  „Das sind ja die schlimmsten Schauermärchen!
     „Eine aussichtslose Lage“, gab der Alte schmunzelnd zu.  „Zumal Brauselina nicht lange danach eines Kindleins genas.  Eine neue Last?  Eine Überlast?  Nein, eine Gabe: eine Aufgabe!  Ein schönes Wort in unserer Sprache, bei dem so vieles mitklingt.  Die Eltern mußten aufgeben, was ihnen bisher so wichtig war.  Ihrem Leben ward ein neuer Sinn gegeben.  Ihnen ward ein Leben anvertraut.  Und ihr Leben nahm nicht ab, sondern zu.  Bei einem Hausvater fanden die 3 Mitleid und Aufnahme.  Der wies ihnen eine Hütte in einem seiner Weinberge zu und Arbeit.  Als aber dieser Hausvater sah, wie sehr sich Mutter und Vater anstrengten, um ihrem Kindlein das tägliche Brot zu sichern, tat er ihnen nach 3 Jahren einen Weinberg zur Pacht aus.  Und es ging Freude aus von diesem Weinberg in alle Lande;  und als das Kindlein volljährig geworden war, da ward ihm von den Bürgerinnen und Bürgern jenes Reiches Thron und Krone angetragen, daß es noch mehr Freude –“, aber da gewahrte der Alte, daß er nur noch ein Selbstgespräch führte.
© Stiftung Stückwerken, *24.4.2020, freigegeben am 15.2.2024
Qouz-Note 3

 


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MamM 1.065  Der innerste Garten

„Wißt Ihr eigentlich“, zweifelte Donna Etepetete, „was etliche in der Gemeinde von Euch reden?
     „Bestimmt nicht alles“, war sich der Alte von der Halbinsel sicher.  „Ist das aber wichtig?
     „Sie sagen“, mißachtete die Besucherin diesen Prüfstein, „Ihr gebt Euch nur deshalb mit den Witwen und Witwern ab, um deren Erbe zu erschleichen.
     „Das stimmt sogar“, verblüffte der Alte, „sonst würde dieses Erbe verkommen.
     „Also doch?“ wollte Donna Etepetete ihren Ohren nicht trauen.  „Und Ihr schämt Euch nicht?
     „Nö“, antwortete der Alte unbekümmert, „ich nehm’ doch niemandem etwas weg.
     „Und die tatsächlichen Erben?“ blieb die Besucherin ungläubig.
     „Denen geht’s doch nur um das Geld und alles, was sich mit Geld aufwiegen läßt“, wurde der Alte deutlicher.  „Was wär’ denn so etwas mir nütze?  Nur noch wenige Jahre, und ich müßte das alles hierlassen.  Nein, ich meine die anderen Schätze: Lebenserfahrung, Lebensmut, –“
     „Aber dafür kann ich mir doch gar nichts kaufen“, wandte Donna Etepetete verächtlich ein.
     „Richtig!“ gab der Alte bereitwillig zu.  „Ich will sie ja auch gar nicht mehr hergeben, sondern – teilen.
     „Komische Schätze!“ urteilte die Besucherin.
     „Besser Komödie denn Tragödie“, focht’s den Alten nicht an.  „Freilich – wenn das Teilen so einfach wäre!  Überall diese Heuchelei!  Eigentlich dürfte es sie unter Christen gar nicht geben.  In Philadelphia kann sich jeder frei zu seinen Schwächen und Grenzen bekennen;  aber in Laodizea –  Und dennoch steht Amen auch dort vor der Tür und klopft an.  Wie schafft der das nur?  Er scheint nie aufzugeben, selbst mich nicht“, und der Alte begann zu erzählen:
     Bekommt jedes Volk die Königin oder den König, die oder den es verdient?  Manche glauben das und sagen es.  Jedenfalls – es wär’ einmal ein König, der hatte kein Reich, sondern mußte es sich erst einmal suchen.
     Gut, Hegemann hätte in seine Bibliothek gehen, dort einen Atlas zur Hand nehmen und diesen irgendwo aufschlagen können;  dann Augen zu;  und mit dem Finger auf irgendein Land tippen.  Oder er hätte sich in seine prächtige Kutsche setzen und durch die Lande fahren können;  und dort, wo ihm am begeistertsten zugejubelt worden wäre, hätte er sich auf den Thron gesetzt.  Allein – Hegemann war aus anderem Holze.  Zumal es gerade Frühling geworden war und die Bäume grünten und Lerche und Nachtigall ihre Jugendlieder sangen!  Der König ohne Land kleidete sich wetterfest, zog derbe Wanderschuhe an, setzte seinen breitkrempigen Hut auf, und los ging die Reise, daß es eine Lust war.  Ach, wer da hätte mitwandern können: am Morgen, am Abend, in der Nacht!  Führte der Weg in die Höhe, so sahen drunten die Menschen so klein aus wie Ameisen;  und harmlos.  Und führte der Weg durch hohe Buchenhallen, kam sich der König selber so klein vor.
     Ja, du hast richtig gehört: Oft führt uns ein Weg und nicht wir uns selbst.  Und so gelangte Hegemann eines Tages in eine große Stadt, deren Pracht schon von weitem in der Sonne glänzte und – sogar blendete.  Das Tor war von Gold, aber nicht lauter.  Die Gassen waren aus Gold, aber nicht lauter.  Die Fassaden der Häuser waren aus Gold, aber nicht lauter.  Alles war nur mit einer goldenen Farbe angestrichen worden, die hier und da abgeblättert war.  Freilich – da mußtest du schon genau hingucken;  denn immerzu waren Tüncher unterwegs, die alle schadhaften Stellen geschwind überpinselten.  Eine wahre Goldgrube für dieses Gewerbe!  Was das wohl alles kostete?  Und wenn schon für das Äußere soviel Geld ausgegeben wurde, wie prächtig mußte es erst drinnen sein!
     Und wie die Menschen hier gekleidet waren!  Als wäre alle Tage Sonntag und Kirchgang und dazu das Beste gerade gut genug!  Die Männer stolzierten daher wie ein Ladestock auf 2 Beinen, na ja, eben wie ein schneidiger Obrist.  Die Augen geradeaus und die Mimik durch einen Oberlippenbart dirigiert.  Oder?  Hegemann betrachtete die Frauen und Fräuleins.  Wie eine Herzogin oder Prinzessin herausstaffiert.  In enge Korsetts gezwängt.  Und alle lächelnd.  Fürstlich herablächelnd!  Aber – dieses Lächeln wärmte nicht.  Es war – ja, wie das Lächeln einer Sängerin auf der Bühne: Es trifft dich, aber du weißt, du bist gar nicht gemeint und es wird gleich weiterflattern zur nächsten Blüte.  Sonderbar!  Beim näheren Hinsehen kam’s dem König vor, als trügen alle Menschen hier Masken.
     Und als es Abend wurde und die Menschen in den Häusern Lichter anzünden wollten, da wurden zuvor die Fensterläden geschlossen.  Aber in einem Haus war das wohl vergessen worden.  Und das Licht fiel durch die Fenster hinaus auf die Gasse;  und Licht zieht an!  Es mag ja unschicklich sein, von außen in ein Haus hineinzuschauen;  aber unwillkürlich hatte es der König doch getan!  Und er erschrak, denn hinter einer prächtigen Fassade sah es drinnen aus wie in der Elendshütte eines Bettlers.  Und Hegemann dämmerte es, das könnte kein Einzelfall sein.
     Mit dieser Ahnung stieg er hinauf zum Schloß;  auch dieses mit prächtiger Fassade, die sogar von außen beleuchtet wurde.  Aber drinnen eine baufällige Bruchbude, in der es nicht ratsam war, auf irgendeiner Treppe in die oberen Gemächer hinaufzusteigen.
     Nein, war sich Hegemann sicher, dies hier war nicht sein Reich und paßte ganz und gar nicht zu ihm.  Entschlossen verließ er Schloß und Stadt und ging in der Dunkelheit hierhin und dorthin, bis – er in einer dichten Hecke eine Pforte fand.  Er klinkte sie auf, trat ein und folgte dann einem Weg, der ihn zu einem schlichten Landhäuschen führte.  Warmes Licht hieß von drinnen willkommen, so daß sich der König nicht scheute, an der Klingel des Eingangs zu ziehen.  Schon bald wurde ihm geöffnet und er freundlich hineingebeten.  Von wem?  Von einer jungen Frau;  der grünen Kleidung nach zu urteilen, einer –
     „Ihr schweift schon wieder ab!“ konnte sich Donna Etepetete nicht länger zurückhalten.  „Was hat das alles mit Euch und den Witwen –“
     „Vermutlich mehr, als mir bewußt ist“, lachte der Alte.  „Der König fand jedenfalls ein deftiges Abendbrot, ein Bett für sich allein und einen erholsamen Schlaf und – am andern Morgen eine Aufgabe.  Jardinetta war nämlich Samenzüchterin und konnte einen Boten gut gebrauchen, der –  Tscha, da lag der Pfeffer im Hasen: Die Gärtnerin wollte nämlich das ganze Reich beliefern, dem Hegemann hatte endgültig den Rücken zuwenden wollen.  Und wer vor allem auf das Äußere bedacht ist, hat kein Geld für Pflanzen übrig.  Aber die beiden waren nicht auf den Kopf gefallen, und schon bald grünte es überall im Lande, so daß die Tüncher gar nicht nachkommen konnten.  Und es war, als taute alles auf, wie die Natur es nach einem strengen Winter tut.  Freilich stürzte auch viel Morsches in sich zusammen, voran das Schloß.  Doch nun konnte alles neu –“  Aber da merkte der Alte, daß er wieder allein war.
© Stiftung Stückwerken, *30.4.2020, freigegeben am 16.2.2024
Qouz-Note 2

 


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MamM 1.066  Valentinleben

„Unsern Bischof kenne ich noch als ganz kleines Kind“, erntete Donna Puppenmacher aus ihrer Erinnerung.  „Ich freu’ mich jedes Mal, wenn er unsere Gemeinde besucht.  Ihr nicht?
     „Jein“, setzte sich der Alte von der Halbinsel auf seinen Lehrstuhl;  bildlich.  „Denn ja könnte auch bedeuten: Ich freu’ mich nicht, und nein: Ich freue mich.  Leg’s aus, wie es dir gefällt.
     „Eitel?“ argwöhnte die Besucherin.
     „Sehr!“ gab der Alte lachend zu.  „Allein – es widerstrebt mir sehr, einen Menschen wegen seines Ranges zu verehren.  Ich möchte ihm viel lieber wegen seines Wesens und Wandelns dankbar –“
     „Alles Gute kommt von oben!“ mahnte Donna Puppenmacher.  „Und je höher das Amt, desto näher –“
     „– die Gefahr“, ergänzte der Alte geschwind, „vor lauter Schmeichlern die Wahrheit nicht mehr zu hören.  Nein, für mich ist etwas nicht deshalb wahr, weil’s ein Bischof oder Papst gesagt hat, sondern weil und wenn es wahr ist, mag’s sonstwer gesagt –“
     „Ist das nicht Ketzerei?“ neigte die Besucherin zu einem Ja.  „Sogar Aufruhr gegen die göttliche Führung?  Lest nur da in Eurem Buch, wie’s der Rotte Korah –“
     „Ich werd’ bestimmt weder Bischof noch Papst aus ihren Ämtern verdrängen“, blieb der Alte heiter, „möcht’ auch mit keinem geistlichen Würdenträger tauschen.  Aber – wozu hat Jesus ein Kind mitten unter seine Jünger gestellt und diesen geraten, es aufzunehmen, als wäre er es selber?  Darum – kommt ein Bischof zu mir wie ein Kind, so will ich ihn gerne aufnehmen;  kommt er aber gebieterisch wie ein Herrscher, so mag er geschwind weiterziehen“, und er begann zu erzählen:
     Marisulanna hatte sich bereits in jungen Jahren auf den Thron gesetzt und irgendwann entdeckt, daß manche freudenreichen Sachen Mädchen nicht allein versteh’n;  wie’s ja jener weise Stiftspoet einem bekannten frommen und jungen Frauenzimmer schon zu bedenken gibt.  Also ward in allen Landen verbreitet, Marisulanna suche einen Mann;  möglichst den richtigen.
     Du glaubst nicht, wie viele Männlein und Männer im heiratsfähigen Alter nun plötzlich dachten, die Königin meine sie;  also Männlein oder Mann.  Wo’s wohl herkommt, daß Menschen sich von der Aussicht angezogen fühlen, über andere herrschen zu dürfen?  Da hätte die Königin viel zu tun gehabt, wenn sie jeden Kandidaten hätte empfangen wollen.  Deshalb wurden die Wachen an den Grenzen und Toren angewiesen, eine strenge Auswahl vorzunehmen.
     Tscha, davon hatte auch Prinz Toffel Wind bekommen, ließ sich aber nicht von seinem Vorhaben abbringen.  Er reiste also in jenes Land und zeigte sich bereits an der Grenze gegenüber jedem Wachsoldaten äußerst zuvorkommend, als wäre dieser bereits General und edlen Geblütes.  Mit Schmeichelei kommst du eben gut vorwärts und aufwärts und – sogar in den Thronsaal.  Allein – auf die Dauer wirft sie lange Schatten.  Der Prinz wurde zwar gnädigst aufgenommen, aber schon bald durchschaut und – zum Gespött gemacht.  Zuletzt behandelte ihn die Königin gar wie einen Pudel, ließ ihn auf allen vieren kriechen, Männchen machen und die Zeitungen apportieren;  und das unter den Augen der Dienerschaft.  Als aber Toffel noch immer nicht merkte, daß er alles andere als einer Krone würdig war, bekam er einen Tritt und wurde aus Schloß, Stadt und Land gejagt.
     So etwas hätte Prinz Poser nicht passieren können, was nicht unbedingt für ihn spricht;  denn wer sich dressieren läßt und das Apportieren beherrscht, zeugt doch von einiger Gelehrsam-, eh, Gelehrigkeit.  Poser war wesentlich behäbiger und breiten Gesäßes, das er nicht unnötig aus Kutsche, Sänfte oder Sessel zu bewegen pflegte.  So grüßte er die Wachen nur aus seiner Kutsche und von oben herab, wurde aber dennoch durchgelassen.  Wieso?  Weil er anscheinend ein großer Bewunderer jenes makedonischen Philipps war, der angeblich über kletternde Esel gebot.  Jedenfalls gelangte er ungehindert in den Schloßhof, ließ sich in den Thronsaal tragen und – machte sich breit.  Oh weh, Marisulanna fühlte sich schon bald ganz an den Rand gedrückt und – sehr erschöpft.  Du glaubst nicht, was das für eine schwere Arbeit ist, von morgens bis abends an Sitzungen teilzunehmen und – nicht dabei einzuschlafen.  Und dann diese ständigen Bevormundungen!  Die Königin konnte vorschlagen, was sie wollte, stets setzte Prinz Poser sein „Geht nicht!“ dagegen und brachte sie auf den Weg der Ordnung zurück und hinter seine Sänfte.  Doch als er eines Sonntags der Königin eröffnete, was er eigenmächtig angeordnet hatte, war’s, als wäre er mit seiner Sänfte umgekippt.  Er hatte nämlich entschieden, ab der nächsten Woche die Sitzungen auch auf den Sonntag auszudehnen.  Da half kein Geld, da half kein breites Gesäß, Poser wurde einfach in seine Kutsche verfrachtet und über die Grenze geschickt.
     Tscha, und dann kam Valentin!  Schon die 1. Begegnung war etwas Besonderes.  Die Königin ließ sich gerade in einer offenen Kutsche durch die Residenzstadt fahren, und alle jubelten ihr zu.  Fast alle!  Ein junger Wandersmann kehrte der Kutsche nämlich den Rücken zu und jubelte ganz und gar nicht.  Unerhört!  Er eilte sogar in den Hintergrund und – war plötzlich verschwunden.  Die Königin war schon versucht, die Kutsche anhalten zu lassen, da gewahrte sie ihn wieder.  Anscheinend hatte er ein Kind wieder auf die Beine gestellt, das in dem Gedränge zu Fall gekommen war;  aber so genau konnte die Königin das nicht erkennen.  Na, sie würde den Prinzen schon zur Rede stellen, wenn er auf dem Schloß vorspräche.  Doch sonderbar: Wieso vermutete Marisulanna in jenem Wanderer einen –
     „Vielleicht hat er ja eine Krone getragen oder einen in dieser gehabt“, konnte sich Donna Puppenmacher nicht länger zurückhalten.  „Aber ich muß schon bitten: Wo kommen wir hin, wenn jeder hergelaufene Fremde sich unbefugt dazu berufen fühlt, irgendwelchen Lümmeln und Lausejungen wieder auf die Beine zu helfen?  Er hätte doch wenigstens fragen –“
     „Das wäre ihm wesensfremd gewesen“, zeigte sich der Alte als Besserwisser.  „Es war ihm auch wesensfremd, auf dem Schloß vorzusprechen.  Statt dessen kümmerte er sich um die Mühseligen und Beladenen im Volk;  und davon gibt’s wohl in jedem Land mehr als genug.  Zu diesen beugte er sich nicht gnädigst hinab, sondern nahm eine Haltung an, daß er zu ihnen aufblicken und sie achten konnte.  Wollte also die Königin ihm näherkommen, durfte sie nicht auf ihrem Schloß bleiben, sondern mußte sich auch unters Volk mischen und ihm (dem Prinzen) heimlich folgen.  Und dabei geschah –“
     Aber Donna Puppenmacher war bereits gegangen.
© Stiftung Stückwerken, *7.-8.5.2020, freigegeben am 17.2.2024
Qouz-Note 2+

 


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MamM 1.067  Alles Gute

„Ach, es wird all’s schlechter“, hob Donna Klageter ihr Klagen an.  „All’s schlechter!
     „Alles?“ war der Alte von der Halbinsel skeptisch.
     „Eigentlich ja“ beharrte die Besucherin.  „Mit der Gesundheit, –“
     „Den Kinderkrankheiten?“ konnte es der Alte nicht lassen.
     „Ihr wißt genau, was ich meine“, fauchte Donna Klageter.  „Die eine hat’s mit dem Rücken, ihr Männer habt’s mit den Ohren und der Blase;  die Beine wollen nicht mehr so –“
     „– wie damals, als wir nur auf allen vieren krabbeln konnten“, hakte der Alte erneut ohne den erwarteten Ernst ein, „und uns ein Türgriff und eine Fensterbank viel zu hoch waren.
     „Darum geht es doch nicht!“ schimpfte die Besucherin.  „Das Leben ist nicht mehr schön!  –“
     „Und dennoch blühen bald wieder die Rosen“, spielte der Alte weiter den Gegenpart, „die Nachtigall singt, –“
     „Aber zur Lerche müßt Ihr von Jahr zu Jahr weiter laufen“, gab sich Donna Klageter nicht geschlagen, „und irgendwann werdet Ihr sie gar nicht mehr hören.  Und so ist das auch mit den Menschen.  Nur noch Rücksichtslosigkeit, wohin Ihr blickt, –“
     „– wo du sie suchst“, verbesserte der Alte.  „Du hast ja nicht ganz unrecht.  Auch ich sehe Welken und Verfall, und manchmal friert’s mich unter Menschen, aber es gibt doch noch das Gute.  Selbst im Winter blüht die Christrose, und die Schneeglöckchen lassen sich nicht aufhalten.  Solange die Erde sich dreht, werden nicht aufhören: Sommer und Winter, Tag und Nacht“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein Prinz, der hieß Sonneberg;  eigentlich sogar ein Kronprinz.  Doch als Hof und Volk bereits erwarteten, der König werde bald abdanken und Zepter und Krone weitergeben, da rief dieser seinen ältesten Sohn zu sich, und es geschah Ungeheuerliches.  Denn kaum war Sonneberg eingetreten, da ward die Tür hinter ihm verriegelt und eine geheime Tür aufgetan.  Herein traten wilde Männer, und ihnen ward der Prinz übergeben, daß sie ihn außer Landes und viele Tagesreisen weit in die Fremde brächten.
     Und vom Vater bekam der Sohn lediglich mit auf den Weg: „Vergiß nie, wer deine Eltern sind!
     Ein seltsamer Segen!  Erinnerte sich der Sohn künftig an seinen Vater, so kam schnell Groll in ihm auf.  Wie hatte der Vater so etwas tun können?  Hatte dieser gar kein Herz?  So war er doch früher nicht gewesen.  Woher dann diese Kälte?  Warum?  Warum?  Warum?
     Doch da war auch noch die Erinnerung an die Mutter.  Wie ein sanftes Säuseln: Es wird alles gut.  Aber zur Zeit war gar nichts gut.  Noch nicht einmal das Heimweh war gut, denn mit solch einem Vater schien dieses Heim zerstört und für immer verloren.  Als die Kutsche endlich hielt und die wilden Männer den Prinzen freiließen, lenkte er deshalb seine ersten Schritte nicht Richtung Heimat.  Er zog auch keine Erkundigungen ein, wie weit er sich entfernt hatte und wie er zurückgelangen könne, sondern wanderte einfach weiter.
     Jedoch – in der Kutsche war er noch verpflegt worden, jetzt war er ganz auf sich gestellt.  Und da er nicht mit Reisegeld ausgestattet war, mußte er sich irgendwo und irgendwie verdingen;  nachdem er seine Gewänder gegen Lumpen und etwas Eßbares eingetauscht hatte.
     Ein Armenpfleger hatte mit dem jungen Mann Mitleid und tat ihn als Gehilfen in ein Armenhospital.  Immerhin!  Ging es nun endlich aufwärts?
     Ach, schon bald hatte sich Sonneberg angesteckt und lag mit hohem Fieber danieder und auf Leben und Tod.  Dachte er an seinen Vater, dann senkte sich seine Lebenswaage zum Tode.  Aber dann erinnerte er sich doch noch seiner Mutter, und seine Lebenswaage neigte sich zum Leben.
     „Alles wird gut“, hörte er flüstern;  und weil er diesen Worten vertraute, genas er wieder.
     Des Armenpflegers Augen blickten jedoch inzwischen anders denn zuvor.  Der junge Mann sei zu empfindlich und kränklich und deshalb nicht mehr tragbar.  Ihn als Fremden weiter durchzufüttern, das sei Diebstahl gegenüber den Einheimischen.  Am besten, er ziehe wieder dorthin, wo er hergekommen sei.
     Nun ja, solche Worte weckten aber wieder die Erinnerung an die Kälte des Vaters, und so zog Sonneberg zwar von dannen, suchte aber nicht den Kurs Richtung Heimat.
     Es war ein schöner Frühlingstag.  Die Blätter der Bäume leuchteten noch jugendlich, die Vögel waren guter Dinge, und unter dem Blau des Himmels segelten weiße Wolken.  Eine Welt für sich, zu der keine Gedanken an ein Woanders Zutritt zu haben schienen.  Aber dann gewahrte Sonneberg auch Schwalben auf deren Jagd, und plötzlich knurrte ihm der Magen.  Da aber die Natur für ihn noch keinen Tisch gedeckt hatte (noch nicht einmal die Kirschen waren reif), mußte der junge Mann wieder zu den Menschen und – betteln.
     Auf dem Lande war’s nicht vergeblich, ja, es gab sogar Arbeit auf dem Feld, in den Scheunen und in den Ställen.  Aber im Winter hieß es, in die Städte zu wandern, und dort war die Konkurrenz groß.  Ja, in diesen Zeiten lernte Sonneberg auch die dunklen Seiten der Menschen kennen.  Wie wenig wert da das Leben eines Menschen war!  Sofern es sich nicht um das eigene handelte!  Und wieder kam die Erinnerung an die Kälte des Vaters hoch, dem sein Sohn anscheinend auch nichts wert gewesen war.  Aber dann flüsterte es wieder: Es wird alles –
     „Vertröstungen!  Vertröstungen!“ konnte sich Donna Klageter nicht länger zurückhalten.  „Die Hoffnung stirbt  z u l e t z t!
     „Weil sie sich erfüllt?“ fragte der Alte unbekümmert zurück.  „Sonneberg irrte jedenfalls 7 lange Jahre umher.  Aber dann kamen ihm mehr und mehr Berge und Bauten sonderbar bekannt vor.  Auch die Sprache und der Tonfall der Menschen sowie die Düfte aus den Backstuben und Küchen berührten, ja, berührten sein Herz.  Und sein Herz lenkte seine Schritte, mochte der Verstand noch so viele Bedenken ersinnen.  Und da war auch schon das Schloß.  Und zum Tore heraus stürzten eine Frau und ein Mann, und dann ward das Wiedersehen gefeiert, und das Volk erhielt einen neuen König.  Ein Volk braucht nämlich keinen König, der über es herrscht, sondern einen, der ihm dient und in aller Not und allem Leid mitfühlend die Hoffnung nährt: Es wird alles –“, aber da gewahrte der Alte, daß die Besucherin bereits gegangen war.
© Stiftung Stückwerken, *15.5.2020, freigegeben am 17.2.2024
Qouz-Note 3-

 


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MamM 1.068  Lyrfried

Es wär’ einmal ein König, der hieß Lyrfried;  und dieser König hatte eine Frau und 3 Töchter.  Eigentlich nichts Besonderes.  Und dafür, wie er sich gegenüber seiner Eheliebsten verhielt, wirst du gewiß auch heute noch viele Beispiele finden.  Er vergötterte sie nämlich dermaßen, daß er glaubte, das Beste wäre für sie gerade gut genug.
     „Was kann aber besser sein denn ich selber?“ fragte er sich selbst und gab auch gleich die Antwort: „Nichts!
     Der Zweideutigkeit dieser Aussage war er sich gar nicht bewußt, sondern wähnte es als Beweis seiner Liebe, wenn die Königin auf ihren Gatten und Gebieter stolz sein könne.  Und so war es ihm ein Anliegen, Geld und Güter seines Hauses zu mehren, das Gebiet seines Reiches auszudehnen und als Bauherr und Widmungsadresse für Dichter, Tonkünstler, Bildhauer und Malkünstler seinen Namen einer bewundernden Nachwelt zu erhalten.
     Erst als seine (so sprach der König stets von ihnen) Töchter mannbar geworden waren, fiel es Lyrfried auf, daß sich die Königin nie freute.  Bekümmert waren ihre Mundwinkel nach unten gezogen, und es half kein Witz, es half keine Komödie, es half keine Musik, die Königin aufzuheitern.
     Da verheiratete der König seine 3 Töchter an 3 vielversprechende Prinzen und ließ 3 prächtige Hochzeiten ausrichten, jeweils 3 Tage und 3 Nächte.  Aber die Königin saß an den Hochzeitstafeln derart teilnahmslos, daß sie der König immer bald in eine dunkle Ecke des Festsaales bringen lassen mußte, damit es kein Gerede gäbe.
     Und nicht lange nach der letzten Hochzeit schien das Herz der Königin gebrochen zu sein, so daß ihr Leibarzt nur noch ihren Tod feststellen konnte.  Es gab eine prächtige Totenzeremonie, für die der Hofschneider mit teuren Trauergewändern viel Ehre einlegen konnte, der Hofkantor mit einem eigens komponierten Requiem und der Hofprediger mit einer langen Aufzählung all’ der Verdienste der so früh Verstorbenen.  Und als die Sargträger hinterher dem König und dem Geistlichen heimlich berichteten, der Sarg sei ihnen sonderbar leicht vorgekommen, da gab es für den Hofprediger nur eine Deutung dieses Wunders: Die Seele der Königin sei mit derart vielen ewigen Schätzen gen Himmel entschwunden, daß im Sarg nur noch wenig zurückgeblieben sei.
     Für den König war das überhaupt kein Trost, da diese Auslegung seinen Blick zu sehr auf das lenkte, was er verloren zu haben glaubte.  Und zurückgeblieben sei ihm: nichts!
     Das hatte natürlich zur Folge, daß der König seinen Amtsgeschäften nicht mehr mit der gewohnten Kraft nachkam.  Deshalb legten ihm seine Schwiegersöhne nahe, abzudanken und das Reich unter ihnen aufzuteilen.  Mit dem Abdanken war Lyrfried durchaus einverstanden, aber das Reich wollte er zusammenhalten.  So teilte er statt dessen nur die Aufgabenbereiche auf in (1) Finanzen und Wirtschaft, (2) Militär, Justiz und Polizei und (3) Kultur und Wissenschaft.  Seine 3 Töchter priesen dies sogleich als eine weise Entscheidung;  heimlich flüsterte aber jede ihrem Gatten ins Ohr, ja das richtige Ressort zu wählen, um nach und nach das ganze Reich in seine (also ihre) Gewalt zu bringen.  So ließ Richhild ihren Gatten das Ressort (1) wählen, denn Geld regiere nun mal die Welt.  Kriemhilds Gatte hatte Ressort (2) zu übernehmen, da die Geschichtsbücher doch zu Genüge belegten, wer von den Menschen die Große oder der Große genannt werde.  Und Runhilds Gatte hatte mit Ressort (3) zufrieden zu sein, war’s aber erst, als ihm seine Gattin vor Augen stellte, was den Willen und die Gedanken der Menschen am stärksten beeinflusse.
     Nun hatte sich Lyrfried aber seinen Ruhestand nicht als Tatenlosigkeit vorgestellt, sondern gedachte, mit weisen Ratschlägen aus seinem reichen Erfahrungsschatz weiterhin tüchtig mitzumischen.  Aber wie willst du Karten mischen, wenn sie dir vorenthalten werden?  Wie jeder einfache Bürger erfuhr Lyrfried Neuigkeiten künftig nur noch aus der Zeitung, und alle seine Eingaben wurden zwar aus seinem Arbeitszimmer abgeholt, wanderten dann aber sogleich in die Ablage und blieben wirkungslos.
     Das war derart aufreibend, daß der König bei Nacht und Nebel Schloß, Stadt und Land verließ.  Lange irrte er hungernd umher, bis er eines Morgens in ein Tal gelangte.  Dort hatten sich einige Bauern und die üblichen Handwerker um eine Kirche angesiedelt, deren Pfarrer sich jedoch woanders bessere Avancen versprochen hatte und weitergewandert war.  Ersatz war auch nicht gekommen, denn angesichts mancher Kriegszüge war es eine sehr unsichere Zeit;  und als folgsame Schäfchen waren die Dörfler wohl auch nicht beim Bischof beleumdet.  Da aber Lyrfried durch seinen wilden Bartwuchs und seine inzwischen ausgemergelte Gestalt ein äußerst ehrwürdiges Erscheinen gewonnen hatte, ward kurzerhand ihm die verwaiste Pfarrstelle angetragen.
     Der abgedankte König war das Hungern und die ungemütlichen Schlafplätze im Freien leid und nahm gerne an, auch wenn er bisher nach Gott sehr wenig gefragt hatte.  Er ließ es sich aber zusichern, daß er des Sonntags erst am Nachmittag zu predigen habe.  So konnte er nämlich am Sonntagmorgen in eines der 3 Nachbardörfer eilen, sich die dortige Predigt anhören und nach seiner Rückkehr in seiner eigenen Gemeinde wieder „aufwärmen“.
     Einige Zeit klappte auch alles vorzüglich, bis – ja, bis Lyrfried begann, Vergleiche anzustellen.  Zunächst unter seinen 3 (sozusagen) Amtskollegen, dann aber auch immer mehr mit den Worten der Heiligen Schriften.  Pfarrer Rohkopp schien vor allem im Gesetz Moses sehr bewandert zu sein und benutzte das Wörtchen Sollen wie einen eisernen Stab.  Pfarrer Säuselwind war das genaue Gegenteil, äußerte für alles Verständnis, lobte alles und tadelte nichts und niemanden.  Tscha, und Pfarrer Schwebegeist war derart voller Erkenntnis, daß er von seiner Kanzel nie auf seine Gemeinde hinabblickte (wie’s gewöhnlich geschieht), sondern verzückt an die Decke, als kreisten dort oben all seine erhabenen Worte und Gedanken.  Allein – keine einzige Predigt enthielt Leben, und so war’s auch mit dem Aufgewärmten.  Aber in den Evangelien las Lyrfried von Schwestern und Brüdern, die nicht gewaltig predigten, sondern Gottes Willen in die Tat umsetzten.  Ja, er las sogar von Geistlichen, die ihren Nächsten in dessen Unglück liegen ließen, während sich ein Verfemter des Armen erbarmte;  und dies gereiche zum Leben.
     Da konnte Lyrfried nicht länger andern predigen, wie diese sein sollten, sondern zog sein Pfarrgewand aus und derbe Arbeitskleidung an und diente seiner Gemeinde.  Und es war wie ein herrlicher Frühling, in dem sich bald die Blüten gegenseitig bestäubten und sich überall das Leben neue Bahn brach.  Und wenn sich des Abends Lyrfried von des Tages Last ausruhte, war es ihm mehr und mehr so, als sehe er seine Gemahlin.  Zunächst erstarrt, als wäre sie völlig versteinert.  Aber bald begann sie sich zu regen, ihre Augen fingen an zu leuchten, und zuletzt lächelte sie sogar.  Zuletzt?  Nein, es kam noch etwas: ein Kuß.  Und Lyrfried erwachte.  Aber träumte er noch immer?  Nun, Brüderchen und Schwesterchen lebten zusammen noch glücklich bis an ihr Ende.  Und Königin und König?  Kann denn Liebe sterben?  Sogar Versteinertes kann sie zum Leben erwecken.
© Stiftung Stückwerken, *23.5.2020, freigegeben am 19.2.2024
Qouz-Note 3-



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MamM 1.069  Der Abreißkalender

„Ich weiß einfach nicht, was ich dazu sagen soll“, hielt sich Donna Holzrichter keineswegs für dumm.
     „Soll?“ rieb sich der Alte von der Halbinsel erwartungsgemäß an seinem Reizwort.  „Nichts sollst du.  Aber wenn es dich entlastet, dann darfst du selbstverständlich –“
     „Es ist einfach zu ungeheuerlich!“ schien zur Besucherin nichts durchgedrungen zu sein.  „Ermordet einfach 10 Menschen;  und warum?  Weil’s ein heißer Tag gewesen sei.  Einfach so.
     „Ermordet?“ hakte der Alte nach.  „Bist du sicher?
     „Wie wollt Ihr das sonst nennen, was ein Massenmörder tut?“  rechtfertigte sich Donna Holzrichter.  „Einschläfern?  Entsorgen?  Abtreiben?  Nein, da gehört es sich, das Kind beim Namen zu –“
     „Kind –“, griff der Alte auf.  „Interessant!  Also nicht schuldfähig?  Und wessen Kind?
     „Was interessieren mich Eure Spitzfindigkeiten?“ verneinte die Besucherin.  „Tatsache ist: So einer hat sein Leben verwirkt!
     „Das glaube ich auch“, schien der Alte zuzustimmen.  „Da hat es einen Wirk- oder Webfehler gegeben, und sein Leben ist nicht mehr so, wie es sein könnte.
     „Das mein’ ich nicht“, fühlte sich Donna Holzrichter mißverstanden.  „Ich meine –  Nein, nicht nur ich, so etwas ist doch offensichtlich: Für so einen darf’s keine Gnade geben, sondern einzig und allein die Todesstrafe!
     „Und das wäre kein Mord?“ entfuhr es dem Alten.
     „Leben gegen Leben!“ hielt die Besucherin dagegen.  „So steht es sogar in Eurem Buch dahinten.
     „In dem du dazu aber auch lesen kannst“, gab sich der Alte nicht geschlagen: „Wende dich nicht von dem, der dir abborgen will.  Doch geben können wir ihm nur, was wir selber haben“, und er begann zu erzählen:
     Wenn eine Königin ihr Amt als eine lebenslange Pflicht ansieht, von der sie nur Tod oder Gebrechlichkeit auslösen könne, tscha, und wenn dann solch eine Königin erst hochbetagt stirbt, sozusagen mit der Schreibfeder in der Hand, dann wird ihre Tochter oder ihr Sohn auch schon in einem hohen Alter sein.  Und so kam es, daß Prinz Daniel bereits weiße Haare hatte, als er sich endlich auf den Thron setzen durfte.  Und hättest du ihn darauf angesprochen, so hätte er’s gewiß zugegeben: Eigentlich habe ich meinen Zenit längst überschritten.  Die körperlichen Kräfte haben nachgelassen, das Lernen und Begreifen fällt schwerer, und die Füße meiden Bergpfad und Treppe und suchen nur noch ebene Straße und Sessel und Bett.  Was ist von einem solchen König noch zu erwarten?  Hätte er nicht besser auf seinen Thron verzichten sollen, zugunsten seines Kindes?
     Sollen – das setzt immer auf einen Richtstuhl und überfordert uns Menschen.  Oder?  Nun, etwas von seiner jugendlichen Frische schien sich der neue König doch bewahrt zu haben;  denn er ließ sich nicht Daniel nennen, sondern gestattete ausdrücklich die Kurzform Dan.  Ob ihm bewußt war, was das bedeutet?  Jedenfalls war er die letzte Instanz für die Todesstrafe.  Ohne des Königs Unterschrift durfte niemand hingerichtet werden;  und ohne des Königs Unterschrift gab es auch keine Gnade.
     Tscha, und gleich das 1. Todesurteil, das Dan zur Unterschrift vorgelegt wurde, hatte es in sich!  Ein junges Mädchen, noch keine 20 Jahre alt, hatte 3 Menschen erschossen;  nicht aus Rache, nicht aus Eifersucht, auch nicht, um ein anderes Verbrechen zu vertuschen.  Auch nicht aus Sadismus;  denn einer der vom Gericht bestellten Gutachter hatte versichert, Ingrun könne noch nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun.  Und dennoch hatte sie 3 Menschenleben auf dem Gewissen!  Sie habe einfach abgedrückt, habe die Angeklagte zum Tathergang ausgesagt, 3mal kurz hintereinander.  Und dann seien 3 Menschen umgefallen und nicht wieder aufgestanden.  Ob sie ihre Tat bereue, sei Ingrun vom Richter gefragt worden.  Das ließe sich so nicht beantworten, sei sie ausgewichen.  Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, es wäre nicht –  Wahrscheinlich? habe sie der Richter zornig unterbrochen;  nur wahrscheinlich?  Sehe sie denn gar nicht das Elend, das sie über 3 Familien gebracht habe?  Nein, habe Ingrun zu aller Entsetzen geantwortet, das ganze Elend sehe sie nicht.  Aber sie wolle auch nicht das Gericht mit einer vorgetäuschten Reue dahin beeinflussen, eine möglichst milde Strafe zu verhängen.  Und da niemand dieses Mädchen verstehen mochte, sei sie einstimmig zum Tode verurteilt worden.
     Wie gesagt, König Dan war bereits ein alter Mann, als er dieses Gerichtsprotokoll las, und nicht mehr so leicht auf die Palme zu bringen.  Er bewilligte sich eine Bedenkzeit von 3 Tagen und ging – zu seiner Fee.  Was solle er tun, fragte er sie.
     „Geh;  und tu, was du willst“, antwortete diese kurz und bündig und gab ihm eine Brille mit.
     Und der König nahm die Brille ganz verdattert entgegen, setzte sie auf und ging davon.  Und da es schon Abend war, hatten die Menschen in ihren Häusern bereits Lichter angesteckt.  Und wo die Fensterläden noch nicht geschlossen waren, da konnte der König hineinsehen.  Und er gewahrte an den Wänden Abreißkalender, und zwar für jeden einen, der zum jeweiligen Hausstand gehörte.  Und solche Abreißkalender gewahrte der König auch in seinem Schloß;  in der entsprechenden Anzahl.
     Und der König gab in den nächsten Tagen acht auf diese Kalender.  Und siehe, gewöhnlich hatten diese Kalender für die Kinder sehr viele Blätter, für die Alten aber nur sehr wenige.  Und jeden Tag fiel ein Blatt zu Boden, als sei es mit unsichtbarer Hand abgerissen worden.  Aber nicht immer nur eins.  Wenn ein Mann seine Frau betrogen hatte, und es kam heraus, dann fielen gleich mehrere Blätter herab;  vor allem aus dem Kalender der Frau.  Bei Kindern, denen ständig vorgehalten wurde, sie taugten nichts, war ihr Kalender schon in jungen Jahren sehr dünn.  Eine ähnliche Wirkung hatte es, wenn einer rücksichtslos seinen Nachbarn ärgerte;  und wer sich selber ärgerte, der verlor auch mehrere Kalenderblätter auf –
     „Wollt Ihr etwa damit sagen“, konnte sich Donna Holzrichter nicht länger zurückhalten, „alle Menschen wären Mörder?
     „Ich bin ja noch nicht fertig“, wich der Alte aus.  „Jedenfalls ging der König nach 3 Tagen in das Gefängnis zu der Todeskandidatin und bot ihr an, sie zu begnadigen.  Das könne er doch gar nicht, lehnte Ingrun ab, denn die Menschen täten sie dennoch für alle Zeit eine Mörderin nennen.  Das stimme, gab der König zu, dann wolle er sie aber dennoch aus Todeszelle und Gefängnis verbannen, und zwar in ein Gebiet seines Landes, wo sie niemand kenne und sie unter fremdem Namen und Aussehen weiterleben könne.  Und König Daniel begleitete Ingrun und setzte ihr unterwegs jene Brille auf.  Und da machte ihn das Mädchen auf etwas aufmerksam, was er bisher übersehen hatte.  Es gab auch Kalender, bei denen die Anzahl der Blätter wieder zunahm.  Insbesondere bei Versöhnung.  Und nicht nur bei dem, dem vergeben wurde, sondern auch beim Vergebenden.  Auch Ingruns Kalender schien zuzunehmen.  Vor allem, sobald sie gewahrte, daß sich jedes Kalenderblatt auch mit Inhalt füllen ließ.“  Doch bevor der Alte durch diese neue Mährchentür gehen konnte, bemerkte er, daß er wieder allein war.
© Stiftung Stückwerken, *30.5.2020, freigegeben am 20.2.2024
Qouz-Note 2+

 


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MamM 1.070  Königeter, Königinter, Kindter

„Da sagt der doch zu mir“, entrüstete sich Donna Simpelmann, „mit mir tät’ er kein Wort mehr reden.  Und tatsächlich: Seitdem übersieht er meine Hand, grüßt mich nicht und erwidert noch nicht einmal meinen Gruß.  Und warum?  Nur weil ich meine Tochter nicht zu Weihnachten besucht hätte.  Was nimmt sich der denn heraus?  Was?  Ich sei eine Rabenmutter?  Muß ich mir so etwas bieten lassen?
     „Nein“, versuchte der Alte von der Halbinsel die Wogen zu glätten, „so ein Angebot tät’ ich auch nicht –“
     „Was weiß der denn überhaupt von meiner Gesundheit?  Was?  Wie?“ blieb die Besucherin in Fahrt.  „Wie beschwerlich das Reisen im Winter ist.  Verschlossene Toiletten in den Zügen, Lärm, Gedränge, das Gehetze zum andern Bahnsteig.  Und überhaupt: Was wäre, wenn ich mir das alles so zu Herzen nähme und mir was antäte?  Sagt selbst: Ist so einer in der Gemeinde noch tragbar?  Dem müßte doch das Betreten der Kirche verboten –“
     „Du willst mir die Kirche verbieten?“ tat der Alte erstaunt.
     „Euch doch nicht –“
     „Aber wenn ich jenen Bruder richte und hinrichte“, dachte der Alte laut, „und das in seiner Abwesenheit, bin ich dann besser?  Bin ich dann nicht auch ein ungerechter Richter und Henker, also unchristlich?
     „Nein, Ihr doch nicht“, sortierte Donna Simpelmann.  „Ich mein’ doch diesen Kerl.  Meine Nachbarin hat mir geraten, ich sollt’ gar nicht mehr in die Kirche gehen, solange DER da ist.  DER oder –“
     „Und deine Nachbarin urteilt recht?“ verneinte der Alte.
     „Ja“, hatte die Besucherin keinerlei Bedenken, „sie kommt ja schon lange nicht mehr in die Kirche –“
     „Kennt also die Zu- und Umstände erst recht nicht“, ergänzte der Alte.  „Es ist schon sonderbar: Diejenigen, die fortbleiben, richten ungerecht, und diejenigen, die übriggeblieben sind, auch, und der Teufel lacht sich ins Fäustchen“, und er begann zu erzählen:
     Daß die Menschen immer noch Länge mit Größe verwechseln!  Es wär’ einmal ein König, der hieß Rauschebart.  Der überragte alle in seinem Lande um Haupteslänge.  Und damit seine Untertanen diesen Unterschied Tag und Nacht vor Augen hätten, ließ er alle Längenmaße auf einen Königeter umstellen.  Tscha, du ahnst es wahrscheinlich schon: Ein Königeter entsprach genau der Körperlänge Rauschebarts.  Die Folge?  Selbst wer bisher im Lande 6 Zoll oder 2 Meter groß gewesen war, galt von nun an als unter einem Königeter klein.  Kein Wunder, wenn da Rauschebart zu keinem Menschen mehr aufschauen konnte, sondern jeden in seinem Volk verachtete.  Und hast du nur noch diese eine Perspektive auf die Menschen, dann siehst du nicht mehr ihre Stärken und was sie gut können, sondern gewahrst nur noch ihre Fehler und was sie nicht gut machen.
     Die Folgen?  Die Menschen werden unsicher und machen dann erst recht Fehler.  Auch ist diese Perspektive eine höchst ansteckende Augenkrankheit, und jeder verachtet seinen Nächsten ebenso, sofern der etwas kleiner ist (obwohl’s eigentlich heißen müßte: kürzer).  Und schließlich resignieren alle nach der Melodie: Wir können’s ohnehin nicht recht machen, also machen wir am besten gar nichts.  Und wer einen schöpferischen Geist hat, kann allenfalls auswandern.
     So etwas konnte auf die Dauer nicht gutgehen.  Rauschebart überwarf sich mit seinem Volk und suchte sich ein anderes.  Das war gar nicht so schwer;  denn wer nicht zu übersehen ist und sehr selbstsicher auftritt, der findet schnell Menschen, die ihn als neuen Herrscher mit offenen Armen aufnehmen.  Allein – diese Arme sanken bald, da Rauschebart auch hier den Königeter einführte und sich wie ein Gott verehren ließ.
     Doch auch hier entschied sich dieser Gott bald, sein Volk zu verwerfen und sich ein neues zu suchen.  Wieder fand er bald eins, und wieder dauerte es nicht lange, daß er auch dieses Volk verwerfen wollte.
     Als aber Rauschebart gerade auf seinem Thron saß und seinen Abgang vorbereitete, da öffnete sich mit einem Mal die Türe, und eine junge Frau trat ein.  Was für eine Erscheinung!  Sie war mährsächlich noch größer (also: länger) denn der bisherige König.  Tscha, der bisherige!  Denn Michaela ging stracks zu Rauschebart, nahm ihm die Krone ab, setzte sie sich selber aufs Haupt und schubste den Entkrönten einfach vom Thron, um diesen selber einzunehmen.  Und ehe sich’s Rauschebart versah, war’s auch schon geschehen.
     Als 1. Amtshandlung ließ die neue Königin den Königeter durch den Königinter ersetzen, so daß sich künftig sogar Rauschebart nicht mehr als ganze Portion ansehen konnte.  Nun erlebte er selber, was es bedeutet, wenn du dich als minderwertig fühlen mußt.  Ihm unterliefen Fehler, er wurde getadelt, er wurde unsicherer und machte neue Fehler.  Froh kannst du dabei nicht werden.  Immerhin hatte er aber den Trost, daß andere noch mehr Fehler machten, was dann er glaubte tadeln zu müssen.  Du siehst also: Selbst wenn ein ungerechter Richter ebenfalls gerichtet wird, bessert ihn das überhaupt nicht.
     Und dennoch kam ein Frühling.  Die Obstbäume zogen ihre Hochzeitskleider an, die Wälder ihre Hoffnungsgewänder, und in den Lüften jubelten die Lerchen, weil sie eine noch höhere Warte hatten.  Und – wenn Rauschebart im Thronsaal vorsprechen wollte, ward ihm immer häufiger gesagt, Ihro Majestät seien außer Haus.  Wohin sie wohl gereist war?
     Bekanntlich sind nicht nur Frauen neu-, also wißbegierig, Männer können so etwas auch.  Aber Rauschebart mochte an den Landstraßen Ausschau halten, soviel er wollte, weit und breit war keine königliche Kutsche zu sehen.  Wenn er aber zuweilen über den Marktplatz ging, fiel ihm mehr und mehr eine Gestalt ins Auge, die ganz in Lumpen gehüllt war und auf dem Pflaster kauerte.
     Eines Abends führte der Weg Rauschebart wieder über den Marktplatz, als ein großer Lärm ausbrach.  Keifende Weiber und schimpfende Grobiane fielen gerade über jene Bettlerin her, um diese durch Zausen und Zerren davonzujagen;  denn wo viel gerichtet wird, haben es die Armen ganz besonders schwer.  Ohne sich mit Fleisch oder Blut zu besprechen, ging Rauschebart sogleich dazwischen und ermöglichte es der armen Frau, sich vor weiteren Übergriffen in Sicherheit zu bringen.
     Wie groß aber war Rauschebarts Erstaunen, als er am andern Morgen den Thronsaal betrat und auf dem Thron eine Königin gewahrte, deren Gesicht an Farbreichtum beträchtlich zugenommen hatte, was selbst etliche Pflaster und Bandagen nicht verbergen konnten.  War etwa Michaela jene Bettlerin –
     „Sei es, wie es sei“, konnte sich Donna Simpelmann nicht länger zurückhalten, „ich weiß noch immer nicht, was mir Eure Geschichte sagen soll.
     „Nichts!“ rieb sich der Alte sogleich an seinem Reizwort.  „Nichts soll sie sagen.  Michaela aber sagte dem Rauschebart, wie es kam, daß der Frühling eingezogen war.  Und sie ließ den Königinter durch einen Kindter ersetzen, mit dem selbst der Kleinste künftig für voll genommen wurde.  Und Königin und König gingen seither beide täglich unter das Volk, um zu erforschen, wie’s sich mit den Worten jenes Weisen verhielte: „Alle Werke des HERRN sind sehr gut.  Denn er hat ein jegliches geschaffen, daß es zu etwas dienen kann.
     Ob Donna Simpelmann das noch gehört hat?  Sie wird’s wohl nicht anders gemacht haben als du.
© Stiftung Stückwerken, *5.-6.6.2020, freigegeben am 21.2.2024
Qouz-Note 1

 


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MamM 1.071  Das Reich Ellenbogen

„Ich hab’ Euch am letzten Sonntag gar nicht in der Kirche gesehen“, ließ Donna Dringeldrang Frage und Vorwurf mitklingen.
     „Dann hätte ich einem andern den Platz weggenommen“, rechtfertige sich der Alte von der Halbinsel.
     „Ph“, ließ es die Besucherin nicht gelten, „wenn es Euch was wert gewesen wäre, hättet Ihr Euch gewiß frühzeitig angemeldet.  –“
     „Und das wäre christlich gewesen?“ verneinte der Alte.
     „Ins Reich Gottes dringt jedermann mit Gewalt hinein“, war Donna Dringeldrang um eine Antwort nicht verlegen.  „So steht’s geschrieben, und so könnt Ihr’s da in Eurem Buch nachlesen.
     „Jedermann!“ griff’s der Alte gerne auf.  „Aber in der Umbauzeit unserer Kirche kann eben nicht jedermann eindringen.  Deshalb gab’s ja dieses Anmeldeverfahren.  Ursprünglich hatte der Bischof ja angeordnet: Übersteigt die Zahl der Anmeldungen die Zahl der Plätze, dann wird die Kirche eben am Sonntagnachmittag ein 2. Mal geöffnet.  Aber so etwas war unserem Herrn Pfarrer anscheinend zu zeitaufwendig;  denn er hat das Anmeldeverfahren einfach abgekürzt.  Alle Plätze seien vergeben, ließ er uns wissen, und zusätzliche Stühle dürften nicht aufgestellt werden.  Und diese Anweisung des Bischofs erfülle er gerne.
     „Aber mit solch einer Einstellung“, folgerte die Besucherin, „werdet Ihr in der Umbauzeit anscheinend ja überhaupt nicht zur Kirche –“
     „Und mit mir noch etliche andere“, ergänzte der Alte etwas unhöflich.
     „Aber nicht die Starken und Gerechten“, war sich Donna Dringeldrang sicher.  „Wir, die Erstlinge, werden schon Wege finden und immer die ersten –“
     „Meinetwegen“, wollte sich der Alte damit nicht aufhalten, „aber auf Kosten der Schwachen?  Nee, noch einmal: Christlich ist das nicht.  Und in den Himmel dieser ersten und Gerechten will ich bestimmt nicht“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein König, der hieß Gernot, und dieser herrschte über das Reich Ellenbogen.  Wie das aber zu seinem Namen gekommen ist, weiß ich nicht zu sagen.  Jedenfalls war es ein reiches Land, wenn du den Reiseführern und Reiseschriftstellern Glauben schenken willst.  Das königliche Schloß zierten viele Türme, um den großen Marktplatz der Residenzstadt drängten sich prächtige Paläste, und vornehme Damen ließen sich im offenen Wagen kutschieren und waren geschmückt und behangen, als wären sie ein Weihnachtsbaum kurz vor der Bescherung.
     Freilich – wo viel blendender Schein, da auch viel verbergender Schatten;  und über diesen berichteten die Reiseführer und Reiseschriftsteller nichts.  Es gab also auch viele Arme, und mit ihnen trieb der König täglich seinen besonderen Spaß.  Er pflegte nämlich sich jeden Abend auf den Marktplatz fahren zu lassen und warf dann kleine Brote aus dem Fenster seiner Kutsche.  Sogleich kamen die Armen herbeigelaufen und balgten sich um die Brote;  denn der König warf stets so wenige Brote hinaus, daß niemals jeder mindestens eins ergattern konnte.  Ei, war das dann ein Schlagen und Kratzen, und es verging kein Abend, an dem nicht jemand ins Spital hätte gebracht werden müssen.  Hätte!  Denn kein Armer hatte soviel Geld, sich einen Arzt oder gar einen Spitalaufenthalt leisten zu können.  Und der eigentliche Urheber dieser Verwundungen, der König, hätte für so etwas niemals seine Geldkatze gezückt.
     Nun darfst du aber nicht denken, daß es vor allem die starken Männer waren, die sich Abend für Abend ihr Brot erfolgreich erkämpften.  Nein, es waren diejenigen, die am wenigsten Rücksicht nahmen auf ihre Mitmenschen.  Und wer nicht viel Kraft hatte, der hatte immer noch genug davon, um mit seinen Fingernägeln zu kratzen oder mit seinen Zähnen zu beißen oder gar mit spitzen Gegenständen zu stechen.  Ja, mancher besann sich sogar auf des Reiches Namen, umgab seine Ellenbogen mit spitzen Eisendornen und bahnte sich damit seinen Weg.
     So wäre es weitergegangen, bis der Brutalste als letzter übriggeblieben wäre;  aber da tauchte plötzlich ein junges Mädchen auf, und vieles wurde anders.  Wanda redete nämlich den Armen ins Gewissen, dem König künftig kein häßliches Schauspiel mehr zu bieten, sondern seine kärglichen Brosamen auszuschlagen.
     Aber dann werde er doch die Lust daran verlieren, wurde Wanda entgegengehalten, und überhaupt nicht mehr kommen, und dann täten sogar alle Armen darben.
     Das Mädchen aber ließ sich nicht beirren, sondern fragte die Armen, ob jemand unter ihnen noch Essensvorräte hätte.  Und siehe da, einer hatte noch ein Stück Brot übrigbehalten.  Das gab er zögernd dem Mädchen, das ein kleines Tischgebet sprach, als wär’s zu Hause in der Küche, dann brach es das Brot und teilte aus, und alle wurden so satt, daß niemand mehr auf den Marktplatz gehen mußte.  Ja, es blieb sogar noch etwas übrig.
     Dennoch wurden natürlich die Befürchtungen der Armen bestätigt.  Denn nachdem der König an 3 Abenden vergeblich erschienen war, blieb er hinfort auf seinem Schloß und grollte über die – seiner Ansicht nach – undankbaren Armen.  Aber die Armen mußten trotzdem nicht verhungern;  denn da immer jemand unter ihnen etwas abgeben konnte und auch wollte, erhielten alle genug zu essen.
     Das sah bei dem König jedoch ganz anders aus.  Sein Tisch war zwar reich gedeckt, aber wer auch immer sich an dieser Tafel niederließ, bekam – wie der König – das Strecken.  Das bedeutete: Er konnte keinen Arm mehr beugen und mit der Hand sich einen Bissen zum Munde führen.  Ja, er konnte noch nicht einmal seinen Körper über den Tisch beugen und wie ein Hund schlecken.  Da hätte doch wenigstens einer den andern füttern können, wirst du vorschlagen.  Richtig!  Nur dazu war niemand bereit, erst recht nicht der König.
     Also wurde der König schwach und schwächer;  und wenn ein grausamer König schwach wird, dann findet sich immer jemand, der ihn vom Thron schubst und davonjagt.  Und so kam es, daß bald auch Gernot unter den Armen unten in der Residenzstadt landete.
     „Geschieht ihm ganz recht!“ konnte sich Donna Dringeldrang nicht länger zurückhalten.  „Hoffentlich ist er auch bald verhungert.  Ich hätte ihm nämlich nichts –“
     „Wird durch rächende Strafe irgend etwas besser?“ verneinte der Alte.  „Neues Leben gedeiht nur, wenn du dessen Keime nährst und pflegst.  Der König war sich jedenfalls nicht zu schade, an Wandas Speisungen teilzunehmen.  Irgendwann dankte er sogar dafür, und endlich kam der Abend, da er zum 1. Mal an andere abgab.  Und dabei erlebte er eine solche Freude, daß er danach trachtete, es oft zu wiederholen.  Oben auf dem Schloß regierten indessen Argwohn und Brutalität und forderten ihre Opfer.  Allein – irgendwann bekam der jeweilige Herrscher auch das Strecken, und das mit allen, die an seiner Tafel saßen;  und irgendwann landete auch er unten bei den Armen.  Und das geht so weiter, bis die Menschen von ihrer Habgier und Rücksichtslosigkeit genesen sind und niemand mehr herrschen will, sondern eins dem andern dient.
     Doch Donna Dringeldrang hatte dieses Ende nicht mehr abwarten wollen, sondern war gegangen.
© Stiftung Stückwerken, *12.6.2020, freigegeben am 22.2.2024
Qouz-Note 4

 


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MamM 1.072  Madig

„Inzwischen machen die wohl bereits den letzten Halunken zum Bischof!“ empörte sich Donna Bierlachs.
     „Den letzten?“ griff der Alte von der Halbinsel auf.  „Sei doch froh;  dann kommt wenigstens keiner mehr nach –“
     „Seine Schwester wird drüben von der Polizei gesucht“, blieb die Besucherin in Fahrt, „und er selbst hat Geld bei der –“
     „Daß du das so genau weißt!“ staunte der Alte.
     „Das weiß doch jeder –“
     „Ich nicht!“ schämte sich der Alte nicht, zuzugeben.  „Ich hab’ zwar gehört, –“
     „Eben!“ fühlte sich Donna Bierlachs bestätigt.  „Also wißt Ihr es auch, –“
     „Nein“, widersprach der Alte.  „Ich müßte doch auch die Gegenseite hören: den neuen Bischof, dessen –“
     „Die werden sich hüten, etwas zuzugeben!“ war sich die Besucherin sicher.  „Nee, nee, das alles hat ein Geschmäckle, wie sie drüben –“
     „Wenn du ins Essen Maden einsäst, bestimmt“, schien der Alte nicht widersprechen zu wollen.  „Und wenn alles stimmte, wieso wird die Möglichkeit vollständig ausgeschlossen, daß auch sie inzwischen ihr Damaskus gehabt haben?  Wenn ich’s recht verstanden habe, ist das ganze bereits über 20 Jahre –“
     „Ein fauler Baum bleibt faul“, beharrte Donna Bierlachs, „sonst hätte unser Heiland jenen Feigenbaum nicht –“
     „Tscha, das ist eine Begebenheit, die ich auch noch nicht verstehe“, machte es den Alten keineswegs froh, „aber dann denk’ ich lieber an jenen Mann am Kreuz oder an jene Sünderin oder an Saulus von Tarsus und wähle sie zu Sternen meines –“
     „Aber davon berichtet nur jener Lukas“, hielt die Besucherin dagegen.
     „Tscha“, begann der Alte zu schmunzeln, „Lukas war eben weder Theologe noch Richter, sondern Arzt!“  Und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein König, der hieß Lebewitz.  Mmh, wie sag’ ich’s?  Also, wer die Welt der Märchen nur am Rande besucht, der könnte denken, dort gäbe es nur gute Feen.  Allein – woher käme dann das Böse?  Diese Frage war auch bei Lebewitz berechtigt, und von ihm kam dieses Böse jedenfalls nicht!  Dazu stehe ich, – wenn auch sein Volk mehr und mehr anderer Meinung wurde.  So sind nun mal die Menschen, wenn sie nicht Ärztin oder Arzt werden wollen.
     Über dem Außenportal des königlichen Schlosses war nämlich ein großes Wappen angebracht.  Und dieses Wappen wurde plötzlich von Maden überfallen.  Wissenschaftlich läßt sich das natürlich nicht erklären;  denn bei Maden denken die Gelehrten eher an Obst und Speck denn an Holz oder –
     Ja, das hab’ ich noch gar nicht erzählt: Die Maden begnügten sich nicht mit dem Wappen über dem Schloßportal, nein, sie fraßen auch in die Wappen auf Fahnen, Servietten, Siegeln – eben überall!  Freilich – nur in das königliche Wappen;  und nur in die Lilien!
     Wie gesagt, ich glaub’ nicht, daß Lebewitz was dafür konnte, sondern vermute eine böse Fee dahinter.  Aber – immer mehr Bürgerinnen und Bürger gaben vor, etwas zu wittern.
     Da sei etwas faul im Reiche Lebewitz, sagten sie, denn sonst täten’s die Maden nicht fressen.  Und da sie selber als das Volk nicht faul sein könnten, müßte es folgerichtig der König sein, bei dem was faul sei.
     Und Lebewitz konnte nun reden und machen, was er wollte, immer wurde es ihm übel ausgelegt.  Manche sprachen sogar von einem Zeichen Gottes, und so kam’s, daß nicht nur das Wappen des Königs madig war, sondern dessen ganzes Regieren zerfressen wurde.
     Tscha, was machst du, wenn du deinen Aufgaben nicht mehr nachkommen kannst?  Du könntest dich ändern, aber was hilft das?  Die Maden hängen dir immer an.  Du könntest versuchen, die Maden auszurotten, aber es sind ihrer zu viele.  Lebewitz entschied sich dafür, fortzugehen.  Wollte er sich etwa etwas antun?  Wem hätte das geholfen?  Als Toter kannst du dich nicht mehr wehren, noch nicht einmal im Mährchen.
     Etwa 3 Jahre später geschah Merkwürdiges in jenem Lande.  Ein Landstreicher zog von Markt zu Markt und – wurde nirgendwo davongejagt!  Argwöhnisch gemustert wurde er schon von jeder Torwache: abgelaufene Absätze, Hose, Jacke und Hemd fleckig und nach Emmentaler Mode, – das machte schon verdächtig.  Aber dann das Gesicht!  Nun ja, bärtig war’s schon, und normalerweise soll ja ein Bart Ernst und Würde verleihen.  Doch das Gesicht dieses Vagabunden war wie ein ansteckendes Lachen;  und daß so etwas in jeder Stadt viel zu selten ist, das weiß sogar jede Torwache.
     Der Fremde durfte also hinein, mußte sich aber unterschreiben, der Stadtkasse niemals zur Last zu fallen, niemanden anzubetteln und sich nur von eigenem Vermögen und Einkommen zu ernähren, ohne irgendeinem Einheimischen Arbeit und Brot wegzunehmen.  Das genügte, und kein Torwächter machte sich die Mühe, den Landstreicher nach Waffen, Einbruchswerkzeugen oder sonstigen schädlichen Dingen zu durchsuchen.  Noch nicht einmal den Rucksack, den der Fremde auf dem Rücken trug.  Obwohl – na, du wirst noch sehen!
     Da der Fremde stets frühmorgens mit den ersten Marktleuten kam, machte sich niemand unnütze Gedanken darüber, daß er mit diesen, also den Marktleuten, zum Marktplatz strebte.  Dort setzte er seinen Rucksack ab, packte aus, setzte zusammen, und mit einem Mal wehten heimelige Leierkastenklänge über den Markt.
     Das war natürlich etwas für die Alten, denn die kannten so was noch von früher;  das war aber auch etwas für die Kinder, denn die kannten so etwas überhaupt noch nicht.
     Und wenn genügend Kinder herbeigestürmt waren, dann zeigte es sich, daß der Rucksack sogar bewohnt war.  Denn heraus spazierte ein lustiger Affe aus Stoff.  Aber den Kindern kam’s vor, als wäre er lebendig;  denn Fips
     „Könnt Ihr mir mal verraten“, wußte sich Donna Bierlachs nicht länger zurückzuhalten, „was Euer Märchen mit unserem Bischof zu tun hat?
     „Nee“, lachte der Alte, „ein Verräter bin ich nicht.  Jedenfalls mußte jener Leierkastenmann nie darben.  Und eines Tages gelangte er sogar in die Hauptstadt jenes Landes.  Auch dort durfte er das Tor ungehindert passieren, seinen Leierkasten aufbauen und mit Fips herumalbern, als sei der für ihn lebendig.  Und als die Leierkastenklänge über den Marktplatz wehten, geschah etwas Sonderbares.  Auf allen königlich-Lebewitzer Wappen lebten die Lilien wieder auf, die doch vordem von den Maden so arg zerfressen worden waren.  Freilich – das fiel zunächst nur dem Hofarchivar auf, denn die schäbigen Wappen waren alle in die Rumpelkammer gewandert.  Doch nun wanderten sie wieder –“
     Aber da fiel dem Alten auf, daß er inzwischen allein war.
© Stiftung Stückwerken, *18.6.2020, freigegeben am 24.2.2024
Qouz-Note 2

 


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MamM 1.073  König Basta

„Also, der hat mich ganz aus dem Takt gebracht!“ beschwerte sich Donna Regelein.
     „So?“ blieb der Alte von der Halbinsel nicht teilnahmslos.
     „Und nicht nur mich“, täuschte die Besucherin Wertschätzung für die Belange anderer vor, „sondern eigentlich die ganze Gemeinde.
     „Was du nicht sagst!“ nährte der Alte spärlich, aber dennoch und mit etwas Hintersinn.
     „Betet der doch einfach im Vaterunser: Dein Reich komme bald!“ blieb Donna Regelein entrüstet und doch nicht pazifistisch.  „Und das laut!  Jedenfalls – daß es auch andere hören –“
     „Wenn das aber so sein Wunsch ist“, wagte der Alte zu verteidigen.
     „Dann kann er’s meinetwegen im stillen beten oder zu Hause“, wollte sich die Besucherin nicht für zu streng geben, „aber nicht als Störenfried der göttlichen Ordnung!
     „Göttliche Ordnung?“ zweifelte der Alte.  „Ich weiß gar nicht, wie viele Fassungen des Vaterunsers ich kenne.  Mehr als 3 werden’s bestimmt –“
     „Aber in jeder Kirche einheitlich –“
     „– bis zur nächsten Änderung“, rutschte es dem Alten heraus, „weil sich irgendein Gremium zu einer noch höheren Erkenntnis verstiegen –“
     „Ihr steht da aber nicht in der göttlichen Nachfolge –“
     „– zumindest kirchlichen Nachfolge?“ nahm’s der Alte dennoch heiter.  „Ich geb’ ja zu, daß es nicht christlich ist, andern ein Ärgernis zu bereiten, –“
     „Und nicht in der Nachfolge zu stehen!“ griff’s Donna Regelein erneut auf.
     „Stehen?“ konnte es der Alte nicht lassen, Nachgeplappertes in Frage zu stellen.  „Und ich bin durchaus auch ein Freund des Gleichnisses vom guten Hirten.  Aber dann müssen wir auch so konsequent sein und zugeben, daß Schafe keine Gänse sind“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein König, der hatte einen Sohn, und dieser Sohn wurde Basta genannt.  Vermutlich war er im Januar geboren und auf den Namen Sebastian getauft worden.  Aber wie Kinder nun mal sind, manchmal auch Eltern, war aus dem Taufnamen sehr schnell die Kurzform geschlüpft und zum Kuckucksvogel herangewachsen.  Tscha, und wenn du ein Kronprinz bist und von Kindesbeinen an Zofen und Diener hast, dann kann solch ein Name sehr schnell zu einem Herrschaftsprinzip werden.
     Erst recht, wenn du volljährig geworden bist und dein Vater zu deinen Gunsten abdankt.  Eben wie bei unserm Basta.  Der schien mährsächlich zu glauben, alle seine Bürgerinnen und Bürger seien Gänseküken und hätte in Reih’ und Glied hinterherzumarschieren.  Da gab es kein Sowohl-Als-auch, sondern nur ein Entweder-Oder.
     Entweder du trägst einen Zopf, oder du wirst öffentlich gerügt und  – bei beharrlicher Verweigerung – des Landes verwiesen.  Basta!  Als Mann!  Daß es Unterschiede zwischen Weiblein und Männlein gibt, war auch dem neuen König nicht verborgen geblieben.  Aber da er noch keine Eheliebste gefunden hatte, schob er eine Frisurverordnung für den weiblichen Teil seines Volkes auf die Zeit nach seiner Hochzeit, also Bastas Hochzeit, auf.
     Für alle seine Untertanen aber galt ein absolutes Verbot, Wildfleisch zu genießen.  Basta!  Angeblich sei Basta noch als Kronprinz nach dem Genuß eines Rehrückens übel geworden, und deshalb hielt er es bereits kurz nach seiner Thronbesteigung für seine fürsorgliche Pflicht, sein Volk vor solchen unguten Erfahrungen zu bewahren.
     Sehr zum Leidwesen der Bauern, Jäger und Forstbesitzer.  Und als sich Basta auch noch herausnahm, von einflußreichen Menschen höhere Steuern zu verlangen, war der Bogen überspannt.  Der König durfte fortan nur noch weiterregieren, wenn er sogenannten Volksvertretern gewisse Rechte einräumte.  Zunächst Auskunftsrechte, Vorschlagsrechte, Anhörungsrechte;  als aber der König auch noch auf sein Vetorecht verzichten sollte, gab es großen Streit und Ärger.  Wer sein Leben lang eine Sonne war, um die sich alles drehte und nach der sich alles ausrichtete, kann nicht von heute auf morgen mit seinen bisherigen Planeten die Rolle tauschen.
     Tscha, was willst du als König machen, wenn sich die reichen Bürger weigern, Steuern zu zahlen?  Sie vor den Richter ziehen?  Womit werden Richter bezahlt?  Sie von der Polizei hinter Schloß und Riegel bringen?  Womit werden Polizisten bezahlt?  Gar die Armee einsetzen?  Womit werden Soldaten bezahlt?  Basta war also erpreßbar geworden, und das vertrug sich nicht mit seinem Wesen.  Die einflußreichen Kreise seines Landes mußten ihn noch nicht einmal absetzen, sie brauchten nur zu warten;  denn ein Basta ist nun mal ein Heißsporn.
     Wieder einmal konnte sich Basta nicht durchsetzen, da platzte ihm der Kragen.
     „Macht euren Dreck alleine!“ rief er laut, während er sich erhob.  Dann stürmte er wütend hinaus, knallte die Tür des Sitzungssaales hinter sich zu, stürmte zum Schloß hinaus, stürmte zur Stadt hinaus und – kam eigentlich erst wieder zur Besinnung, als es vor ihm, neben ihm und hinter ihm laut blökte und er weder vor noch zurück konnte.  Basta war in eine Schafherde geraten!  Die sich aber nicht selbst überlassen war, sondern einen Hirten hatte.  Genauer – und das gewahrte Basta erst, als sie ihn ansprach: eine Schäferin.
     Ob Edeltraut ihn nicht erkannt hatte?  Das glänzende Schuhwerk, die kostbare Kleidung, die sorgfältig frisierten Haare, aus alledem hätte die Schäferin auf einen vornehmen Mann schließen müssen.  Ob ihr das alles etwa gar nicht wichtig war?  Wie hätte sie sich sonst dieses Mannes erbarmen können, der doch in der bisherigen Rangordnung so weit über ihr stand?
     Jedenfalls bewirtete sie ihn mit einem einfachen Abendbrot, überließ ihm ihren Platz im Schäferkarren und bereitete sich selbst ein Nachtlager bei ihren Schafen.
     Einen geruhsamen Schlaf hatte Basta in dieser Nacht nicht.  Wie konnte es mit ihm weitergehen?  Zurück auf sein Schloß wollte er nicht.  Aber wovon konnte er leben?  Denn Geld hatte er bei seinem überstürzten Fortgang keines mitgenommen.
     Diese Fragen konnte ihm die Schäferin am anderen Morgen beantworten.  Sie könne noch jemanden gebrauchen, der den Schäferkarren ziehe, wilde Tiere abwehre und – ja, mit acht auf die Herde gäbe, denn 4 Augen sähen nun mal mehr als –
     „Eben!“ fühlte sich Donna Regelein bestätigt.  „Deshalb ist es in einer Gemeinde wichtig, daß den Abweichlern mal tüchtig der Kopf –“
     „Das war bei Edeltraut eigentlich nicht der Brauch“, konnte der Alte ein Lächeln nicht verbergen.  „Sicher, die Schäferin hatte auch Hunde, welche die Herde zusammenzuhalten hatten;  aber sie ließen den Schafen doch einen weiten Raum, so daß jedes Tier einen eigenen Platz zum Weiden fand.  Auch glich kein Schaf dem andern, und dennoch gehörten sie alle irgendwie zusammen.  und wenn sich eins verirrt hatte, bekümmerten sich die andern Schafe;  und ward es gefunden und wieder zurückgebracht, freuten sich alle.  Ja, Schafe sind keine Gänse!  Und mehr Sowohl-Als-auch täte unserer Gemeinde –“, aber da gewahrte der Alte, daß er inzwischen ein Selbstgespräch führte.
© Stiftung Stückwerken, *26.6.2020, freigegeben am 24.2.2024
Qouz-Note 4+

 


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MamM 1.074  Wider oder für

„Ich weiß nicht“, wurde Donna Kötteldei unbewußt philosophisch, „durch diese Gemeindezusammenlegung sind Menschen zu uns gekommen, also, die sind bei uns nicht richtig.
     „Tscha“, seufzte der Alte von der Halbinsel, „sie sind halt heimatlos –“
     „Aber es ist doch immer noch die gleiche Kirche!“ ließ es die Besucherin nicht gelten.  „Da gilt’s, fein demütig und sanftmütig zu sein und vor allem: sich eines rechtschaffenen Wandels zu befleißigen!
     „Wir sind allzumal Sünder –“
     „Papperlapapp!“ fuhr Donna Kötteldei dazwischen.  „Das ist eine faule Ausrede!  Ein Mindestmaß an ehrbarem Wandel ist doch wohl von einem jeden zu erwarten, der zu uns –“
     „Wenn du gerne enttäuscht werden willst –“, ließ sich der Alte seinen Pessimismus nicht ausreden.
     „Also, was ich da so von einigen gehört habe“, blieb die Besucherin in Fahrt, „das ist nicht zu fassen.  Von solchen heißt es schon in Eurem Buch da, daß sie aus der Gemeinde geworfen werden sollen –“
     „Sollen?“ rieb sich der Alte mal wieder an seinem Reizwort.  „Das steht da bestimmt nicht so –“
     „Und grüßet sie auch nicht!“ ließ sich Donna Kötteldei nicht bremsen.  „Auf daß ihr nicht teilhaftig werdet ihrer bösen Werke.  Jedenfalls gebe ich denen nicht mehr die Hand, da können sie mir ihre Rechte hinhalten, solange sie –“
     „Und was wird dadurch besser?“ fragte der Alte verneinend.  „Wird’s so in einer Gemeinde wärmer?
     „Wenn solche nicht mehr kommen, gewiß!“ war sich die Besucherin sicher.  „Unkraut muß gejätet werden, sonst verdirbt’s die ganze Ernte!
     „Das sehe ich anders“, entgegnete der Alte und begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein König, der hieß Sauerknörz.  Na ja, seine Mutter wird ihn wohl anders gerufen haben, und Zofen und Diener werden ihn mit „Königliche Hoheit“ angesprochen haben;  aber spätestens seit seiner Thronbesteigung nannte ihn das Volk so, – selbstverständlich hinter des Königs Rücken.  Und wenn solch ein Name erst einmal im Umlauf ist, dann greifen ihn irgendwann auch die Geschichtsschreiber auf;  also, das hätte alles noch böse enden können!
     Freilich – einzigartig war dieser Name schon.  Und berechtigt!  Denn der König hatte eigentlich mit jedem Menschen Streit!  Was aber keineswegs die Folgerung auf einen boshaften Charakter zuläßt.  Eigentlich wollte der König nur das Gute, aber er verhielt sich dabei wie ein törichter Lotse, der in der Hafenzufahrt sämtliche Untiefen aufspüren will, anstatt sich auf die Fahrrinne zu konzentrieren.
     Wen kümmert’s, ob eine Opernsängerin beim Essen schmatzt, Hauptsache, sie hat eine schöne Stimme, weiß sie passend zu variieren und singt verständlich;  oder?  Sauerknörz aber kümmerte das sehr wohl, er machte öffentlich Vorhaltungen und bewirkte, daß die Diva beleidig abzog und ihre Zelte in anderen Ländern aufschlug.
     Wen kümmert’s, wenn ein Pfarrer nichts von Geometrie und fremdsprachiger Literatur versteht, Hauptsache, er liebt seine Gemeinde, besucht die Kranken und Alten und bemüht sich, so zu leben, wie er predigt?  Sauerknörz kümmerte das sehr wohl;  und wenn jemand um ein Pfarramt kandidierte, dann ließ sich der König auch das Abiturzeugnis vorlegen, achtete auf ausgezeichnete Noten in den Hauptfächern und bevorzugte Anwärter mit Doktortitel.  Und wenn ein Pfarrer in der Grammatik nicht recht bewandert war, dann schickte ihn der König auf Wanderschaft über die Grenze, mochte der Bischof noch so sehr für jenen eintreten.
     Ja, wen kümmert’s, ob ein Buchhalter als Steckenpferd der Schürzenjägerei nachgeht, Hauptsache, er ist in seiner Arbeit gewissenhaft, kann gut rechnen und läßt sich nicht zum Spiele, zur Trunksucht oder zur Schwatzhaftigkeit verleiten?  Sauerknörz kümmerte das sehr wohl;  und wenn einer in der königlichen Kanzlei dem schönen Geschlecht nachschielte und darüber vom König ertappt wurde, dann durfte jener sich einen neuen Arbeitsbereich suchen – im Ausland.
     Tscha, und dann kam jener denkwürdige Tag, an dem Sauerknörz die höchsten Würdenträger seines Reiches an seine Tafel lud.  Sie kamen auch alle, denn des Königs Einladung war eher eine Vorladung, und nur wer dieser nachkam, hatte wenigstens die Chance, sich zu verteidigen.  Und die Tafel ward gedeckt mit den vortrefflichsten Speisen, und die Stühle wurden gestellt.  Doch kaum war das Tischgebet gesprochen, kaum hatten sich die Gäste und der König gesetzt, da ward wie von unsichtbarer Hand das Tischtuch zerschnitten zwischen den Geladenen und dem Gastgeber.  Voller Entsetzen sprangen die Gäste auf, stürmten aus dem Speisesaal und aus dem Schloß und ließen einen König zurück, der Gott und die Welt nicht mehr verstand.  Schließlich verlor auch Sauerknörz den Kopf und eilte von dannen.
     Wenn du was verloren hast, siehst du mit anderen Augen und – kannst Neues finden.  Sauerknörz fand zunächst einmal sich.  Nämlich im Wald und vor einer Tafel.  Und auf dieser Tafel fand er das Bild einer wunderschönen Prinzessin, die ihn mit ihren blauen Augen derart anblickte, als öffne sie damit sein Herz.  Und unter dem Bild stand der Aufruf, wer unbescholten und edel sei, der könne um ihre Hand anhalten;  und den wolle sie erhören, der ihr den schönsten Garten gestalte.  Tscha, und dann fand der König noch Troll.  Wer Troll ist?  Na ja, ein Eichhörnchen, von dem die Erwachsenen behaupten, es sei nicht echt, sondern nur ein Spielzeug.  Zum Glück fühlen’s die Kinder besser, – solange sie noch nicht erwachsen sind!  Jedenfalls maß Troll noch nicht einmal eine Handspanne.
     Und als er mit der Tageszeit grüßte, da dankte es Sauerknörz verächtlich mit der Frage: „Was willst du denn, kleiner Knirps?
     „Daß du der Prinzessin Eheliebster wirst“, brauchte das Eichhörnchen nicht lange zu überlegen.  „Also auf, und sieh zu, daß du ein Stück Land pachtest und es in den schönsten Garten verwandelst!
     Tscha, aber ohne Geld kannst du keinen Garten pachten.  Jedoch – wenn du alle Kräfte für etwas einsetzt, dann brauchst du sie nicht mehr gegen anderes zu vergeuden.  Und wenn du dabei noch einen guten Freund hast, –
     „Also, das ist doch wohl das Letzte!“ konnte sich Donna Kötteldei nicht länger zurückhalten.  „Heilige Dinge, wie eine Gemeinde, mit Stofftieren zu vermengen!
     „Einem Stofftier!“ stellte der Alte lachend richtig.  „Ich halt’s eben für ehrlicher, Wahrheiten in ein Mährchen zu kleiden, denn Märchen in Wahrheiten.  Jedenfalls war Troll ein wahrer Segen und fand genügend Schätze, um Land zu pachten, sogar in Sichtweite des Schlosses jener Prinzessin.  Und dann ging’s ans Umgraben, Pflanzen, Gießen und Pflegen.  Und wenn Sauerknörz mal wieder alles bekämpfen wollte, vor allem das Unkraut, dann mahnte Troll dazu, das Unkraut locke doch mehr Bienen an und lenke die Vögel ab;  der König möge sich lieber um seine Pflanzen kümmern.  Selbst Wühlmäuse und Schnecken wurden nicht getötet, sondern einfach an die Nachbarn verwiesen.  So konnten sich die beiden Gärtner ganz für ihre Pflanzen einsetzen.  Und als der Herbst kam und die Prinzessin die Gärten begutachtete, da fand –“
     Jedenfalls fand der Alte seine Besucherin nicht mehr bei sich vor, da diese inzwischen das Weite gesucht hatte.
© Stiftung Stückwerken, *2.+4.7.2020, freigegeben am 24.2.2024
Qouz-Note 3

 


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MamM 1.075  Deine treuen Hände

„Ich hab’ mir jetzt dort drüben die Jagd gepachtet“, rechtfertigte Don Kümmerlich sein Steckenpferd, „und wenn dann meine Alte zuviel keift, dann weiß ich wenigstens, wo ich hinkann.
     „Du bist also glücklich verheiratet?“ färbte der Alte von der Halbinsel weder Spott noch Schadenfreude hinein.
     „Oh, ja“, seufzte der Besucher.  „Und wie!  Andere hätten sich schon längst scheiden lassen, aber meine Frau will nicht.  Das gäbe Probleme in der Kirche.  Irgend so ein Gebot: Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht –“
     „Soll –“, rieb sich der Alte mal wieder an seinem Reizwort.  „Niemand soll –“
     „Aber so stehe es doch in der Bibel da“, widersprach Don Kümmerlich und zeigte auf jenes abgegriffene Buch des Alten.
     „Als Lebensregel hat es aber mehr Kraft“, setzte der Alte seine eigene Meinung sogar über die kirchlich autorisierten Worte Jesu: „Du brauchst nicht zu scheiden, was Gott zusammengefügt hat, denn es ist besser –“
     „Ah“, schien dem Besucher ein Licht aufzugehen, „Ihr bringt mich da auf eine Idee: Wenn ich also nachweise, daß uns beide nicht Gott zusammengefügt hat, dann –“
     „Und?“ zweifelte der Alte.  „Könntest du das nachweisen?
     „Eigentlich hab’ ich sie mir ja selber ausgeguckt“, war Don Kümmerlich bereits mitten in seiner Beweisführung.  „Hat mich auch eine ordentliche Stange Geld gekostet!  Ihr kennt das ja: teure Kleidung, prächtige Kutsche, kostspielige Geschenke, Kaffeehausbesuche –  Und stets gab sie mir zu verstehen, ich möge mich tüchtig anstrengen, denn es gäbe noch genügend andere Kandidaten.  Na ja, da hab’ ich halt so tun müssen, als hätte ich viel zu bieten, vor allem ihr ein sorgloses –“
     „Und als sich dieses So-Tun später nicht als ausreichend gedeckt zeigte“, folgerte der Alte, „übernahm deine Frau die Rolle der Alten –“
     „Das ist überhaupt die Idee“, feierte der Besucher den 2. Advent: „Wir haben unsere Ehe nur gespielt!  Somit können wir sie jederzeit –“
     „Dein Beweis ist dennoch nicht hinreichend“, blieb der Alte unerbittlich.  „Wann aber ist eine Ehe nicht von Gott?  Oder positiv: Wann ist es Gott, der zusammenfügt?“  Und er begann zu erzählen:
     Es ist schon eigenartig: Da hören oder sehen wir Mal für Mal etwas in seiner ursprünglichen Fassung, und es bewirkt nichts in uns.  Und dann hören oder sehen wir etwas, was sich von seinem Original entfernt hat, und schon wird es uns zum Senfkorn.
     So auch bei König Johann.  Viele Male hatte er bereits jene Arie aus Gera oder Bayreuth gehört, aber nisten konnte diese in ihm erst, als jemand dem Text seinen privaten Stempel aufdrückte:


Bist du bei mir, geh’ ohne Bangen
durchs Leben ich zu meiner Ruh’
und bin vergnügt, wenn dann am Ende
sanft drücken deine treuen Hände
mir meine müden Augen zu.

 

     Dieser Eingriff war für die gelehrte Welt selbstverständlich ein abscheulicher Frevel, aber – wie bereits angedeutet – Johann fiel’s ins Herz.  Zumal er gerade in dem Alter war, in dem bekanntlich ein Junggeselle im Besitz eines hübschen Vermögens sein dringendstes Bedürfnis entdecke: eine Braut!  Und da es ja eine Frau war, die diese Unterstellung in die Welt gesetzt hat, fand Johann auf Anhieb bereits etliche Evas, die ihn von dieser Frucht vom Baume der Erkenntnis kosten lassen wollten.
     Ganz nach vorne hatte sich zunächst Helenia gedrängt und des Königs Aufmerksamkeit auf sich gezogen.  Schon der wohlriechende Duft, der sich aus ihrer Tobakspfeife verbreitete, versprach Außergewöhnliches, das bereits durch ihre hinreißende Schönheit hinreichend gedeckt schien.  Und als der König sie bat, jene Arie vorzutragen, erfüllte sie diesen Wunsch mit einem schmachtenden Sopran, allerdings zum ursprünglichen Bayreuther Text.  Tscha, und dieses Allerdings ließ den König zaudern, eine gewisse Mindestdistanz zu überwinden.  Helenia aber war temperamentvoll und wollte das Eisen schmieden, solange dieses heiß war.  Also griff sie zu einer in der Damenwelt nicht ganz unbekannten List und tat so, als wolle sie einem anderen Manne ihre Gunst schenken.  Allein – dieses Verhalten reimte sich nicht auf jene Treue, die dem König zum Probierschuh geworden war.
     Also wandte sich Johann von Helenia ab und künftig Prinzessin Huberta zu.  Die hatte nicht nur verlockende Düfte aus ihrer Tobakspfeife zu bieten, sondern auch ein sehr sicheres Auftreten – gegenüber Tieren.  Nun darfst du daraus aber nicht folgern, sie sei eine ausgezeichnete Tierfreundin gewesen und somit auch Menschenfreundin.  Nein, da liegst du nicht richtig und vergißt, daß sie ihre Tiere nicht mit Obst und Feldfrüchten fütterte, sondern mit Fleisch, Milch und Vogeleiern.  Auch sie trug jene Arie sehr hingebungsvoll vor, jedoch in der ursprünglichen Bayreuther Fassung.  Also zauderte der König auch hier und aus Sicht der Prinzessin zu lange.  Deshalb gestand sie ihm kurzerhand ihre Liebe, nur gab sie dabei dem Gegenstand ihres Schmachtens den Namen Robert.  Eigentlich hätte Johann bald dahinterkommen müssen, wer in Wahrheit mit Robert gemeint war, aber wieder reimte sich ihm so etwas nicht mit der Treue, die er suchte.
     Hinfort war Johann davon kuriert, auf solche Frauen zu achten, die sich in den Vordergrund stellten.  Drängt sich denn die Sonne auf?  Dennoch verkroch sich der König nicht in seinem Schloß, sondern ging unter die Leute und hielt Augen und Ohren offen.  Dabei zog es ihn immer wieder zu einer dichten, hohen Hecke, hinter der ein sonderbarer Garten liegen mußte.  Denn war die Sonne noch nicht untergegangen, wehte von dort ein derart ansteckendes Lachen herüber, daß der König sich Gewalt antun mußte, um nicht mitzulachen.  Kinderlachen!  Hatte sich aber der Abendfrieden über die Landschaft ausgebreitet, so wehten von jenem Garten zauberhafte Gitarrenklänge herüber und nisteten sich ein in Herz und Sinn.  Und schaute sich der König dann verstohlen um, dann gewahrte er, daß er nicht der einzige Zuhörer war.  Dem König ließ es keine Ruhe: Er mußte herausfinden, wer da in jenem Garten sein Wesen hatte.  Es sei eine übelbeleumdete Weibsperson, die dort hause, erfuhr der König.  Samaría heiße sie und sei ursprünglich Schauspielerin von Beruf.  Tagsüber kümmere sie sich um einige Kinder von armen Tagelöhnern und Mägden und spiele ihnen lustige Geschichten vor, die sie vermutlich selbst ersonnen habe.  Abends aber habe schon manche Hausfrau deren Hausherrn dabei ertappt, wie der habe über die Hecke steigen wollen.  Was daraus auf den liederlichen Lebenswandel von Samaría zu schließen sei, bleibe dem König überlassen.  Tatsache –
     „Und wo bleibt, bitte schön, Gott?“ konnte sich Don Kümmerlich nicht länger zurückhalten.  „Hat er nun –?
     „Schauspielerin?  Erfundene Geschichten?  Übler Leumund?“ schien der Alte auf den Besucher nicht eingehen zu wollen.  „Läßt das auf Treue schließen?  Allein – Johann suchte treue Hände;  getreue Augen hatte er selbst.  Und wenn sich diese Hände und Augen zusammentäten, dann wären sie mehr Segen als einzeln.  Und das wäre etwa nicht von Gott?
     Jedoch – der Alte war inzwischen ohne Zuhörer.
© Stiftung Stückwerken, *9.-10.7.2020, freigegeben am 6.4.2024
Qouz-Note: 2

 


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MamM 1.076  Entlasten

„Der Dekan hat sogar seinen Rücktritt angeboten“, trug Donna Plauder-Post weiter, als erleichtere sie das.
     „Ich hoffe, dieses Angebot wird nicht angenommen“, reagierte der Alte von der Halbinsel anders, als erwartet.
     „Freut Euch das gar nicht?“ zeigte sich die Besucherin überrascht.  „Wo er Euch doch derart –“
     „Nein“, versicherte der Alte, „ich will niemanden aus seinem Amt jagen, denn er hat’s doch erhalten, um’s zu erfüllen, nicht aber um zu –“
     „Was soll er denn dann machen?“ sah Donna Plauder-Post keinen anderen Weg.
     „Nichts soll er“, grollte der Alte über sein Reizwort.  „Aber er kann weitermachen, soweit er künftig mehr nach der Wahrheit –“
     „Und Ihr seid ihm gar nicht böse?
     „Weshalb und wozu müßte ich mich durch ihn böse machen lassen?“ fragte der Alte – ohne Hoffnung auf eine hinreichende Antwort.  „Es hat anfangs zwar weh getan, dann aber tat er mir leid.  Ein glücklicher Mensch verhält sich anders als –“
     „Aber er will doch mit seinem Rücktritt –“
     „– seinem Rücktrittsangebot“, stellte der Alte richtig, „meinetwegen ein Zeichen setzen;  aber was hilft’s?  Was geschehen ist, kann er nicht ungeschehen machen.  Und wenn er die Brocken hinwirft, versagt er seinen Begabungen Aufgaben.  Und wird seine Last doch nicht los, sondern macht sie sogar noch größer.  Denn jedesmal, wenn er mich sieht, wird er mir künftig auch noch –“
     „Aber was soll er denn –?
     „Nichts soll er tun“, wiederholte der Alte.  „Aber er könnte mich unter 4 Augen um Verzeihung bitten.  Und ich täte sie ihm gewiß nicht versagen;  und hätte auch kein Interesse daran, ihn zu demütigen“, und er begann zu erzählen:
     Frei von Eitelkeit ist wohl nichts, was wir Menschen hier auf Erden tun und sagen.  Wollte sich also König Waldherz einen Namen machen, wenn er danach trachtete, ein guter König zu sein?  Ist nicht diese Frage müßig, weil richtend?  Wie eine getönte Brille, welche die Farben des blühenden Blumengartens in ein trostloses Grau zerstört?  Waldherz wollte etwas Gutes;  und wenn dieser Schatz eben ohne den Acker nicht zu haben war, was wollen wir uns da bekümmern?
     Der König ging also zu seiner Fee und fragte sie um Rat;  denn er hatte den Eindruck gewonnen, daß sich sein Volk mehr und mehr bekümmerte.  Obwohl es diesem von Jahr zu Jahr eigentlich bessergehe.  Fast jeder verdiene mehr Geld und könne sich deshalb auch mehr leisten und müsse dafür noch nicht einmal mehr arbeiten.  An Kleidung, Nahrung und Wohnung hätte das Volk keinen Mangel, sondern manche sogar einen Überfluß.  Und die Menschen wären seltener krank und lebten länger.  Dennoch –“
     „Lebten?“ fragte die Fee, mit hörbarem Zweifel würzend.  „Dann komm einmal auf meine Warte und schau durch mein Fernrohr.
     Der König folgte der Einladung, stieg hinauf, schaute durch jenes Rohr und sah mit einem Mal sein ganzes Land zu seinen Füßen liegen.  Und sonderbar: Obwohl jenes Rohr die Menschen in Lebensgröße zeigte, kamen sie Waldherz so klein vor.  Und er gewahrte, wie die Menschen unterwegs waren, und ihre Wege führten bergauf.  Jeder trug sein Päckchen auf seinem Rücken, und das lastete schwer.  Das lag aber daran, daß sich die Wanderer gegenseitig mißgünstig und verschlagen beäugten und nach einer Gelegenheit suchten, die andern zu bestehlen und zu berauben.  War diese Gelegenheit dann gekommen, dann wurde sie genutzt.  Mochte aber das geraubte Gut zuvor im Besitz des Bestohlenen noch so sehr geglänzt und Kostbarkeit versprochen haben, im Besitz des Stehlenden wurde es sogleich zu Stein und lastete als Bürde schwer.
     „Aber warum geben die Stehlenden das Diebesgut nicht wieder zurück?“ fragte der König.
     „Weil sie sich schämen“, antwortete die Fee.
     „Aber warum schämen sie sich für etwas, was doch jeder tut?“ konnte es Waldherz nicht begreifen.
     „Auf Warum-Fragen gibt es keine hinreichenden Antworten“, zitierte die Fee schmunzelnd.  „Allein – töricht handeln sie dennoch.
     „Und was soll ich tun, um sie von dieser Torheit zu erlösen?“ wollte der König helfen.
     „Nichts sollst du“, schien die Fee mich zu kennen, „aber wenn du dein Herz fragst, so wird’s gewiß nicht schaden.
     Diesem Wink folgte Waldherz, als er wieder hinunterstieg und in sein Schloß zurückkehrte;  und nicht nur dann.  –
     „Also, ich verstehe das alles nicht“, konnte sich Donna Plauder-Post nicht länger zurückhalten.  „ist das alles ein Gleichnis?  Wo aber bleibt die Deutung?
     „Das Herz des Königs hatte das alles auch nicht verstanden“; versuchte der Alte zu trösten, „aber des Königs Fragen schon.  Und es gab Waldherz in den Sinn, ein Angebot in seinem ganzen Reich verbreiten zu lassen.  Und dieses lautete: Er, der König, bietet einem jeden an, in dem Keller seines Schlosses alle Steine einzulagern, die als Bürde empfunden und bei ihm abgegeben –“
     „Und die wollte er dann den Bestohlenen zurückgeben?“ folgerte die Besucherin.  „Welch ein Quatsch!  Wer kann das noch –“
     „Soweit kam es doch gar nicht“, lachte der Alte, „denn von diesem Angebot machte noch nicht einmal eine Handvoll Bürger Gebrauch.  Und du hast ja recht, mit dem Einlagern hatten die Bestohlenen ihr Gut nicht wieder.  Aber des Königs Herz gab noch etwas in den Sinn: Nämlich alle 10 Jahre ein Erlaßjahr einzurichten, in dem jeder Geraubtes straffrei wieder zurückgeben dürfe.  Und wem der König vergebe, dem vergebe der Bürger auch.  Dieses Angebot wurde häufiger in Anspruch genommen.  Und dann gab dem König sein Herz noch etwas in den Sinn, den langen Zeitraum von 10 Jahren abzukürzen: Jederzeit dürfe sich jeder an Waldherz wenden und um Entlastung bitten;  und soweit damit keine Gefahren für andere verbunden seien, habe der König dieser Bitte stattzugeben – mit einer Auflage.  Der Entlastete habe nämlich an seiner Türe ein Schild anzubringen, daß auch er bereit sei, jeden, der sich bei ihm belastet –“
     Allein – Donna Plauder-Post mochte wohl ihre Türe nicht verzieren und war inzwischen gegangen.
© Stiftung Stückwerken, *17.7.2020, freigegeben am 1.5.2024
Qouz-Note: 3-

 


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MamM 1.077  Firlifanz

„Da stimme ich dem Katechismus voll zu“, bedachte Don Erbsenrichter mit einer hohen Gunst: „Wer auf Befehl töten muß, lädt gegenüber Gott kaum Schuld auf sich;  –“
     „So?“ war die Anmerkung des Alten von der Halbinsel nicht frei von Zweifel.
     „– wer dagegen zu seinem eigenen Vorteil“, ließ sich die Besucherin nicht bremsen, „tötet, lädt schwere Schuld auf sich und sollte notfalls sogar mit dem Tode –“
     „Durch Menschen?“ klinkte sich der Alte ein.  „Die damit keine Schuld auf sich laden?
     „Die Urteile ergehen im Namen des Volkes“, focht’s Don Erbsenrichter nicht an.  „Also ist es Rechtens und von Gott so gewollt;  denn in Eurem abgegriffenen Buch da steht: Es ist keine Obrigkeit ohne von Gott –“
     „Aha“, lenkte der Alte um, „und weil ich zum Volk gehöre, bin auch ich Teil der Obrigkeit.  Und ich kann niemandem das Recht zusprechen, einen andern zum Tode zu verurteilen.  –“
     „Damit stellt Ihr Euch aber gegen die Bibel –“
     „Stellte sich Jesus gegen die Bibel“, gab der Alte zu bedenken, „als er jene Frau nicht verdammte, die anscheinend ohne einen Mitschuldigen angeblich die Ehe gebrochen –?
     „Wenn es nach Euch ginge“, unterbrach der Besucher, „gäb’s überhaupt keine Strafen mehr;  das ist ja allgemein bekannt.  Keine Gefängnisse, –“
     „Strafe müßte sich dann jedenfalls von jeglicher Rache lossagen“, gab der Alte zu, „und statt dessen mehr Raum zur Buße schaffen.  Freilich – von wem Gefahr ausgeht, –“
     „Na, dann sind wir uns wenigstens bei der Sicherheitsverwahrung einig“, frohlockte Don Erbsenrichter – zu früh.
     „Tscha“, leitete der Alte seine Abgrenzung ein, „müßten wir dann nicht jeden Wagenlenker hinter Mauern festhalten?  Es gibt eben keine Hierarchie der Verbrechen;  der Sünde.  Die kleinste Sünde muß uns vergeben werden;  anderenfalls können wir nicht zu Gott kommen“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein König, der hatte 3 Söhne im jugendlichen Alter;  und es wär’ zur gleichen Zeit eine Königin, die hatte keinen Eheliebsten.  Aber was du nicht hast, kannst du immer noch bekommen.  Deshalb ließ Kordialetta in allen bekannten Landen verbreiten, daß sie einen Mann suche, und zwar den richtigen.  Und wer sich angesprochen fühle und durch kein eheliches Band verhindert sei, möge um ihre Hand anhalten.
     Tscha, war das glücklich eingegrenzt?  Was meinst du, wie viele Männer sich da angesprochen fühlten!  Und nicht nur junge!  Was da an Bewerbungsschreiben ins Schloß flatterte!  Manche schickten sogar ihre Boten, Gewährsleute und Unterhändler.  Und manche kamen sogar selbst – in vollem Prunk und Pracht.  Jedoch sonderbar – jeder war sich sicher, daß sich nun auch die Königin von seinem Schreiben, Boten oder Auftritt angesprochen fühlte.
     Kordialetta aber war für keinen selbstsicheren Freier zu sprechen und ließ ihn gar nicht erst zum Schloßtor hinein.  Das gleiche Schicksal wurde den Boten zuteil, denn diesen ließ die Königin am Tore mitteilen, sie gedenke nicht jemanden zu ehelichen, der nur im Auftrage eines andern komme.  Und bei den Briefen mußte sich Kordialettas Lieblingszofe eine Standardabsage ausdenken und schreiben, welche von der Königin nur noch zu unterzeichnen war.
     Nur ein einziger Brief fand Gnade vor Kordialettas Augen;  nämlich der jenes Königs.  Darin tat er der Königin kund, er habe 3 Söhne und ob sie die sich nicht einmal anschauen möchte;  zumal mindestens 2 sehr vielversprechend seien.  Immerhin wollte sie der Absender nicht beschwatzen, und deshalb schickte die Königin eine Einladung zurück – mit einem Feierkleid.
     Nun darfst du dir unter Feierkleid keinen Anzug vom Maßschneider vorstellen, sondern es handelte sich um ein Obergewand, das nicht auf bestimmte Körpermaße angewiesen war.  Freilich – Fisimax hatte doch einige Mühe, sich hineinzuzwängen, denn er war das, was bei Männern „stattlich“ genannt wird, bei Frauen: im 6. Monat.  Aber als ältester Sohn brachte er gerne dieses Opfer und nahm es sogleich als hinreichenden Grund dafür, mit der Kutsche reisen zu müssen.
     Unterwegs gewahrte er einige Feen, wie sie mühsam gerade ihre Kleider wuschen.
     Weit lehnte er sich aus seinem Kutschenfenster hinaus und spottete: „Hättet besser ’ne Kutsche nehmen sollen, hahaha, dann müßtet ihr jetzt nicht so viel schrubben.
     Und weiter rollte die Kutsche mit einem schadenfrohen Prinzen, der sich auf seine Klugheit viel einbildete.  Allein – ins Schloß jener Königin wurde er doch nicht eingelassen.  Am Tor bat ihn nämlich jene Lieblingszofe auszusteigen, um sich begutachten zu lassen.  Und mährsächlich!  Die Zofe fand einen winzigen Flecken am Ärmel des Feiergewandes.  Vermutlich hatte der Prinz nicht gut genug aufgepaßt, als er sich aus dem Kutschenfenster gelehnt hatte.  So bekam er nur Grüße an seinen Vater mit auf den Weg, na ja, wohl auch Proviant und – ein neues Feierkleid für den nächsten Bruder.
     Das war Poltermax, der lieber hoch zu Roß saß denn in einer Kutsche.  Auch er gewahrte unterwegs die Feen und verspottete diese lautstark.  Nun, ihm erging es am Schloßtor nicht besser als seinem älteren Bruder;  denn ein Ritt auf staubigen oder schmutzigen Wegen hinterläßt gewöhnlich sogar noch mehr Spuren als die Fahrt in einer Kutsche.
     Deshalb wird es dich nicht wundern, daß das 3. Feiergewand bereits auf dieser Rückreise seine Reinlichkeit einbüßte.  Aber Firlifanz, der jüngste Prinz, galt ja bereits von vornherein als nicht vielversprechend.  Und durch seinen Fußmarsch wurde das Gewand gewiß nicht sauberer.  Oder?  Jedenfalls sieht, wer zu Fuß geht, manches deutlicher, und du bist mit dem Herzen näher dran;  und so entging diesem Prinzen nicht, wieviel Mühe die Feen hatten, ihre Kleidung zu reinigen.  Kurzerhand bot er seine Hilfe an und – war wohl der 1. Waschmann, den die Geschichte kennt.  Die Feen sahen das mit Wohlwollen, und als Dank gaben sie ihm den Rat mit auf den Weg, –
     „Also, daß Ihr Euch dazu herablaßt, solch einen Quatsch zu erzählen“, konnte sich Don Erbsenrichter nicht länger zurückhalten, „hätte ich nicht gedacht.  Was hat das alles mit Schwere von Schuld zu tun?
     „Was weiß ich?“ lachte der Alte, die Ungeduld seines Besuchers unterschätzend.  „Die Feen rieten Firlifanz jedenfalls, ja auf sein Herz zu hören.  Und als auch ihn jene Lieblingszofe abweisen wollte, da an seinem Feiergewand eigentlich überhaupt nichts mehr sauber sei, da gab ihm sein Herz ein, die Königin um Hilfe zu bitten, ob sie nicht wüßte, wie das Gewand wieder sauber werden könne.  Weil aber auch Kordialetta ein hilfsbereiter Mensch war, fanden sich die richtigen Herzen zusammen, –“  jedoch der Alte und sein Zuhörer nicht mehr.  Das muß wohl an den Herzen gelegen haben.
© Stiftung Stückwerken, *23.7.2020, freigegeben am 1.5.2024
Qouz-Note: 3+

 


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MamM 1.078  Nachtmeister Stropp und der Fall Kühleborn

„Mögt Ihr eigentlich lieber den Sommer oder lieber den Winter?“ fragte eine jugendliche Stimme, gewürzt mit einer gehörigen Portion Ehrfurcht.  „Also lieber die Hitze oder lieber die Kälte?
     „Nun ja“, gewann der Gefragte Zeit, um zu überlegen.  „Im Winter ist es zwar so kalt, daß kein Igel vor die Türe gehen kann;  aber im Winter hab’ ich auch lange Ferien und kann lange schlafen.  Und im Sommer – na ja, da sind die Tage so lang, daß ich bereits vor Sonnenuntergang losgehen muß, um meine Runde zu schaffen.  Ach, weißt du, am liebsten habe ich die Zeiten, in denen ich genügend schlafen kann und genügend zum Essen finde.  Und wie ist’s bei dir, mein lieber Bruhno?
     „Im Sommer ist es mir eigentlich zu warm, Herr Nachtmeister“, räumte der kleine Bär ein, „aber dann macht es mehr Spaß, im Wasser zu planschen.  Dagegen im Winter, da gibt’s halt zuwenig zu essen.
     „Ja, ja“, stimmte unser Stropp zu, „eine gute Mahlzeit ist sehr wichtig!  Da mußt du eben die richtige Frau heiraten, die schaffig ist, gut zu wirtschaften und gut zu kochen, zu braten und zu backen –“
     „Herr Nachtmeister!  Herr Nachtmeister!“ flog eine piepsige Stimme dazwischen.  „Ihr sollt sofort zu Reinherzson kommen.
     „Reinherzson, lieber Herr Sumpfmeiserich?“ hüllte sich unser Igel in Ablehnung.  „Kenn’ ich nicht.
     „Na, der Sohn von Reinherz –“
     „Na und?“ gebrach es unserem Helden weiterhin an Respekt.  „Was hab’ ich mit dem zu –?
     „Na, der Friedensrichter hat dich an ihn ausgeliehen“, half der gefiederte Bote nach.
     „Ausgeliehen?“ mischte sich nun auch unser Bruhno ein.  „Ist denn unser berühmter Nachtmeister eine Sache, die hin und her –“
     „Jedenfalls sollt Ihr sofort kommen“, wollte sich der Vogel in keine weitere Diskussion einlassen.  „Bei Mondaufgang sollt Ihr Euch am Kühleborn einfinden.
     „Und wie soll er das schaffen?“ ergriff der kleine Bär für seinen Lehrmeister erneut Partei.  „Das sind bestimmt über 20 Igelmeilen.
     „Das ist eure Sache“, focht’s Herrn Sumpfmeiserich nicht an.  „Ich hab’s euch jedenfalls ausgerichtet und –“
     „– und könntest uns sowieso nicht helfen“, nahms’s unser Stropp nicht übel.
     „Aber Trinkgeld kriegste nicht von –“
     „Undankbares Pack!“ schimpfte der gefiederte Bote und flog davon.
     Da konnte nur noch Wastel, der Waschbär helfen.  Gut, daß Lehrmeister und Lehrbub noch nicht weit gegangen waren und Wastel den Damen noch etwas im Haushalt geholfen hatte!  Damen?  Jaha, Frau Struppe und Emma von Nowotny sind schließlich keine hergelaufenen Weibsbilder.  Freilich – gerne wollten sie das Mannsvolk nicht ziehen lassen, waren sie doch fest davon überzeugt, ohne sie wäre es aufgeschmissen.  Zumal es am Kühleborn nur Wiesen, Weiden und Felder gab, aber keine gedeihenden Gärten.  Allein – auf Wastels Rücken war kein Platz für Damensättel, und  so zogen unsere 3 Freunde nur mit vielen weiblichen Ratschlägen fort, aber ohne dämliche Begleitung.
     Dem neuen Dienstherren begegneten sie aber bereits vor der Quelle.  Bruhno hatte nämlich am Wegesrand eine Leiche entdeckt, und die mußte erst einmal untersucht werden.  Also stieg unser Held ab.
     „Waldbewohner“, mußte er nicht lange überlegen.  „Spitze Schnauze.  Also, Bruhno?
     „Ein Angehöriger des Volkes der –“
     „Ach, du bist wohl dieser Stropp“, wurde der kleine Bär von einer heiseren, aber noch recht jungen Stimme unterbrochen.  „Na, das trifft sich ja gut, daß wir uns schon hier treffen.
     „Guten Abend, Herr Reinherzson“, verfügte unser Igel über mehr Höflichkeit und gewiß auch über einen größeren Sprachschatz.
     „Mord, nicht wahr?“ hielt sich der junge Fuchs nicht mit Nebensächlichkeiten auf.  „Hab’s mir gleich gedacht, –“
     „Es könnte auch Totstich gewesen sein“, gab unser Nachtmeister zu bedenken.  „Oder kennt Ihr bereits Täter und Motiv?
     „Von meinen Mitbürgern war’s gewiß niemand“, gab sich Reinherzson sicher.  „So was tut nur ein Fremder.  Der da, den hab’ ich am meisten im Verdacht.  –“
     „Der Schlendertünnes?“ zweifelten alle 3 Freunde sehr.  „Der achtet doch sogar darauf, daß er keine Ameise –“
     „Was gehen mich die Ameisen an“, war der junge Fuchs unwillig, abgelenkt zu werden.  „Er ärgert mich schon die ganze Zeit und stört mich beim Ja–, eh, Hüten und Waiden.  Außerdem ist er ein Mensch, und das sind die schlimmsten Mordtiere, die es gibt!  Ich wünsche, daß du ihn auf frischer Tat ertappst und dann sogleich festnimmst.  Haben wir uns verstanden?“ sprach’s, nahm eine zustimmende Antwort als selbstverständlich an und die Leiche zwischen seine Zähne und –
     „Aber wo wollt Ihr denn mit der armen Maus hin?“ fragte unser Bruhno unerschrocken.
     „Ins Magenatorium“, antwortete der Fuchs, „um sie bestattungsreif zu machen“, und schon war er davongetrabt, vermutlich mit Kurs auf seine Burg.
     Auch der Schlendertünnes war schon längst nicht mehr zu sehen, dafür aber ein anderer Zeitgenosse.
     „Herr Nachtmeister“ zeigte er sich erleichtert, „gut, daß ich Euch treffe!  Ich werde verfolgt!  Ja, verfolgt!  Der Jäger Duselkopp –“
     „In der Schonzeit?“ wunderte sich unser Igel.
     „Da kümmert der sich doch nicht drum“, lautete die trostlose Antwort.  „Ach so, gestatten, mein Name ist Lustigfeld, Meister für die Veredelung von Ostereiern und anderen Delikatessen.  Jedenfalls –“
     „Haste denn da auch jetz’ im Sommer zu tun?“ wollte der Waschbär wissen.
     „Oh ja“, berichtete der Hase gerne, „gerade jetzt muß ich das Gärobst einsammeln, brennen und lagern.  Das ist eine Heidenarbeit und trägt wegen der langen Lagerzeit eigentlich erst im übernächsten –“
     „Und was hat das mit dem Jäger Duselkopp zu tun?“ drängte unser Stropp, beim Thema zu bleiben.
     „Na, der mag keine Ostereier, sondern will den Obstbranntwein pur trinken“, antwortete Meister Lustigfeld.  „Und deshalb soll mir der Garaus gemacht und ich durch seine Hunde zur Strecke gebracht werden.
     „Nun“, berichtete unser Nachtmeister bei seiner nächsten Begegnung den Damen, „wir sind dann zusammen noch zum Kühleborn gegangen, wo die Quelle einen Trog speist, aus dem auch wir Tiere trinken können.  Tscha, und da brauchte ich das nur noch mit des Hasen Gärobst zu kombinieren, und seitdem ist unser Meister vor den Hunden sicher.  –“
     „Ich versteh’ nicht ganz“, schämte sich Frau Struppe nicht.
     „Na, am Kühleborn verläßt der Jäger seine Kutsche“, klärte unser trefflicher Held auf, „läßt dort erst einmal seine Hunde trinken, und die sind anschließend ganz besonders lustig und für die Jagd in der ganzen Nacht nicht mehr zu gebrauchen.
© Stiftung Stückwerken, *30.7.2020, freigegeben am 3.2.2024
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MamM 1.079  Nachtmeister Stropp und der Fall Reginia

„Aber einiges an deinem letzen Fall ist doch recht sonderbar“, wußte auch Frau Struppe ihren Kopf zu gebrauchen.  „Es war doch bestimmt nicht Duselkopp, der jene Spitzmaus ermordet hat;  oder?
     „Nee“, lachte unser Stropp, „und der Fundort war auch nicht der Tatort.  –“
     „Und wen hast du als Täter in Verdacht?“ gab sich die Eheliebste die Ehre und ihrem Gatten Gelegenheit, seinen berühmten Scharfsinn unter Beweis zu stellen.
     „Ach, das ist eine verwickelte politische Frage“, wich dieser jedoch aus, „und wer mit Fürsten Umgang pflegt, darf nicht zuviel wissen.  Lassen wir alles so, wie es ist, und suchen wir keinen Schuldigen.
     „Aber wozu bist du dann Nachtmeister?“ fand es Frau Struppe gar nicht gut, ihren Wissensdurst ungestillt zu finden.
     „Um Frieden zu stiften“, seufzte unser Held, „soweit es geht, und Verbrechen zu verhindern.  Denn – wer Schuldige sucht, läuft immer hinterher;  und den Alleinschuldigen findste ja doch nicht.  Und wenn du einen zur Strecke gebracht hast und siehst dann dieses Häuflein Elend auf der Anklagebank –“
     „Aber gar nicht so selten auch sehr verstockt“, nutzte die Igelin ihre Lebenserfahrung als Probierstein.
     „Eben!“ sah unser Igel keinen Widerspruch.  „Weil viele Mitschuldige fehlen, die eigentlich auch auf der Anklagebank sitzen müßten.  Und jeder Angeklagte kennt mindestens einen Täter, der frei rumläuft, obwohl der's noch viel schlimmer –“
     „Dann mußt du den eben auch noch zur Strecke bringen –“
     „– und täte nie damit zu Ende kommen“, ergänzte unser Stropp und schlug dann einen anderen Ton an.  „Ich muß denn wieder in das Kühlebachtal zurück –“
     „Aber nicht ohne mich!“ setzte die Eheliebste ihren eigenen Willen sogar über den eines Friedensrichters.
     „Na, dann werden wir wohl lange unterwegs sein“, seufzte unser Nachtmeister mehr für sich.  Da er aber ahnte, daß sein Widerwille nicht überhört worden war, legte er schnell etwas zur Ablenkung nach: „Bruhno, Wastel, wir können!
     „Die Schildkröte wurde jedoch nicht mitgenommen, da eine ja aufs Haus aufpassen mußte.  Ja, und gegebenenfalls Hilferufe weiterzuleiten hatte.  Da Wastel nicht beiden Ehehälften als Reittier dienen konnte, ward ihm ein Damensitz aufgelegt und mit der Igelin besetzt.  Tscha, Bruhno und unser Held mußten eben ihre eigene Bären- und Igelstärke nutzen.  Allein – kennst du einen Igel, der über 20 Igelmeilen in einer Nacht zurücklegt?  Siehste, daran kannste sehen, wie außergewöhnlich unser Nachtmeister ist.
     Jedoch – hexen kann auch er nicht, und so war die Augustsonne schon längst aufgegangen, als unsere Karawane im Bergwald zu Tale stieg.
     „Kann Sie nicht grüßen, Sie unverschämtes Frauenzimmer?“ würzte plötzlich eine Stimme ihre Vorwürfe mit Hochschnäbeligkeit und Arroganz.
     Langes und langsames Reiten macht müde, so daß Frau Struppe mährsächlich eingeschlummert war, sonst hätte sie gewiß einen guten Morgen gewünscht.  Aber sie derart unsanft zu wecken und ihr auch noch so zu kommen, nein, das verletzte den ausgeprägten Gerechtigkeitssinn der Reisenden gewaltig.
     „Was bilden Sie sich überhaupt ein?“ begann die Igelin sich zu erhitzen.  „Gegen mich sind Sie doch nur ein kleines Tier, nicht größer als ein Hänfling.  Ich bin die Gattin –“
     „Verzeihung, Hoheit“, versuchte der Gatte, Krieg zu verhindern, „darf ich vorstellen: –“
     „Königliche Hoheit!“ meinte der Vogel richtigstellen zu müssen.  „Merk Er sich das!
     „Verzeihung“, konnte unser Stropp nicht folgen, „meines Wissens sind wir hier bereits im Lande von Reinherzson –“
     „Ist der König?“ fragte die Dame schnippisch und verneinend.  „Sieht Er!  Aber Reginia ist königlicher Abstammung und königlicher Eheverbindung!  Wenn auch mein Gatte nicht viel taugt;  aber das tut hier nichts zur Sache.  Also, ich verlange künftig den gehörigen Respekt, sonst laß ich euch des Landes verweisen.  Oder Schlimmeres!  Aber ich muß weiter.  Ich hab’ mich durch eure Unbotmäßigkeit schon viel zu lange aufhalten lassen!
     „Noch nicht einmal ein »Auf Wiedersehen« waren wir ihr wert“, kommentierte unser Bruhno.
     „Willst du so etwas etwa wiedersehen?“ hatte sich Frau Struppe noch immer nicht ganz abgekühlt.
     Ein Wiedersehen hatten sie jedenfalls vorerst nicht und verbrachten einige geruhsame Tage im Kühlebachtal.  In den Nächten mußten unser Nachtmeister und sein Assistent freilich auch hier ihre Runden drehen, während Wastel nach Hause geschickt wurde, um Nahrungsmittel zu holen.  Tscha, bekanntlich gab es damals in jenem Tal nichts anderes zu ernten als Pilze, Brombeeren und Pferdeäpfel.
     Doch auch hier schlief das Verbrechen nicht lange.  Ja, es passierte etwas derart Schlimmes, daß ich’s hier gar nicht in allen Einzelheiten erzählen darf.  Denn als es mir von unserm Stropp berichtet wurde, ermahnte er mich eindringlich, jegliche Nachahmung auszuschließen.  Ich darf also nur sagen: Gift;  welches, was, wo oder wie, das muß ich verschweigen.
     Jedenfalls war es Lustigfeld, der diesen Anschlag als erster entdeckte und ihn eiligst unserem Helden meldete.  Auf der Stelle begaben sich Lehrmeister und Lehrbub zum Tatort.  Was sag ich: begaben?  Hasteten, das wäre angebrachter.  Unser Igel nutzte sogar den Waschbären als Reittier und konnte nur so gerade noch im letzten Augenblick verhindern, daß das Gift sein Opfer fand: Reinherzson!
     Der hielt so etwas zunächst für einen Unfall, denn er konnte es sich nicht vorstellen, daß ihn irgend jemand von seinen Bürgern hätte ermorden wollen.
     Aber wenn es ein Unfall gewesen wäre, wieso gab es dann keine Spuren?  Gift regnet doch nicht so einfach vom Himmel;  jedenfalls damals nicht.  Und wenn, dann gewiß nicht so zielgenau.  Und sonderbar war’s obendrein, daß das Gift zu dem Zeitpunkt, eh, hier war, an dem der Fuchs gewöhnlich, eh, auch an dieser Stelle zu sein pflegte.
     Ob ihn jemand in der letzten Zeit dabei beobachtet hätte, forschte unser Nachtmeister.  –

     Nein, nicht daß es der Friedensrichter wüßte.
     Eine Frau?  –

     Wieso eine Frau?  –

     Weil’s die Handschrift einer Frau trage.  –

     Nein, der Fuchs habe hier keine Frau gesehen.  –

     Weil sie auch nicht auf Pfoten unterwegs gewesen sei.
     „Herr Zaunkönig, kommen Sie mal her!“ rief unser Igel unvermittelt.  „Sie brauchen keine Angst zu haben;  ich weiß, daß Sie es nicht waren, aber Ihre –“
     Mährsächlich, unser Held lag mit seinen Vermutungen ganz richtig!  Reginia habe vor ihrem Gatten geprahlt, sie werde nun den Thron besteigen, auf den für ihn übrigens kein Platz sei.  Die sei völlig übergeschnappt gewesen, so daß er sie aus seinem Harem sogleich entlassen und über die Grenze gejagt hätte.
     Tscha, und weil eigentlich ohne Lustigfeld das Leben des Fuchses nicht hätte gerettet werden können, stellte dieser den Hasen künftig unter seinen besonderen Schutz.
© Stiftung Stückwerken, *7.8.2020, freigegeben am 3.2.2024
Qouz-Note 4

 


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MamM 1.080  Nachtmeister Stropp und der Fall Rexilio

„Wie geht es Euch, lieber Rexilio?“ fragte unser Nachtmeister einige Abende später den Zaunkönigsmann.  Später?  Nach was?  Na, nach Stropps letztem Fall.
     „Ach, nicht besonders“, seufzte der Angeredete, „aber danke der Nachfrage.
     „Trauerst du etwa dieser – dieser Reginia nach?“ zeugte unser Bruhno von seiner Anwesenheit.
     „Nein, das ist es nicht“, antwortete der Zaunkönig, „ich muß sogar dankbar sein, daß ich sie endlich los –“
     „Na, dann freu dich doch!“ versagte der kleine Bär Mitgefühl.
     „Bruhno!“ ermahnte auch sogleich sein Lehrmeister.
     „Ach, laßt ihn“, stellte sich Rexilio vor den Bären.  „Es ist halt die Unbeschwertheit der Jugend.
     „Und Ihr?“ fragte unser Igel.  „Nehmt Ihr’s so schwer?  Oder ist es so – ?
     „Wer weiß?“ wich der Zaunkönig aus.  „Die Wirkung ist wohl die gleiche –“
     „Aber nicht der Weg der Heilung“, verirrte sich unser Nachtmeister auf medizinisches Gebiet.  „Wo drückt denn der Stiefel?
     „Ich hab’ keine Freud’ mehr“, klagte der kleine Vogel.  „Seht, ich hab’ da so einige Basen und Vettern;  und da hab’ ich’s mir zur Aufgabe gemacht, denen zu jedem Geburtstag ein Ständchen zu bringen.  Meint Ihr, es tät’ mir jemand danken?  Oder gar mir zu meinem Geburtstag irgend etwas –“
     „Das ist aber sehr undankbar!“ mußte sogar der junge Bruhno zugeben.  „Denen tät’ ich auch nichts mehr schenken.  Das wäre sonst, als tät’ ich Honig vor die Menschen werfen.
     „Ja, die sind auch undankbar“, konnte Rexilio nur bestätigen.  „Was hab’ ich denen schon gesungen!  Ein Lied kunstvoller als das andere.  Und was ist?  Sie sagen gar, ich könnte gar nicht singen und klänge wie ein eingerostetes Feder–“
     „Aber nicht alle!“ liebte unser Held bekanntlich die Wahrheit.  „Es gibt auch den einen und anderen, der Euren Gesang durchaus zu –“
     „Ist mir noch nicht begegnet“, tat’s der Zaunkönig pessimistisch ab.  „Außerdem hatt’ ich noch einen Handel mit Körnern und Beeren angefangen.  Aber nun wollen mich einige Mäuse nicht mehr beliefern, und wichtige Kunden haben mir aufgekündigt.
     „Ach, das geht bestimmt vorüber“, versuchte unser Stropp, Mut zu machen.  „Wer will schon einen zuverlässigen Partner –“
     „Vertröstungen!  Vertröstungen, Herr Nachtmeister“, nahm der kleine Vogel auch das nicht an.  „Das wird sogar noch mehr um sich greifen!  Ja, und weil ich nicht viel Schlaf brauch’, hab’ ich ja mehr Zeit.  Und jetzt, da ich Reginia nicht mehr anbeten muß, erst recht.  Deshalb hab’ ich begonnen, hier im Pirschwäldchen und der näheren Umgebung die Alten, Kranken und Gefangenen zu besuchen.  ’s ist ja eigentlich die Aufgabe der Dompfaffen und Auerhähne, aber die haben immer weniger –“
     „Arbeitsteilung!“ tat unser Bruhno altklug.  „Die einen predigen’s, und die andern müssen’s –“
     „Bruhno!“ mußte unser Igel erneut ermahnend einschreiten.  „Wie redest du von geistlichen Würdenträgern?
     „Jedenfalls“, versuchte Rexilio, zum Thema zurückzukehren, „ist es seit einigen Tagen wie verhext: Niemand will mich mehr vorlassen.  Selbst die Gefangenen lassen mir ausrichten, sie wünschten keinen Besuch mehr.
     „Und warum, eh“, kannte unser Held selbstverständlich die Nichtigkeit solcher Fragen und verbesserte sich, „und mit welcher Begründung?
     „Das sagen sie nicht“, seufzte der Zaunkönig.  „Und so ist es bei allen: ob verwandt, Geschäftspartner oder hier die Pirschwäldchengemeinde;  alle sind sie feige, und niemand sagt was.
     „Aber das darf doch nicht so bleiben!“ entrüstete sich unser Bruhno.  „Da müssen wir was unternehmen!  Du mußt wieder ein fröhlicher Vogel werden!  Was hältst du davon, wenn mein Meister und ich da mal ein bißchen –?
     „Ach, nein“, wollte der kleine Vogel ablehnen, „ich will niemandem zur Last fallen.  Was wollt ihr da schon ermitteln?  Es liegt doch gar kein Verbrechen –“
     „Wäre Ruftötung kein Verbrechen?“ gab unser Stropp zu bedenken.  „Sogar ein sehr schlimmes, denn es raubt Euren Tagen Leben.
     „Aber was tät’ es ändern?“ blieb Rexilio noch immer ablehnend.
     „Da kennst du aber unsern Nachtmeister schlecht!“ mühte sich der kleine Bär, Zuversicht zu verbreiten, und ergänzte verneinend: „Kann es denn noch schlimmer kommen?
     So zogen an den folgenden Abenden, in den Nächten und frühen Morgenstunden Meister und Lehrbub eifrig Erkundigungen ein: in der weitverzweigten zaunköniglichen Verwandtschaft, unter Mäusen und Körneressern sowie in der Pirschwäldchengemeinde.  Und es gestaltete sich alles wesentlich einfacher, als ursprünglich gedacht.  Unser Nachtmeister brauchte seine Nachforschungen nur in kleine Vorstellungsrunden zu kleiden, da er doch in dieser Gegend kaum bekannt war.  Und schon war es ein leichtes, eine Brücke zu der Frage zu schlagen, vor wem er sich hier in acht zu nehmen hätte oder wen er besonders im Auge behalten müsse.  Tscha, und immer wieder kam dann die Sprache auf Rexilio.  Aber unser Stropp wäre nicht unser Held gewesen, wenn er nicht mit seinem berühmten Scharfsinn alle Informationen hätte zu ordnen und in Entstehung und Abwicklung zu verfolgen gewußt hätte.  Schließlich bestellte er 3 Tiere zu sich in sein Quartier am Kühlebach: Reginiason, einen Neffen unseres Zaunkönigs, den Steuereintreiber Häherich und den Dompfaff Schäfer-Schein.
     Mit jedem führte unser Nachtmeister zunächst ein separates Gespräch unter 4 Augen, bevor er alle zu einer Runde zusammenrief und dazu auch Bruhno und den Waschbären Wastel hinzuzog und – zum Schluß Rexilio.
     „Tscha“, berichtete unser Held beim nächsten Besuch seiner Eheliebsten, „um’s kurz zu machen: Der Neffe hatte verbreitet, sein Onkel sei ein raffinierter Weibchenjäger, dem jeder gute Hausvater die Türe weisen müsse.  Häherich hatte das Steuergeheimnis verletzt und verbreitet, Rexilio hinterziehe Steuern, denn von dessen versteuertem Einkommen ließe sich kein königlicher Hofstaat aufrechterhalten.  Und Schäfer-Schein hatte unseren Zaunkönig als Erbschleicher verleumdet.  Und keiner von den 3en konnte seine Anschuldigungen beweisen.  Also habe ich sie verdonnert, alle Verleumdungen rückgängig –“
     „Geht das überhaupt?“ blieb Frau Struppe skeptisch.  „Irgend etwas bleibt immer hängen, erst recht im Netz eines schlechten Gewissens.
© Stiftung Stückwerken, *14.8.2020, freigegeben am 5.2.2024
Qouz-Note 4

 


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