MamM – Mährchen an meine Mutter Nr 1.041 bis 1.060
Überblick MamM 1.041 bis 1.060
1.041 Alex sucht Anna-Alina (*2.11.2019)
1.042 Nachtmeister Stropp und der Fall Braunekat (*9.11.2019)
1.043 Der gerechten Trägheit (*14.+16.11.2019)
1.044 Seele vergiß nicht (*23.11.2019)
1.045 Selig sind die Einfältigen (*28.11.2019)
1.046 Und werde Licht (*6.12.2019)
1.047 Paradies? (*14.12.2019+5.4.2024)
1.048 Gutwill und Böswill (*4.1.2020)
1.049 Die Frage nach dem freien Willen (*10.-11.1.2020)
1.050 Komm mit mir auf meinem Wagen (*18.1.2020)
1.051 ... nicht jemand von diesen Kleinen verachtet (*25.1.2020)
1.052 Das Schneeglöckchen und der Frühling (*31.1.-1.2.2020)
1.053 Nachtmeister Stropp und der Fall Kinderbande (*7.+9.2.2020)
1.054 Nachtmeister Stropp und der Fall Joe Wanni (*15.2.2020)
1.055 Wildegard und Wildewolf (*21.2.2020)
1.056 Nachtmeister Stropp und der Fall im Schnee (*28.-29.2.2020)
1.057 Aus H. Zeit - Ehe im alten Stil (*6.3.2020)
1.058 Nachtmeister Stropp und der Fall Kirchhof (*14.3.2020)
1.059 Unseres Vaters Kinder (*20.3.2020)
1.060 Siebenschatten (*27.-28.3.2020)
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MamM 1.041 Alex sucht Anna-Alina
„Ich will meine Anna-Alina wiederhaben!“ gab der junge Bär in der Dachkammer seinen Einstand.
Die bisherigen Bewohner sahen sich ziemlich hilflos an, bis sich Juttata ein Herz faßte und vorschlug: „Kannst du dich nicht
wenigstens einmal vorstellen? Wie heißt du?“
„Alex“, kam es etwas kleinlaut zurück, bevor’s wieder Fahrt aufnahm: „Ich will aber meine Anna-Alina –“
„Schon gut, schon gut“, unterbrach die junge Puppendame, „das sagtest du bereits. Und wer ist diese
Anna-Alina?“
„Mein Schatz!“ brauchte Alex gar nicht zu überlegen.
„Und wo ist sie jetzt?“ hakte Juttata nach.
„Weg! Fortgeschafft!“ schämte sich der junge Bär seiner
Tränen kaum. „Erst gab’s viel Lärm und Tatütata, dann sind Männer in weißen Kitteln über sie hergefallen, als wär’s ein
Überfall; bis jemand gerufen hat: «Sofort aufhören! Sie will das
nicht!» Dann wurde irgend etwas ausgefüllt, und schließlich wurde sie mit einem weißen Laken zugedeckt; von Kopf bis Fuß, aber so genau weiß ich das alles gar nicht. Es ging alles so
schnell und war so entsetzlich. Hätte ich sie verteidigen müssen?“
„Nein, mein lieber Freund“, meldete sich eine andere Bärenstimme, in tieferer Lage. „Wenn ich’s recht deute,
hätte es nichts mehr geholfen. Aber erzähl bitte weiter.“
„Zurückgebracht hat sie jedenfalls niemand mehr“, berichtete der traurige Bär. „Statt dessen wurde das Zimmer
ausgeräumt, als wäre Anna-Alina umgezogen. Aber die alten Möbel konnte sie wohl nicht mehr gebrauchen, und ihre Handtücher und so was
alles wurden verteilt, als wär’s Beute. Schließlich auch ich. Ich müsse
erst einmal gewaschen werden, dann wollten sie weitersehen. Vielleicht wäre ich was für kleine Kinder; aber ich will doch wieder zu meiner Anna-Alina!“
„Mein lieber Alex“, versuchte die tiefere Bärenstimme zu trösten, „ich glaube, du mußt jetzt sehr tapfer sein.“
„Ich will aber nicht tapfer sein“, begehrte der jüngere Bär auf, „ich will zu meiner Anna-Alina!“
„Das wird schwerlich gehen“, konnte der ältere Bär kaum Hoffnungen machen. „Hast du einen Sarg
gesehen? Oder wurde vom Friedhof gesprochen?“
„Friedhof?“ griff Alex auf. „Da ist meine Anna-Alina
manchmal hingegangen. Da liege ihre Schwester. Und ihr Schwager. Kennst du die?“
„Ja“, bestätigten Juttata und der ältere Bär, „aber die sind schon etliche Jahre tot.“
„Tot?“ fragte der junge Bär. „Was ist das?“
„Etwas Unfaßbares“, antwortete der ältere Bär. „Eine Tür, die nur von einer Seite zu öffnen ist und
anscheinend niemanden zurückkommen läßt. Manche sagen, er beende das Leben;
andere glauben, er verwandle und verschönere es. Deine Anna-Alina weiß inzwischen bestimmt mehr, aber –“
„Meinst du etwa“, entsetzte sich Alex, „sie käme nie mehr zurück? Ihr Leben sei zu Ende? Dann will ich auch nicht mehr leben!“
Gerade noch in letzter Sekunde konnten Juttata und der ältere Bär den jüngeren daran hindern, sich vom Schrank in die Tiefe zu stürzen.
„Bist du verrückt geworden?“ schimpfte der ältere Bär, so hatte er sich erschrocken.
Die hübsche Juttata aber nahm den jungen Bären in ihre Arme und versuchte ihn wie eine Mutter in den Schlaf zu wiegen; obwohl – er einen Kopf größer als sie war.
„Ist schon gut“, flüsterte sie mitleidig und wiegte und wiegte, bis – er eingeschlafen war.
Am andern Morgen war der Kummer wieder da. Schlimm, sehr schlimm, aber
bereits um einen Tag kleiner. Wie ein Scheidender, der Schritt für Schritt zum Horizont zieht. Jeden Tag einen Schritt weiter.
Aber dann gab es auch Tage mit Spiegelungen – wie in einer Wüste, und er wurde wieder groß und nah. Und dann
kam ein Tag, da wurde der Kummer so groß, daß Bimbor zum letzten Mittel greifen mußte; so hieß
nämlich der ältere Bär, wobei du bedenken mußt, daß das „r“ in seinem Namen stumm bleibt.
Also – das letzte Mittel! Bimbor schlug nämlich vor, Alex mit Juttata zum
Friedhof zu begleiten. Und wenn Anna-Alina dort nicht zu finden sei, wollten sie sich gemeinsam auf die Suche machen.
„Nach uns fragt hier sowieso keiner mehr“, entkräftete Bimbor jeden Einwand, „und wir werden hier nur noch geduldet. Kommt, laßt uns auf die Wanderschaft gehen!“
Auf dem Friedhof fanden die 3 zwar endlich eine Grube, an der Kränze mit Spruchbändern aufgestellt waren, aber sonst keine lebende Seele.
Alex sprang sogar hinab, rief den Namen seines Schatzes, klopfte an eine große Kiste, aber es klang hohl und unbewohnt, und niemand antwortete.
Zum Glück kam ein kleiner Elefant herbei und half mit seinem Rüssel dem jungen Bären wieder aus der Grube.
„Vielleicht ist dein Schatz hinter den Regenbogen gegangen“, versuchte Troja zu trösten. „So erzählen’s manche Menschen.“
„Dann müssen wir sie dort suchen“, schlug Alex sogleich vor, und alle 4 machten sich auf den Weg, zumal auch nach dem kleinen Elefanten sonst niemand mehr
fragte.
Allein – viele Tage konnten sie keinen Regenbogen finden; und als sie endlich einem begegneten, da war der so
groß und mächtig, daß er bereits wieder verschwunden war, ehe sie ihn ganz erreichen, geschweige hinter ihn gelangen konnten.
Eines Abends kamen sie an ein kleines Jagdschlößchen. Neugierig kletterten die beiden Bären zu den Fenstern
hinauf, spähten vorsichtig hinein und – sahen viel Elend! Es wurden dort nämlich Menschen gefangengehalten, die niemand mehr
haben wollte, weil sie angeblich zu nichts mehr nütze wären.
Ei, da hättest du mal unsere 4 Freunde erleben müssen, wie sie die bösen Wärter in die Flucht schlugen und die Gefangenen befreiten! Aber damit war noch längst nicht alles gewonnen: Die bisherigen Gefangenen mußten beköstigt und gepflegt werden. Und so erhielten unsere 4 Freunde eine neue Lebensaufgabe, die so gewaltig war, daß sie an nichts anderes mehr denken konnten. Juttata mußte kochen, braten und backen, Troja mußte alle mit seiner Musik bei Laune halten, Alex mußte mit seinen Bärenkräften im Garten
arbeiten und Holz für Herd und Ofen herbeischaffen, und Bimbor mußte Besorgungen machen und Geld eintreiben, da er am treuherzigsten aussah. Und er mußte zusätzliches Personal einstellen, da auf dem Schloß weitere Menschen abgegeben wurden und immer wieder Tiere auf ihrer Wanderschaft
vorbeikamen und nach neuen sinnvollen Aufgaben fragten. Echten Hunden und echten Katzen wurde der Einlaß jedoch verwehrt – aus
Sicherheitsgründen. Und wenn unsere Freunde nicht gestorben sind, dann bereiten sie noch heute viel Freude; ein jeder, wie sie oder er kann und mag. Ich glaub’ sogar, Anna-Alina hat’s gefreut –
bis zu dem Tag, ab dem alle Freude bleibt.
© Stiftung Stückwerken, *2.11.2019, freigegeben am 28.3.2024
Qouz-Note: 3
***
MamM 1.042 Nachtmeister Stropp und der Fall Braunekat
„Hereinspaziert! Hereinspaziert!“ lud eine Stimme katzenfreundlich
ein. „Die Sensation des Jahres! Was sag’ ich? Die Sensation des Jahrhunderts!“
„Guten Morgen, Frau Braunekat“, ließ unser Stropp offen, ob er darunter das gleiche verstand wie
die Katzendame. „Seid Ihr unter die Schaustellerinnen geraten?“
„Schaustellerinnen? Ph!“ hielt’s die Katze nicht für die
rechte Würdigung. „Ich bin eine Kinstlerin! Die größte Kinstlerin –“
„Und worin besteht Ihre Kunst?“ meldete sich nun auch Bruhno zu Wort.
„Gartenarchitektur“, schien’s Frau Braunekat offensichtlich. „Siehst du das nicht, mein Kleiner? Ich bin die –“
„Und was ist daran Können?“ bezahlte unser Bär Respektlosigkeit mit Respektlosigkeit. „Kannst du die Sonne scheinen lassen? Den Regen –“
„Das ist keine Kunst, sondern einfache Natur“, belehrte die Katze. „Aber hier mein Pilzwald. Schau ihn dir nur an! Ist er nicht herrlich? Und dann dieses Weiß!“
„Hast du ihn selbst gestrichen?“ kleidete sich unser Bruhno in Einfalt.
„Dummerchen“, bescherte dieser Same Verachtung. „Das sind erlesene Schneepilze. Beste Züchtung! Und wunderbar angeordnet! Ich will mich ja nicht selber loben, aber –“
„– sie tat es doch und ständig“, ergänzte unser Nachtmeister, als er davon zu Hause berichtete. „Und dann
erzählte sie noch etwas Sonderbares, aus dem ich nicht recht schlau geworden bin. Nämlich, daß auch viele Mäuse
kämen. Und schwups – seien sie im Himmel. Wieso im Himmel?“
„Manchmal ist mein berühmter Gatte doch etwas schwer von Begriff“, kommentierte Frau Struppe mehr zärtlich denn tadelnd. „Was frißt eine Katze am liebsten?“
„Vögel und Mäuse“, brauchte unser Held nicht lange zu überlegen. „Jedenfalls früher. Heutzutage jagt sie jene nur noch, spielt mit ihnen grausam, tötet sie und legt sie dann vor irgendwelchen Haustüren ab. Fressen wollen sie eigentlich nur noch Fleisch vom Metzger, weil’s bequemer ist.“
„Also?“ fragte die Eheliebste weiter. „Was versteht Frau
Braunekat unter dem Himmel?“
„Daß sie die Mäuse tötet“, wurde es unserem Igel endlich klar. „Das ist Mord!“
„Und willst du so etwas zulassen?“ redete die Igelin ihrem Gatten ins Gewissen.
Nein, das wollte unser Stropp gewiß nicht. Allein – es war gar nicht so einfach, sich die nötigen Vollmachten
zu besorgen.
Bei der nächsten Gelegenheit trat er mit Bruhno an den amtierenden Friedensrichter heran. Es gebe jemanden in seinem Reiche, der habe sich aufs Morden
gelegt. Und das auf sehr heimtückische Weise.
„Kann ich ihn fressen?“ war für Reinbert hier jedoch die wichtigste
Frage.
Unser Nachtmeister wolle das nicht vollkommen ausschließen, halte es aber für nicht sehr wahrscheinlich. Erst
als er erwähnte, die Opfer seien immer Mäuse, wurde der Fuchs tatkräftiger. Wesentlich tatkräftiger, jedoch – auf seine
Weise.
„Stropp! Das dürfen wir nicht dulden!“ zeigte er sich
staatsmännisch. „Mäuse stehen unter Unserm besonderen Schutz! Sofort
unterbinden! Umgehend verhaften! Und wenn der Täter dabei draufgeht, mein
lieber Stropp, haha, du weißt schon. Oder – wart einmal! So ein Schauprozeß
ist auch nicht so ganz ohne. Und wenn mir danach ein Kitz oder ein Hase in die Fänge fällt, dann wird mir jedermann glauben, sie seien
unbelehrbar gewesen. Also, mein lieber Stropp, du hast von mir aus vollste Freiheit; und wenn du noch ein paar Mäuse mitbringen kannst, eh, sozusagen als Zeugen, um so besser! Solltest du aber meinen Auftrag nicht umgehend und zu Unserer vollsten Zufriedenheit ausführen, dann sehe ich mich leider gezwungen, mich nach
einem anderen Nachtmeister umzusehen. Verstanden?“
Eigentlich eine überflüssig Frage; denn ein Ja könnte nicht zufriedenstellen, ein falsches Verstehen
verbergend.
Nun, unser Held hatte zwar so einiges verstanden, in seinem Sinne war es jedoch nicht. Eine Katze war auch nur
ein Tier und bestimmt nicht schlechter denn ein Fuchs. Welches Tier hätte das Recht, sie mit dem Tode zu bestrafen? Und in den Augen des Fuchses bestand die Straftat der Katze nicht darin, daß sie mordete, sondern darin, eine unliebsame Konkurrentin im ach so
edlen Waidwerk zu sein. Und gar noch Verrat am Mäusevolk zu verüben, das ging unserem Igel wider seine Natur. Er mußte mal wieder alles in seine eigene Hand nehmen, rechtlich kaum abgesichert, und recht täte er’s wohl niemandem machen; allenfalls den Mäusen.
Und dann eine weitere Schwierigkeit. Katzen waren auch tagsüber unterwegs; jedenfalls diese verzärtelten Hauskatzen. Aber ein Igel braucht nun einmal tagsüber
seine Ruhe; erst recht, wenn er mit einer selbstbewußten Igelin verheiratet ist. Die täte es ihm bestimmt nicht gestatten, sich die Tage um die Ohren zu schlagen. Das
ginge auf die Dauer nicht gut, würde sie ihm Morgen für Morgen in den Ohren liegen. Und Abend für Abend: Denk an deine
Gesundheit! Bist du mit mir verheiratet? Oder mit deiner
Amtstätigkeit? Nein, diese Aufgabe konnte unser Nachtmeister nicht alleine stemmen.
Zunächst besprach er sich mit seinem Lehrling.
„Dann müssen wir eben die Pilze einfach umsäbeln“, schlug dieser sogleich vor.
Aber unschuldige Pflanzen einfach vernichten, nein, das war nichts für Stropps Herz.
Dann müßten sie sich eben teilen, bot der Bär unerschrocken an. Er, Bruhno, täte tagsüber die Katze
überwachen, und der Herr Nachtmeister des Nachts. Ganz einfach.
Nee, das wollte der Lehrherr auch nicht; denn er hatte sich an seinen Begleiter schon sehr gewöhnt.
Und wie wir so überlegten“, berichtete unser Held später seiner Eheliebsten, „wurde ich plötzlich von einer Eichelnuß getroffen. Und nun wußten wir, was wir zu tun hatten. Wir beriefen nämlich alle Tiere zusammen,
die mit der Katze auf Kriegsfuß stehen und die mit Nüssen werfen können; und zwar so, daß ihnen die Katze nichts anhaben
kann. Und da kamen nun Eichkater, Eichelhäher, sogar eine Krähe, Haselmaus und eine ganze Baummarderfamilie zusammen. Und künftig wird Frau Braunekat rund um die Uhr überwacht; und sobald sie sich an
einer Maus vergreifen will, wird sie mit Eichel-, Hasel- und Kastaniennüssen bombardiert.“
„Und Reinbert?“ gab die Eheliebste zu bedenken.
„Was kann er schon sagen?“ versuchte unser Held zu entsorgen. „Braunekat mordet nicht mehr; und wo kein Verbrechen vorliegt, da kann ich auch
niemanden verhaften.“
Freilich – ob er sich damit bei Reinbert beliebt machte?
© Stiftung Stückwerken, *9.11.2019, freigegeben am 29.1.2024
Qouz-Note 4+
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MamM 1.043 Der gerechten Trägheit
Eigentlich war ja sein Name Clemens, und das heißt in unserer Sprache: sanft und milde. Allein –
was wir uns da zunächst über dieses Königskind anhören müssen, klingt ganz anders.
Da streckt ihm seine jüngere Schwester die Zunge raus. Und was tut er? Er tut’s ihr nach. Ist das milde?
Oder er will sich auf einen Stuhl setzen, doch diesen zieht der jüngere Bruder flugs hinweg, so daß sich Clemens auf den Teppich setzt. Mild wär’s gewesen, wenn’s der Kronprinz rasch wieder vergessen und verziehen hätte.
Doch was tut er? Bei der nächsten Gelegenheit zieht er seinem Bruder ebenfalls den Stuhl weg.
Tscha, und dann der Vater! Wenn der seinen ältesten Sohn mal in der Öffentlichkeit tadelte oder etwas unsanft
anfaßte, dann hätte Clemens es auch ihm gerne umgehend heimgezahlt; doch dazu war er noch etwas zu klein. Aber er merkte sich solche Zwischenfälle; und sobald er lesen und schreiben gelernt
hatte, legte er sich ein Wiegebüchlein an. Das hatte überhaupt nichts mit einer einschläfernden Wiege zu tun, sondern eher mit einer
Kaufmannswaage. Und hier trug Clemens Tag für Tag ein: das Datum, die erlittene Ungerechtigkeit und den Täter sowie in Spalte 4 und 5
das Datum und die Art des gerechten Ausgleichs. Die Vorfälle mit seinen Geschwistern konnte er in der Regel noch am gleichen Tag
ausgleichen; die Vorfälle mit seinem Vater oder anderen Erwachsenen mußte er dagegen erst einmal offenlassen. Offenlassen bis zu der Zeit, ab der Clemens genügend Macht hätte, Vergeltung zu üben.
Du ahnst wohl schon, aus Clemens würde einmal ein strenger König werden; und du ahnst richtig. Sobald er den Thron bestiegen hatte, arbeitete er erst einmal die bisher noch offenen Fälle ab. Gut, mancher Täter war inzwischen außer Landes gegangen oder sogar gestorben;
körperlich konnten solche nicht mehr belangt werden, aber stets hatten sie Spuren zurückgelassen, an denen sich der König schadlos halten oder zumindest entschädigen konnte.
Dazu kamen natürlich ständig neue Ungerechtigkeiten; und ob einem Königskind oder einem König mehr
Ungerechtigkeiten widerfahren, darüber kannst du wohl eine Doktorarbeit schreiben.
Doch mehr und mehr konnte sich Clemens seinem Volk widmen und dort Ungerechtigkeiten durch strenge Strafen ausgleichen. Geld um Geld! Schaden um Schaden! Leben um Leben!
Allein – wer sich nur noch um die Ungerechtigkeiten in seiner Familie, Nachbarschaft und in seinem Volk kümmert, dem fehlen Zeit und Kraft, mit sich selbst ins Gericht zu
gehen. Das kannst du bei Menschen, die Recht sprechen müssen oder Anklage führen, immer wieder beobachten. Und da es in den alten Zeiten die Könige waren, die den obersten Richtstuhl innehatten, gab es damals das Amt des Hofnarren gleich einem
zauberhaften Spiegel. Zauberhaft, da der Betrachter sich darin nur selber sehen kann; will er’s nicht, darf er diesen Spiegel gar nicht nutzen. Und solch einen
Zauberspiegel hatte auch Clemens; allerdings hieß er Rosanne und war eigentlich eine
Spiegelin.
Herrlich, Mäuschen zu spielen, wenn die beiden zum Spiegelstündchen zusammenkamen! Stündchen, weil der König
bemüht war, alles in wenigen Minuten über die Bühne zu bringen; während Rosanne der Ansicht war, auch ein Stündchen habe 60
Minuten. Mindestens, – da sie ja weiblichen Geschlechts war. Dazu umkreiste
sie mit einem Spieglein immerzu den König und zwang ihn, hineinzuschauen, wenn er von seinem Tagwerk berichtete. Und stockte Clemens
oder flüchtete er in eine Abkürzung, dann führte ihn Rosanne durch gezielte Fragen immer wieder auf den Weg der Besinnung zurück.
Der Dieb habe das Gestohlene zurückgeben müssen, erzählte der König so eines Abends, und das 4fache als Strafe an die königliche Schatzkammer. Oh weh, was sah er da im Spiegel! War er nun selbst zum Dieb geworden? 4mal größer als der ursprüngliche Täter? Ein Mann hatte einem andern eine Beule
geschlagen; dafür erhielt jener eine Beule zurück und 4 weitere Beulen als Strafe obendrein. Und der Spiegel zeigte nicht den Henker, sondern den König. Und ein Mann hatte einen
andern erschlagen und ward deshalb vom König zum Tode verurteilt worden. Gut, das Urteil war noch nicht vollstreckt, und so konnte der
Spiegel nicht den König zeigen; aber Rosanne stellte eine Frage: „Merkst du überhaupt nicht, wie du immer Verbrechen mit Verbrechen
vergiltst?“
Ei, so etwas paßte dem König überhaupt nicht! Er rief die Wachen und hieß Rosanne aus Schloß und Stadt führen
und verbannen.
„Gelt, diese Wahrheit kannst du mir nicht vergelten“, sprach Rosanne zum Abschied; dann ließ sie sich ohne
Gegenwehr hinausführen.
Besser ward es mit dem König in der Folge erst mal nicht. Er legte bald nicht nur Verbrechen auf den Prüfstein
seiner Gerechtigkeit, sondern auch Gnaden. Konnten etwa die Armen ihre Almosen vergelten? Nach Ansicht des Königs nicht. Also wurden Almosen verboten. Konnten die Alten ihr Gnadenbrot vergelten? Nach Ansicht des Königs nicht. Also wurde das Gnadenbrot verboten; und selbst im hohen Alter mußte künftig jeder
selbst für sich sorgen. Und die kleinen Kinder? Konnten sie’s vergelten, was sie
erhielten? Nach Ansicht des Königs nicht. Also? Stell dir das Elend nicht zu deutlich vor! Tscha, so weit kann es mit einem Volk und
Land kommen, wenn die Gerechtigkeit alleine regiert. Daß es da nicht mehr schön ist, merkte selbst der König.
In dieser Zeit nahm Clemens die Gewohnheit an, bei Sonnenuntergang noch ein paar Schritte vor die Stadt zu gehen; ohne jegliche Begleitung. Dabei hatte er auch den Friedhof der Residenzstadt zu
durchqueren, der nicht bei der Stadtkirche, sondern abseits angelegt worden war. Und dort gewahrte der König eines Abends eine einzelne
Rose auf dem Wege liegen. Gewiß hatte sie ein Lausejunge von einem Grab gestohlen und hier verloren. So des Königs 1. Gedanke. Da er dieses Grab aber nicht ausfindig machen konnte,
pflanzte er die Rose auf des Friedhofs Komposthaufen, schnupperte noch einmal daran und ging weiter. Allein – der Duft war Clemens ins
Herz gefallen.
„Rosanne“, murmelte der König, „wie fehlst du mir!“
Am andern Morgen ließ er sogleich nach Rosanne suchen, aber niemand konnte ihm frohe Botschaft bringen.
Jener Duft jedoch war ihm im Herzen geblieben und wollte leben. Und der König begann, ihn zu
nähren. Und Kinder waren wieder willkommen, und die Alten wurden gepflegt, und die Armen wurden gespeist, und der König legte selbst
Hand mit an. Und die Todesurteile wurden zerrissen, und wer etwas verbrochen hatte, dem ward Raum gegeben zur Buße und Schaden zu
ersetzen.
Und eines Abends ging der König wieder über jenen Friedhof, und der Wind war ihm entgegen und wehte einen Duft von wilden Rosen herüber. Da gewahrte Clemens, daß ein Wunder geschehen war und jene Rose sich in einen Rosenstrauch verwandelt hatte. Und aus seinem Schatten trat gerade eine anmutige Gestalt hervor.
© Stiftung Stückwerken, *14.+16.11.2019, freigegeben
am 28.3.2024
Qouz-Note: 3-
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MamM 1.044 Seele, vergiß nicht
„Ach, es ist alles so trostlos“, jammerte Donna von Kessel.
„Alles?“ zweifelte der Alte von der Halbinsel hörbar.
„Dieser ständige Nebel –“, begann die Besucherin aufzuzählen.
„– hier im Tal“, ergänzte der Alte.
„Die fallenden Blätter –“, fuhr Donna von Kessel fort.
„– in ihren leuchtenden Farben –“
„Aber nur, wenn die Sonne scheint“, stellte die Besucherin richtig.
„Vor den neuen Knospen“, wollte der Alte anscheinend das letzte Wort behaupten.
„Und nirgendwo Trost“, hatte es Donna von Kessel überhört. „Noch nicht einmal in der Kirche. Wenn ich schon die neuen Tonsätze höre –“
„Ja“, mußte der Alte zugeben, „mit dem neuen Gesangbuch haben sich einige lächerlich –“
„Einige?“ widersprach die Besucherin. „Die ganze
Kirche!“
„Die Kirchenleitung“, schien der Alte preiszugeben, „die vielen Opportunistinnen und Opportunisten, –“
„Und dann die stümperhaften Eingriffe in die Texte!“
„Dem Teufel wird’s jedenfalls sehr gefallen haben“, mußte der Alte auch das zugeben, obwohl bekanntlich sozusagen kein Wissenschaftler von Format mehr an jenen
glaubt.
„Ihr sagt es!“ stieß es bei Donna von Kessel nicht auf taube Ohren. „Während sie das, was ihm bereits gefallen hat, stehengelassen haben. Nein, es ist
alles so trostlos!“
„Alles?“ kehrte der Alte zum Anfang zurück, ehe er aus dem Gedächtnis zitierte:
„Ich sah den Wald sich färben,
erst schien es mir ein Sterben;
da ließ ich, statt zu zagen,
mich weit von Flügeln tragen“;
dann begann er zu erzählen:
Was so ein Leben alles enthält! Ja, bereits ein einziger Tag! Und es wird wohl Weise geben, die den Ratschlag erteilen: Leb jeden Tag wie eine Eintagsfliege. Allein – welcher Mensch wird von einer Fliege viel halten?
Es wär’ also mal ein König, der hieß Orelinus. ’s klingt irgendwie nach Feldhauptmann und
Kriegsherr; aber zunächst einmal war er Kind und Prinz. Und den Namen hatte
er sich auch nicht selbst gegeben. Jedoch – in manchem ist unser Leben einem Zuge gleich, der auf Schienen fährt, die von anderen
gelegt wurden, und über Weichen, die von anderen gestellt werden.
Tscha, und nun stell dir vor, du wärest ein Waffenschmied. Was tätest du Kindern schenken? Richtig! Zinnsoldaten, Kinderwaffen und – Bücher, die den Krieg und die Gewalt
verherrlichen. Und das alles erst recht Königskindern.
Freilich – der Schuß kann auch nach hinten losgehen. Dann nämlich, wenn sich Kinder an diesen Waffen
verletzen. Oder wenn es ihnen wie unserem Orelinus geht.
Der hatte nämlich ein Brummstübchen. Das war eine Kammer hoch
oben auf einem Treppenturm des königlichen Schlosses. Dorthin zog sich der Prinz zurück, wenn er nicht gestört werden
wollte. Und von dort konnte er in alle Richtungen schauen; weit, weit ins
Land. Die Menschen dort unten waren so klein wie Ameisen und so harmlos wie diese. Und der Prinz fühlte sich dort oben sicher und geborgen. Und war er verzagt gewesen,
so faßte er hier neuen Mut. Ein Prinz verzagt? Ein künftiger
König? Paßt das überhaupt zusammen? Auch er ist nur ein Mensch und hat
seine Grenzen; und es ist gut, ihm das zuzugestehen. Denn – dann kann die
Hilfe von außen kommen.
Bei unserem Orelinus kam die Hilfe von einer Fee. Einer guten Fee! Die sandte dann einen großen, starken Vogel, der sich aber so klein machen konnte, daß ihm selbst das kleinste Schlüsselloch groß genug war, und
das selbst dann, wenn gar ein Schlüssel darin steckte.
Was hilft dir nämlich ein Brummstübchen, wenn kein Wind weht und die Nebel aus den Seen und Wiesen steigen, daß du selbst oben auf deinem Turme meinst, du blicktest
ringsum in eine große dampfende Waschküche. Dann ist es gut, wenn jener Vogel kommt und dich über alle Nebel und Wolken trägt und dich
der Sonne Strahlen wieder wärmen.
Aber nicht nur an solchen Tagen kam der Vogel zu unserem Orelinus. Er kam auch, wenn Orelinus viel von sich
selber hielt. Dann trug er diesen an den Rand eines Buchenwäldchens. Und
wenn der Prinz dort zu den Wipfeln der großen Bäume emporschaute, dann kam er sich selbst sehr klein vor.
Und wenn des Prinzen Zinnsoldaten einen großen Sieg eingefahren hatten (Wer von seinen Spielgefährten hätte es sich schon mit dem
künftigen König verderben wollen?) oder er begeistert die gewissenlosen und feilen Schilderungen großer Schlachten gelesen hatte,
dann war der große Vogel plötzlich wieder da. Nicht nur im Brummstübchen, sondern auch woanders, sobald Orelinus einen Augenblick
innehielt. Und dann trug diesen der Vogel zu jenen Schauplätzen, wo sich die Schlachten als ein Schlachten zeigen und sich festsetzen:
das Schreien der Sterbenden im Ohr und der Geruch des Todes in der Nase und all das Elend im Gedächtnis.
So! Jetzt machen wir mal einen Sprung, denn das Mährchen geht seinem Ende entgegen; obwohl – Also, Orelinus hatte sich verliebt. In eine Prinzessin. Schön? Blonde, braune, rote oder schwarze Haare? Blaue Augen oder braune oder grüne oder graue? Jedenfalls für den Prinzen die
Richtige. Und auch zu ihrem Schloß ließ er sich immer wieder von jenem Vogel tragen. Und zwar sehr gerne. Doch manchmal war sie dort gar nicht zu sehen. Ob sie auch so einen wundersamen Vogel hatte? Vielleicht sogar den
gleichen?
Doch eines Tages hörten diese Flüge zu jenem Schlosse erst mal auf, denn es ward eine prächtige Hochzeit gefeiert. Irgendwann kamen auch Taufen und eine Krönung hinzu.
Aber jener Vogel blieb nicht untätig; in jenen Tagen nicht und auch später nicht. Denn selbst in einer königlichen Familie hängt der Haussegen nicht immer gerade. Dann
trug der Vogel Orelinus wieder zum Schlosse der Prinzessin. Welch eine Liebe! Konnte denn Liebe sterben? Welch eine Sehnsucht!
Auch gab es Abschiede. Dann trug jener Vogel Orelinus bis an die Mauer des Totenreiches. Hinein dürfe er nicht, und hinaus dürfe zur Zeit auch keiner. Und Orelinus hörte dort
Stimmen, und an des Reiches Mauer hingen Bilder von den Bewohnern jenes Reiches. Und Orelinus wurde wieder warm ums –
„Und der Vogel steht für die Seele?“ zweifelte Donna von Kessel an ihrer eigenen Deutung. „Oder den Geist? Aber dann reimt –“
„Meine Mährchen sind eben keine Bilderrätsel“, konnte sich der Alte eines Lächelns nicht erwehren und fuhr dann in dieser Stimmung fort: „Jener Vogel kam auch bei
Krankheiten und anderen Sorgen. Sogar an Sterbelager. Aber wenn Orelinus
und seine Eheliebste nicht gestorben sind, dann –“
Doch Donna von Kessel war inzwischen gegangen.
„Schade“, bedauerte es der Alte, „aber ich achte, Brummstübchen und Vogel verlängern das Leben um – vielleicht 10 Jahre? Und machen es reicher! Nicht wahr, Sir Jarndyce?“
© Stiftung Stückwerken, *23.11.2019, freigegeben am 3.4.2024
Qouz-Note: 2
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MamM 1.045 Selig sind die Einfältigen
„Und wir sollen unseren Schuldigern vergeben“, berichtete Donna Nickenhaupt vom Sonntag, „und Gott über alles lieben, ja, und unseren Nächsten sollen wir auch lieben.“
„Sollen?“ stolperte der Alte von der Halbinsel mal wieder über sein Reizwort. „Sonst nichts? Kein Evangelium?“
„Aber das ist doch das Evangelium“, verstand die Besucherin die Aufregung nicht. „Sogar Worte Jesu!“
„Und das Herz?“ reagierte der Alte erneut unverständlich. „Brannte es bei diesen Worten? Die Begeisterung? Die Freude? Was kann aus Geboten aufgehen?“
„Na, Gehorsam“, brauchte Donna Nickenhaupt nicht lange zu überlegen.
„Eine Eigenschaft Gottes?“ fragte der Alte verneinend.
„Greif’s aber mal von der anderen Seite an: Du darfst Gott mit allen Kräften lieben, und er wird es wert sein und dir keinen Korb geben. Du darfst deinen Nächsten lieben, und es wird nicht vergeblich sein. Du darfst dich selber
lieben; und wenn’s auf Augenhöhe mit deinen Mitmenschen geschieht, wird es dir nicht schaden. Du darfst vergeben und brauchst nicht zu richten und wirst so frei, statt dich in Ungerechtigkeit zu verstricken. –“
„Aber so steht es nicht in der Bibel, und so sind wir es nicht gelehrt worden“, wandte die Besucherin ein. „Und Ihr lauft Gefahr, von der Kirche für einen Ketzer gehalten zu werden.“
„Also für jemanden, dem die Wahrheit wichtiger ist denn die herrschende Meinung und Anerkennung?“ folgerte der
Alte. „Danke für dieses Lob. Tscha, daß es nicht ihrem Predigen entspricht,
werden sie mir ankreiden können; aber daß es unwahr sei, werden sie nicht zu belegen wissen“, und er begann zu erzählen:
Und die Eltern stiegen ein. Und der Zug setzte sich in Bewegung. Und den 3 Söhnen war bewußt, daß jene nie mehr wiederkommen würden. Als aber der Zug
ihren Augen entschwunden war, da fand sich’s, daß jenseits des Gleises Gepäck zurückgelassen worden war.
Da ging der älteste Sohn hin, es zu besehen, und entdeckte ein Brot. Als er’s aber aufhob, da war es schwer
und hart wie ein Stein, und er ließ es wieder fallen. Dann entdeckte er einen Becher; da dieser aber leer war und anscheinend nicht aus edlem Material, nahm ihn der älteste Sohn nicht an sich. Und zuletzt war da noch ein Mantel, sogar mit einer Kapuze, aber ganz aus der Mode gekommen und nicht sehr kleidsam. Da ließ der älteste Sohn alle Sachen liegen und stellte es seinen jüngeren Brüdern frei, sich etwas auszuwählen.
Der mittlere Sohn kam zu der gleichen Einschätzung wie sein älterer Bruder und nahm sich von den 3 Sachen ebenfalls nichts.
Der jüngste Sohn jedoch war sehr einfältig und dachte bei sich: «Geschenkt ist geschenkt! Die Eltern werden
sich schon etwas dabei gedacht haben», und er trat zu dem Gepäck und nahm alle 3 Sachen an sich.
„Heinerle, Heinerle“, spotteten seine Brüder, „was bist du nur für ein Narr! Nimmst den Plunder mit und weißt
nicht, wozu er gut sein könnte! Eigentlich sollten wir uns deiner schämen!“
Tscha, damit war ein Gedanke in der Welt, den die Eltern nicht gepflanzt und auch nicht gepflegt, sondern bisher verhindert hatten. Aber nun keimte er und wurde bald so mächtig, daß Heiner schließlich verstoßen ward und außer Landes gehen
mußte.
Viel Gepäck hatte er nicht, denn er war so einfältig, daß er dachte: «Der liebe Gott läßt die Sperlinge leben, da wird er auch für
mich sorgen»; nur jenes Brot, jenen Becher und jenen Mantel ließ er nicht zurück.
Tscha, wie groß seine Torheit war, kannst du schon dem abmerken, daß er jenen Mantel anzog, obwohl’s Hochsommer war. Du ahnst schon, daß er bald ins Schwitzen kam und seine Gedanken mehr und mehr vom Durst in den Dienst genommen wurden. Da fiel Heiner jener Becher ein. Er kramte ihn heraus, setzte ihn doch mährsächlich
an die Lippen, doch kein einziger Tropfen rann Heiner in den Mund.
«Hatten etwa meine Brüder recht?« begann Heiner zu zweifeln. «Ist’s eben doch alles Tand?»
Da gewahrte er am Wegesrand eine verhüllte Gestalt sitzen. Die bat ihn, ihr zu trinken zu geben. Tscha, aber wie? Er hätte nur diesen Becher hier, doch der sei leer. Sie könne es ja selber mal versuchen. Und die Gestalt nahm den Becher, dankte, setzte
ihn an ihre Lippen, trank, gab ihn zurück, und nun trank auch Heiner – ganz verwundert. Und seine Augen blickten wieder wacker, so daß
er seine Wanderung hurtig fortsetzen konnte.
Jedoch – bald ergriff der Hunger von den Gedanken Besitz, so daß sich der Wandersmann an jenes Brot erinnerte.
Das war aber so hart, daß es nicht zu beißen war. Da gewahrte er erneut eine verhüllte Gestalt am Wegesrand sitzen. Die bat ihn um etwas zu essen. Da er sie nun nicht darben lassen wollte, gab er ihr
jenes Brot, warnte aber davor, daß es den Zähnen schädlich sein könne. Jene Gestalt ließ sich aber nicht abschrecken, nahm’s, dankte,
biß herzhaft hinein, und ihre leuchtenden Augen bezeugten, daß es ihr munde. Dann gab sie das Brot zurück, und auch Heiner kostete und
war über den guten Geschmack überrascht und wie kräftigend es wirkte.
Und er ging weiter und weiter, bis sich ein Unwetter zusammenbraute. Und es begann zu regnen und sich stark
abzukühlen, und der Regen drang durch den Mantel und die Kühle auch. Da gewahrte Heiner wieder eine verhüllte Gestalt am Wegesrand
hocken. Die bat um Schutz, und bereitwillig nahm er sie unter seinen Mantel, obwohl der ihm doch gar nicht geholfen hatte. Tscha, so einfältig war unser Heiner. Doch kaum war auch jene Gestalt vom Mantel
bedeckt, da begann es, wie aus Eimern zu schütten, und ein kalter Wind wehte. Und die Regentropfen trafen zwar den Mantel, wurden aber
immer wieder zurückgeschleudert, und auch die Kälte konnte den beiden nichts anhaben.
„Und was hat das bitte schön mit Predigt und Evangelium zu tun?“ konnte sich Donna Nickenhaupt nicht länger
zurückhalten.
„Mit dem heutigen Predigen nichts“, mußte der Alte zugeben, „aber – ja, bei Heiner war’s eine Herzensangelegenheit. Wäre ihm der Kopf gewaschen worden, er hätte jene Wunder nie erlebt. Und das größte
Wunder kommt noch. Die beiden unter dem Mantel wurden ein Herz und eine Seele; und das Brot nahm nicht ab, und der Becher füllte sich neu, und der Mantel schützte und wärmte, sobald sie’s mit andern teilten. Und als die beiden jenen Zug bestiegen, der nimmer wiederkehrt, da ließen sie –“
Allein – die Besucherin war inzwischen gegangen.
© Stiftung Stückwerken, *28.11.2019, freigegeben am 15.11.2023
Qouz-Note: 2
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MamM 1.046 Und werde Licht
Es wär’ einmal ein Land, in dem kannten die Menschen nur das natürliche Licht, aber weder Lampen noch Laternen, noch Kerzen.
Das hörte der große Zauberer Lucius; und da er sich jenes Land gerne untertan gemacht hätte, ersann er einen
Plan. Er schickte nämlich seine Dienerinnen und Diener auf die Weihnachtsmärkte jenes Landes. Dort ließ er dann seine Lampen vorführen und feilbieten; und die Einwohner jenes
Landes staunten sehr.
„Was quält ihr euch lustlos und übellaunig durch die Wintertage?“ wurden sie
angesprochen. „Liegt’s nicht daran, daß ihr kein Licht habt? Die Sonne
schafft’s jetzt kaum für 4 Stunden über eure Berge; und wie oft stellen sich ihr Nebel und Wolken entgegen! Ihr habt ja zum Arbeiten noch nicht einmal des Tages genügend Licht, geschweige an den langen Abenden! Ihr schafft kaum was, macht Fehler über Fehler und seid ständig verdrossen. Und wollt
ihr dem mit flackernden Fackeln abhelfen, so bekommt ihr obendrein noch den Husten. Aber seht euch mal unsere Lampen an. Spottbillig und fast geschenkt!“
Eigentlich hätte Lucius die Lampen sogar für umsonst abgeben können und wäre dennoch auf seine Kosten gekommen. Allein – er wußte: Was nichts kostet, ist den Menschen nichts wert. Aber der Preis war so niedrig, daß sich jedermann solch eine Lampe leisten konnte.
Die Lampe! Aber –
Nun, erst einmal staunten die Menschen über das helle Licht. Das war ja noch heller als die Sonne! Und jedermann konnte die Lampe anfassen, ohne sich dabei die Finger zu verbrennen.
Ja, es schien sogar, als entziehe die Lampe ihrer Umgebung Wärme und wandle auch diese in Licht um.
Jetzt darfst du aber nicht denken, diese wundersamen Lampen nährten sich nur von Luft und Wärme. Aber das
entdeckten jene Einwohner erst später. Zunächst sahen sie nur, wie vorteilhaft ihr Kauf war. Denn nun konnten sie auch an dunklen Tagen arbeiten und an den Abenden. Bald gab’s
kaum noch ein Haus, in dem kein Webstuhl stand oder keine Arbeitsecke eingerichtet war. Stell dir nur vor, welch ein Gewinn das für
jede Familie war! Frauen und Kinder konnten nun bis tief in die Nacht arbeiten! Und das, zumal die Menschen bei diesem Licht viel weniger Schlaf brauchten. Freilich
– wärmer anziehen mußten sie sich schon und mehr Geld für Brennholz und Kohle ausgeben; aber das kam durch die erzielten Mehrerlöse für
ihre Stoffe und sonstigen Produkte dicke wieder rein. Und als auch noch in immer mehr Haushalten und Werkstätten die 24 Stunden von Tag
und Nacht in 2 Arbeitsschichten aufgeteilt wurden, schienen dem Wohlstand Tür und Tor geöffnet zu sein.
Auch die Fuhrleute profitierten von dem neuen Licht, konnten sie doch jetzt ihre Ladungen Tag und Nacht durch die Lande fahren und zu den Märkten und Messen
bringen.
Und selbst die Bauern und Jäger nutzten das helle Licht, um ihre Ausbeute beträchtlich zu steigern.
Nun hat aber alles, was dir ein Zauberer gibt, seinen Preis. Den Verkaufspreis der Lampen und die Mehrausgabe für wärmere Kleidung und Brennmaterial nannte ich bereits. Aber der Preis war noch höher! Denn die Lampen brannten nicht ewig. Erst dachten die Menschen, sie wären betrogen und ihnen wäre wertloser Tand angedreht worden.
„Nein“, beteuerten die Dienerinnen und Diener des Zauberers, die von diesem vorsorglich wieder in jenes Land geschickt worden waren, „euch ist bestimmt das Luzinol
ausgegangen, ohne das die Lampen nicht mehr brennen können. Aber gerne wollen wir euch neuen Vorrat geben.“
Nicht umsonst, nicht so billig wie die Lampen, sondern so teuer, daß die Menschen noch mehr arbeiten mußten, um sich ihren Monatsvorrat an Luzinol leisten zu
können.
Aber diesen Teil des Preises kannst du noch zählen und berechnen; das geht bei den andern Teilen
nicht. So war das Licht jener Lampen so zauberhaft, daß es überall die Makel und Fehler offenbarte. Und welcher Mensch ist ohne diese? Gut, manches kannst du übertünchen, aber auch dies
wurde durch jenes Licht unübersehbar. So etwas fördert nicht die gegenseitige Achtung unter den Menschen.
Tscha, und dann der Schaden durch das Blenden! Wenn 2 Fußgänger am späten Abend oder in der Nacht
zusammenstoßen, dann entstehen daraus vielleicht Beulen und blaue Flecken; doch das verheilt bald wieder. Wenn aber 2 Kutschen zusammenstoßen, weil ein Kutscher den andern geblendet hat, dann entstehen Schäden an Leib und Leben von Pferden und
Menschen.
Durfte das so weitergehen? Ja, nach Ansicht des Zauberers; denn eigentlich waren ihm somit bereits alle Einwohner untertan. Nein, nach Ansicht
des Königs jenes Landes; denn der hatte sein Volk lieb.
Traurig und trostlos ging König Lüdewin eines Mittags über den Wochenmarkt seiner Residenzstadt; nicht in Purpur, nicht gekrönt, sondern in einem schlichten grauen Mantel und mit einem breiten Schlapphut auf dem Kopf. Da gewahrte er – nicht der Mantel, auch nicht der Schlapphut, sondern der König – wie von ungefähr ein Mädchen am Rande des Marktplatzes
sitzen. Da von der Jungfrau niemand Notiz zu nehmen schien, hatte der König genügend Raum und Zeit, sich ihre Waren
anzuschauen. Und stell dir vor, es waren lauter Kerzen; allerdings –, aber
darauf komm’ ich gleich noch zu sprechen.
Jedenfalls ließ sich der König diese Kerzen vorführen, und da fand es sich, daß ihr Licht längst nicht so hell leuchtete wie das jener Zauberlampen. Aber es wärmte; nicht nur die Haut, sondern auch das Herz. Und aus dem so erwärmten Herzen stiegen allerlei gute Gedanken herauf. Und die ließen
das Gesicht leuchten und strahlen, doch ohne zu blenden. Tscha, und jetzt komme ich zu dem Allerdings von vorhin. Während sich nämlich Wachskerzen selber verzehren, verbrannten die Kerzen jenes jungen Mädchens nicht. Sie brauchten auch kein Brennmaterial und erst recht kein Luzinol.
Was diese Kerze koste, fragte der König.
„Nichts“, antwortete das Mädchen, „aber du mußt 2 Kerzen nehmen und eine davon weitergeben.“
Ob das Licht auch verlöschen könne, wollte der König wissen.
„Ja“, erwiderte das Mädchen, „wenn du es nicht achtest.“
Was dann zu tun sei, hakte der König nach.
„Siehst du“, sagte das Mädchen lächelnd, „jetzt weißt du, wozu du eine Kerze weitergeben möchtest. Und wenn
auch die nicht mehr brennt, dann mußt du eben mich rufen.“
Wer wollte es dem König verdenken, wenn er jenes Mädchen mit sich auf sein Schloß nahm und bei sich behielt?
Zum Schaden jenes Landes wird’s gewiß nicht gewesen sein.
© Stiftung Stückwerken, *6.12.2019, freigegeben am 4.4.2024
Qouz-Note: 2-
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MamM 1.047 Paradies?
„Habt Ihr auch gelesen“, fragte Donna Laufendsen, „bald soll jeder Mensch mindestens 100 Jahre alt werden?“
„Soll?“ rieb sich der Alte von der Halbinsel mal wieder an seinem Reizwort.
„Ja, sie schließen’s nicht mehr aus“, fuhr die Besucherin fort, „daß die Menschen gar nicht mehr sterben müssen.“
„Gut, daß ich das nicht mehr erleben muß!“ entfuhr es dem Alten.
„Jedenfalls nicht mehr auf dieser Erde.“
„Ihr tätet Euch nicht über ein ewiges Leben freuen?“ wunderte sich Donna Laufendsen.
„Nicht hier“, ergänzte der Alte. „Mit Schmerzen, Sorgen, Grenzen. Und wenn jenes Leben, das sie versprechen, Menschenwerk ist, kannst du sicher sein, daß ihm Mängel und Ungerechtigkeit anhaften. Freilich – bereits die Bibel verheißt: Die Menschen werden den Tod suchen und nicht finden.“
„Aber vielleicht finden sie sogar den Weg zum Paradies“, blieb die Besucherin zuversichtlich, „dann wär’s doch sicher auch für Euch –“
„Tscha“, trug der Alte weiterhin Bedenken, „was hilft mir der Weg, wenn ich nicht hineinkomme? Und ist
Paradies auch gleich Paradies? Meint Lukas den gleichen Ort wie die Schöpfungsgeschichte?“ Und er begann zu erzählen:
Es wär’ einmal ein Prinz, den hatten seine Pflegeeltern auf den Namen Kain taufen lassen. Was sie dabei geritten hat? Vielleicht dachten sie: Der soll einmal groß werden, denn
vor ihm wird sich alle Welt fürchten. Ist Sollen aber guter Same?
Als Kain volljährig wurde, sprach er zu ihnen: „Ich bin als Fremder zu euch gekommen und bin ein Fremder geblieben. Deshalb will ich nicht euer Thronfolger sein, sondern in die Fremde ziehen, ob ich dort das Paradies finde.“
Königin und König waren über diese Worte sehr betrübt, ließen aber dennoch die Hoffnung ihres Alters ziehen.
Und so wanderte Kain los und wanderte und wanderte.
Da näherte er sich eines Morgens einem Richtplatz. Und obwohl es noch sehr früh war, hatten sich bereits viele
Schaulustige eingefunden. Es hieß, so erfuhr Kain bald, eine Hexe finde ihre gerechte Strafe und werde verbrannt. Die junge Frau, so gewahrte es der Prinz, hatte einen gnädigen Scharfrichter gefunden; denn der hatte die Reisigbündel so aufgeschichtet und angezündet, daß der Rauch der jungen Frau bereits das Bewußtsein und wohl auch das Leben
geraubt hatte, bevor die Flammen den Körper erreichten.
„Kommt, gehen wir nach Hause“, sprach der Scharfrichter, als die Flammen kaum noch Nahrung fanden, „lassen wir es ausbrennen. Und da die Hexe ja doch keinen Anspruch auf einen Platz in geweihter Erde hat, mag der Wind ihre Asche in alle Richtungen tragen.“
Kain folgte diesem Aufruf als einziger nicht. Auch hier war er ein Fremder und dachte anders. Als alle andern außer Sichtweite waren, löschte er nämlich das Feuer, wartete, bis sich alles genügend abgekühlt hatte, sammelte dann die Asche
in seinen Mantel und stopfte diesen in einen Rucksack, ob der Prinz dafür irgendwo eine Ruhestätte fände. Zunächst aber fand er noch
einen goldenen Ring, in den der Name Judith eingraviert war, aber kein Datum.
Nach 3 Tagen Wanderschaft gelangte Kain in ein Reich, dem war der König abhanden gekommen. Und da der Prinz das Regieren ja von Kindesbeinen an gelernt hatte, willigte er ein, sich in der Residenz auf den Thron zu setzen. Allein – als er dort einzog, da umflatterte ihn ein Käuzchen und mahnte ihn, sich nicht für immer zu verpflichten; denn er werde es gewiß nicht lange aushalten.
Und mährlich, die Prophezeiung erfüllte sich. Das Volk war nämlich sehr eitel und wollte sich einen großen
Namen machen. Dies gedachte es durch siegreiche Kriege gegen seine Nachbarn zu erreichen, so daß Kains vornehmste Aufgabe die eines
Feldherrn war. Jedoch – schon bald gewahrte er, daß er hier das Paradies nicht gefunden hatte. Die Flüche der Betrogenen auf dem Schlachtfeld, die Klagen der Witwen und Waisen, die Hungersnot der Belagerten sowie die Bestialität der Krieger
konnte Kain einfach nicht übersehen. Er dankte also ab und wanderte weiter.
Und wieder kam er in ein Land, auf dessen Thron er sich setzen konnte; und wieder mahnte und prophezeite jenes
Käuzchen. Und wieder kam es so; denn auch hier war das Volk sehr eitel und
wollte sich einen großen Namen machen. Doch hier gedachten sie es durch großen Reichtum zu erzwingen, so daß es Kains vornehmste
Aufgabe war, den Wohlstand wie ein schlauer Kaufmann zu mehren. Freilich – die Schätze dieser Erde haben ihre Grenzen, so daß der eine
bald nur deshalb mehr haben kann, weil er’s andern weggenommen hat. Also mußt du ständig rauben, täuschen und übervorteilen und selber
Tag und Nacht auf der Hut sein, daß es die andern mit dir nicht ebenso machen. Sind das aber paradiesische Zustände, wo kein Mensch dem
andern trauen kann? Kain dankte jedenfalls bald ab und wanderte weiter.
Und zum 3. Mal kam er in ein Reich, das einen König suchte; und wieder mahnte das Käuzchen:
„Kiwitt! Kiwitt! Bleib lang hier nit!“
Tscha, auch dieses Volk war sehr eitel und wollte sich einen großen Namen machen. Deshalb sollte der neue
König vor allem die Wissenschaften und jene Künste fördern, die als die schönen bezeichnet werden. Nun ja, ein schönes Gemälde, ein
schönes Gedicht und schöne Musik können dich schon für einen Augenblick glauben machen, du seiest im Himmel und erlebtest gerade etwas Göttliches; und ein Blick in das Reich der Sterne oder in das winzige Leben in einem Wassertropfen mögen ähnliches hervorrufen; aber – du hast es immer mit Menschen zu tun. Eitlen Menschen! Eifersüchtigen Menschen! Die dich bedrängen, sie selber mehr zu schätzen und zu
fördern denn die andern. Jedenfalls dankte Kain auch hier bald ab und wanderte weiter.
Endlich gelangte er an ein breites Wasser und fand dort einen Fährmann, der vorgab, zu einem herrlichen Ufer übersetzen zu können. Aber jetzt gehe das noch nicht, denn Kain sei noch nicht frei genug; er möge sich nur
mal im Wasser genauer betrachten.
Mährsächlich, es stimmte, und Kain sah es nicht nur, sondern fühlte es jetzt auch. Wie konnte er sich jemals
von allem befreien? Da trug ihm wie von ungefähr das Käuzchen ein Brot herbei. Der Prinz dankte dafür, brach das Brot und teilte es mit dem Vogel, und beide aßen davon. Und
mit einem Mal empfanden sie soviel Kraft, umzukehren und zu versuchen, jede Bindung in eine Verbindung zu –
„Ich glaub’, jetzt fangt Ihr tatsächlich an zu spinnen“, konnte sich Donna Laufendsen nicht länger zurückhalten. „Das Käuzchen steht für eine Seele, dann müßte es aber inzwischen 100 Milliarden Käuzchen geben. Der Fährmann steht für den Tod; aber wer hat je gehört, daß er einen Menschen
zurückweist? Hier reimt sich allenfalls der Spruch des Käuzchens.“
„Vielleicht muß sich ein Bilderrätsel reimen“, räumte der Alte lachend ein, „aber ein Mährchen? Jedenfalls
mußten Kain und seine Begleitung auch zu jener Richtstätte zurückkehren, um auch von dort aus tätig zu werden. Eine schwere Aufgabe,
Menschen auch in ihrem Wahn und ihrer abstoßenden Schwachheit zu verstehen und dennoch Gutes in ihnen zu finden. Doch wenn du mit einem
Menschen dein Brot teilst, blickt dieser wieder wacker, und du kannst ihm in die –“, doch da gewahrte der Alte, daß die Besucherin inzwischen gegangen war.
© Stiftung Stückwerken, *14.12.2019+5.4.2024, freigegeben am 5.4.2024
Qouz-Note: 4-
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MamM 1.048 Gutwill und Böswill
„Gibt es eigentlich den gerechten Menschen?“ erwartete Donna Swattenwitt eine bejahende Antwort.
„Ich bin’s jedenfalls nicht“, gab der Alte von der Halbinsel unumwunden zu, „und weiß mich mit
Paulus von Tarsus in guter Gesellschaft.“
„Aber –“, hielt die Besucherin dagegen, „wäre das nicht ein Armutszeugnis, wenn eine Religion eingestehen muß, nicht zur Gerechtigkeit zu führen?“
„Wenn das jedoch gar nicht ihr Ziel ist?“ erwiderte der Alte. „Außerdem mag es ja gerechte Menschen
geben; da mußt du schon den lieben Gott fragen; der könnte dir das zuverlässiger beantworten. Auch bin ich in meinem Leben manchem Menschen
begegnet, den ich noch immer für untadelig halte. Jedoch – welchen Menschen kenne ich schon ganz?“
„Heißt es aber nicht schon in der Schrift“, war Donna Swattenwitt die Bibel anscheinend nicht ganz fremd: „Ihr sollt vollkommen
sein?“
„Sollt!“ machte des Alten Abneigung gegen dieses Reizwort selbst vor der Bergpredigt nicht halt. „Das hat Jesus gesagt, nachdem er an die Liebe Gottes erinnert hat, die nicht nur die Guten umfaßt, sondern –“
„Da habt Ihr’s ja!“ triumphierte die Besucherin. „Also muß es auch Gute geben!“
„Wie gesagt“, lachte der Alte: „Ich gehöre jedenfalls nicht zu ihnen und fühle mich dennoch von Gottes Liebe umgeben. Nur mein Herz, das füllt sie noch viel zuwenig
aus“, und er begann zu erzählen:
Ein Vater aber hätte 2 Söhne. Und da sein Vertrauen ganz auf dem Erstgeborenen ruhte, nannte er diesen Gutwill. Für den
2. hatte der Vater somit kein Vertrauen mehr übrig und nannte ihn deshalb Böswill. Und es war, als hätte er mit diesen Namen einem jedem seiner Söhne
ein Pfand in die Wiege gelegt. Oder eine Hypothek.
Und mährsächlich! Gutwill entwickelte sich zu einem sanften und folgsamen Menschen, las – sobald er’s konnte – eifrig in der Bibel und trachtete danach, mit jedermann Frieden zu haben. Böswill dagegen wuchs zu einem unsteten und leicht aufbrausenden Ungesellen heran, nahm’s mit Recht und
Gesetz nicht so genau und bereitete seinen Eltern eitel Herzeleid.
Als aber die Zeit für die beiden Brüder herankam, eine berufliche Laufbahn einzuschlagen, da erwählte sich Gutwill den geistlichen Stand. Tscha, damit hatte der
Vater nicht gerechnet! Denn der ältere Sohn war dazu ausersehen gewesen, alles zu ererben. Wie aber konnte Gutwill das, wenn er der Kirche diente? Wenn er Ehelosigkeit gelobte und deshalb keine Nachkommen haben würde? Allein –
solche, die sich „die Kirche“ nannten, hatten bereits die Hände nach Gutwill ausgestreckt, und es wäre töricht gewesen, mit ihnen Händel anzufangen. Aber im stillen seufzte der Vater, es
sei noch nicht aller Tage Abend, und die Zeit könne manches wenden.
Damit aber nun nicht das ganze Erbe an Böswill falle, ward dieser vom Vater davongejagt. Und da dieser Sohn nichts Ehrbares gelernt hatte, geriet er in ungute
Gesellschaft und verdiente sein Brot mit Geschäften, die das Licht zu scheuen haben.
Indessen machte Gutwill auf seiner geistlichen Laufbahn sichtbare Fortschritte, so daß sein Vater auf ihn hätte stolz sein können. Er war’s eigentlich auch, wenn
eben die Sache mit dem Erbe nicht gewesen wäre. Und es war ja damals wirklich so: In der allgemeinen Kirche ward der Ratschlag des Paulus als
unumstößliches Gebot ausgelegt: Du sollst deiner Kirche ganz dienen und keine Frau haben neben ihr!
Allein – dennoch war es Sitte selbst bei höchsten geistlichen Würdenträgern, die Schlüssel zu Küche und Speisekammer keinem Manne anzuvertrauen, sondern einer tüchtigen
Haushälterin. Die übrigens keine Ehelosigkeit geloben mußte. Tscha, und da lag nun mancher Pfeffer im Hasen. Und wenn die Haushälterin auch noch mit anderen Kräutern und
Gewürzen gut umgehen konnte und außerdem noch den Schlüssel zum Weinkeller verwaltete, dann – dann konnte so manches passieren. Mochte da die Kirche in ihren Schiffen und Kapellen ihre
Macht noch behaupten, im Wohnhaus manches Geistlichen mußte sie diese Stellung und ihren Einfluß jedoch abtreten.
So auch bei Gutwill. Er war ja geduldig, auch ein wenig arglos und wollte es sich mit niemandem verderben. Und so kam es bald, wie es kommen mußte!
Gutwills Haushälterin schien plötzlich einen tüchtigen Appetit zu entwickeln, nahm an Leibesumfang sichtbar zu, galt bald als unpäßlich und war erst nach etlichen Monaten wiederhergestellt.
Nun – ein aufmerksames Mäuschen hätte in der Zwischenzeit manch Sonderbares bemerkt. Eine Kutsche, aus der einer tatkräftigen Frau geholfen wurde, denn ihre Augen waren verbunden. Das
wurden sie auch wieder, bevor ihr Stunden später wieder in die Kutsche geholfen wurde. Tscha, und dann seit diesen Augenblicken immer wieder diese merkwürdige Katzenmusik in Gutwills
Haus. Und die hörte erst wieder auf, nachdem erneut eine Kutsche vorgefahren war und Gutwill sie mit einer großen Tasche bestiegen hatte. Tscha, und seit dieser Zeit zeigte sich das
Haus des Geistlichen wieder von seiner gastfreundlichen Seite.
Und Böswill? Der war immer tiefer gesunken und schreckte inzwischen nicht mehr davor zurück, die Postkutsche
zu überfallen. Doch als er’s eines Nachts mit seinen Leuten tat, da fand er in der Kutsche herrenlos eine große Tasche, aber nicht voller Geld, doch dennoch – Nun, das mußte erst die
Zeit zeigen. Jedenfalls sah Böswill in 2 kleine Augen – und sonderbar, von der ganzen Beute beanspruchte er nur diese Tasche und deren Inhalt; der noch nicht einmal angenehm
roch.
Auch trennte er – Böswill – sich anschließend von seinen Leuten, nahm einen anderen Namen an und zog in ein fernes Land. Warum? Das weiß kein Mensch zu beantworten. Doch schien Böswill zu ahnen, daß Kinder zumindest in den ersten Jahren den Weg ihrer Eltern
nachgehen. Mit seinem, eh, „verdienten“ Geld kaufte er sich jedenfalls vor den Mauern einer Stadt einen großen Garten, und dort wohnte er fortan mit seiner kleinen, aber rasch wachsenden
Manuela; denn also hatte er sie genannt.
Und Gutwill? Der hatte sich endlich zu seiner Liebe bekannt, hatte die geistliche Laufbahn verlassen und war
mit seiner Eheliebsten in sein Elternhaus –
„Aber wo bleibt da die Gerechtigkeit?“ konnte sich Donna Swattenwitt nicht länger zurückhalten.
„Wo die Liebe siegt“, wunderte sich der Alte, „ wer wollte da nach der Gerechtigkeit fragen? Manuela fand
sogar eines Tages ihre natürlichen Eltern, freute sich sehr darüber und wollte Böswill dennoch nicht verlassen; denn inzwischen brauchte er sie. Wenn’s wir Menschen doch immer recht
bedächten: Welche guten Kräfte es uns bringt, wenn uns jemand –“
Die Besucherin war inzwischen jedoch gegangen.
© Stiftung Stückwerken, *4.1.2020, freigegeben am 17.11.2023
Qouz-Note: 2-
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MamM 1.049 Die Frage nach dem freien Willen
„Gibt es einen freien Willen?“ schien Donna Spaldenhaar eine bejahende Antwort zu erwarten.
Doch der Alte von der Halbinsel fragte erst einmal zurück: „Für wen?“
„Für uns Menschen“, wurde die Besucherin deutlicher. „Haben wir Menschen einen freien Willen?“
„Ich jedenfalls nicht“, fehlte es dem Alten anscheinend am nötigen Ernst. „Das merke ich immer
wieder. Ich will ausgehen und will, daß es in dieser Zeit nicht regnet.
Nun, das mit dem Ausgehen klappt normalerweise; aber das mit dem Nichtregnen oft –“
„Das ist klar“, unterbrach Donna Spaldenhaar mit leichtem Unmut, „daß uns Menschen nicht alles möglich ist.
Allein – ich will’s auf den Kern reduzieren: Sind wir Menschen frei, zwischen ja und nein zu entscheiden; zwischen tun und
unterlassen? Das wäre nämlich von besonderer Wichtigkeit, um die Schuldfrage zu klären.“
„Das ist mir zu hoch“, räumte der Alte ein und kratzte sich am Kopf. „Bin ich frei, deine Frage zu – ?“
„Dann könnt Ihr nicht mitreden!“ gab sich die Besucherin enttäuscht, aber auch überlegen. „Manche Theologen begründen mit der Freiheit des Willens sogar die Existenz des Bösen: Ohne das Böse kein freier Wille; und umgekehrt.“
„Mag sein, mag nicht sein“, zeigte sich der Alte gleichgültig. „Sind das nicht Fragen, die vor allem für das
Gerichtswesen wichtig sind? Ich aber will gar kein Richter werden;
weder in dieser noch in jener Welt. Nee, die Früchte vom Baume der Erkenntnis schmecken mir einfach nicht; und tun mir auch nicht gut“, und er begann zu
erzählen:
Es wär’ einmal ein junger Mann, der trug seine Kinderschuhe lange Zeit. Und diese trugen ihn – immer wieder
nach Hause. Aber es kam die Zeit, da wurde von Andreas erwartet, daß er seine Kinderschuhe
ausziehe und gegen die Stiefel der Großen eintausche. Nun – dem Ausziehen kam er nach, dem Anziehen der Stiefel auch, aber seine
Kinderschuhe mochte er doch nicht hergeben, sondern verbarg sie heimlich in seinem Rucksack.
Rucksack? Ja, du hast richtig gehört; denn die
Stiefel der Großen haben meistens das Fortziehen in sich. Für fast alle ist das ein Fortfahren; allein – Andreas gehörte zu den wenigen, für die es ein Fortwandern war.
Tscha, anfangs ist es wohl für fast jeden jungen Menschen so, daß ihn die neuen Schuhe einfach forttragen: fort, nur fort, ohne ein bestimmtes Ziel. So auch bei Andreas. Und er wanderte und wanderte und entdeckte Neues und aber Neues
und – mit einem Mal Vertrautes und aber Vertrautes; und plötzlich gewahrte er, daß er im Kreise gegangen war.
Das sollte ihm kein 2. Mal passieren! Deshalb traf es sich gut, daß gerade ein anderer Wanderer des Weges
kam. Dieser Mann trug einen sehr schäbigen Mantel und auf dem Kopf einen Filzhut, der auch nicht besser war; aber die Haltung des Mannes war keineswegs die eines armen Bettlers, und unter dem Mantel schien er sogar Waffen zu tragen.
Der Wandersmann hatte gegen eine Begleitung nichts einzuwenden, zumal Andreas nichts an sich hatte, was irgendeinen Argwohn hätte wecken können. Andreas ward sogar ermahnt, sich einen dicken Knüppel zu suchen; denn der Weg führe
durch einen finsteren Wald, in dem es nicht ganz geheuer sei.
Und mährlich hörten die beiden im Walde mehrere Male ein Knacken und Flüstern, als täte sie wer beobachten.
Auch mahnte der Wandersmann immer wieder, bei ihm zu bleiben und keine eigenen Wege einzuschlagen; und Andreas hielt sich
daran.
Eines Abends gelangten die beiden in eine große Stadt und hielten vor einem prächtigen Haus an. Hier sei er zu Hause, erklärte der Wanderer und lud Andreas ein, hier zu übernachten.
Am anderen Morgen wurde Andreas das Angebot gemacht, ins Geschäft seines Gastgebers einzutreten, da dieser ihn als zuverlässig
erfunden habe. Zunächst als Lehrling, aber mit der Aussicht, eines Tages Teilhaber zu werden.
Andreas war’s zufrieden und begann sogleich, sich einzuarbeiten. Es war ein sehr ehrbares Geschäft, denn alle
Kunden kamen voller Hochachtung vor dem Prinzipal und allen, die in dessen Auftrag handelten. Allein – Kunde war nicht gleich
Kunde. Sie konnten nämlich 2 unterschiedlichen Gruppen zugeordnet werden.
Zum einen gab’s die Hattichmale; die boten dem Prinzipal ihr Geld an, und dieser versprach ihnen im Gegenzug, es bei Gelegenheit
größtenteils wieder zurückzugeben. Dieses anvertraute Geld schwätzte der Prinzipal anschließend der anderen Kundengruppe auf: den
Solltichmalen. Die aber sollten dieses Geld wieder zurückgeben, und das mit einem tüchtigen Aufgeld obendrein; und zwar innerhalb einer festgesetzten Frist oder sobald der Prinzipal es brauche.
Tscha, einen Teil des fremden Geldes trug der Prinzipal sogar ins Spielkasino. Und war er glücklich in seinen Geschäften, schüttete er
einen kleinen Teil seines Gewinns an seine Kunden aus, die ihn dann großzügig nannten. Hatte er aber Pech, so mahnte er, die Lage sei
ernst und alle müßten jetzt zusammenhalten; und hatte er großes Pech, so mußte eben die königliche Schatzkammer einspringen und
anschließend auf die zurückgreifen, welche abgabenpflichtig waren.
Du kannst dir leicht denken, daß die prächtige Fassade jenes Hauses nicht getrogen hatte und Andreas unter dem Dach eines sehr wohlhabenden Bürgers lebte. Lebte? Nun, Andreas erkannte schnell, wieviel Macht es dir verleiht, wenn du über
Geld gebieten kannst. Über Menschen? Über alle Menschen? Über alles?
Fangen wir hinten an. Alles hat seinen Preis; und je mehr du hast, desto größer die Sorge, alles wieder hergeben zu müssen. Tscha,
und über alle Menschen? Viele sind tatsächlich käuflich, und es gab bald manche höhere Tochter, die mit Andreas dessen zunehmenden
Reichtum gerne geteilt hätte. Jedoch – eine ließ sich nicht kaufen; aber
gerade diese wurde von Andreas desto mehr begehrt.
Schließlich ließ sich Andrea dazu erweichen, mit Andreas um ihre Hand Schach zu spielen. Andreas willigte ein und – verlor eine Figur nach der andern. Denn Andrea hatte neben
sich eine Glaskugel, und in dieser sah sie jeden Zug ihres Spielgegners im voraus.
„Und wenn sie nicht gestorben sind –“, konnte sich Donna Spaldenhaar nicht länger zurückhalten. „Was hat das mit dem freien Willen zu tun?“
„Nichts“, schien der Alte zuzugeben, fragte aber dann: „Bist du frei in deinem Willen, wenn dein Gegenüber alle deine Entscheidungen voraussehen kann? Andreas jedenfalls drohte zu verlieren, – da erspähte er unter dem Tisch die Schuhe seiner Spielgegnerin. Geschwind zog er die Schuhe an, auch wenn sie mächtig drückten. Dann stand er auf,
sah Andrea eindringlich in die Augen, ergriff ihre Hand, beugte sich und trug das Mädchen kurzerhand huckepack davon. Und er konnte gar
nicht anders, als ihren Weg zurückzugehen; denn wer liebt, – Ach so, die Sache mit den Kinderschuhen! –“
Aber da gewahrte der Alte, daß er allein war.
© Stiftung Stückwerken, *10.-11.1.2020, freigegeben am 6.4.2024
Qouz-Note: 2
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MamM 1.050 Komm mit mir auf meinem
Wagen?
„Hab’ ich das richtig gehört“, fragte Donna Stoltenberch: „Ihr sollt die Ehrendoktorwürde erhalten?“
„Sollt?“ grollte der Alte von der Halbinsel über sein Reizwort, als hätte er nicht bemerkt, daß es nicht als Aufforderung verwendet worden war.
„Niemand soll etwas. Und außerdem: Wozu wäre es mir nütze? Verwende ich so
einen Titel nicht, wird’s dennoch mein Nachleben verdüstern. Verwendete ich den Titel, machte ich mich lächerlich.“
„Aber Ihr habt Euch doch große Verdienste –“
„Bitte, was? Verdienste?“ fuhr der Alte
dazwischen. „Es sei denn, du gebrauchst die Vorsilbe ver- im Sinne von vergehen und verschwinden, dann –“
„Ihr seid ein bekannter Philosoph“, ließ die Besucherin nicht locker.
„Was bin ich? Ein Philosoph?“ schien der Alte einen
schwerhörigen Tag zu haben. „Mit meiner Unwissenheit? Meinen
Irrtümern?“
„Empfangt Ihr nicht unzählige Besuche?“
„Von den Frauen“, konnte sich der Alte eines Schmunzelns nicht erwehren, „aber von keinem einzigen Wissenschaftler. Ich bin –“
„– eine sehr wichtige Person“, ergänzte Donna Stoltenberch, als färbe dabei auch etwas auf sie selber ab.
„Nö!“ widersprach der Alte – ohne Hoffnung darauf, verstanden zu werden. „Weder ein begabter Schauspieler noch sehr wichtig, noch überhaupt wichtig. Geh
besser an die Landstraßen; dort findest du die wichtigen Personen. Die in
ihren Kutschen rücksichtslos dahinrasen, als wäre eine Minute ihres Daseins wichtiger als das restliche Leben anderer Menschen.“ Und er
begann zu erzählen:
Ist dein Herz richtig wie mein Herz mit deinem Herzen? Dann steig zu mir auf meinen Wagen
und siehe meinen Eifer um den HERRN! Ach, es ist schon ein Jammer, wie oft und gerne sich der nackte Eigennutz in den
prächtigen Mantel göttlichen Sendungsbewußtseins kleidet. Ja, nicht mit, sondern in!
Es wär’ einmal ein junger König, – mag er nun Jehu geheißen haben oder Jonadab, oder mag er beide Namen getragen haben. Jedenfalls hielt er sich für so wichtig, daß er glaubte, selbst Alexander, Karl oder Friedrich in den Schatten stellen zu können.
Sein Schloß verließ er nur in seiner prächtigen Kutsche, und Dragoner mußten dieser vorausreiten und freie Bahn machen. Die waren nicht zimperlich, und mancher Fußgänger, der nicht rechtzeitig hatte zur Seite springen können, bekam Hiebe ab, mancher kam unter die
Hufe oder sogar unter die Räder. Und selbst wenn’s in den Chroniken verschwiegen wird, so klingt’s doch glaubhaft: Es gab sogar
Tote! Der König nahm sich dessen nicht an. Das sei eben die Kraft der
Natur, die alles Schwächliche ausjäte, damit das Große desto besser gedeihe. Alles das beweise doch nur, wie wichtig er
sei. Und so erhielt niemand, der durch des Königs Ausfahrten zu Schaden gekommen war, ein Schmerzensgeld, eine Invalidenrente oder gar eine Witwen- oder
Waisenrente. Und das Volk fürchtete seinen König.
Zu Recht? Tscha, was ist Recht? Unser König hätte
geantwortet: Das Recht sei er. Denn er erließ die Gesetze. Er setzte deren
Befolgen mit einer strengen Polizei durch. Er war die oberste Instanz aller Gerichte. Er war es auch, der die Todesurteile unterschrieb und – die Gnadengesuche abwies. Und
wieder hielt’s der König als Kraft der Natur, der er diene. Und selbst wenn ihm mal von den Justizirrtümern einige zu Ohren kamen,
focht ihn das nicht an. Hätte der Verurteilte die Strafe nicht wegen des zur Last gelegten Verbrechens verdient, dann gewiß wegen eines
andern, das noch nicht ans Tageslicht gekommen sei. Und das Volk fürchtete seinen König.
Tscha, der Lehrer lehrt nicht nur in seiner Schule, sondern möchte seine ganze Umgebung mit seinen weisen Erziehungsmethoden beglücken. Und so fühlte sich unser König mit seinem Volk bald nicht mehr ausgelastet und begann, seinen Einfluß auf die Nachbarreiche
auszudehnen. Die aber hatten bereits jeweils eine Regierung, und diese nahm fremde Einmischungen verständlicherweise nicht freundlich
auf. Die Folge? Krieg und Krieg und Krieg. Denn das war unserem König klar, daß er nicht gegen alle Welt gleichzeitig zu Felde ziehen konnte. Aber wenn er sich ein Land nach dem andern vornahm, sich vorübergehend sogar mit dem einen oder andern Nachbarn verbündete, um diesen nach
siegreichem Feldzug ebenfalls zu überfallen und zu unterwerfen, dann kam er seinen Vorbildern gleich: den Königen, die als die Großen in die Geschichte eingegangen sind.
Ja, gewiß wäre er sogar dabei, diese noch zu übertreffen. Doch da ereignete sich etwas
Unerwartetes. War’s ein Stein, der auf die Landstraße gerollt war, oder ein Ast, oder steckte gar ein hinterlistiger Anschlag
dahinter? Jedenfalls –hetzte der König in seiner Kutsche mal wieder durch die Lande, da tat’s plötzlich einen Schlag, ein Rad zerbarst,
die Kutsche schleuderte, die Tür sprang auf, und in einem hohen Bogen flog der König durch die Luft. Platsch – landete er in einem
Tümpel, versank und verlor das Bewußtsein.
Es gibt nun so manche Berichte von Menschen, die dem Tode von der Schüppe gesprungen sind. Bei unserem König
war das alles recht sonderbar. Es war ihm, als liege er auf seinem Sterbelager, erhebe sich und gehe seinen ganzen Weg noch einmal
zurück; aus dem Nichts zur Fülle. Denn er ging mit leeren Händen
los; doch als er in seiner Kindheit anlangte, da füllten sich seine Hände immer mehr mit goldenen Körnern.
Nach 3 Tagen erwachte der König aus seiner Ohmacht, und seine Hände waren wieder leer. Inzwischen hatten ihn seine Diener auf sein Residenzschloß zurückgebracht, und die königlichen Leibärzte waren sehr besorgt gewesen, ob sie den
König noch einmal ins Leben zurückbringen könnten und – ob’s ohne bleibende Schäden wäre.
Bleibende Schäden? Leben? Der König war hinfort
ein anderer Mensch. Eine Kutsche bestieg er nie wieder. Das seien
Nachwirkungen des Schocks, tuschelten die Ärzte und dann auch die Diener. Auch unterschrieb der König hinfort kein Todesurteil mehr,
sondern sorgte dafür, daß jeder Angeklagte einen erfahrenen Rechtsbeistand erhielt – auf Kosten der königlichen Schatzkammer. Auch
wurden keine neuen Polizisten mehr eingestellt, dafür mehr Lehrer. Gute Lehrer! Mit einem Blick für die Begabungen der Menschen. Stell dir vor, –
„Märchen! Märchen!“ tat’s Donna Stoltenberch
ab. „Größe läßt sich so nicht erwerben.“
„– in einem Lande tut jeder das, was sie und er gut und gerne können“, fuhr der Alte fort. „Und der König ließ
in seinem Lande Heilquellen erschließen. Da reiste alle Welt herbei, um in den Heilbädern Genesung zu finden; und bald dachte niemand mehr an Krieg. Stell dir vor, niemand brauchte mehr
Soldaten! Niemand mußte mehr im Töten ausgebildet werden! Freilich – in den
Geschichtsbüchern wirst du den Namen jenes wunderlichen Königs nicht finden. Ist das aber wichtig, wenn es weiterlebt?“
Und er geleitete die Besucherin hinaus.
© Stiftung Stückwerken, *18.1.2020, freigegeben am 2.4.2024
Qouz-Note: 2-
***
MamM 1.051 ... nicht jemanden von diesen Kleinen
verachtet
„Gebt Ihr eigentlich diesem neuen Bettler was?“ wollte Donna Stölßink wissen.
„Ich bemühe mich“, antwortete der Alte von der Halbinsel, „aber es gelingt mir bestimmt
viel zu wenig.“
„Wie das?“ wunderte sich die Besucherin. „Habt Ihr nicht genügend Geld?“
„Geld?“ fragte der Alte zurück. „Ich gebe doch kein Geld.“
„Wollt Ihr denn am Tage des Gerichts zu den Böcken gerechnet werden?“ zeugte Donna Stölßink von ihren Bibelkenntnissen.
„Nein“, lachte der Alte, „sondern vorher schon zu den Begnadigten, deren ganze Schulden Gott vergessen hat. Aber zurück zu
unserem Bruder. Was meinst du: Täte ein Mensch ein fragwürdiges Verhalten ablegen, wenn es ihm immer wieder belohnt wird?“
„Aber wir können so einen doch nicht verhungern lassen!“ ereiferte sich die Besucherin. „Auch wenn er wie Geschmeiß –“
„– als unser Bruder“, verbesserte der Alte, „selbst wenn er nicht zu unserer Gemeinde gehört; denn auch mit ihm täte ich ein Vaterunser –“
„Also, das weiß ich nicht“, wollte sich Donna Stölßink nicht festlegen. „Aber sagtet Ihr nicht, Ihr tätet Euch bemühen, dem da dennoch was zu
geben?“
„Ja“, bestätigte der Alte: „Achtung. Und das fängt schon in den Gedanken an. Die bischöfliche Perspektive: wie Jesus damals seine Augen aufhob und die über
5.000 Menschen sah; wie sie kein Brot hatten und keinen Hirten“, und er begann zu erzählen:
Gibt oder gab es je einen Papst, Bischof oder Kaiser, der Uwe hieß?
Vielleicht war das der Grund, warum der Held unseres Mährchens diesen Namen erhielt. Denn bei Alexander, Karl, Otto oder Friedrich gibt es ja bereits Menschen, denen der Beiname „der Große“
gegeben wurde.
Also Uwe – kurz und bündig. Kein Leisetreter und schon als Kind ein Rabauke. Kind? Eigentlich
wollte er immer schon zu den Großen gehören; eben nicht mehr als Kind gelten. Folglich brachte er sich schon frühzeitig das Zigarrenqualmen bei, auch wenn’s anfangs nicht sein
Wohlbefinden steigerte und mit viel Husten verbunden war.
Auch das Jagen erlernte er früh. Und da schon damals der Spruch
„Hört: Forstmeisterlikör
ist des Jägers Zubehör!“
die Runde machte und mit ihm die blaue Flasche, kam Uwe auch frühzeitig zu dem, was harmlos „das Trinken“ genannt wird.
Tscha, und dann hatte Uwes böse Fee sich noch etwas anderes ausgedacht, um ihn ganz in ihre Gewalt zu bringen: Glück im Spiel! Genauer: Glückssträhnen. Und
wer solche Glückssträhnen nicht kennt, der sitze nicht über unseren Uwe zu Gericht! Er, Uwe, fing also an zu spielen, gewann, und schon war er in seine Zelle eingetreten und merkte
nicht, wie die Tür hinter ihm zufiel. Denn keine Fee der Welt kann dir soviel Glück zuteilen, daß du alle Spiele gewinnst. Denn jeder Gewinn wird dich dazu anspornen, weiterzuspielen,
bis – ja, bis der große Knall kommt und du mit deinem Kopf nur noch gegen Mauern rennst und Gitterstäbe und verschlossene Türen.
Bei Uwe kam dieses „bis“ an dem Abend, an dem er alles auf eine Karte setzte, nämlich sein ganzes Erbe. Und er verlor.
Zwar wurde der Gewinner vom Vater abgewiesen (Er könne nicht etwas beanspruchen, was Uwe noch gar nicht habe und auch nie bekommen
werde), aber Uwe mußte Vaterhaus, Vaterstadt und Vaterland verlassen und wurde enterbt.
Die böse Fee frohlockte, denn der Weg unseres Uwes neigte sich mehr und mehr, und der junge Mann fing an, zu gleiten. Es war auch alles sehr schlimm: keine Freunde,
kein Geld, kein Obdach, keine Zeugnisse, keine Kenntnisse, die von einfachen Menschen erwartet werden. Ja, ein Fürstentum zu regieren, eine Grafschaft oder zumindest einen Gutshof, das
hätte Uwe wohl gekonnt. Doch so etwas mochte ihm niemand anvertrauen. Ein Handwerk dagegen hatte er nicht gelernt, und selbst als Tagelöhner stellte er sich viel zu ungeschickt an und
verärgerte mit seiner polternden Besserwisserei.
Also mußte er betteln, wurde verachtet, gab die erhaltenen Almosen für Forstmeisterlikör aus, um die Kränkungen zu verdrängen, brauste schnell auf und versagte den
Menschen den Lohn, für den sie Almosen geben: das Gefühl, gute Menschen zu sein. Folglich erhielt Uwe weniger und weniger, bis er sich vom Erbettelten nicht mehr ernähren konnte.
Welche Wege standen ihm nun noch offen? Das Spiel?
Welcher Mensch fängt mit dir ein Spiel an, wenn er dir nichts abgewinnen kann? Allenfalls ein Falschspieler, der auch noch deine Seele
haben will. So fiel Uwe unter die Räuber; und da er auch dort die Besserwisserei nicht lassen konnte und dem Hauptmann offen entgegentrat, wurde er bald verraten, verhaftet,
verurteilt und für einige Jahre ins Zuchthaus gesperrt. Als er wieder entlassen wurde, war alles noch viel schlimmer; denn die Menschen hängen einem Verurteilten die Verbrechen nimmer
ab, zu denen sie selber weder Anlagen noch Gelegenheiten haben.
Uwe war nun ganz unten. Allein – er hatte nicht nur eine böse Fee, sondern auch eine gute. Und die schickte ihm ein junges Mädchen: Hortensie. Die setzte sich am Rande des Marktplatzes, wo Uwe gerade bettelte, unbekümmert neben diesen, als müsse das so sein. Erst nahm er von ihr gar keine
Notiz. Dann vermutete er in ihr eine Konkurrentin. Da sie aber weder Hut noch Mütze aufgestellt hatte und Münzen, die vor ihr niederfielen, zu ihm rüberschob, wurde Uwe allmählich
neugierig. Ein Blick: ärmlich gekleidet, aber diese Augen! Voller Zuversicht. Das 1. Wort. Und fortan zogen Gedanken in die eine Richtung zu IHR und in die andere Richtung
zu IHM.
Tscha, deine Augen können nicht gleichzeitig voller Zuversicht blicken und einen Menschen verachten –
„Ihr wollt mir doch jetzt hoffentlich nicht erzählen“, konnte sich Donna Stölßink nicht länger zurückhalten, „jene Bettlerin habe diesen Säufer, Spieler und Verbrecher
von allen Lastern geheilt!“
„Nein“, schien der Alte schmunzelnd zugeben zu wollen. „Freiheit ist keine Leidensgeschichte. Jedenfalls gab Hortensie unserem Uwe etwas, was er verloren
hatte. Er begann, sich selber zu lieben und damit auch, sich selber wieder zu achten und sein Leben für zu schade, es zu vergeuden. Und er sah auf zu den Menschen, wie freudlos sie
über den Marktplatz hetzten und ohne Zuversicht. Und als ihm jemand einen Leierkasten schenkte, zog er damit durch die Lande – und mit Hortensie. Und der beiden Zuversicht war wie
eine leuchtende Kerze, eine an–“, aber da gewahrte der Alte, daß er inzwischen alleine war.
© Stiftung Stückwerken, *25.1.2020, freigegeben am 16.11.2023
Qouz-Note: 3
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MamM 1.052 Das Schneeglöckchen und der Frühling
„Es wird über Euch so vieles geredet –“, rechtfertigte Donna Müssig ihre Frage, „glaubt Ihr überhaupt?“
„Ja“, gab der Alte von der Halbinsel bereitwillig zu, „eigentlich nur.“
„Also haben die andern nicht recht“, folgerte die Besucherin. „wenn sie Euch zu den Ungläubigen rechnen. Gewiß glaubt Ihr somit auch an unser
Glaubensbekenntnis.“
„Gewiß?“ wollte der Alte nicht zustimmen. „Eher mehr oder weniger.
Nimm nur mal die Auferstehung am 3. Tage, wie die Schrift sage. Die Schrift sagt aber auch: nach 3 Tagen und 3 Nächten. Wenn ich jetzt meine Finger zur Hilfe nehme und zähle –“
„Aber das ist doch Ketzerei!“
„Nee“, widersprach der Alte, „sondern unwichtig.“
„Auf jeden Fall glaubt Ihr nicht, wie die Kirche es vorschreibt“, beharrte Donna Müssig, „und das ist gottlose Ketzerei!“
„Wieso’s gottlos sei, verstehe ich zwar nicht“, reagierte der Alte, „aber Ketzerei? Meinetwegen, denn wer
wegen seiner Reinheit ausgegrenzt –“
„Und dann glaubt Ihr auch nicht, was sonst noch gepredigt wird“, ließ die Besucherin offen, ob’s eine Folgerung oder Frage war.
„Mehr oder weniger“, wiederholte sich der Alte, gab aber dann 3 Beispiele: „Wenn gepredigt wird, Neid sei die Wurzel alles Übels, mag es vielleicht sein, nur – die Bibel bestätigt das nicht. Oder die 70 Jünger hätten Jesum verlassen; es mag sein, aber in der Bibel steht das
nicht. Oder der Gerechte falle des Tages 7mal; es mag sein, aber die Bibel sagt es so nicht.“
„Aber der Heilige Geist!“ wollte sich auch Donna Müssig bibelfest zeigen. „Der uns in alle Wahrheit leiten wird!
Der wird Euch richten um Eure Sünde, daß Ihr nicht glaubt!“
„Mir keine Seinung aufzwingen lasse und mir und andern nichts vormachen will?“ änderte der Alte. „Ich glaube,
daß Gott Liebe ist, und danach richtet sich alles andere. Wer dagegen Menschen das Fürchten lehrt, ist nicht in der
Liebe und somit auch nicht in Gott“, und er begann zu erzählen:
Seltsam, daß wir mit dem Namen Augustin eher einen Pechvogel verbinden denn ein Glückskind. Standesdünkel oder nur
Standesbewußtsein war unserm Augustin jedenfalls fremd. Er hatte auch keine richtige Orientierung: weder Stern noch Ziel, und zu Hause gefiel’s ihm auch nicht besonders. Wie so viele
junge Menschen, denen ein hübsches Vermögen zur Verfügung steht, langweilte er sich seines – Daseins. So zog er von zu Hause fort und in die weite Welt hinaus.
Gut, es war ein milder Winter, aber mit etwas genauerer Überlegung hätte er, Augustin, sich für seine Reise besser den Mai oder den
Oktober ausgesucht. Die Sonne konnte zwar schon wärmen, folgte aber noch ihrer Kurzstrecke und verbarg sich viel zu oft hinter Bergen und Wolken. Solch eine eingeschränkte Fürsorge
war vielen Blumen noch viel zuwenig, weshalb sie lieber noch ein paar Wochen, ja, sogar Monate weiterzuschlafen gedachten. Nur hier und da zeigten sich bereits weiße Tröpfchen an grünen
Stengeln, gelbe Kugeln oder gelbe Sternchen mit einem weißen Strahlenkranz. Den Eingeweihten! Unser Augustin war aber kein Eingeweihter. Allein – was nicht ist, das kann ja noch
werden.
Unser Augustin war auch so dumm, auf der Landstraße zu gehen. Begegnete ihm dort eine Kutsche, war er es, der ausweichen mußte. Und wie ihm das gedankt wurde,
das war ihm ganz und gar nicht angenehm; denn seine Kinderstiefel hatte er doch längst ausgezogen.
Wieder einmal hörte er hinter sich eine Kutsche in rasender Eile nahen. Ein rascher Sprung – ach, es war schon zu spät. Nein, überfahren wurde unser Held
nicht, aber die Landstraße war noch naß und voller Pfützen, so daß es auf Augustins Gesicht, Kleidung und Schuhwerk lauter bräunliche Flecken regnete, die als Heimatvertriebene Asyl suchten und
sich sogleich eigenmächtig selber gewährten.
Das lag zu keinem geringen Teil auch daran, daß unser Augustin mit seinen Gedanken ganz woanders war. Wo? In jener Kutsche! Denn aus deren Fenster hatte ihn ein Blick getroffen, der mit Entsetzen, Belustigung und Mitgefühl gefüllt gewesen
war. Allein – letzteres hatte sich anscheinend nicht durchsetzen können, da die Kutsche ungehindert weiterjagte und bald entschwunden war. Aber wie gesagt: Ein neuer Passagier war
zugestiegen, wenn auch nur in Gedanken.
Eine Kutsche hinterläßt jedoch Spuren, erst recht auf nassen Wegen, und jenen folgte nun unser Augustin, und es war ihm, als gehe er auf Wolken. Endlich gelangte er
zu einem Schloß, und es schien ihm, als werde er erwartet. Er gewahrte nämlich, wie hastig ein Fenster zugeschlagen wurde und eine Gardine vorgezogen; und das nicht, um nicht mehr
hinaussehen zu können, sondern ...
Die Torwache jedoch hatte andere Erwartungen, und die erfüllte ein von unten bis oben mit Kot bespritzter Wandersmann ganz und gar nicht. Königin Angela empfange keine Vagabunden! Peng! Wär’s aus Glas gewesen, wäre auf diese Ansprache hin in Augustins Herzen gewiß etwas zerbrochen.
Aber er wandte sich nur traurig ab und suchte im das Schloß umgebenden Park Schutz vor Regen, Wind und Kälte. Da drangen mit einem Mal sonderbare Töne an sein
Ohr. Keine großartigen Melodien, eher – eher war’s wie eine Glocke. Keine wuchtige, sondern ein feines, zartes Glöckchen. Da hob unser Held seine Augen auf und gewahrte –
die zierliche Glöcknerin.
Sie läute den Frühling herbei, erläuterte sie unserem müden Wandersmann. – Aber der Frühling sei doch nirgendwo zu sehen, wunderte sich unser Augustin.
– Aber sie glaube an ihn und sei gewiß, er werde bald kommen. Und an wen glaube er?
„Ach“, seufzte unser Augustin, „an die Liebe; und die ist auch zur Zeit nirgendwo zu sehen.“
„Dann können wir einander gut verstehen und wollen gute Geschwisterschaft halten“, freute sich das feine Glöckchen und läutete lustig weiter.
Das blieb nicht ohne Folgen. Denn am nächsten Morgen kamen Zimmerleute in den Park, bauten eine Hütte, ließen einen Herd setzen, Brennholz herbeitragen, frisches
Wasser, Brot, Butter, Honig und – die Haustür unverschlossen. Tscha, und der Wind brachte warme Lüfte. Da freuten sich –
„Was erzählt Ihr da wieder für alberne Märchen!“ konnte sich Donna Müssig nicht länger zurückhalten. „Was hat das mit dem wahren Glauben zu tun?“
„Der Glaube an die Liebe geht selbst nach Nahrung und findet sie“, fuhr der Alte unbekümmert fort. „Selbst als Angela von ihren eigenen Untertanen verstoßen wurde,
weil sich ihr Angesicht verändert hatte und sie sich wie ein wildes Tier gebärdete. Doch das kleine Schneeglöckchen läutete Zuversicht, und Augustin pflegte die verstoßene Königin wieder
gesund, so daß sie auf ihr Schloß zurückkehren konnte. Aber dort schien sie ihren Wohltäter vergessen zu haben, denn der hörte erst nach einigen Wochen wieder von ihr, und das war ganz und
gar nicht erfreulich: Sie wolle am nächsten Sonntag in der Parkkirche heiraten. Aber das Schneeglöckchen läutete Zuversicht, so daß an jenem Sonntag ein junger Mann – wie im Traum und nicht
gerade in der besten Kleidung – die Parkkirche als Letzter betrat. Ja, er ging sogar nach vorne zum Altar, und sein Glaube an die Liebe ward durch ein lautes Ja bestätigt und durch ein
weiteres und Segen rechtskräftig. Ach so, und der Frühling kam –“, aber da gewahrte der Alte, daß er inzwischen alleine war.
© Stiftung Stückwerken, *31.1.-1.2.2020, freigegeben am 27.11.2023
Qouz-Note: 3+
***
MamM 1.053 Nachtmeister Stropp und der Fall Kinderbande
„Winter, ade!
Scheiden tut weh;
aber dein Scheidehen macht,
daß mich die Sonn’ ahanlacht.
Winter, ade!
Scheiden tut –“
„Bruhno! Nein!“ meldete sich nun gequält eine Stimme. „Du weckst ja das ganze Haus
auf!“
„Einer muß es ja tun“, rechtfertigte sich der kleine Bär. „Aufgestanden! Das schönste Wetter draußen!“
„Aber es ist doch noch hell“, wandte die gequälte Stimme ein.
„Eben!“ ließ sich Bruhno nicht beirren. „Ein
wunderschöner Morgen, Herr Nachtmeister!“
„Hast du denn vergessen“, fragte unser Stropp, „daß Nachtmeister nicht von Tagesschicht kommt, sondern von Nachtschicht? Außerdem ist noch Winterurlaub. Bestimmt noch
über einen Monat.“
„Aber ich hab’ doch so’n Ziehen in den Beinen“, versuchte der kleine Bär, sich zu erklären.
„Was denn für ein Ziehen?“
„Na, ich –“, druckste Bruhno herum, „ich möchte so gerne meine Heimat wiedersehen.“
„Was?“ wunderte sich unser Igel. „Wo dir so übel
mitgespielt wurde? Ich dachte, hier bei uns wäre jetzt deine neue –“
„Es hat auch gute und schöne Tage dort gegeben“, hielt der kleine Bär dagegen. „Und immerhin haben wir uns
dort zum 1. Mal getroffen.“
„Nun ja, wenn du meinst“, schien unser Nachtmeister einlenken zu wollen. „Aber das sind fast 50.000
Igelmeter! Eine ganze Nachtreise hin. Dann müssen wir uns
verstecken. Und dann eine ganze Nachtreise wieder zurück! Nun
gut! Wenn’s so wichtig ist, dann weck mich heute abend.“
Allein – Wecken und Aufstehen können beträchtlich auseinanderfallen. Und hätte nicht Bruhno immer wieder an
das gute Herz seines Lehrherren appelliert, wäre wohl nie was aus der Wanderung geworden. Erst lange nach
Mitternacht schrieb unser Stropp artig eine kleine Nachricht für seine schlafende Eheliebste, und dann ging’s endlich los. Doch
nicht sehr hurtig. Immer wieder wurde Rast gemacht, und es wurden Aufträge angenommen und ausgeführt. Von wem? Nun, die Schneeglöckchen trugen Grüße an die Winterlinge auf, diese an die
ersten Kroküsse; und dann hatten anscheinend 2 Ringelblumen den Winter mit dem Sommer verwechselt und wollten Astern und Sonnenblumen gegrüßt wissen. Geduldig nahmen unsere beiden Freunde auch diesen Auftrag an, aber vertrödelten doch viel Zeit.
Und so kraxelten die beiden erst zur Weinstraße hinauf, als die Glocken in den Tälern sich schon rüsten wollten, den Kirchgang
einzuläuten.
Mit einem Mal knackte es im Unterholz, und heraus brachen 3 üble Gesellen; und ehe sich unsere beiden Helden
versahen, knackte es noch einmal im Unterholz, und heraus brach eine ganze Kinderbande. Und schon waren die beiden Wanderer
umzingelt.
„Kartoffeln her“, brüllte der Anführer, „oder Leben?“
Unser Igel ließ sich keineswegs aus der Ruhe bringen, sondern schaute sich erst einmal kaltblütig um. Er
zählte 11 Räuber: 3 Jugendliche und 8 Kinder. Alle in schmutzigen, schwarzen Kitteln. Und wenn auch keiner von ihnen älter war als er, überragten sie ihn doch deutlich.
Und drohend zogen sie ihren Kreis enger und enger.
„Wird’s bald?“ schimpfte der Anführer. „Ich hab’ euch
was gefragt!“
„Ja“, bestätigte unser Stropp, „sehr ungehobelt und schlecht erzogen. Wir beide wünschen euch jedenfalls erst
einmal einen schönen Sonntag und gute Besserung.“
„Wir sind aber gar nicht krank“, wandte der Anführer ein.
„Wer noch nicht einmal für einen Gruß dankt“, gab unser Nachtmeister zu bedenken, „dem muß es schon sehr schlecht–“
„Jetzt antworte endlich“, drängte der Anführer ungeduldig: „Kartoffeln oder Leben?“
„Was sollen wir mit Kartoffeln?“ ließ sich unser Held nicht beirren. „Wir wählen selbstverständlich das Leben. Aber ich weiß beim besten Willen nicht, wie
ihr uns Leben –“
„Willst du dich über uns lustig machen?“ brauste der Anführer auf. „Du Knirps!“
„Tscha“, berichtete unser Stropp seiner Eheliebsten, als er wieder zu Hause war, „das sind so Situationen, da mußt du dich entscheiden! Entweder du hast Angst und kannst sie nicht verbergen, dann läufst du am besten schnell weg; oder du sagst dir: Jetzt erst recht!“
„Und mein Gatte hat natürlich die Gefahr gewählt“, brummte Frau Struppe.
„Die Lebensgefahr! Mann, du hättest mich zur Witwe machen können!“
„Ich?“ zweifelte diese Gatte sehr. „Ich bin doch nicht
lebensmüde! Nein, wer andere aus dem Hinterhalt überfällt, tut’s bestimmt nicht aus Tapferkeit, sondern ist in der Regel sehr
feige. Deshalb konnten wir 2 nur dann heil aus dieser Sache herauskommen, wenn wir den Räubern die Stirn boten. Tscha, so zeigten wir ihnen unsere Zähne“, und er erzählte weiter:
„Wenn ihr noch einen Schritt näher kommt“, sprach ich drohend in die Runde, „dann verbeißen wir uns in eure Haxen, und dann ist Polen in Not! Ich hab’ euch gesagt, daß wir das Leben wählen, dann müßt ihr eben mit den Kartoffeln vorliebnehmen. Und jetzt trollt euch!“
Und dann haben sie sich tatsächlich verzogen. Aber nicht wegen uns, sondern weil jemand von Dortwehr heraufkam. Wir 2 haben uns vorsichtshalber versteckt, aber das wär’ eigentlich gar nicht notwendig
gewesen. Denn weißt du, wer da kam? Der Schlendertünnes! Tscha, da hättest du aber jetzt mal die Schwarzkittelbande sehen müssen! Statt sich still zu verhalten oder fortzulaufen, stürzten sie alle wieder hervor, purzelten über den Weg und Hals über Kopf Richtung Salzgraben hinab!
„Und dieser Schlendertünnes“, wollte die Eheliebste wissen, „hatte der denn keine Angst?“
„Der hat nur gelacht und gelacht“, antwortete unser Stropp. „Anscheinend kennt er das beste Mittel gegen
Wildschweine. Aber auf dem Rückweg sind wir dieser Bande noch einmal begegnet, und da habe ich sie mir zur Brust genommen. Ob sie glaubten, der Schlendertünnes täte jenen Vorfall für sich behalten? Und was
das hieße? Gewiß kämen bald Jäger dorthin. Mit Gewehren und Hunden.
Aber diese Trottel haben ja gar keine Ahnung! Die dachten wirklich, Gewehre seien große Zähne. Und was tot bedeutet, wußten sie auch nicht. Na, hab’ ich gesagt, dann schaut mal
beim Metzger in Dortwehr vorbei, dann wißt ihr, was tot ist. Und wenn ihr euch nicht ändert, hängt ihr auch bald da. Und dann hab’ ich ihnen erklärt, wo sie mit Jägern rechnen müßten und wie die ticken und –“
„Aber ist das keine Beihilfe zu Verbrechen?“ warf die Igelin ein.
„Nein“, wagte unser Held unerschrocken, zu widersprechen, „der liebe Gott hat auch die Wildschweine geschaffen und will, daß auch sie
leben.“
„Solange sie unsere Schneeglöckchen nicht verwüsten!“ schränkte Frau Struppe resolut ein.
© Stiftung Stückwerken, *7.+9.2.2020, freigegeben am
30.1.2024
Qouz-Note 3
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MamM 1.054 Nachtmeister Stropp und der Fall Joe Wanni
„Herr Nachtmeister?“ rief eine jugendliche Baritonstimme. „Herr Nachtmeister,
seid Ihr wach?“
Als Antwort setzten drinnen rasselnde Sägegeräusche ein.
„Schlaft Ihr noch?“
Das Sägen wurde eifriger.
„Seid Ihr unter die Holzfäller gegangen?“ wurde weitergefragt, aber dann vorbildlich gefolgert: „Na, dann schlaft
Ihr also doch nicht und könnt –“
„Stropp!“ wurde drinnen eine weibliche Stimme vernehmbar. „Du schnarchst wieder so laut, daß kein Igel schlafen kann! Es ist einfach nicht zum
Aushalten mit dem Mann! Stropp! Strohopp! Steh endlich auf, sonst gibt der Bengel draußen keine Ruhe. Strohopp –“
„Ist schon gut!“ eroberte unser Held endlich das Wort, – wenn auch nur ein einlenkendes. „Und ich hab’ so hübsch geträumt! Vom Paradies! Und von vielen jungen, schönen –“
„Stropp! Jetzt reicht’s aber!“ wählte Frau Struppe einen Ton, der alle Kirschen sauer werden ließ.
Hui, wie schnell da unser Igel auf die Beine kam und nach draußen!
„Was gibt’s?“ fragte er mit zunehmender Wachsamkeit.
„Merkt Ihr das nicht?“ wunderte sich der Ruhestörer. „Es
wird Frühling!“
„Ja, ja“, wollte es der Nachtmeister abtun, „irgendwann im März. Aber jetzt ist noch Hornung, und folglich sind Winterferien!“
Tscha, aber nun zeigten sich die Früchte jener Erziehung, die unser Stropp seinem Assistenten hatte angedeihen lassen: Bei wem die Selbständigkeit gefördert wird, der
gibt nicht gleich klein bei.
„Bei den lauen Lüften wollt Ihr die Nacht verschlafen?“ zweifelte Bruhno
sehr. „Kommt, wir machen ein paar Übungen Spätsport! 20 Liegestütze!
1 – 2 – 3 –“
„Halt! Halt!“ bremste unser Stropp. „Ein alter Mann ist kein Meisterfloh und auch kein –“
„Herr Nachtmeister!“ machte eine Kohlmeise auf sich aufmerksam. „Dort drüben, an der Chaussee, liegt eine Leiche!“
„Guten Abend, Herr Hellmut“, bewahrte unser Held Ruhe und Höflichkeit.
„Für Verkehrsopfer bin ich nicht zuständig. In religiösen Dingen mußt du dich schon an die Geistlichkeit der Menschen
wenden.“
„Als ob die auf uns Tiere hören täten!“ ließ die Meise jedoch offen, ob sie in den Werken Arthur SCHOPENHAUERs bewandert sei. „Jedenfalls ist die Leiche zu Ehren jenes Götzen weder zerquetscht noch
sonstwie verzehrt worden.“
„Das ist schon merkwürdig –“, mußte unser Igel zugeben. „Dann bleibt uns wohl nichts andres übrig, als uns den
–“
„– Tatort anzusehen“, ergänzte der kleine Bär eifrig, – doch etwas zu übereifrig.
„Fundort!“ verbesserte der Nachtmeister nämlich. „Wir
wissen noch nicht einmal, ob’s überhaupt einen Tatort gibt!“
Der Mond war schon aufgegangen, als die beiden Freunde endlich jenen Fundort erreichten.
„Sonderbar!“ dachte Bruhno laut, während er die Leiche umrundete. „Liegt hier einfach so auf dem Rücken. Spitzmaus! Das schließ’ ich von der Schnauze her. Keine Spuren von Pferdehufen oder
Wagenrädern. Auch nicht von Tritten oder Schlägen. Dennoch
mausetot! Keinerlei Bißspuren –“
„Guck dich doch mal um“, setzte sich unser Stropp auf seinen Lehrstuhl.
„Ihr – Ihr meint die Mauer da?“ war der kleine Bär schnell von Begriff. „Könnte schon sein. Wenn einer von da runterfällt, könnte er derart einschlafen, daß
er nimmer aufwacht. Also, ein Unfall –“
„Das wissen wir noch nicht“, blieb unser Held vorsichtig und bei den Fakten. „Es könnte auch Selbsttötung
gewesen sein. Oder sogar Totschlag oder Mord. Einigermaßen sicher ist nur,
daß er unmittelbar zuvor wohl dort oben war. Allerdings können wir es derzeit nicht ausschließen, daß er bereits vor seinem Sturz tot
war. Ich denke aber, es wird dort oben Spuren geben. Also, mein Lieber,
merk dir das Haus auf der anderen Seite, damit wir da oben rasch den Ausgangspunkt dieser Tiefenreise finden.“
Ach ja: „Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen“, dieser
Fluch scheint auch für manches Tier zu gelten. Wohl an die 100 Igelmeter Höhenunterschied waren zu bewältigen, ehe die beiden Freunde
oben ankamen. Vorsichtig näherten sie sich jener Stelle, von der das Unheil wohl seinen Lauf genommen hatte.
„Am besten gehen wir hier auf der Mauer“, riet unser Igel, „aber selbst hier müssen wir aufpassen, daß wir keine Spuren übersehen oder gar verwischen. Ich voran, und du hältst etwas Abstand; falls mir was entgehen sollte.“
„Aha, aha!“ schien der Lehrherr bald etwas bestätigt zu finden. „Von dort kommen – Bruhno! Wo willst du denn hin? Du zerstörst doch alle Spuren!“
„Aber hier liegt eine schwarze Feder“, rechtfertigte sich der kleine Bär. „Die brauchen wir doch, wenn wir
Eure Kriminalfälle aufzeichnen wollen.“ Und schon hatte er etwas aufgehoben und sich hinters Ohr gesteckt, was bei Bären bekanntlich
eine sehr seltene Kunst ist. Und dann trottete er unbekümmert auf seinen Lehrherren zu.
Gut, daß dieser nicht nur auf seine Augen angewiesen war, sondern auch eine feine Nase hatte, um Spuren zu verfolgen. Plötzlich hielt er an.
„Aha“, schloß sein Scharfsinn messerscharf, als wäre er Old Schätterhänd. „Hier teilen sich die
Spuren. Das heißt: vereinigen sich. Von Mittag kommt nämlich eine Spur her,
führt aber keine zurück. Dagegen kommen von Abend 2 Spuren, eine etwas älter als die andere. Und die jüngere kam noch später herzu als die Spur von Mittag. Aha, und noch jünger
sind die Spuren, die wieder gen Abend zurückführen. Was schließen wir daraus?“
„Ich weiß nicht“, mußte Bruhno zugeben. „Wahrscheinlich haben hier 5 Tiere einen Spaziergang
gemacht; wenn’s doch 5 Spuren sind –“
„Belassen wir es bei 3 Tieren“, stellte der Lehrherr richtig, „von denen eines nicht mehr wiedergekommen ist.
Folgen wir also den Wiederkehrern!“
„Tscha“, erzählte unser Stropp später zu Hause, „wir gelangten bald zu einer Behausung, in welcher der Haussegen tüchtig aus dem Lot geraten war. Da hatten 2 sich kräftig in der Wolle. Immer wieder fiel der Name Joe Wanni. Der sei ein wesentlich zärtlicherer Liebhaber gewesen. Gewesen! Das machte uns gleich stutzig. Dann solle sie ihm doch hinterherspringen, wenn es ihr
bei diesem Heini besser gefallen habe. Und da sind wir beide eben mitten hineingeplatzt. Erst wurde alles abgestritten. Sie wüßten von nichts, hätten niemanden ermordet und
auch niemanden von der Mauer gestoßen, obwohl – wir hatten bisher kaum etwas über unsere Vermutungen verraten. Aber als Bruhno den
Ehemann wegen Mordes festnehmen wollte, sind beide eingeknickt. Joe Wanni habe auf der Mauer mit seiner Tollkühnheit geprahlt, als 2
Amselmännchen im Balzstreit derart dicht vorbeigeflogen seien, daß er das Gleichgewicht verloren habe und in die Tiefe gestürzt sei.“
„Und du glaubst das?“ fragte die Eheliebste.
„Die schwarze Feder, die Bruhno gefunden hat, scheint’s zu belegen“, antwortete unser Igel. „Und wenn nicht,
sind beide mit ihrer Ehe schon bestraft genug.“
„Dabei ist es doch in einer Ehe so einfach, glücklich zu sein“, behielt Frau Struppe das letzte Wort: „ER muß nur tun, was SIE IHM sagt und will.“
© Stiftung Stückwerken, *15.2.2020, freigegeben am 31.1.2024
Qouz-Note 3
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MamM 1.055 Wildegard und Wildewolf
„Ihr habt einen Regenschirm“, ließ Donna Recktenwalt offen, ob sie spotte oder sich wundere. „Habt
Ihr so wenig Vertrauen in Eure Gebete?“
„Tscha“, nahm’s der Alte von der Halbinsel heiter, „ich bin nicht Elia, und das ist auch gut
so!“
„Aber –“
„Nichts aber“, konnte der Alte auch grob werden. „Wie mancher Fluch wäre sonst in Erfüllung
gegangen. Und wer weiß, ob Elia heute über die Erhörung seiner Gebete und seine Strafgerichte glücklich ist? Nee, ein Gefäß des Zornes Gottes möchte ich nie sein, –“
„Sondern?“
„Sondern seiner Barmherzigkeit“, antwortete der Alte und begann zu erzählen:
Es wär’ einmal eine Königin, die hieß Wildegard und war noch ohne Mann. Zunächst! Obwohl – obwohl sich mancher Mann nach ihr umguckte, wenn sie einen
Ballsaal betrat oder zum Kutschenfenster herausschaute. Allein – was hält einen Mann davon zurück, sich um die Hand einer Frau zu
bemühen? – Richtig! Ein zu hohes Risiko, aus dieser Hand einen Korb
zu erhalten.
Aber da Wildegard nicht nur von ihrem Thron aus regieren wollte, sondern auch in ihren Privatgemächern, drehte sie den Spieß einfach um und beanspruchte
Damenwahl. Tscha, das war jedoch noch nicht alles.
Als Wildegard nämlich volljährig geworden war, hatte sie von einer Fee einen Zauberstab erhalten. Von einer
guten Fee? Dann hätte aus diesem Geschenk ja was Gutes erwachsen müssen.
Doch – schauen wir es uns genauer an.
Wildegard ging also auf Brautschau – in der Bedeutung: Sie sah zu, Braut zu werden. Da kannst du dir gewiß
vorstellen, daß sie als Königin dabei recht wählerisch war; und als Wildegard erst recht! Nicht nur, daß sie aus 10 heiratsfähigen Männern allenfalls einen erwählte, sondern dieser mußte ihr auch noch auf ihr Schloß folgen und seine
Qualitäten unter Beweis stellen. Nicht so, wie du jetzt denkst. Sie suchte
doch keinen Zuchtbullen oder Zuchthengst!
Aber damit gehen unsere Gedanken dennoch in die richtige Richtung. Eigentlich brauchte Wildegard einen
Kandidaten nur im Schloßpark zu empfangen und ein paar Schritte mit jenem zu wandeln, und schon wußte sie genug. Eine Berührung mit ihrem Zauberstab, ein leises Sprüchlein, und – hast du nicht gesehen – war der Kandidat verwandelt.
Allein – Wildegard hätte das nicht so genannt, sondern ihrer Ansicht nach zeigte sich der junge Mann nun in seiner wahren Gestalt: nämlich als Tier. Wen sie als hochnäsig entlarvte, den verwandelte sie in ein Giraffenmännchen, vor allem wenn er ihr etwas zu sanft vorkam.
War ihr ein Kandidat zu dumm, ließ sie ihn ergrauen und sich als Esel zeigen. Diese Gestalt schien ihr aber
auch für jene Männer angebracht, die viel zuviel von sich erzählten, statt den Worten der Königin aufmerksam zu lauschen.
Nun, du ahnst es schon: Der Schloßpark ward mehr und mehr zu einem Tiergarten. Sehr häufig waren bald jene
Tiere vertreten, von denen manche Menschen bekanntlich ihre Abkunft herleiten: die Affen! Und wenn du dich so umschaust oder vor allem
umhörst, ist das ja so abwegig nicht. Immer wieder triffst du auf jemanden, der sich für den Größten hält, weil er am lautesten Krach
machen kann. Kein Wunder, daß es Wildegard da nicht anders erging.
Ach, es ist müßig, all die Tiere aufzuzählen, die nach geraumer Zeit jenen Tiergarten bevölkerten. Ich will
nur die Hunde noch erwähnen als Vertreter derer, mit deren Dressur eine Frau Staat machen kann, die sie so treu anblicken und ihr stets das Gefühl der Überlegenheit vermitteln. Und der Dank? Vielleicht ein Knochen, aber keine Achtung.
Wenn aber so viele junge Männer tierisch wurden (und bestimmt nicht die schlechtesten), wie konnte da das Königreich Bestand
haben? Deine Frage ist berechtigt! Aber die Königin war nicht
dumm. Wollte sie höhere Steuern durchsetzen, schickte sie einfach ihre Affen ins Parlament. Drohte ein Krieg, ließ die ihre Falken ausschwirren. Und war gar ein Aufruhr im
Anzug, dann kamen ihre Hunde zum Einsatz und schnüffelten, faßten und apportierten.
Tscha, und dann begegnete die Königin Wildewolf und – paßte wohl nicht richtig auf. Übereilt schloß sie von dem Namen auf den Charakter und verzauberte den jungen Mann in einen Wolf. Nur – hatte sie dabei nicht bedacht, was so viele Töchter Evas übersehen: Ein Wolf ist kein Hund! Ein Wolf läßt sich nicht zähmen. Mit einem Wolf kannst du keinen Staat
machen. Und ein Wolf verhält sich zu allen Tieren ungesellig, die nicht seines Wesens sind.
Und ein Wolf liebt das Wandern! Zwar war der Tiergarten eingehegt, aber wenn ein Wolf ausreißen will, dann
hält ihn kein Gehege auf! Freilich – mit ihrem Zauberstab hätte ihn die Königin jederzeit zurückbannen können. Es mußte also alles heimlich geschehen und vor allem nachts, wenn Wildegard schlief.
Und so kam’s auch, und doch kam’s ganz anders! Das hatte folgende Bewandtnis. Eine Tierart war in Wildegards Tiergarten nicht vertreten: die Katzen! Und denen
begegnete Wildewolf gleich nach seiner nächtlichen Flucht. Nicht offen, sondern der Wolf hatte etwas Fremdes gewittert, schlich sich
näher und näher und – ward verborgener Zeuge eines verkaterten Gesprächs. 2 Kater unterhielten sich gerade über – Wildegard und wie
einfach es sei, ihre Gewalt zu brechen. Es brauche jemand lediglich –
Nun, Wildewolf hörte genau zu, schlich wieder in den Tiergarten zurück, begegnete der Königin am Morgen so, als wäre nichts geschehen
und – Und kaum hatte Wildegard ihren Zauberstab herausgeholt, da hatte ihn schon der Wolf geschnappt und mit seinen Zähnen entzweigebissen. Mit einem Mal war aller Zauber wie ein Spuk verschwunden, und alle Tiere hatten wieder ihre menschliche Gestalt. Drohend näherten sie sich der Königin, die nun das Schlimmste befürchten –
„Recht so!“ ereiferte sich Donna Recktenwalt. „So darf
eine Frau nicht mit den Männern umspringen! So etwas muß strengstens –“
„Wildewolf dachte anders“, ging der Alte auf diese Forderung ein. „Was würde durch eine Strafe
besser? Eine Strafe kann allenfalls Hals und Füße lenken, nicht aber das Herz; jedenfalls nicht zum Guten! Nein, Wildewolf nahm die Königin blitzschnell auf seine Arme und hatte sie bereits in Sicherheit gebracht, ehe die andern es sich
versahen. Er hatte nämlich bedacht: Was hatte die Königin habgierig und herrschsüchtig gemacht? Der Zauberstab! Und dessen Macht war nun gebrochen. Also? Also brauchte Wildewolf von ihr nur alles fernzuhalten, was sie rückfällig
machen konnte. Damit aber noch nicht genug. Ist es die Strenge, die zur
Umkehr leitet? Ist es nicht die Güte? Erst recht, wenn ihr Same Liebe
ist!“ Und er geleitete die Besucherin hinaus.
© Stiftung Stückwerken, *21.2.2020, freigegeben am 11.3.2024
Qouz-Note: 3
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MamM 1.056 Nachtmeister Stropp und der Fall im Schnee
„Es schneit! Es schneit! Herr Nachtmeister, es schneit!“ jubelte eine jugendliche Baritonstimme, die den Eingeweihten nicht unbekannt sein dürfte.
„Aber viel zu spät“, wandte drinnen unser Stropp ein, „um noch in den Winterurlaub verreisen zu können.“
„Er ist halt nie zufrieden“, senfte Frau Struppe in Frauenweise hinzu.
„Du mußt ja bei dem Wetter nicht raus“, entfuhr es unserem Helden, ehe er es zurückhalten konnte.
„Was?“ erhitzte sich die Eheliebste von Wort zu Wort.
„Willst du etwa damit sagen, ich liege hier auf der faulen Haut? Wer hat denn –“
„Nein, nein, nein“, beeilte sich unser Igel, den Schaden so gering wie möglich zu halten, „ich wollte nur sagen, daß –“
„Dann halt gefälligst das Maul!“ war die Igelin anscheinend mit dem falschen Beinchen aufgestanden; oder etwa gar nicht?
„Pst!“ warnte unser Nachtmeister. „Bruhno kann alles mithören.“
„Soll er doch hören“, ließ sich Frau Struppe nicht das letzte Wort entziehen, „wie du dich wieder danebenbenimmst! Ich muß mich ja richtig für dich schämen! So mit seiner langjährigen und fürsorgenden
Lebensgefährtin umzuspringen! Da hört sich doch –“
„Ich komme!“ suchte unser Stropp sein Heil in der Flucht, als hätten auch Igelinnen ihre Tage, an denen sie nicht zu
genießen sind.
Freilich – die Alternative war zu verlockend: drinnen ein keifendes Weib, draußen ein Lernling voller Bewunderung. Und – das Bewußtsein, aus reinem Pflichtgefühl zu handeln. Allein – was hat im Leben
keine Schattenseiten? – Wohl nur die Sonne selbst, und die bekommt ein Igel bekanntlich nicht lange zu Gesicht; vor allem im Winter. Ach ja, über was hätte unser Nachtmeister nicht grübeln und
nörgeln können! Der Schnee war nicht von Dauer, das wissen wir bereits;
doch reichte er aus, sich in ihm kalte Füße zu holen. Vielleicht sogar noch einen Schnupfen und – 7 lange Nächte Bettruhe. Zwar verarztet und gepflegt von seiner Eheliebsten, aber ihr für diese lange Zeit auch wehrlos ausgeliefert. Nicht gerade das, wonach sich ein Ehemann sehnt, selbst wenn seine Ehe eigentlich als glücklich gilt.
Jedoch – für einen trefflichen Kriminalisten hat der Schnee auch einen gewissen Reiz. Wieso? – Richtig! Der Schnee macht Spuren sichtbarer, solange Wind und Wärme nicht
mitspielen. Und wenn du mit Bruhno noch einen eifrigen Lernling bei dir hast, dann –
„Nanu?“ wunderte sich dieser Lernling plötzlich. „Was
ist denn hier passiert?“
„Aan Anglack! Jawahl, aan Anglack!“ antwortete eine
Stimme, die eine Vorliebe für das A zu haben schien. „Gat, daß Ahr kammt, Harr Nachtmaastar!“
„Sie sind die Eigentümerin, gnädige Frau?“ nahm unser Held sogleich die 1. Ermittlungen auf.
„Ja“, bestätigte die Angeredete, „ach and maan Mann; jadanfalls war’n war as. Schnack, kammst da mal?“
„Was gabt’s, Schnacka?“ antwortete eine Stimme mit ähnlicher Vorliebe. „Warst da waadar balastagt? – Ach sa, Sa sand’s, Harr Nachtmaastar. Ja,
schaan Saa sach das nar alles an, dann haban war as amtlach. As wagan dar Varsacharang. Starmschadan.“
„Mh“, schienen es unsere beiden Freunde polizeilich aufzunehmen.
„War sand na abdachlas“, begann die Ehefrau zu jammern.
„And hattan ans sa vaal Maha gagaben“, ergänzte der Gatte. „Aan wahrar Palast. Abar gagan daa Natargawaltan basta machtlas.“
„Naturgewalten“, wiederholte unser Igel, als wäre er nicht so ganz bei der Sache. Oder hegte er etwa
Zweifel?
Merkwürdig war es schon, daß hautsächlich der kleine Bär den Schaden begutachtete, während sein Lehrmeister anderes für wichtiger zu halten schien und zum Aufbruch
drängte. Und davon ließ er sich auch nicht von der Elsterfrau abhalten, die gerade damit beginnen wollte, ihre Kinder mit ins Spiel zu
bringen, die noch gar nicht geboren, aber schon obdachlos seien.
„Was ist?“ flüsterte Bruhno, obwohl unsere beiden Freunde bereits außer Hörweite der Elstern waren. „Warum diese Eile?“
„Warum-Fragen kann ich nicht beantworten“, brummte unser Stropp. „Siehst du nichts?“
„Was sollte ich schon sehen?“ grübelte der kleine Bär.
„Es ist inzwischen doch schon dunkel geworden.“
„Und hier?“
„Anscheinend ein Strich“, antwortete Bruhno, ehe endlich der Kreuzer fiel. „Ah, eine Spur –“
„Und wo kommt sie her?“
„Die eine –“, hatte der kleine Bär noch mehr entdeckt, „ja, die eine kommt von dem zerstörten Elsternnest, und die andere kommt – Ich weiß es nicht.“
„Führt zu dem Elsternnest“, war unser Held bekanntlich darauf bedacht, auch dem kleinsten Indiz eine Erkenntnis abzugewinnen. „Und welche Spur ist älter?“
„Die zu dem Elsternnest hinführt“, war sich unser Bruhno sicher, „denn hier und da wird sie von der anderen Spur überdeckt.“
„Aha, das wissen wir also“, setzte unser Nachtmeister seinen Unterricht fort. „Und was schließen wir
daraus?“
„Nun – nun“, überlegte der Lernling angestrengt, „die Elstern haben wohl Besuch gehabt.“
„Zumindest ihr Nest“, hielt der Lehrmeister fest, ehe er sich auf das dünne Eis der Vermutungen wagte. „Haben
wir zur Zeit heftigen Sturm? – Nein! Hat es tagsüber
gestürmt? – Wieder nein; sonst würden wir hier mehr Verwüstungen
sehen. Also? Also hat jener Sturm wohl 4 Pfoten gehabt –“
„– und einen buschigen Schwanz“, war der kleine Bär auch nicht auf den Kopf gefallen.
„Nun wird das Eis noch dünner“, warnte unser Held vorsorglich. „Es könnte – Ich betone: könnte! – so gewesen sein: Ein Eichhörnchen kommt zum Elsternnest und findet es leer. Es zerstört
das Nest und läuft wieder fort. Die Eigentümer entdecken den Schaden, vermutlich auch die Spuren im Schnee, melden uns aber einen
Sturmschaden. Falls dieses Eis trägt, was schließen wir daraus?
Richtig! Die Opfer eines Verbrechens decken den Täter! Wann tun sie
das? Erneut richtig! Wenn sie selber kein reines Gewissen –
Halt! Im Namen des Gesetzes verhafte ich Euch, Herr Johannino, wegen schwerer Sachbeschädigung und
schweren Hausfriedensbruches –“
„Tscha“, berichtete unser Igel später einer mit großer Anteilnahme zuhörenden Eheliebsten, „ich hatte zwar damit gerechnet, daß der Täter an den Tatort zurückkehren
wollte, aber nicht so bald und erst recht nicht des Nachts. Wir führten ihn also zu den Elstern, und nach einem beharrlichen Verhör
durch Bruhno kam dann alles ans Licht. Ich hatte nicht falsch gelegen! Die
Elstern hatten Johannino heimlich bei seinem Besuch eines Vogelfutterhäuschens beobachtet und anschließend versucht, ihn deswegen zu erpressen. Und –“
„– der Eichkater hat ihnen gezeigt“, ergänzte die Igelin, „daß mit ihm nicht gut Nüsse essen sei. Und die
Strafe?“
„Buße!“ wagte der Gemahl zu verbessern. „Sie müssen sich
wieder versöhnen, das Nest wiederaufbauen und von ihrem räuberischen Gewerbe lassen. Anderenfalls würden sie aus unserem Gemeinwesen
ausgeschlossen.“
© Stiftung Stückwerken, *28.-29.2.2020, freigegeben am 1.2.2024
Qouz-Note 4
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MamM 1.057 Aus H. Zeit – Ehe im alten Stil
Und was meint Ihr“, fragte Donna Fingerzeig: „Wann wird eine Ehe gelingen?“
„Das fragst du einen Junggesellen?“ gewann der Alte von der Halbinsel Zeit zum Überlegen. „Darauf wüßte ich wohl nur eine Antwort: Es ist Gnade –“
„Papperlapapp!“ tat’s die Besucherin ab. „Dann bräuchte ja niemand etwas
dafür zu tun.“
„Tscha“, seufzte der Alte, „die Ehe ist kein Rührkuchen. Also, wenn eine Ehe halten –“
„– soll“, ergänzte Donna Fingerzeig vorschnell, „dann sollte gefälligst jeder –“
„Eben nicht!“ Der Alte verzog schmerzlich sein Gesicht, hatte er doch sein Reizwort unbedingt vermeiden
wollen. „Niemand soll etwas! Freilich – wer nichts sät, wird auch nicht viel Gutes ernten. Ich denke, bei einer glücklichen Ehe ist erstlich die Liebe das Fundament: den andern zu lieben, dessen Bestes zu wollen; nicht die Habgier, auch nicht die Absicht, zum eigenen Vorteil den andern auszunutzen.“
„Andere sagen aber“, war die Besucherin noch nicht überzeugt, „die beiden müßten gemeinsam etwas aufbauen.“
„Da ist was Wahres dran“, gab der Alte zu, „denn ich als alter Kaufmann denke in Alternativen: Wenn 1 + 1 größer oder gleich 2, dann mögen die beiden
heiraten; ist’s aber kleiner 2, dann bleiben die beiden besser getrennt.“
„Und die Treue?“ führte Donna Fingerzeig an.
„Tscha“, versagte der Alte seine volle Zustimmung. „Was ist Treue? Kann seit Christi Zeit ein Mann treu sein? –“
„Typisch Mann!“ zürnte die Besucherin. „Seine eigenen
Sünden auch noch mit der Religion entschuldigen! Wir Frauen aber sollen bitte schön immer treu bleiben und dem Gatten jeden
Seitensprung –“
„Nein, nein, nein“, konnte der Alte sein Reizwort nicht überhören, „niemand soll etwas, und niemand kann vom andern etwas fordern. Aber er kann um Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit bitten und sich bemühen, sie selber vorzuleben; anderenfalls stehen in jedem Wohnzimmer 2 Richtstühle, wie –“ Und er begann zu erzählen:
In den alten Zeiten war es die Ausnahme, ein fürstliches Brautpaar nach der Liebe zu befragen; es sei denn, es
war nichts zu holen und auch nichts zu geben. Meistens wurden Prinzessin und Prinz bereits im Kindesalter miteinander
verlobt; und zwar so, wie’s ihre Eltern für nützlich befanden. Solche Ehe
mußte deshalb nicht unglücklich sein, solange sich die beiden nichts anderes wünschten. Zumal beide ja einem gemeinsamen Nutzen
dienten.
Iris und Krüss waren keine Ausnahme. Von Kindesbeinen füreinander bestimmt, hatten sie
sich damit abgefunden und nahmen’s für so selbstverständlich wie – wie zum Beispiel ihre Haarfarbe. Freilich – romantische Liebesromane
bekamen sie in ihrer Jugend nicht zu lesen, in denen die Leidenschaft geweckt und am Ende auch noch belohnt wird. Statt dessen hatten
sie biedere Bauernromane zu lesen, in denen sich die Pflichterfüllung auszahlt. Ja, und Tragödien – zur Abschreckung!
So wurden die beiden denn eines Tages Frau und Mann und eines späteren Tages Königin und König. Und wenn sie
nicht gestorben sind, – Allein, bis dahin kann so vieles sterben!
Jedenfalls hatte sich durch die Ehe und Erbschaft das gemeinsame Reich erheblich vergrößert. Hätte Krüss es
alleine regieren wollen, so hätte er viel mehr zu tun gehabt denn sein Vater. Also herrschten Königin und König gemeinsam. Jedoch – Iris war nicht Krüss, und Krüss war nicht Iris. Was der einen lieb und wert
war, mußte dem andern nicht teuer sein. Auch mußten die Behörden beider Erblande zusammengeführt werden. Was meinst du, wie oft da der Satz zu hören war: „Bei uns wurde das immer so gemacht“? Durch solche Fliehkräfte ist schon manche Ehe zerbrochen; beinahe auch die von Iris
und Krüss.
Eines Tages hatten sich die Gegensätze derart zugespitzt, daß sie verletzten und weh taten. Die Stimmen wurden
laut, die Gesichter rot, Tränen flossen, Hättichbloß und Wärichbesser machten ihre Aufwartung, und schließlich wurde eine Tür zugeknallt. Wär’s ein englischer Hof gewesen, hätte wohl niemand auf den Fortbestand der königlichen Ehe wetten wollen.
Tscha, wenn du meinst, es geht nicht mehr, dann mußt du dir eben eine Weghelferin suchen. Und da Königin und
König jeweils eine gute Fee hatten und auch kannten, gingen sie zu ihrer und er zu seiner. Und stell dir vor, beide Feen erteilten in
etwa den gleichen Rat: Es wäre gut, wenn das Paar die Aufgaben aufteilte. Zuerst wähle Iris, was sie gut und gerne erfüllen könne, dann
in ähnlicher Weise Krüss; und wenn dann noch etwas übrigliebe, dann müßte das eben Zug um Zug nach der Nähe der bereits vergebenen
Aufgaben verteilt werden. Ansonsten hätte jeder vorerst sein eigenes Kabinett, seine eigenen Gänge, seinen eigenen Tisch und sein
eigenes Bett; und nur 2mal in der Woche dürften sie zusammenkommen und sich austauschen und – selbstverständlich Zuständigkeiten im
guten Einvernehmen ändern.
Tscha, hatten die beiden Feen da wirklich alles recht bedacht? Zunächst sah’s nicht so aus. Denn um im guten Frieden leben zu können, hatten beide Eheleute inzwischen mancher störenden Angewohnheit den Abschied gegeben. Ungehobelte Tischsitten und vernachlässigte Kleidung waren dabei noch am harmlosesten. Und als sie nun nicht mehr unter gegenseitiger Beobachtung standen, lebte manches wieder auf; wie das Unkraut nach einem sanften Landregen. Und es grünte sogar neues
Unkraut. So gewahrte Krüss, daß auch andere Eltern schöne Töchter haben, während Iris die Kriegsbemalung für sich entdeckte, mit der
Frauen bekanntlich Begehren wecken und an sich binden wollen. Und wieder hätte an einem englischen Hofe niemand auf diese Ehe wetten
–
„Eben!“ konnte sich Donna Fingerzeig nicht länger zurückhalten. „Weil sie nichts mehr gemeinsam aufbauten und einander nicht treu waren.“
„So?“ wunderte sich der Alte. „Ich hätte wohl betonen
müssen, daß die beiden mehrere Jahre miteinander verheiratet waren; so etwas verteilt Maßstäbe und – öffnet den Blick dafür, daß kein
Mensch vollkommen ist und jede Verbindung ihren Preis hat. Und vergiß nicht: 2mal in der Woche kamen sie zusammen. Nun ist aber für Sehnsucht das Entbehren eine notwendige Voraussetzung und ein Nährboden, auf dem sie wächst; sogar zu einer Brücke. Auf dieser kannst du Gräben überwinden; und nimmst du den Samen von Glockenblume und Pfingstrose mit, so brauchst du nicht mehr zurück, da auch die Iris dort –“
Aber die Besucherin glaubte anscheinend, berechtigte Zweifel an des Alten Gartenbaukunst haben zu dürfen, und war inzwischen gegangen.
© Stiftung Stückwerken, *6.3.2020, freigegeben am 12.3.2024
Qouz-Note: 2-
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MamM 1.058 Nachtmeister Stropp und der Fall Kirchhof
„Da liegt ja ein totes Eichhörnchen!“
„Pst! Da kommt der Schlendertünnes!“ raunte eine Stimme,
die ihre Freunde bestimmt gleich erkannt hätten, zu einem Gefährten.
„Und das da?“ raunte dieser zurück und bestätigte damit unsere Einschätzung seines Geschlechts und ließ die
Schlußfolgerung auf ein jugendliches Alter zu.
„Totgebissen!“ stellte Dasda fest, noch ehe die 1. Stimme, eigentlich 2. Stimme, antworten konnte.
„Der’s jetzt aufhebt und wegträgt“, identifizierte die 1. raunende Stimme mit gewohnter Treffsicherheit, „das ist
der Küster. Komm, wir müssen aufpassen, wo er die Leiche hinbringt!“
Aber das war gar nicht so einfach, denn noch war der Schlendertünnes kaum weitergegangen. Warum? Nun ja, Menschen! Da kann ein Jesus Sirach noch so sehr mahnen, sie können ihren
Vorwitz nicht unterdrücken. So auch hier.
„Wahrscheinlich Katze oder Marder“, mengte sich der Schlendertünnes in ein fremdes Amt. „Wenn Ihr ein Requiem
abhalten laßt, dann paßt auf, daß davon das Vogelvolk nichts erfährt; sein Jubelgesang könnte Euch die ganze Trauerstimmung
verderben. Jedenfalls noch einen schönen Sonntag!“
„Endlich!“ amtete die 1. raunende Stimme auf (oder deren Besitzer). „Jetzt müssen wir uns beeilen, denn gleich kommen die 1. Kirchgänger.“
Beeilen? Mit was? Nun, Eingeweihte werden bereits
ahnen, wer für Ermittlungen in Kriminalfällen zuständig ist, vor allem im Reich der Tiere und erst recht in Dortwehr und Umgebung: Nachtmeister Stropp und sein junger Assistent Bruhno!
Der fragte auch gleich, ob der Schlendertünnes mit seinem Verdacht recht habe.
„Das kann ich jetzt noch nicht sagen“, vermied unser Igel ein vorschnelles Urteil. „Ah, jetzt hat der Küster
den Deckel geschlossen, und wir können keine Leichenschau vornehmen. Nein, Bruhno, laß mal! Du fällst sonst noch hinein und kommst nicht wieder raus. Gehen wir also zum
Fundort.“
Das taten die beiden Freunde auch, jedenfalls versuchten sie es. Doch eindeutig konnten sie ihn nicht mehr
bestimmen, denn – nirgendwo waren Blut- oder Kampfspuren zu entdecken.
„Was wissen wir also?“ begann der Lehrherr zu examinieren.
„Ein Eichkater –“
„Wissen wir das?“ gab unser Held zu bedenken.
„Ein Eichhörnchen“, verbesserte sich der kleine Bär, „ist ums Leben gekommen. Nach Aussage des Küsters:
erstochen. Tatwaffen: vermutlich scharfe Zähne. Kein Verwesungsgeruch
–“
„Gut festgestellt!“ lobte der Lehrmeister.
„Keine Blutspuren am Fundort“, fuhr Bruhno fort, „folglich sind Fundort und Tatort nicht identisch –“
„Na, das wissen wir noch nicht“, blieb unser Nachtmeister vorsichtig. „Das Opfer kann auch überrascht worden
sein; ein gezielter Biß, und schon ist die Seele gen Himmel entflogen. Und
– wir können noch nicht ausschließen, daß wir es mit einem blutdürstigen Ungeheuer zu tun haben.“
„Also keine Katze?“
„Auch das läßt sich jetzt noch nicht sagen“, blieb unser Held bedächtig, „solange wird den Tatort nicht genau bestimmen können. Aber wir kennen einen weiteren Umstand, der von Bedeutung sein –“
„Ah“, schien dem Assistenten ein Licht aufzugehen, „das Opfer wurde nicht gefressen. Entweder hat der Täter so
schon genug zu essen, oder er wurde beim Verzehr gestört. Aber der Küster hat nichts von Freßspuren gesagt. Und sonderbar: Der Fundort ist von allen Seiten einsehbar. Ein hungriger Täter hätte
seine Beute vermutlich in irgendeine Deckung geschleppt.“
„Richtig, – jedenfalls richtig beobachtet“, lobte unser Igel erneut. „Der Fundort ist aber an einer Stelle,
die täglich Menschen passieren.“
„Ah“, erinnerte sich der kleine Bär, „meint Ihr, das Opfer wurde mit Absicht hier abgelegt? Wie im Falle
Braunekat? – Dann war’s also doch eine Katze, vermutlich Braunekat selbst.“
„Vorsicht!“ mahnte der Lehrmeister. „Auch unter den
Tieren gibt es solche, die meinen, vom Affen abzustammen. Sie sind rücksichtslos laut und ahmen gerne nach. Und Braunekat hat ja inzwischen die ganze Tierwelt gegen sich, soweit diese wurffertig ist. Freilich – was der Schlendertünnes angemerkt hat, muß auch bedacht werden: Die Vögel tragen um keinen toten Eichkater –“
„Kein totes Eichhörnchen“, verbesserte Bruhno flink und nicht ohne heimliche Freude.
„Richtig!“ gab unser Nachtmeister zu. „Also, sie tragen
keine Trauer, sondern jubeln sogar. Selbst wenn sie den Mord beobachtet hätten, könnten sie diesen hier nicht haben verhindern
wollen. Und sonderbar ist auch, daß die Leiche vor einer Kirche gefunden wurde. Aber jetzt können wir nichts anderes tun, als abzuwarten – Oh weh, hoffentlich schläft meine Eheliebste schon!“
Diese Hoffnung wurde nicht zuschanden, und am nächsten Abend kam es auch zu keinem unliebsamen Verhör, denn der offizielle Herr des
Hauses wußte ja mit einem neuen Fall aufzuwarten.
„Dann mußt du mal schauen“, riet Frau Struppe mit bekannter Hilfsbereitschaft, „ob sich in letzter Zeit bei der Kirche irgend etwas
geändert hat. Haben die eine neue Pfarrerin, dann steckt wohl ein Kater dahinter; haben sie einen neuen Gärtner, dann war’s wohl eine Katze; so auch bei einem neuen
Küster.“
Den Rat seiner Eheliebsten wollte unser Stropp schon beherzigen, aber die Schlußfolgerungen erschienen ihm noch nicht stichhaltig. Er und sein Assistent hielten also ihre Augen auf und gewahrten sonderbare Grabspuren. Bisher waren diese von ihnen der Schwarzkittelbande zugeschrieben worden, aber dies erschien nun zweifelhaft.
Und 4 Tage später die nächste Leiche! Nicht direkt bei der Kirche, aber
mitten auf dem Weg, der unterhalb des diakonischen Friedhofes verläuft: Haselfried, ein friedlicher Haselmäuserich! Und wieder keine Blutspuren!
„Wer so etwas übers Herz bringen kann“, entrüstete sich Bruhno widersprüchlich, „der hat wohl kein Herz!“
„Und dann erinnerte ich mich daran“, erzählte unser Nachtmeister am nächsten Morgen zu Hause, „zu welchen blutgierigen Räubern jemand
gehörte, den der Schlendertünnes vor einiger Zeit vorübergehend verscheucht hatte. Wir haben also die möglichen Unterschlupfe abgesucht
und – wurden fündig. Herr Mustelmann war auch gleich geständig, aber der fortgesetzte Blutgenuß
muß ihm doch sehr zu Kopf gestiegen sein. Er sagte auch irgend etwas von einer neuen Pfarrerin, aber dann faselte er was von Opfersegen
und Jagdbrauch, was völlig konfus war. Und ehe ich ihn festnehmen konnte, war er wieselflink fortgehuscht. Tscha, Verbrechen aufgeklärt, aber Gefahr leider nicht gebannt!“
„Sonst wärst du aber arbeitslos“, behielt die Eheliebste das letzte Wort.
© Stiftung Stückwerken, *14.3.2020, freigegeben am 2.2.2024
Qouz-Note 3
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MamM 1.059 Unseres Vaters Kinder
„Was geschieht aber mit denen, die nicht zu unserer Kirche gehören?“ verbarg Donna Scheidemantel ihre
eigene Ansicht. „Sind sie alle verloren?“
„Und kommen in die Hölle?“ ergänzte der Alte von der Halbinsel. „Und bleiben für immer dort? Ich will
eine Gegenfrage stellen: Kommen alle Mitglieder unserer Kirche in den Himmel? Und bleiben für immer dort?“
„Nein“, brauchte die Besucherin nicht lange zu überlegen. „Mancher ist nur ein Mitläufer und lebt nicht seines
Glaubens.“
„Ach“, brachte der Alte Erstaunen entgegen, während er in seinem alten, abgegriffenen Buch blätterte, bevor er es weitergab und bat, daraus vorzulesen.
„Denn wer Gottes Willen tut“, las Donna Scheidemantel, „der ist mein Bruder und meine
Schwester und meine Mutter.“
„Also?“
„Ach, Ihr meint“, wähnte die Besucherin zu entdecken, „Gott nimmt aus allen Kirchen die Besten?“
„Nein“, widersprach der Alte, „steht dort irgend etwas von Kirche? Steht dort irgend etwas von
Besten?“
„Aber sie sagen doch, die Kirche sei die neue Arche“, hielt Donna Scheidemantel dagegen.
„Wer ist sie?“ fragte der Alte und gab gleich die Antwort: „Die Kirche selbst beziehungsweise die, welche sich dafür
ausgeben. Und sie wenden soviel Energie darauf, auszugrenzen und zu trennen, statt Nächstenliebe zu üben; Seelsorge; Dienen. Ist
das der Wille Gottes? Die Liebe des guten Hirten?“ Und er begann zu
erzählen:
Es hätte aber ein König einen Sohn, und dieser hieß Martin. Dem wurden selbstverständlich die besten Lehrer
des Reiches gegeben, und er lernte eifrig und – Tscha, das war es wohl: das Eifrige. Denn obwohl Martin sichtbar zunahm an
Erkenntnis, bildeten sich auf der Stirn des Vaters zunehmend Sorgenfalten, wenn dieser seines Sohnes gedachte.
Von wem hatte sein Sohn diese Strenge, fragte sich der König immer wieder und wußte es nicht zu beantworten.
Der Vater versuchte viele Male, zur Güte zu ermahnen, aber vergeblich. Ja, es führte sogar dazu, daß sich Sohn und Vater noch weiter
entzweiten.
Nun rückte aber der Tag immer näher, an dem der Vater hatte abdanken wollen. Doch der König konnte es drehen
und wenden, immer wieder kam er zu dem Ergebnis: Für das Volk sei es nicht gut, wenn Martin alle Macht erhielte. Deshalb entschied der
Vater, nicht abzudanken, sondern seinen Sohn zum Vizekönig zu ernennen. Vielleicht ändere sich dieser ja bei der Ausübung seiner
Geschäfte. So durfte sich Martin also auf den Thron setzen, während sein Vater sich in den Hintergrund zurückzog, sich aber vorbehielt,
den Vizekönig wieder abzusetzen, falls dies dem Wohle des Volkes besser diene.
Mit gewohntem Eifer begann Martin sogleich, Verbote zu Geboten zu verschärfen, Übertretungen strenger zu ahnden und das Land mit eiserner Faust zu regieren. Landjäger durchstreiften Städte und Dörfer, und jeder Bürger wurde aufgerufen, Verfehlungen unverzüglich anzuzeigen. Gefängnisse und Zuchthäuser füllten sich und platzten bald aus allen Nähten, so daß sich der Vizekönig gezwungen sah, die Todesstrafe wieder
einzuführen.
Ich weiß nicht, ob du in einem solchen Reich hättest leben wollen, ja, überhaupt leben können. Bedenk nur mal
die Zeit, die es kostet, alle Gesetze zu lesen, sich einzuprägen und stets auf dem neuesten Stand zu bleiben. Und dann die ständige
Angst, einer Übertretung bezichtigt zu werden. Dennoch – wer sich gegen dies alles auflehnte, wurde einfach aus dem Verkehr
gezogen.
Nur eine paßte sich nicht an: Marlinde. Sie war Anwältin und trat in vielen Strafprozessen auf, um ihre
Mandantinnen und Mandanten zu verteidigen. Stets versuchte sie nachzuweisen, daß es nie einen Alleinschuldigen gibt.
Wie sie das behaupten konnte? Nun, zunächst besuchte sie die Untersuchungsgefangenen und ließ diese reden und
reden. Dann besuchte sie die Opfer, soweit dies möglich war, oder deren Angehörige und ließ sie reden und reden. Aber sonderbar, während die beiden Parteien redeten und redeten, hatte Marlinde einen Spiegel in der Hand und sah sich selber in die
Augen.
Allein – kein Mensch kann sich in jedem Menschen wiederfinden. Manches blieb Marlinde auch fremd; und wenn dies der Fall war, bat sie sich für einen Tag von dem Betreffenden ein Paar Schuhe aus. Gut, waren Schuhe zu klein, dann mußten eben Sandalen herhalten. Was Marlinde damit
machte? Tscha, darüber sprach sie nicht; aber ich vermute, sie wird sie
wohl getragen haben.
Und dann kam es Martin in den Sinn, auch andere Völker über seinen Leisten zu schlagen. Du ahnst richtig: Das
läßt sich keine Regierung gefallen! Es gab also Krieg! Doch an dem Tage, an
dem Martin an der Spitze seines Heeres ausrücken wollte, stieg vom Marktplatz der Residenzstadt eine derart große Schar Tauben auf, daß kein Weiterkommen war; nämlich als diese das Heer und den Feldherrn unablässig umflatterten. Der Vizekönig
schäumte vor Wut. Zwar blieb ihm nichts anderes übrig, als umzukehren, aber dann ließ er die Urheberin dieses Zwischenfalles
unverzüglich verhaften und in den Kerker werfen. Er hatte richtig vermutet: Es war seine Erzfeindin Marlinde gewesen.
Tscha, seht ihr den Mond dort stehen? Jedenfalls landete Marlinde nicht im Kerker, sondern – vor dem Throne, wo ihr
der König seine Würde übertrug. Sie sei seine Tochter und ganz nach seinem –
„Aha“, konnte sich Donna Scheidemantel nicht länger zurückhalten, „Austausch der Neugeborenen!“
„Nein“, lachte der Alte, „das wäre mir zu trivial. Wir können uns nur an das halten, was das Mährchen
vorgibt. Jedenfalls mußte Martin Thron und Schloß verlassen und alle Herrschergewalt ablegen; denn er sei kein Königssohn. Ein hartes Wort! – Wenn aber strenge Herren fallen und ihre Macht verlieren, dann haben sie auch keine Anhänger mehr. Denn die Opportunisten richten ihr Fähnlein nun anders aus, und die, welche in die innere Emigration geflüchtet waren, kehren in ihr Heim
zurück. Und wenn ein gefallener Herr kein Vermögen mitnehmen kann, erhält er auch keinen Kredit mehr, sinkt immer tiefer und muß
schließlich sein Dasein als Tagelöhner fristen oder gar als Schweinehirt. Der verlorene
Sohn hatte einen Vater, zu dem er zurückkehren konnte; aber Martin? Der fand eines Morgens ein paar Schuhe am Schweinetrog. Derbe Damenschuhe. Auf den 1. Blick zu klein; aber immer noch besser, als sich barfuß an jedem spitzen
Stein zu verletzen. Also zog Martin die Schuhe an, und siehe da: Sie paßten sich seinen Füßen an. Aber dem Weg, den diese Schuhe nun gingen, mußten sich seine Füße anpassen. Und er
wanderte und wanderte – 3 Tage und 3 Nächte. Wo die Schuhe anhielten? Auf
einem Schloß, in einem Thronsaal, dort, wo die Eigentümerin jener Schuhe gerade nickend in ihren Spiegel –“
Aber da gewahrte der Alte, daß ihm seine Zuhörerin inzwischen abhanden gekommen war.
© Stiftung Stückwerken, *20.3.2020, freigegeben am 13.3.2024
Qouz-Note: 2
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MamM 1.060 Siebenschatten
„Und?“ fragte Donna Engelschein. „Seid Ihr enttäuscht von den
Menschen?“
„Hängt das nicht auch von meinen Erwartungen ab?“ fragte der Alte von der
Halbinsel zurück. „Ja, es war schon enttäuschend, daß niemand meine Hilfe annehmen wollte, denen
ich sie angeboten habe. Und ich – ich hätte verhungern können, und es hätte niemanden gekümmert. Aber verbittert hat es mich nicht, denn –“
„Kein Christ?“ wunderte sich die Besucherin. „Niemand
aus unserer Gemeinde?“
„Gibt’s die überhaupt noch?“ zweifelte der Alte sehr.
„Und was verstehst du unter Christ? Die sich so nennen? Oder die wie
Christus handeln? Oder sich zumindest bemühen? Nein, ich wollte ja noch
erklären, weshalb es mich nicht verbittert. Offensichtlich ist die Liebe abhanden gekommen. Wie konnte das passieren? Sie war doch mal da. Wie läßt sie sich wieder beleben? Wie läßt sie –“
„Aber die Liebe ist doch in uns ausgegossen durch den Heiligen Geist“, zeigte
sich Donna Engelschein bibelfest. „Da, in Eurem abgegriffenen Buch steht’s drin.“
„Es hat einmal ein Schriftsteller“, erinnerte sich der Alte, „seine Zeit beschrieben: lauter Fassaden, aber dahinter – war
nichts! Stell dir das mal vor: Alle Häuser werden zusammengedrückt, bis sie nur noch eine Fassadenwand sind; ganz flach. Da kannst du gießen, soviel du willst, da dringt nichts mehr
ein. Und so kommt mir der Zustand der heutigen –“
„Aber es wird doch ständig in der Kirche von der Nächstenliebe gepredigt“, hielt die Besucherin dagegen. „Was
sollen sie –“
„Niemand soll etwas“, rieb sich der Alte mal wieder an seinem Reizwort. „Aus den Früchten vom Baume der Erkenntnis läßt sich trefflich Schminke bereiten, aber weder Nahrung noch Arznei“, und er begann zu erzählen:
Es wär’ einmal ein Königsohn, der hieß – nein, nicht Siebenschein, sondern Siebenschatten. Freilich – so
richtig ausgemacht war das gar nicht, daß Siebenschatten ein Königssohn war. Denn Königin und König waren eigentlich kinderlos, und sie hatten
Siebenschatten an Kindes Statt angenommen, ohne über seine Herkunft Genaues in Erfahrung bringen zu können.
Deshalb war das königliche Paar ganz besonders darauf bedacht, durch Erziehung auszugleichen, was womöglich noch nicht im Blute lag. Allein –
„Die Menschen müssen sich vor dir fürchten!“ lehrte der König von Anfang an. „Deshalb immer eine gerade Haltung! Wie bei mir! Und Mund zu! Und funkelnd geblickt!“
„Die Menschen müssen Vertrauen zu dir haben!“ lehrte die Königin von Anfang an. „Deshalb wende dich einem
jeden zu! Ja, beug dich auch mal herab oder geh in die Hocke! Und tu so,
als hättest du für einen jeden Verständnis!“
Tscha, wie konnte Siebenschatten diese beiden Ansichten unter einen Hut bringen? Er wollte doch ein gehorsames
Kind sein. Also zeigte er sich so, wie es der König wollte, wenn dieser es sehen konnte, und so wie es die Königin wollte, wenn diese
es sehen konnte. Und waren beide zugegen, dann versuchte Siebenschatten möglichst nicht aufzufallen.
Jedoch – es kam noch schlimmer! Er bekam weitere Lehrer, und von diesen hatte ein jeder feste Vorstellungen,
wie Siebenschatten sein sollte. Der Metzgermeister verlangte von seinem Schüler, nicht zimperlich zu sein, sondern Herr über Leben und
Tod der Tiere. Der Jägermeister schulte, die Tiere erst anzulocken und zu füttern, bevor diese in fairem Kampf zu erlegen
seien. Der Büchsenmacher lehrte, nur wer die beste Waffe habe und sie auch immer bei sich trage, brauche niemanden zu
fürchten. Und der Rittmeister setzte noch einen obendrauf: Angriff sei die beste Verteidigung.
Wunderliche Lehrmeister? Nun ja, damals mußte ein angehender König mindestens ein Handwerk erlernen, bevor er
den Thron besteigen durfte. Aber einen Lehrherren behielten sich Königin und König bis zum Schluß auf: Kaufmann, was sag’ ich:
Großkaufmann Pfeffersack. Der sollte Siebenschatten den Weg zu Reichtum und Ruhm bahnen.
„Du mußt immer wissen, was deine Kunden und Lieferanten von dir erwarten“, lehrte Pfeffersack. „Dazu mußt du
ihre Sprache lernen und so erfahren, was ihnen wichtig ist. Anfangs rede fast gar nichts, sondern höre zu und ermuntere mit
angespanntem Gesicht und nickendem Kopf dazu, dir alles zu sagen, was sie bewegt. Sie müssen sich in deiner Gegenwart gut und überlegen
fühlen, was du durch bewundernde Blicke und anerkennende Bemerkungen noch unterstützen sollst. Erst dann werden sie leichtsinnig und zu
Wachs in deinen Händen. Denk also nicht, du handeltest mit dieser oder jener Ware; die ist nur Mittel zum Zweck, gleich den Fäden einer Spinne. Nein, du handelst mit
Selbstwertgefühl! Dein Lieferant oder Kunde muß sich besser und wichtiger fühlen, wenn er mit dir Handel treibt!“
Die Folge? Wie kann ich’s beschreiben, denn es war sehr wundersam? Schon äußerlich! Im Frühling lag über Siebenschatten ein grünlicher Schimmer, im
Sommer ein goldener, im Herbst ein bräunlicher und im Winter ein weißlicher. Erhielt er Besuch, so paßten sich seine Gesichtszüge denen
der Besucher an. Seine Stimme war wie ein Echo, ohne eigenen Klang. Und
Wärme, nein, Wärme ging nicht von ihm aus. Dennoch war er im Volke sehr beliebt; denn alle glaubten, so leben zu können, wie es ihnen selber gefiel; solange nicht der
Eindruck erweckt wurde, daß sie töteten, die Ehe brachen, stahlen oder betrogen; außer sich selbst.
Da ereignete sich etwas sehr Sonderbares. Als Siebenschatten nämlich eines Morgens erwachte, da war es ihm,
als habe er in der vergangenen Nacht einen schönen Traum gehabt. Eine Frauengestalt sei an sein Himmelbett getreten, habe sich über des
Königs Gesicht gebeugt und zärtlich seinen Mund geküßt. Dann habe sie ihren Kopf geschüttelt und geseufzt: „Was haben sie nur mit dir
gemacht!“, bevor sie lautlos wieder entschwunden sei. Dies wiederholte sich auch
in der nächsten Nacht und in der 3. Nacht; dann aber nicht mehr.
Dennoch gerieten diese schönen Träume nicht in Vergessenheit, sondern hatten eine Sehnsucht geweckt. Eine
Sehnsucht, die derart wuchs, daß Siebenschatten danach zu forschen begann, ob jene Gestalt eine Fee, eine Verstorbene oder ein lebendiger Mensch gewesen sei.
„Wollt Ihr mir gar eine Spukgeschichte erzählen?“ konnte sich Donna Engelschein nicht länger zurückhalten.
„Nein“, lachte der Alte, „sondern davon, daß die meisten Menschen mindestens eine haben, die sie nicht aufgibt, sondern glaubt, daß sie sich zum Guten ändern können und
werden. So auch bei Siebenschatten. Und es war nicht
vergeblich. Denn mehr und mehr blickte er die Menschen mit andern Augen an, weil diese sich zu Pforten seines Herzens
wandelten. Ach ja, die Herzlichkeit! Die wärmende Herzlichkeit! Ob dieser Wandel auch durch Speis und Trank genährt wurde, die inzwischen irgendwie anders schmeckten? Nach liebevoller Geborgenheit. Jedenfalls stieg Siebenschatten eines Tages in die
Küche hinab, um sich bei der neuen Köchin zu bedanken. Und siehe da, dort gewahrte er die Gestalt aus jenen 3 Nächten; seine –“
Aber da gewahrte der Alte auch etwas, nämlich daß er keine Zuhörerin mehr hatte.
© Stiftung Stückwerken, *27.-28.3.2020, freigegeben am 14.3.2024
Qouz-Note: 3
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