MamM – Mährchen an meine Mutter Nr 1.021 bis 1.040

 

 

 

Überblick MamM 1.021 bis 1.040

 

1.021  Felictas, ama! (*24.5.2019)
1.022  Nachtmeister Stropp und der Fall Stolzenkamm (*31.5.2019)
1.023  Wann hab' ich eigentlich gelebt? (*6.6.2019)
1.024  Nachtmeister Stropp und der Fall Mattelino (*13.6.2019)
1.025  Wo bleibt das Böse? (*20.6.2019)


1.026  Nachtmeister Stropp und der Fall Nichtfall (*6.7.2019)
1.027  Unbewußtes Wirken (*12.7.2019)
1.028  Freudenwein (*18.7.2019)
1.029  Nachtmeister Stropp und der Fall Schlichensiepen (*26.7.2019)
1.030  Jäger und Sammler (*2.8.2019)


1.031  Nachtmeister Stropp und der Fall Bruhno (*8.8.2019)
1.032  Erst die Familie? (*16.8.2019)
1.033  Nachtmeister Stropp und der Fall Faucheline (*22.8.2019)
1.034  Nachtmeister Stropp und der Fall Eier-Johann (*30.8.2019)
1.035  Der Lehenszins (*7.9.2019)


1.036  Nachtmeister Stropp und der Fall Dunkeldieter (*13.9.2019)
1.037  Muß denn Liebe wissen? (*21.9.2019)
1.038  Nachtmeister Stropp und der Fall Markojewski (*28.9.2019)
1.039  Nachtmeister Stropp und der Fall Hasel (*11.10.2019)
1.040  Ein Abend im Frieden Gottes (*19.10.2019)

 

 

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MamM 1.021  Felicitas, ama!

„Diese Zicke hat mich richtig auf die Palme gebracht!“, hatte sich Donna Zeterlein noch immer nicht abgekühlt.
     „So?“ wunderte sich der Alte von der Halbinsel.  „Wollte sie dich auf ihre Hörner nehmen?“
     „Das wäre ihr zuzutrauen gewesen“, blieb die Besucherin im Bilde.  „Erst fährt sie mich fast um, und dann wird sie auch noch pampig!
     „Eine fahrende Ziege?“ versuchte der Alte zu bremsen.
     „In dieser Richtung sei das hier kein Radweg, hab’ ich ihr hinterhergerufen“, blieb Donna Zeterlein dennoch in Fahrt, „nur in der Gegenrichtung.  Sie hat daraufhin angehalten und gesagt, sie hätte mich nicht verstanden.  Vielleicht aus Taktik;  diese Ausländerinnen sind ja raffiniert.  Ich hab’s also wiederholt und ergänzt, ihr Weg sei auf der anderen Straßenseite.  Hab’ ihr auch gesagt, sonst könne es leicht zu Unfällen kommen.  Pädagogisch somit alles richtig.  Und kein böses Wort.  Da fragt mich doch diese Person, ob ich nichts zu tun hätte.  Und ich solle künftig die Klappe halten –“
     „Ihre?“ konnte es der Alte mal wieder nicht lassen.
     „Das hätte ich sie mal fragen sollen!“ nahm’s die Besucherin als Wind für ihre Mühle.  „Aber ich hab’ ihr nur noch nachgerufen, das wünsche sie wohl.  Und sie sei hier nur Gast.  Also, diese Ausländerinnen nehmen sich inzwischen was raus, das ist nicht zu fassen!
     „Und unsere Landsleute sind da anders?“ verneinte de Alte.
     „Nein“, gab Donna Zeterlein zu, „Ihr habt ja recht;  aber –“
     „Und meinst du“, zweifelte der Alte sehr, „diese Radfahrerin täte sich nach dieser Auseinandersetzung ändern?
     „Aber ich hab’s ihr doch erklärt, daß – daß – den Sinn dieser Regel“, rechtfertigte sich die Besucherin.  „Ich bin doch keine Carabiniera!  Was hätte ich denn tun sollen?
     „Niemand soll etwas!“ brummte der Alte ob seines Reizwortes und begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein König, der hieß Edmund.  Jedenfalls wurde er als kleiner Prinz auf diesen Namen getauft.  Später wurde er König, und noch viel später erhielt er noch einen weiteren Namen;  nämlich Felix oder der Glückliche.
     Dabei schien seine Krönung unter keinem guten Stern zu stehen.  Er war nicht mehr der Jüngste, als sie erfolgte, und hatte keinen natürlichen Erben, sondern zeigte sich für 3 Töchter verantwortlich.  Seine Frau war noch vor der Silberhochzeit mit einem Reitknecht durchgebrannt und hatte ihn sozusagen als grünen Witwer zurückgelassen.  Deshalb glaubte er weder Trauerfarben tragen zu dürfen noch solche der Unschuld oder Liebe, sondern kleidete sich in grüne Farben, aber so dunkel wie die alten Nadeln der Zirbelkiefer.  Na ja, und der Herr Erzbischof war vor den Feierlichkeiten derart aufgeregt, daß er gewähnt hatte, sich betrinken zu müssen.  Tscha, und dann war ihm die Krone aus den Händen geglitten, als er sie dem Edmund hatte aufsetzen wollen.
     Aber da zeigte sich zum 1. Mal, wessen Geistes Kind Edmund war.  Denn kurzerhand erklärte er, keine demolierte Krone tragen, sondern nur den Thron besteigen zu wollen;  möge sein Werk Gott einmal krönen – und jetzt schon mit seinem Segen.
     Tscha, auf die Zukunft geben die meisten Menschen nicht viel;  die sei nur eine sehr ungewisse Vertröstung für Schwächlinge und Verzagte.  Das sagten sich auch die 3 Nachbarn des neuen Königs Ohnekron.
     Als erster ließ Schönenfang mobil machen und den Edmund auffordern, kampflos zugunsten seines, also Edmunds, Nachbarn abzudanken.  Edmund dankte zwar für diese Botschaft, aber nicht ab, sondern – eigentlich auf.  Er hielt nämlich mit seinen 3 Töchtern Familienrat;  und wenig später ließ die älteste Prinzessin anspannen und kutschierte unerschrocken und eigenhändig zum Schloßtor hinaus, zur Residenzstadt hinaus, über die Grenze bis direkt unter das Fenster des feindlichen Schlafzimmers.
     Du kannst dir sicher vorstellen, daß dies nicht ohne Lärm abging, Schönenfang aus dem Schlafe riß und bewog, nach der Ursache dieser Störung zu sehen.  Nun ja, dir als Eva brauch’ ich das wohl nicht genauer zu erklären.  Jedenfalls – Schönenfang blickte aus dem Fenster hinab, und Prinzessin Siebenschön blickte von ihrer Kutsche hinauf;  und schon flog der Vogel Kolibri, wie’s der Dichter nennt.  Eigentlich ja 2 Kolibris: Einer nistete hüben, der andere drüben.  Und ob’s Zugvögel waren, will ich jetzt noch nicht verraten.  Jedenfalls war von Krieg und Abdanken nicht mehr die Rede, sondern von Verlobung, Hochzeit und – nach sattsamer Frist – von Taufe.
     Indessen versuchte es der 2. Nachbar, Klingenfang, auf ähnliche Weise, Edmunds Thron zu besteigen.  Wieder tagte der Familienrat, etwas verkleinert, und wenig später ließ die 2. Prinzessin anspannen.  Nein, sie kutschierte nicht selber, denn das hätte ihrer Stimme schaden können.  Und Siebenklang fuhr auch nicht alleine, sondern wurde von einigen jungen Burschen begleitet.  Dann ging’s zunächst noch zur Druckerei in die Unterstadt und erst von dort hinaus, über die Grenze und ins Nachbarland und die dortige Residenzstadt, wo am nächsten Morgen hübsche Plakate die Bürger anlachten und einluden.  Was weiß ich, wie’s der Prinzessin gelungen ist, in die Stadt zu gelangen;  vielleicht konnte sie ja zaubern.  Jedenfalls gab sie am Abend ein Konzert, das sich auch Klingenfang nicht entgehen ließ.  Tscha, und wieder flogen 2 Kolibris und bauten ihre Nester.
     Allein – es gab noch einen 3. Nachbarn, Weisenfang, der nun seine Gelegenheit gekommen sah.  Wieder tagte der Familienrat – nur noch mit 2 Mitgliedern –, und wenig später wanderte Prinzessin Siebenweis zum Tor hinaus.  Wanderte?  War das nicht zu langsam?  Nein, denn sie hatte einen Boten zu Weisenfang vorausgeschickt mit der Einladung zu einem öffentlichen Streitgespräch über die zu entscheidende Angelegenheit.  Siegesgewiß nahm Weisenfang die Einladung an und wurde dann durch die Prinzessin derart ent- und begeistert, daß wieder 2 Kolibris ihre Nester bauen konnten.
     Tscha, und jetzt zu der Frage, ob’s Zugvögel waren.  Schönheit zerfaltet.  Die Stimme zerklingt.  Der Geist verwirrt.  Allein – gehst du liebevoll damit um, ist’s nur ein Verwandeln.  Und so mußt du die Weichen stellen, solange der Zug in Bewegung ist, auf daß er nicht auf ein totes Gleis gerät.
     „Und wenn sie nicht gestorben sind“, konnte sich Donna Zeterlein nicht länger zurückhalten, „so –“
     „Wenn das Leben so einfach wäre!“ lachte der Alte.  „Es gab nämlich noch eine Prüfung: König Edmund dankte ab und verschwand.  Tscha, beim Erben kommt so manche Friedfertigkeit an ihre Grenzen!  Schon rasselten die 3 Schwäger mit den Säbeln, aber Siebenweis lud ihre beiden Schwestern und deren Gatten noch rechtzeitig zu sich und ihrem Eheliebsten ein.  Die Geladenen kamen auch, jedoch die Männer vorsichtshalber mit Panzerhemd und Degen sowie mit Begleitsoldaten, die sich im Schutze des nächsten Waldes in Bereitschaft zu halten hatten.  Aber Siebenweis ließ erst einmal das Beste auffahren, was die Schloßküche zu bieten hatte, so daß die Gäste tüchtig ins Schwitzen gerieten.  Erst dann stellte sie die 3 Möglichkeiten vor, die sich für das Erbe boten: Krieg, Verzicht oder gemeinsames Verwalten mit Teilung des Reinertrages in 3 gleiche Töpfe.  Ja, Töpfe;  denn sie zeigte alles sehr anschaulich.  Da war es bald allen klar, daß nur die letzte –“
     Erst jetzt gewahrte der Alte, daß die Besucherin ihn inzwischen verlassen hatte und so nichts mehr über den glücklichen Edmund und dessen Frau erfahren konnte.
© Stiftung Stückwerken, *24.5.2019, freigegeben am 18.3.2024
Qouz-Note: 3-

 


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MamM 1.022  Nachtmeister Stropp und der Fall Stolzenkamm


Fuchs, du hast die Maus gestohlen,
gib sie wieder her!
Gib sie wieder her!
Sonst wird sie ein Igel holen,
du schaust hinterheheher;
sonst wird sie ein Igel holen,
du schaust –“

 

Abrupt hielt der begabte Sänger inne.  War da was?  Da war was!
     „Du riskierst aber eine freche Lippe“, sprach jemand von einem Ast herunter.  „Stropp, Stropp!  Wenn das Reinbert hören könnte!
     „Ist es denn gelogen, Herr Wendlinger?“ fragte unser Held zurück.
     „Darauf kommt’s nicht an“, ließ es der Wendehals ins Leere laufen.  „Es kommt vor allem darauf an, wer der Mächtigste im Lande ist;  und das ist zur Zeit Reinbert.
     „Und nächstes Jahr ein anderer Fuchs“, ließ sich unser Igel nicht einschüchtern, „und übernächstes Jahr wieder ein anderer –“
     „Aber für das betreffende Jahr bestimmt er Recht und Gesetz und Rechtsprechung“, glaubte Herr Wendlinger es auf den Punkt gebracht zu haben, „und danach müssen wir uns richten.  Anderenfalls laufen wir Gefahr, Schaden –“
     „Aber wozu haben wir denn ein Rückgrat?“ fragte unser Nachtmeister.
     „Um uns zu ducken und zu kriechen vielleicht“, spottete der Wendehals.  „Ich kann wenigstens wegfliegen, und dennoch richte ich mich nach dem Herrschenden aus;  solange es eben an der Macht ist.  Was ich aber noch sagen wollte: Drüben in Gosse will jemand was von dir.
     „Ich war zunächst sehr verwundert“, erzählte unser Stropp wenig später zu Hause, „und dachte erst an Frau Gaucha und daß es da wieder einige Mißlichkeiten geben könnte –“
     „Ach so, die Kuckucksmutter“, war Frau Struppe im Bilde.
     „Aber das war’s nicht“, fuhr unser Held fort.  „Kennst du einen Herrn Stolzenkamm?  Angeblich ein edler Ritter –“
     „Nie gehört“, bekannte die Eheliebste.
     „Jedenfalls hab’ ich mir gedacht“, übte sich unser Igel in Lebenskunst, „wir machen einfach mal Urlaub und verreisen –“
     „Darf ich mitkommen?“ fragte von draußen eine Stimme.  Ein heimlicher Lauscher?
     „Warum nicht, Frau von Nowotny“, hatte der Scharfsinn unsern Nachtmeister bereits aus dem Klang der Stimme die richtigen Schlüsse ziehen lassen.
     Und so ächzten am nächsten Abend 3 Gestalten im Schatten der Dunkelheit den Seltersgraben hinauf.
     „Huch“, hielt die letzte Gestalt erschöpft inne.  „Ist es noch weit?
     „Nein, liebe Struppe“, beeilte sich der Gatte.  „Der Buchler ist zwar fast 3.000 Igelmeter hoch, aber zu dem müssen wir gar nicht ganz hinauf, sondern nur bis zum Tränenpaß.
     „Tränenpaß?“ wiederholte die Igelin mißtrauisch.  „Das klingt überhaupt nicht ermutigend.
     „Komm!“ lockte unser Stropp.  „Ein Beinchen vors andere, und schon sind wir oben, und dann geht’s wieder hinab.
     Der Anstieg war auch endlich geschafft, doch dann streikten beide Damen, und so mußte die Reisegesellschaft im Schutze des Bergwaldes übertagen.  Freilich – da die Sonnenwende nicht mehr fern war, schliefen die 3 nicht bis in die Puppen, sondern waren bereits wach, als die Sonne gerade unterging.  Dennoch machten sie sich noch nicht an den Abstieg, sondern genossen den Abend und stellten ihre Beobachtungen an.
     Da war ein Elsternpaar, das in irgendwelchen finsteren Geschäften unterwegs war.  Für unsern Nachtmeister sogleich höchst verdächtig.  Dann hoppelte ein Hase herbei, der noch Kräuter für sein Abendessen suchen wollte.  Lümmelmann heiße er, was unseren Helden aufhorchen ließ.  Vorsichtig fragte er den Hasen aus, der aber doch sehr arglos und einfältig zu sein schien.  Nein, er sei nicht in Ostergeschäften unterwegs, beteuerte Lümmelmann.  Warum ihm das immer angehängt werde?  Die Vögel täten ihm sonst was husten.  Deshalb habe er auch auf Schokoladeneier umgestellt.  Aber je wärmer es jetzt werde, desto zäher liefe das Geschäft.  Außerdem müsse er jetzt weiter.
     Das war auch höchste Zeit, denn wenig später erschien ein neues Tier auf der Bühne der Bergwiese, mit dem Lümmelmann bestimmt keine Kirschen hätte essen können;  es sei denn, um einen gefüllten Pfingstbraten abzugeben.  Tscha, es war Reinbert, der neue Friedensrichter, der sich anscheinend als Kuhjunge noch etwas dazuverdienen wollte.  Und da seine grasende Herde durch Zäune am Weglaufen gehindert war, verband der schlaue Fuchs kurzerhand das Angenehme mit dem Nützlichen und ging – auf Mäusejagd.
     „Hast du eigentlich deinen Urlaub bei ihm amtlich eingereicht?“ flüsterte die Eheliebste.
     „Nö“, gestand unser Igel, „denn womöglich hätte er das Gesuch abgelehnt.
     „Dann darf er uns jetzt aber nicht erwischen“, bewies Frau Struppe, daß sich ihr Schafsinn nicht hinter dem ihres Mannes verstecken mußte.
     Doch Reden ist leichter als Tun!  Und näher und näher kam der Fuchs dem Beobachtungsversteck.  Doch da erschien Hilfe in höchster Not: der Schlendertünnes!  Denn der zog gerade pfeifend zum Tränenpaß hinauf;  und kaum hatte er den Fuchs erspäht, da sang er auch schon lachend jenes Lied, was wir am Anfang dieser Geschichte gehört haben;  jetzt aber auf menschliche Weise.  Und hast du nicht gesehen, ließ der Fuchs Rinder Rinder sein und Mäuse Mäuse und eilte davon.
     Zwar meinte unsere Reisegesellschaft nun, den Abstieg wagen zu können, aber als sie endlich im Mühlenviertel von Gosse anlangte, war die Hühnerburg bereits zugesperrt.  Immerhin war Burgherr Stolzenkamm aber noch wach und konnte zwischen den Ritzen des Burgtores hindurch erste Auskünfte über sein Anliegen geben.  Irgend etwas laufe in seiner fürstlichen Familie verkehrt.  Als Kind hätte er viele Geschwister gehabt, und dann hätte es seinen Vater gegeben und dessen Harem.  Und sie alle wären eine große Familie gewesen: mit jung und alt.  Nun aber habe er seine eigene Familie gegründet, er habe auch einen Harem, aber Kinder – Fehlanzeige!  Ob er, der berühmte Nachtmeister, ihm nicht weiterhelfen könne, denn Kinder seien nun mal das Glück einer Familie.
     Nun ja, seufzte unser Igel leise, das jährliche Feiern am Osterfeste reiche ihm da vollauf.  Aber nun müsse er sich erst einmal nach einem Urlaubsquartier umsehen;  und dann wolle er weitersehen.
     Das Quartier fanden die 3 am Ziegenfelsen ganz in der Nähe;  und mit schönem Ausblick auf die Abendsonne und das Mühlental.  Und unser Stropp fand dort noch etwas: geduldige Antworten auf seine Fragen.  Und schon bald hatte er vom Herbergsvater die Ursache für die Kinderlosigkeit der Hühnerfamilie erfahren: Ihre Eier wurden jeden Tag geklaut.  Von einem Bauernlümmel!
     Lümmel?  Schon hatte unser Nachtmeister einen Plan.  In dessen Umsetzung spielten dann ein Elsternpaar, ein gewisser Herr Lümmelmann und geduldige Ziegen eine Rolle.
     Tscha, und dann ärgerte sich der Bauernlümmel etwa 3 Wochen lang über einen nachlassenden Eierertrag.  Er schaffte deshalb sogar zusätzliches Futter auf die Burg;  und – sah eines Tages die Bescherung: Jede Henne führte ihr eigenes Küken aus.
     Und am Ziegenfelsen genossen 3 Tiere ihren Urlaub.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 22.1.2024
Qouz-Note 2

 

 

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MamM 1.023  Wann hab’ ich eigentlich gelebt?

„Und dann muß ich noch zum Bäcker, zum Metzger, zum Schuster“, zählte Donna Schnellerts auf, „ich weiß gar nicht, wie ich das früher alles geschafft habe.
     „Und dein Leben?“ fragte der Alte von der Halbinsel.
     „Wie meint Ihr das?
     „Hier, wie liesest du?“  Damit reichte der Alte ihr ein Blatt, auf dem er wohl irgend etwas abgeschrieben hatte.
     „Der schnelle Tag ist hin –“, begann die Besucherin, reichte das Blatt jedoch umgehend zurück: „Tut mir leid, das gibt mir nichts.  Bin ich Tier und Vögel?  Und einsam fühle ich mich auch nicht.  Nur etwas – etwas abgekämpft.  Aber gleich geht’s wieder los, –“
     „Geht?“ zweifelte der Alte sehr.  „Du bist doch bestimmt nicht zu Fuß gekommen;  oder?
     „Die letzten Meter schon“, wollte Donna Schnellerts festgehalten wissen.  „Aber sonst – sonst wär’ das alles gar nicht zu schaffen.
     „Noch einmal, aber etwas anders gefragt“, hakte der Alte nach: „Wann hast du gelebt?
     „Na, jetzt“, wußte die Besucherin nicht, was sie davon zu halten hatte, „in diesem Jahrhundert, gewissermaßen als Eure Zeitgenossin.
     „Gelebt?“ schien’s der Alte nicht zu glauben.  „Richtig gelebt?
     „Ob’s immer richtig war, weiß ich nicht“, räumte Donna Schnellerts ein, „aber ich atme, esse und trinke, ich bewege mich, ich sehe, höre und rede, und ich habe Kinder – im Gegensatz zu Euch.  Also lebe ich sogar mehr als Ihr.  Oder habt Ihr etwas aufzuweisen, was ich nicht –“
     „Ah“, lachte der Alte, „ein neuer Wettbewerb?  Wer lebt mehr?  Nee, auf  d i e  Rennebahn will ich nicht“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein Prinz, eben der Friedrich.  Nun ja, so hießen hierzulande schon Kaiser und Könige;  also ein ehrenvoller Name.  Allein – einen großen Friedrich gab es bereits, und so war auf dieser Schiene kein 1. Platz mehr zu erringen.  Ob unser Friedrich deshalb nichts dagegen hatte, Fritz gerufen zu werden?
     Anfangs sogar Fritzchen!  Wenn auch nicht vom Hofstaat und den jüngeren Geschwistern.  Aber zu der Zeit, die uns jetzt interessiert, da war er schon der Fritz.  Ja, mit mehr Betonung auf dem „der“, da er sich bereits seines eigenen Kopfes bewußt war.  Schließlich war er doch der Kronprinz und damit ausersehen, einmal seines Vaters Thron zu besteigen.  Und da lag der Pfeffer im Hasen!
     Denn kein Mensch gleicht dem andern und somit auch kein Sohn seinem Vater.  Die Folge?  Änderungen!  Und die wurden eingeleitet, als Fritz über den Thron hinaussah.  Wozu würde er König werden?  Um schöne Tage zu haben und in Pracht und Herrlichkeit zu – leben?  Leben?  War das der Sinn des Lebens?
     Und du darfst nicht vergessen, daß es damals noch nicht so selten war, daß sich ein Fürst nicht als den Allerhöchsten begriff, sondern als Diener einer Macht, die noch über ihm stand.  Und das nicht heidnisch als ausschließlich dieser Macht zugewandt, sondern als Beauftragter.  Konkret: Du dienst mir, wenn du deinem Volk in meinem Sinne dienst.
     Hier angekommen, stellte sich Fritz eine neue Frage: Wie kann ich jemandem dienen, den ich gar nicht kenne?  Somit muß ich zu meinem Volk gehen, bei ihm wohnen und es kennenlernen.
     Der König runzelte über dieses Ansinnen seines Sohnes sehr die Stirn, aber die Königin machte dem Prinzen Mut und half ihm, sich so zu verkleiden, daß er nicht erkannt werden konnte.
     Zunächst einmal setzte sich Fritz unten im Residenzstädtchen am Rande des Marktplatzes hin und schaute dem Treiben der Menschen zu;  eine gute Aus- und Eingangsstellung, wenn du die Menschen mögen willst.  Obwohl –
     Nein, von ihrer sympathischen Seite zeigen sie sich dort nicht;  eher von der armseligen.  Wie sie da von Stand zu Stand hasten, sorgsam darauf bedacht, nicht lange warten zu müssen.  Die Marktfrauen mit ihren Masken der Freundlichkeit;  einer Freundlichkeit, die du kaufen kannst.  Nur wenn gerade keine Kundschaft da ist, siehst du Gesichter.  Vielleicht mit etwas Stolz, wenn die Münzen reichlich klingen, aber nie frei von Sorgen.
     Und die Kundschaft?  Wie gesagt: immer in Hast.  Während jene ihre Masken tragen, aber dennoch blicken, zeigen diese zwar ihre Gesichter, jedoch ihre Augen blicken nicht.  Vielleicht, wenn sie jemanden treffen, mit der oder dem sie ein Schwätzchen halten können.  „Hast du schon gehört, er ist nun auch gestorben?“  „Das hab’ ich kommen gesehen!“  „Mein Enkel hat sich sehr gemacht.  Nee, was der schon alles kann!  Aber die Schwiegertochter – na ja, ich will ja nichts gesagt haben.“  „Ich komm’ grad vom Dokter.  Nee, was ich alles hab’!  Das kann keiner nich’ versteh'n, wer’s nicht selber durchjemacht hat.  Furchtbar!  Aber ich will ja nich' klagen.“  „Das glaubt keiner, was ich alles mitgemacht habe!“  Und alles wie auf dem Sprung.  „So, ich muß denn weiter.“  Weiter, weiter, weiter, aber nie angekommen!
     Auch nicht zu Hause?  Das konnte Fritz nicht überprüfen, denn als Fremder wurde er von niemandem eingeladen.  Aber er sah auch so schon genug.
     Da gab’s die Jagenden;  ob mit der Flinte, Köder oder Netz, Beil oder Messer.  Alles Trachten darauf gerichtet, Leben zu töten.  Auch Menschen.
     Dann die Sammler!  Auf den 1. Blick harmloser.  Alles Trachten gerichtet auf Besitz und Eigentum.  Nicht nur von Sachen, auch von Leben.  Und es war ungewiß, wer dabei unfreier war.
     Und dann die Wettkämpfer!  Schneller, höher, weiter – als die andern, aber nur für eine bestimmte Zeit, bis ein anderer überragte – und so weiter.  Am absurdesten war eigentlich das Wettrennen im Laufrad: in einem drehbaren Rad, mit dem sich aber niemand einen einzigen Schritt vorwärts bewegen konnte.
     Wie ward die Zeit vertan!  Fritz entsetzte sich.
     Schließlich besuchte Fritz ein Siechenhaus.  Von denen, die hier lagen, würde wohl keiner mehr leben, wenn Fritz den Thron bestieg.  Ach, welch ein Elend!  Wie viele mit ihrem Schicksal haderten!  Gerne hätten sie noch weiter gejagt, noch weiter gesammelt, noch weiter gekämpft;  und hätten doch keinem ihrer Tage mehr Leben gegeben.  Nur ein altes Mütterchen lag gefaßt auf ihrem Sterbelager, als habe es sein Lebenswerk –
     „Typisch Mann!“ konnte sich Donna Schnellerts nicht länger zurückhalten.  „Jetzt fehlt nur noch, daß Ihr Das Lied von der alten Waschfrau –“
     „Was ist daran so verwerflich“, ging der Alte mit einem Lächeln darauf ein, „seinen Tod als seine Krönung zu sehen?  Freilich – ich kann von mir nicht behaupten, alles getan zu haben, was ich konnte.  Aber – aber gelebt habe ich vor allem, wenn ich innegehalten habe.  Bei mir selber war.  Dankbar staunend über die vielen Wunder.  Aber zurück zu unserem Fritz.  Nachdem er den Thron bestiegen hatte, war es ihm ein Anliegen, den Menschen zu helfen, innezuhalten.  Er ließ Gärten anlegen mit verschlungenen Wegen und Ruhebänken.  Und führte den Abendfrieden wieder ein.  Und die Nachtruhe.  Und selber ging er viel zu –“;  aber da war die Besucherin längst gegangen.
© Stiftung Stückwerken, *6.6.2019, freigegeben am 19.3.2024
Qouz-Note: 3+

 


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MamM 1.024  Nachtmeister Stropp und der Fall Mattelino

 

„Lustig ist unser Eheleheben,
Igela, Igelaho!
Struppe kann’s ja nur einmal geheben,
Igela, Igelaho!
Ist die Diehienstzeit endlich aus,
zieh’ ich mit Freuheuden flink nach Haus.
Igela, Igela, Igela –“

 

Jäh hielt der treffliche Sänger inne.
     „Eine milde Gabe, der Herr“, nutzte ein piepsendes Stimmchen die Pause.
     „Was?  Eh, wie bitte?“ besann sich unser Sänger noch rechtzeitig auf seine gute Kinderstube.
     „Onkel, bist du taub?“ reagierte das Stimmchen nicht sehr geistreich.  „Du sollst mir ein paar Kornthaler geben!
     „Kornthaler?“ wunderte sich unser Sänger.  „Wofür?
     „Na, für den Lebensunterhalt“, äußerte das Stimmchen einen gewissen Mangel an Respekt.  „Bist du aber dumm!
     „Danke, das denkt meine Eheliebste auch manchmal –“
     „Ah, du bist verheiratet“, folgerte das Stimmchen, „na, dann kostet’s doppelt.
     „Was?“ war der Sänger zwar auf der morgendlichen Bildfläche, aber noch immer nicht im Bilde.
     „Na, die milde Gabe“, antwortete das Stimmchen mitleidig.
     „Ach, jetzt begreife ich endlich“, war’s bei unserem Sänger bekanntlich in der Regel ungewiß, ob seine Einfalt nur gespielt war, „Ihr, eh, Sie, eh, du willst meiner Frau und mir ein paar Kornthaler geben für unseren Lebensunterhalt.  Na, das ist nett von dir, aber eigentlich brauchen –“
     „Nein, nein, nein“, widersprach das Stimmchen energisch, „umgekehrt!  Ich hab’s dir eben schon gesagt: Du – sollst – mir – die Kornthaler geben!
     „Aber du hast doch noch nicht einmal bitte gesagt“, gab sich der Sänger erstaunt.
     „Seh’ ich etwa aus wie ein Bettler?
     „Eher wie eine Maus“, ließ der Sänger auf eine gute Beobachtungsgabe schließen, „eine sehr junge Maus.  Die noch nicht weiß, daß das Leben gefährlich ist.  Und die sich ihr Futter mit ihrer Pfoten Arbeit selbst verdienen könnte.  Und deshalb kriegst du von mir nichts.
     „Herzlos!“ urteilte das Stimmchen.  „Kein Herz für die Armen!
     „Für die Faulenzer!“ verbesserte der Sänger.  „Gäbe ich dir nämlich ein Almosen, so täte sich nichts zum Guten wenden.  Denn du tätest Tag für Tag weiterbetteln, obwohl du eben kein richtiger Bettler bist.
     „Und dann hat der kleine Mäusejunge mich einen Geizhals geschimpft“, berichtete unser Sänger wenig später zu Hause, „und ich hab’ ihm noch einmal den Rat gegeben, sich sein Futter selbst zu verdienen.  Mit was, hat er gefragt.  Da müsse er schon selbst draufkommen, –“
     „Damit’s ihm Spaß macht, lieber Stropp“, ergänzte die Eheliebste.  „Ich weiß, ich weiß.
     „Deshalb stehst du ja auch gerne am Herd“, gab sich unser Held im ehelichen Alltag bekanntlich zuweilen sehr ahnungslos, „weil –“
     „Tscha, mein Lieber“, schmunzelte Frau Struppe mit etwas Ergebenheit, aber auch Überlegenheit im Gesicht, „könnte ich dich je im Stich lassen?“  Und ein Nein schwebte wie ein tragender Ton im Raume.
     Als die Schatten am Abend länger wurden, nahm unser Held wieder seinen Dienst auf und trippelte – er hätte es wohl wandern genannt – seine Runde.  Gerade wollte er wieder seine privaten Nachempfindungen menschlicher Volkslieder zum besten geben, als er Stimmen hörte.  Vorsichtig schlich er näher, lauschte und wurde Zeuge einer sehr dramatischen Unterhaltung.
     „Das macht dann 3 Kornthaler, der Herr“, verlangte eine piepsende Stimme.  „Und wenn Ihr verheiratet seid, das Doppelte.
     „Ah, die Maus von heute morgen!“ flüsterte unser Nachtmeister vor sich hin.  „Aber immerhin mit etwas mehr Respekt.
     „Für was?“ fragte eine heisere Stimme.
     „Was?“ entsetzte sich unser Stropp mit unterdrückter Stimme in seinem Versteck.  „Reinbert, der Friedensrichter?  Na, denn gute Nacht, arme Maus!
     „Na, als Zoll!“ antwortete diese.  „Sonst könnt Ihr hier nicht durch.
     „Nicht durch?“ wiederholte der Fuchs, als traue er seinen Lauschern nicht.  „Er will mich nicht durchlassen?  Wer bist du überhaupt, du Knirps?
     „Na, der Mattelino“, gab das Stimmchen bereitwillig Auskunft.  „Der neue Zöllner.
     „Zöllner?“ schien’s Reinbert nicht recht fassen zu können.  „Und wer hat dir dieses Privileg verliehen?  Was?  Wie?  Ich etwa?
     „Nein“, schien das Mäuschen ebenfalls nicht alles zu begreifen, „sonst tätet Ihr vermutlich noch Pachtzins von mir verlangen.  Nein, es war ein Igel, der mich auf diesen –“
     „Ein Igel?“  schien dem Friedensrichter die Rolle des Echos zu liegen.  „Etwa dieser – dieser Nachtmeister?
     „Also für einen Meister seines Fachs“, urteilte Mattelino schmerzhaft, „war er doch sehr dumm.  Ich denk’ eher, es war der Dorftrottel.
     Dorftrottel?  –  Auch Helden sind nicht frei von Eitelkeit, und deshalb wird manches hohe Tier verstehen können, daß unseren Igel nun nichts mehr in seinem Versteck hielt.
     „Meinst du mich?“ trat er mutig vor die beiden Tiere;  mutig oder unbesonnen?
     „Sieh an, sieh an“, kleidete sich der Fuchs in Häme, „der Herr Nachtmeister!  Das schlechte Gewissen treibt ihn an den Tatort zurück.  Was fällt Ihm ein, in meinem Reich ohne Unser Wissen Zollschranken aufzurichten?  Sich vielleicht obendrein noch hinter Unserem Rücken zu bereichern?  Das soll Er mir –“
     „Was weiß ich, was Mattelino dabei eingefallen ist“, offenbarte unser Held seine schon so oft unterschätzte Einfalt.  „Kann ich Gedanken lesen?  Ich hab’ ihm lediglich geraten, nicht mehr zu betteln, sondern sich sein Futter selber zu verdienen.  –“
     „Stimmt das?“ fragte der Friedensrichter mit drohendem Unterton.
     „Ich – Ich – Ich wollte doch nur“, stotterte das Mäuschen und wurde sich langsam des Ernstes seiner Lage bewußt.
     „Dann lade ich dich hiermit umgehend vor meinen Richtstuhl!“ gab sich Reinbert dienstlich, also unbarmherzig.
     „Ist – Ist das weit?“ besorgte sich Mattelino.
     „Darauf kommt’s nicht an“, hämte der Fuchs, „ich trag’ dich hin, und du kannst es dir aussuchen: im Maul oder gleich im Magen.
     „Das durfte ich nicht zulassen“, berichtete unser Igel am nächsten Morgen zu Hause.  „Ich bat also Reinbert für eine kurze Unterredung zur Seite und bedeutete Mattelino mit den Augen, unversehens im nächsten Mauseloch um Asyl zu bitten.  Dem Friedensrichter stellte ich dann vor Augen, daß die Todesstrafe, insbesondere bei Jugendlichen, niemandem einen Vorteil gewähre.  Aus Erziehungsgründen seien da doch Bewährungsstrafen wesentlich wirkungsvoller.  Tscha, und dann ließ sich Reinbert tatsächlich dazu bewegen, daß Mattelino bei uns hier als Gartenknecht einen Teil seiner Strafe abbüßen muß;  der Rest ist zur Bewährung ausgesetzt.
     Frau Struppe war’s zufrieden und wohl auch ein bißchen stolz auf solche Friedfertigkeit.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 17.11.2023

Qouz-Note: 2

 

 

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MamM 1.025  Wo bleibt das Böse?

„Wenn es einen Gott gäbe“, wählte Donna Normenscheider die Möglichkeitsform, „warum verbannt er die Bösen nicht von der Erde?  Ist er so schwach, daß –“
     „Das hat er angeblich bereits einmal getan“ antwortete der Alte von der Halbinsel, „aber  v i e l e  Menschen blieben dabei nicht übrig.  Und die Folgezeit legt die Vermutung nahe, daß selbst dieser Rest nicht frei vom Bösen –“
     „Aber irgendwie muß dem doch gesteuert werden“, ereiferte sich die Besucherin, „es gibt doch ganz offensichtlich böse und gute Menschen.
     „So?“ zweifelte der Alte sehr, nahm sein abgegriffenes Buch zur Hand, blätterte nur kurz darin und reichte es seinem Gast: „Hier, wie liesest du?
     „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen;  denn das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“, las Donna Normenscheider, hielt dann inne und gab zu bedenken: „Aber im Neuen Testament ist doch von den guten und den faulen Bäumen die Rede, die an ihren Früchten leicht zu erkennen sind.  Wenn wir also die faulen Bäume ausrotten, kann der Garten nur gewinnen, um in der Bildersprache –“
     „– der Bergpredigt zu bleiben?“ ergänzte der Alte schmunzelnd, bevor er seufzte: „Tscha, der Baum der Erkenntnis ist nicht der des Lebens, sagt der geschmähte Lord.  Jener lenkt mich darauf, einen Widerspruch zu erkennen und mich über alle Weisheit der Bibel zu erheben.  Dieser aber lenkt mich in mein Alltagsleben.  Sehe ich also gute Früchte, schließe ich daraus, daß Gutes in dem betreffenden Menschen wohnen muß.  Und sehe ich arge Früchte, schließe ich daraus, daß Böses in dem betreffenden Menschen wohnt.  Und wenn dieser betreffende Mensch ich selber bin, so muß ich daraus schließen, daß in mir zwar Gutes wohnt, aber auch Böses.  Was schließe ich dann auf andere Menschen?“  Und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein Drache, der trieb vor den Toren von Feldgosse sein Unwesen.  Ein böser Drache!  Denn er fraß das Vieh auf den Weiden, das Wild in den Wäldern, das Korn auf den Feldern, die Früchte und Blätter von den Bäumen und die Blumen in den Vorlandgärten und am Wegesrand.  Und was er nicht fraß, das zertrat er.  Und das Vorland rings um Feldgosse verödete, und niemand wagte mehr, sein Vieh vor den Stadttoren weiden zu lassen.
     Aber auch hinter den Toren fühlten sich viele nicht mehr sicher, obwohl die Stadtmauer Tausende von Hundsrosen säumten.  Konnten nicht Drachen fliegen?  Hatten sie nicht einen feurigen Atem?
     Die Bürger hatten jedenfalls Angst und ließen sich durch den Drachen erpressen.  Denn da vor der Stadt kaum noch etwas grünte und kaum noch Tiere anzutreffen waren, verlangte der Drache – Menschenfleisch.  Nicht vom Friedhof, nicht vom Sargschreiner, sondern frisches und lebendiges.
     Tscha, und daran erkennst du mal wieder die Menschen: Solange es niemanden selbst betraf oder einen lieben oder benötigten Angehörigen, hatte auch niemand etwas an solchen gottlosen Forderungen auszusetzen.  Im Gegenteil: Es gab sogar Befürworter!
     Da gab mancher bereitwillig seine Schwiegereltern heraus – vor allem, wenn sie weniger einbrachten als kosteten.  Auch Ehekriege konnten auf diese Weise beendet werden;  oder Streit unter Nachbarn.  Und Kinder, die nicht erwünscht waren – Ach, wer’s näher beschreibt, läuft Gefahr, so etwas gesellschaftsfähig zu machen und zu erhalten.
     Und als eines Tages der Drache die Königstochter verlangte, da entschloß sich der König von Feldgosse endlich, zu handeln.  Nein, nicht selber, solch ein Held war er nicht.  Aber er versprach demjenigen, der den Drachen besiegen täte, die Hand der Königstochter.
     Nun ja, Feldgosse ist kein armes Reich;  die Prinzessin war lieblich anzusehen und galt als tugendhaft;  und wer einen Drachen besiegte, dem war ein Platz in den Chroniken und den Balladen der Sänger sicher.  Es forderte deshalb mancher Prinz den Drachen heraus und – zog den kürzeren;  auch Adaminos Brüder.
     Zwar hatte Adamino dadurch den Vorteil, in der Thronfolge an die 1. Stelle zu rücken, aber erfreut war er darüber dennoch nicht.  Dieser Drache mußte unbedingt unschädlich gemacht werden!  Und irgendwie fühlte der Prinz, daß das seine Aufgabe war.  Allein – Adamino war kein Draufgänger, und deshalb ließ er weder anspannen noch ein Pferd satteln, sondern machte sich in seinen Wanderschuhen auf den Weg.
     Es war aber gerade die Zeit, da der Frühling dem Sommer die Tür aufhält, um sich von diesem ablösen zu lassen und sich auf die Reise nach Süden zu machen.  Da kannst du dir gewiß gut vorstellen, daß die Werte der Lande strahlten und glänzten wie eine reiche Schatzkammer.  Der grüne Gerstenrost verwandelte sich bereits in einen goldenen Teppich, in den funkelnde blaue Kleinodien und rote Liebespfänder eingelassen waren.  In den Lüften jubelte die Lerche, und in den Niederungen ließen die Frösche ihren Schusterbaß ertönen, solange sie weder Reiher noch Klapperstorch in der Nähe wußten.
     Doch als Adamino endlich in das Vorland von Feldgosse kam, zeigte sich ihm plötzlich ein anderes Bild.  Keine Goldteppiche mehr, keine funkelnden Kleinodien, keine Lerchen in den Lüften.  Selbst die Feldraine waren versengt und niedergetreten, und auf den Wegen wimmelte es von unzähligen Leichen.
     Aber das waren doch nur Regenwürmer, Käfer und Ameisen, würde ein rücksichtsloser Kutscher urteilen;  doch für Adamino sah’s sehr traurig und trostlos aus.  Da ergrimmte er in seinem Herzen und wollte gerade dem Drachen entgegentreten, –
     „Eben!“ konnte sich Donna Normenscheider nicht länger zurückhalten.  „Kopf ab!
     „Was hätte es geholfen?“ verneinte der Alte.  „Denn als Adamino später die Stadt betrat, sah er, daß alle, die mit dem Drachen Handel getrieben hatten, dessen Malzeichen trugen.  Nein, gerade als er mit dem Drachen auf Leben und Tod kämpfen wollte, hörte er ein Kind aus einem Hause an der Stadtmauer plappern.  Ja, plappern, denn einen richtigen Zusammenhang konnte Adamino nicht verstehen.  Nur das Schlüsselwort: verwandeln.  Und da gewahrte er auch schon die Zauberblume zu seinen Füßen.  Grausam hatte der Riese sie wohl mit irgend etwas niedergemäht.  Dennoch hob der Prinz sie auf, ließ sein Schwert in der Scheide, trat dem Drachen entgegen und wußte diesen geschickt mit der Zauberblume zu berühren.  Und dabei wünschte er sich, was sogleich in Erfüllung ging: Der Drache verwandelte sich in ein weites Kornfeld mit funkelnden Kornblumen, Mohn in Samt und Seide und heilsamer Kamille.  Und die Hochzeit –“
     Aber da bemerkte der Alte, daß seine Besucherin inzwischen gegangen und in ihrer Kutsche davongefahren war.  Und sein Blick suchte die Zauberblume.
© Stiftung Stückwerken, *20.6.2019, freigegeben am 20.3.2024
Qouz-Note: 3

 


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MamM 1.026  Nachtmeister Stropp und der Fall und Nichtfall

„Warum habt Ihr eigentlich nie wieder geheiratet, Frau von Nowotny?“  Eine Frage, die auf Wissensdurst und rege Anteilnahme schließen ließ.
     „Warum-Fragen, lieber Stropp, lassen sich nie hinreichend beantworten“, zeigte sich die Schildkröte als Philosophin.  „Tu es oder tu es nicht;  egal, ob du es tust oder nicht tust, du wirst es bereuen.
     „Und doch gelten die Dänen als glückliche Menschen“, war unser Igel sogar auf diesem Gebiet bewandert.  „Ich halt’s aber mehr mit dem Schlendertünnes: Egal, ob du es tust oder nicht tust, der liebe Gott kann alles noch zum Besten wenden.
     „Ach“, seufzte Frau von Nowotny, „selige kindliche Einfalt!  Allein – die Wirklichkeit sieht anders –“
     „Mordio!  Zetermordio!  Zeterissimo!“ meldete sich plötzlich einen aufgeregte Stimme.  „Dort unten liegt eine tote Leiche!
     „Wie so viele an diesem schönen Sommermorgen!“ brummelte unser Nachtmeister.  „Also kämen wir zu spät!
     „Aber der Fall muß doch untersucht werden!“ spatzte die fremde Stimme empört.
     „Egal, ob du es tust oder nicht tust, –“, ließ die Schildkröte Ironie einfließen.
     „ – ist’s nicht immer einfach, ein Optimist zu sein“, ergänzte unser Held.  „Nun ja, für so etwas muß sich der liebe Gott selber rechtfertigen!  Auf!  Packen wir’s an!
     Damit war jedoch nicht die Leiche gemeint.  Die hatte der Dr. Reigel zu untersuchen, und der stellte nach sorgfältiger Analyse die Todesursache fest: vermutlich Sturz aus großer Höhe, sofort gefolgt von einem Überfahren durch ein Fahrzeug mit mindestens 2 Rädern.
     „Und wer war die Leiche?“ wollte Frau Struppe zu Hause wissen.
     „Ein junger Eichkater“, antwortete der Eheliebste.  „Nach dem Mageninhalt noch immer Vegetarier.  Blutrache scheidet somit als Tatmotiv aus.
     „Selbsttötung?
     „So jung?“ zweifelte unser Stropp sehr.
     „Es gibt auch unglückliche Kinder“, gab die Eheliebste zu bedenken.
     „Leider!“ bestätigte unser Held.  „Dazu paßte auch, daß ihn niemand als vermißt gemeldet hat.  Keine Mutter, kein Vater.  Und normalerweise spielen die Eichkatzen in diesem Alter noch mit ihren Geschwisterchen.  Ich werd’ mich heute nacht wohl mal umhören müssen.  Aber, huah, jetzt wollen wir erst einmal schlafen.
     Doch am Abend und in der Nacht konnte unser Igel wandern und wandern, nirgendwo war ein Angehöriger aus dem Volke der Eichkatzen anzutreffen.
     „’s sind wohl keine Nachttiere“, bot am Morgen Emma von Nowotny als Erklärung an.
     „Daran hätte ich eigentlich denken müssen“, konnte es unser Stropp sich leisten, Fehler zuzugeben.  „Aber tagsüber brauch' ich meinen Schlaf.
     „Dann könnte ich mich doch mal umhören“, gab sich die Schildkröte hilfsbereit.
     Unser Igel war’s zufrieden, begab sich zur Ruhe, wanderte in der Nacht seine Runden und – erfuhr am nächsten Morgen Sonderbares.
     „Also –“, begann Emma, „niemand will irgend etwas gesehen oder gehört haben.  Niemand vermißt den kleinen Eichkater;  niemand bekennt sich dazu, mit ihm verwandt zu sein.  Aber immer wieder unterbrechen die Eichkatzenkinder ihr Spiel und rufen im Chor: «Alles, was fliegt, ist böse!  Alles, was fliegt, ist böse!  Alles, was fliegt, ist böse!»  Und immer, wenn sich ihnen ein Vogel naht, zeigen sie nur 2 Reaktionen.  Ist der Vogel groß, fliehen sie sogleich in die Dornsträucher;  ist er klein und ungefährlich, jagen sie ihn augenblicklich in die Flucht!  Es ist, als hätten die Eichkatzen allen Vögeln den Krieg erklärt.“
     „Seltsam!“ rätselte unser Held.  „So etwas hat es doch früher nicht gegeben.  Oder?
     „Nicht, daß ich wüßte!“ pflichtete die Schildkröte bei.  „Allerdings ist das Völkchen unter den Singvögeln als Kindermörder bekannt, bei den Elstern als Räuber und bei den Krähen als halsstarrige Hausbesetzer.
     „Es hätte also mancher unter den Vögeln ein Motiv“, folgerte unser Nachtmeister messerscharf.  „Falls wir Selbsttötung ausschließen!  Somit doch Blutrache?  Aber warum trauert niemand?  Merkwürdig, merkwürdig!
     „Und noch etwas“, fuhr Frau von Nowotny fort.  „Ich seh’ zwar keinen Zusammenhang mit deinem Fall, aber –“
     „– Zusammenhänge lassen sich herstellen“, ergänzte unser Stropp aufmunternd.  „Nur zu!
     „Die Witwe Bolzani“, sortierte die Schildkröte ihre Gedanken,  „eh, ist sehr niedergeschlagen.  Ihr Garten!  Wo es sowieso schon kaum noch regnet.  Und jetzt haben ihn auch noch die Mühlwäuse –“
     „Wühlmäuse“, verbesserte unser Held.
     „Ja, Wühlmäuse“, griff’s Emma auf, „eh, heimgesucht.  Die Witwe hat die Mühe gehabt, und diese Viecher fressen ihr alles weg!
     „Das ist aber Menschenangelegenheit“, wußte unser Igel einzuwenden, „dafür bin ich nicht zuständig.  Außerdem – was fressen die Menschen uns Tieren alles weg!  Da fragt keiner nach!
     „Aber die Witwe hat uns doch schon oft noch etwas übriggelassen“, gab die Schildkröte zu bedenken.  „Hast du da noch nie gesammelt?
     „Doch“, gab unser Nachtmeister sogleich zu.  „Eigentlich ist sie ja ganz nett –“
     „– und hat schon Kummer genug“, ergänzte Frau von Nowotny.  „Weißt du keinen Rat?
     „Herr Samtmantel!“ konnte der Scharfsinn unseres Stropps augenblicklich mit einer Lösung aufwarten.
     Aber wo war dieser reiche Maulwurf?  Zu Hause jedenfalls nicht.  Freundin und Freund suchten und suchten;  sogar unten an der Chaussee.  Und plötzlich überschlugen sich die Ereignisse.
     „Höher, noch höher!“ befahl einen krächzende Stimme.  „Wenn Er fliegen will, muß Er noch höher klettern.  Denk’ Er nur an das dumme Eichkätzchen!
     „Herr Samtmantel!“ entsetzte sich unser Held.  „Kommt sogleich da runter!
     „Aber der hatte diesem von Krahwinkel“, berichtete unser Igel später zu Hause, „blindlings vertraut und gab nichts auf unsere guten Worte.  Nun ja, Frau von Nowotny konnte ihm nicht nachklettern, ich auch nicht, jener Spatz wäre zu schwach gewesen, – da konnte nur noch einer helfen: Wastel!  Eile tat not!  Ich den Spatz beauftragt.  Herr Samtmantel klettert indessen weiter und weiter.  Gleich würde er in den sicheren Tod stürzen.  Da!  Fast wie ein Wiesel klettert der Waschbär hinterher.  Holt den Maulwurf noch rechtzeitig ein.  Wird von der Krähe angegriffen.  Weiß sich mit dem Schwanz zu wehren.  Und – bringt Herrn Samtmantel glücklich vom Baum herunter.  Der ist zunächst sehr ungehalten;  denn er hatte davon geträumt, der 1. fliegende Maulwurf zu sein.
     „Und jetzt?“ fragte die Eheliebste.
     „Jetzt jagt er bei Witwe Bolzani Mühlwäuse.
     „Wühlmäuse“, verbesserte die Igelin müde, aber voller Liebe.  „Und nun guten Tag und einen angenehmen Schlaf!
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 22.1.2024
Qouz-Note 2+

 


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MamM 1.027  Unbewußtes Wirken

„Auf mich kommt es doch gar nicht an!“ verteidigte sich Donna Flintenkorn gegen – tscha, anscheinend gegen ihr eigenes Gewissen.  „Ich allein kann gar nichts ausrichten.  Sollen doch erst mal die andern –“
     „– vorangehen, sprachen die Nachzügler“, ergänzte der Alte von der Halbinsel, „bevor sie zu spät kamen.
     „Hatten dafür aber ein angenehmeres Leben“, ging die Besucherin weiter.
     „Leben?“ zweifelte der Alte sehr.  „Wenn die Halme am Wegesrand niedergetreten sind, die Blumen gepflückt und Kadaver, Kot und Müll den Weg säumen?
     „Es hat eben alles seinen Preis“, zitierte Donna Flintenkorn altklug.  „Dafür sind auf dem gebahnten Weg der Menge die Hindernisse fortgeräumt und die Gefahren, sich zu verirren, wesentlich geringer.
     „So?“ zweifelte der Alte weiter.  „Mich tät’s nicht glücklich machen –“
     „Ihr arbeitet lieber vergeblich?“ baute die Besucherin ihre Zwickmühle.
     „Nichts ist vergeblich“, versagte der Alte das Mahlgut.  „Wenn ich einen Stein in die Nordsee werfe, wird die Welle, die bei –“
     „Nachplapperei!“ urteilte Donna Flintenkorn streng.  „Beweisen könnt Ihr’s jedenfalls –“
     „Ich brauche nur einen Stein und ein Glas voll Wasser“, gab sich der Alte nicht geschlagen.
     „Und tätet damit Zeit und Kraft vergeuden“, glaubte die Besucherin den Alten im eigenen Netz gefangen zu haben.
     „Die große Stadt London könnte in weniger als einer Stunde sauber sein“, rettete sich der Alte auf eine andere Planke, die er nicht gezimmert hatte, „es bräuchte nur jeder vor seiner Tür zu kehren.
     „Und –“, fragte Donna Flintenkorn verneinend, „ist sie’s?  Denn es sind immer nur einzelne, die aus der Reihe tanzen, und was sie tun, ist alles vergeblich.
     „So wollen wir mal hören“, schlug der Alte vor und begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein junger Prinz, und der hieß Zacherias.  Sehr wagemutig klingt das nicht, vor allem in nördlichen Landen.  Und einen Draufgänger konnte er sich nun wirklich nicht nennen.  Sehr zum Leidwesen von Mutter und Vater.  Die konnten ihren Sohn auf Bälle schicken oder selber zu Bällen einladen, Zacherias schnappte nach keinem Köder, Zacherias schwamm in kein Netz, Zacherias ging auf keinen Leim.  Da halfen keine feurigen Blicke, da halfen keine süßen Worte, da halfen keine betörenden Düfte.
     Stets (oder regelmäßig) dachte Zacherias nur das eine: »Die meint bestimmt nicht mich;  und wenn, dann läßt sie mich gewiß bald wieder fallen wie eine heiße Kartoffel.«
     Und deshalb ging er auch niemals aus eigenem Antrieb auf die Jagd nach Schürzen oder anderen Liebespfändern;  er hielt’s einfach für aussichtslos.  Doch wiewohl sich der Prinz deshalb bestimmt nicht sehr farbig kleidete und aufführte, ward es dem König endlich zu bunt, und er, der König, verbannte seinen Sohn aus Schloß und Reich.  Er, der Prinz, dürfe nur in Begleitung seiner Braut zurückkehren.
     Nun ja, wer sich selber nicht viel zutraut, kann dennoch eigensinnig sein.  Kaum hatte der Prinz die Grenze überquert, stieg er aus, entledigte sich seiner königlichen Kleidung, rüstete sich für eine lange Wanderschaft und schickte Kutsche, Pferde und alle Anzeichen seiner Herkunft nach Hause zurück.
     Tscha, und nun?  Zurück durfte er nicht mehr, aber ansonsten standen ihm alle Wege offen.  Nur – welcher Weg war der richtige?  Das glaubte ein Zacherias nicht zu wissen und auch nicht herausfinden zu können.  Egal, welchen Weg er wählte, hatte ihn die Erfahrung gelehrt: Er täte es hinterher bereuen.
     Und so kümmerte sich der Prinz nicht um Wegweiser, Landmarken oder Sterne, sondern ging einfach vor sich hin.  Und dabei entdeckte er, was ihm in der Kutsche bisher entgangen war: Wie viele Tiere zerfahren oder zertreten auf dem Wege lagen.  Folglich achtete er fortan genau darauf, wohin er trat, um ja keinem Tier zu schaden.  Ja, er grub mancher Ameisenkarawane sogar mit dem Schwert eine Schlucht in den Weg und deckte diese so gut ab, daß die Tiere künftig in Sicherheit waren.
     So etwas hielt ihn aber nicht davon ab, hin und wieder mal nach links und rechts zu blicken, wo funkelnde blaue Blumen und rotseidene Schönheiten die reifen Kornfelder säumten.  Welch eine Pracht!  Schon wollte er seine Hand ausstrecken und die wunderschönen Blumen in Besitz nehmen, doch da waren Ehrfurcht und Einsicht stärker als die Habgier;  er nickte dankbar einen Gruß, zog fröhlich weiter und gönnte den Anblick dieser Blumenpracht auch andern.  Wem?  –  Das wird sich noch zeigen.
     So kam er eines Morgens an ein prächtiges Schloß.  Doch oh weh!  Das Schloß war nicht von einem einladenden Park oder einem blühenden Garten umgeben, sondern von einer abstoßenden Einöde.
     „Ach“, seufzte der Prinz ob dieser Trostlosigkeit, „ich wünschte, hier grünte und blühte und fruchtete es.
     Da bebte mit einem Mal die Erde, und eine Herde wilder Sauen stürmte in die Einöde und begann sie zu pflügen.  Und sie waren so eifrig bei der Arbeit, als stünde ein strenger Aufseher ständig hinter ihnen.  Dabei waren’s nur etliche mit spitzen Stacheln bewehrte Insekten, und die waren von jenen Feldblumen geschickt worden, die der Prinz nicht gepflückt hatte.
     Und kaum war alles umgegraben, da begannen unzählige Ameisen Wege anzulegen, und weitere Scharen geflügelter Wesen säten Samen auf den bestellten Boden.  Andere trugen in kleinen Eimerchen Wasser herbei;  und bereits nach 3 Tagen begann es, auf der ehemaligen Einöde zu grünen und zu blühen.  Da wurde die Zugbrücke herabgelassen, und das Schloßtor tat sich auf, und heraus schritt eine liebliche und liebevolle Prinzessin und hieß Zacherias willkommen als – ihren Bräutigam.  Denn sie hatte ihn auf seiner Wanderung Tag für Tag heimlich beobachtet und war sich sicher, daß er der Richtige war.  Und –
     „– wenn sie nicht gestorben sind“, konnte sich Donna Flintenkorn nicht länger zurückhalten, „und so weiter und so weiter.  Trotzdem bleibe ich bei meiner Devise: Sollen erst mal die andern –“
     „– auf mich warten?“ ergänzte der Alte lächelnd, als habe er sein Reizwort überhört.  „Wissen wir, wer alles auf uns achtet?  Wem wir Anregungen geben?  Neuen Mut?  Ohne diese kleinen Wirkungen keine Schöpfung!“  Und er geleitete die Besucherin hinaus.
© Stiftung Stückwerken, *12.7.2019, freigegeben am 21.3.2024
Qouz-Note: 2

 


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MamM 1.028  Freudenwein

„Wenn ich uns mit den andern vergleiche“, hatte Donna Griepenkrich ihren Maßstab selber geeicht, „doch, da können wir wirklich dankbar sein.
     „Können und Sein sind keine –“, konnte sich der Alte von der Halbinsel gerade noch rechtzeitig bremsen.
     „Gott hat uns sichtbar gesegnet“, fuhr die Besucherin fort.
     „So?“ schlüpfte der Alte in die Rolle des Zweiflers, der angeblich nichts empfängt.  Oder doch?  Zumindest Tadel.
     „Wenn Ihr ein echter Christ wäret“, verneinte Donna Griepenkrich auch sogleich, „so tätet Ihr Euch jetzt mit mir freuen.
     „Ich gönn’ dir deine Freude“, beeilte sich der Alte.  „Unverdienter Segen ist stets Anlaß zur –“
     „Na, so ganz unverdient ist er nun wohl doch nicht gewesen“, wollte die Besucherin nicht prahlen.  „Reichtum kommt von Bewahren und Sammeln und –“
     „– Nehmen“, ergänzte der Alte vorwitzig.
     „Nennen wir es besser: Empfangen“, verbesserte Donna Griepenkrich.  „Wir sind doch keine Räuber!
     „Vielleicht täte ich an deiner Stelle auch so denken“, räumte der Alte ein, „aber – hat nicht alles auf dieser Erde seinen Preis?“  Und er begann zu erzählen:
     „Wenn es einen Gott gäbe“, fragt der Atheist, „woher kommt dann das Böse?
     „Wenn es keinen Gott gäbe“, fragt der Gläubige, „woher kommt dann das Gute?
     Jedenfalls – es wär’ einmal ein junger König, der hieß Hortano;  und er war ein Mensch wie wir alle: mit Stärken und mit Schwächen.  Allein – auch das ist menschlich: Wir können diese Stärken und Schwächen nie richtig gegeneinander abwägen.
     Hortanos Schwächen?  E i n e  Schwäche: Habgier.  Oder nenn’ ich’s besser Nehmgier?  Denn kaum war etwas zu seinem Besitz und Eigentum geworden, da trachtete er bereits wieder nach neuer Beute.  Und dazu hast du ja als König vielfältige Möglichkeiten.
     Gleich als Hortano seinen Thron bestiegen hatte, nahm er sich seinen Hofstaat vor, zumindest soweit dieser sich aus der königlichen Schatzkammer nährte.  Es sei eine große Ehre, begann der junge König, bei Hofe arbeiten und damit einem so wunderbaren Volk dienen zu dürfen.  Deshalb wäre gewiß ein jeder bereit, künftig jede Woche ein Stündchen länger zu arbeiten – sozusagen ehrenamtlich.  Und da niemand wagte, offen zu widersprechen, war diese Angelegenheit einvernehmlich geregelt.  Das zahlte sich für den König aus, sobald die ersten Bediensteten den Hof verließen und nicht durch neue ersetzt werden mußten, weil ihre Arbeit ehrenamtlich übernommen wurde.
     Ein weiterer Abfluß aus der königlichen Schatzkammer war zu den Hoflieferanten gelegt.  Auch hier ließ sich der Schwund wirkungsvoll drosseln.  Mußten die Lieferantenrechnungen prompt bezahlt werden?  War das überhaupt königlich?  Je größer die Macht, desto schlechter die Zahlungsmoral.  War es nicht eine große, unbezahlbare Ehre für einen König arbeiten zu dürfen?  Warum also nicht auch hier das Ehrenamt einführen?  Und damit war zugleich die Brücke zu einem weiteren Gesichtspunkt gebaut.
     Faßt du eine königliche Schatzkammer als ein Becken auf, das es zu füllen gilt, so kann es natürlich hilfreich sein, wenn du den Abfluß verminderst.  Weit wirkungsvoller wird es jedoch in der Regel sein, wenn du den Zufluß vermehrst.  Wie?
     Nun, zunächst lud Hortano seine Bürgerinnen und Bürger ein, für die königlichen Aufgaben zu spenden.  Anonym kommt da jedoch erfahrungsgemäß nicht viel zusammen.  Aber als sich der König gerne dazu bereit erklärte, die Namen der Spenderinnen und Spender –  ab einer gewissen Summe – in Marmor meißeln zu lassen, da flossen die Taler reichlicher zu.  Und schon war eine Brücke zu einem neuen Zufluß gebaut;  du kannst es auch Graben oder Kanal nennen:
     Ehren lassen sich nämlich verkaufen, ja, noch besser: sogar vermieten oder verpachten.  Stell dir vor, du wärst ein alter Schreinermeister und wolltest dich zur Ruhe setzen.  Na, du tätest bestimmt etwas dafür geben, deine Werkstatt vorher als königliche Hofschreinerei verbriefen zu lassen und sie erst dann an deinen Nachfolger zu verkaufen.
     Na ja, und wenn dieser Zufluß noch nicht reicht, dann dreh den Hahn der Gebühren und Steuern auf.  Nicht bis zum Anschlag, nein, geschickter: Immer wenn du Abgaben erhöhst oder einführst, muß es Gewinner geben.  Oder du wählst die Mengenstrategie: Für jedes einzelne Talerstück, das du leise einnimmst, gibst du geräuschvoll anfangs 9 Kreuzermünzen wieder zurück und nach und nach weniger, aber mindestens 2.  Was meinst du, wie wenige das nachrechnen?
     Hortano galt jedenfalls bald als ein großer Regent, der viel für sein Volk tue.  Allein – es gab auch einen Wermutstropfen.  Hortano hatte nämlich von seinem Vater einen Keller mit 100 Fässern Freudenwein geerbt, der seinem Namen alle Ehre bereitete.  Denn er machte nicht benommen, trunken oder süchtig, sondern ließ die Augen vor Freude leuchten.  Tscha, und dieser Wein nahm ab.  Nicht durch Verbrauch, sondern – es war wie verhext!  Kaum hatte sich Hortano eine neue Maßnahme ausgedacht, seinen Reichtum zu mehren, und in die Wege geleitet, da platzte im Weinkeller ein Faß, und dessen Inhalt versickerte und verdunstete.  Zum Schluß war nur noch ein Faß übrig.  Was nun?
     Immerhin war dem König dieser Wein jetzt so wichtig, daß er, Hortano, verbreiten ließ: Wer den Weinvorrat wieder auf den ursprünglichen Bestand bringen könne, der dürfe sich etwas wünschen.
     Tscha, an Vor- und Ratschlägen fehlte es nicht, aber nichts half, bis – bis eine gewisse Fontana ihre Hilfe anbot: Der König möge endlich selber seinen Freudenwein genießen, und am besten lade er dazu sein ganzes Volk –
     „Das wär’ doch eine Riesentorheit!“ konnte sich Donna Griepenkrich nicht länger zurückhalten.  „Dann hätte er ja überhaupt keinen –“
     „Du kennst eben Fontana nicht –“, unterbrach der Alte mit seiner gewohnten Unhöflichkeit.  „Der König faßte jedenfalls Vertrauen zu diesem Mädchen und setzte einen baldigen Festtag an, zu dem jeder eingeladen sei, der kommen wolle.  Tscha, der Tag kam, die Gäste kamen auch, und der Freudenwein wurde ausgeschenkt.  Und er reichte für alle und machte aller Herzen weit und aller Augen leuchtend.  Und wenn deine Augen leuchten, dann siehst du manches, was dir bisher in Dunkelheit verloren war.  So sah der König plötzlich die Möglichkeit, alle seine Melk- und Sparmaßnahmen wieder rückgängig zu machen.  Und da er Fontana so schnell nicht wieder los wurde, blieb es nicht beim Sehen, sondern es wurde Wollen und Tun daraus.  Und wie durch Wunderhand bewirkt, konnte der Kellermeister bald Tag für Tag den Zugang eines neuen Fasses melden, bis – bis die 100 mährsächlich wieder erreicht waren.  Da wollte der König endlich Fontanas Wunsch erfahren, aber die meinte, Hortano habe seinen Keller ja eigentlich selber gefüllt;  also müsse  e r  sich etwas wünschen.  Und er wünschte sich –“, aber da bemerkte der Alte, daß er keine Zuhörerin mehr hatte.
© Stiftung Stückwerken, *18.7.2019, freigegeben am 22.3.2024
Qouz-Note: 3+

 


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MamM 1.029  Nachtmeister Stropp und der Fall Schlichensiepen

„Warum können wir Tiere keinen Frieden halten?“ zeigte sich unser Held eines Morgens bekümmert.
     „Aber du lebst doch davon“, wunderte sich seine Begleiterin.
     „Frau von Nowotny, seien wir mal ehrlich“, erweckte unser Stropp den Eindruck, er könne auch anders, „eine goldene Nase kann ich mir damit nicht verdienen.
     „Aber es reicht zumindest zum Leben“, wollte die Schildkröte festgehalten wissen, „also sei zufrieden.
     „Könnte es nicht auch anders sein?“ schien unser Igel Forscherqualitäten zu besitzen.  „Normalerweise läuft es immer nach dem gleichen Schema ab: Es wird ein Verbrechen verübt, ich werde zum Tatort gerufen, ich forsche nach dem Täter, finde ihn, übergebe ihn dem Friedensrichter, und nun kommt’s darauf an, wer stärker ist.  Sollte der Täter stärker sein, wird er allenfalls verbannt.  Ist er schwächer, wird er verurteilt und bestraft und gegebenenfalls vom Fuchs und dessen Familie gefressen.  Wär’s nicht viel schöner, wenn die Maus gar nicht erst in den Brunnen fiele?  Ich also unser täglich’ Brot damit verdiente, Verbrechen zu verhindern, anstatt – hoppla, da haben wir bereits wieder eins!
     „Tatsächlich!“ hatte es jetzt auch Frau Emma bemerkt.  „Tot!  Mord!  Entsetzlich!  Einfach den Kopf abgebissen!
     „Da war doch was!  Da war doch was!“ grübelte unser Nachtmeister angestrengt.  „Irgend etwas wollte ich mir doch zum Thema Blindschleichen merken!  Was war das noch?  Was war das noch?
     „Kannst du den Fall denn überhaupt noch aufklären“, besorgte sich die Schildkröte, „wenn du die Identität des Opfers nicht mehr feststellen kannst?
     „Das wird nicht einfach sein“, wollte unser Held diese Aufgabe keineswegs unterschätzen, „aber unmöglich ist es nicht.  Lebte die Tote in einer Familie, so muß sie doch von irgend jemandem vermißt werden.
     „Und wenn der Täter aus der gleichen Familie stammt?“ gab Frau von Nowotny zu bedenken.
     „Dann wird’s schon schwieriger“, räumte unser Igel ein, „aber da gibt es immer noch den Magnetismus.
     „Magnetismus?“ wußte Frau Emma nicht, was sie davon zu halten hatte.
     „Ja“, erläuterte unser Stropp geduldig, „die Anziehungskraft des Tatorts auf den Täter.  Sollte sie wirken, dann brauchen wir uns also nur noch hier in der Nähe zu verstecken –“
     „Verstecken?“ knurrte eine heisere Stimme argwöhnisch.  „Er hat wohl ein schlechtes Gewissen, – was?  Wie?
     „Einen schönen guten Morgen, Herr Friedensrichter“, stellte unser Nachtmeister seine guten Umgangsformen nicht unter den Scheffel.  „Wir wollten nur den Täter überführen –“
     „Hahaha, den Täter überführen!“ lachte der Fuchs.  „Köstlich, köstlich!  Sich selbst als Täter überführen!  Hahaha!
     „Wieso sich selbst?“ verstand unser Held nicht.
     „Na“, wurde Reinbert deutlicher.  „Was ist das hier, hä?  –  Eine Leiche!  Ohne Kopf!  Also war’s kein Unfall, und Selbsttötung war’s auch nicht.  Es war somit Mord!  Wer steht hier in der Nähe und will sich –“
     „Ihr, Herr Friedensrichter!“ kannte unser Igel keine Furcht.  „Ich hab’ eben noch zu Frau von Nowotny vom Magnetismus gesprochen: Den Täter zieht es wieder –“
     „Was?“ dämmerte dem Fuchs langsam das Ungeheuerliche.  „Er verdächtigt mich?  Daß ich diese Leiche hier, eh –  Ja, hab’ ich denn ein schlechtes Gewissen, was?  Wie?
     „Wer jagt oder schlachtet“, ließ sich unser Stropp nicht beirren, „ist erfahrungsgemäß ziemlich abgebrüht.
     „Das – das muß ich mir von meinem Nachtmeister bieten lassen?“  Der Friedensrichter rang nach Luft.  „Na warte, ich werde an Ihm ein Exempel statuieren.  Jawoll!  Ein Exempel, das sich gebadet hat!  Stehen etwa Blindschleichen auf dem Nahrungszettel von uns Füchsen?  Was?  Wie?  Aber auf dem der Igel!  Deshalb verhafte ich Ihn hiermit –“
     „Den Nahrungszettel?“ entfuhr es unserem Helden.
     „Stropp!“ zürnte Reinbert.  „Will Er mich auf den Arm nehmen?  Er selber ist es, den ich im Namen des Gesetzes hiermit verhafte.  Und zwar wegen Mordes und – was noch viel schlimmer ist – wegen Majestätsbeleidigung!  Das Urteil wird heute bei Sonnenuntergang gesprochen –  und vollzogen!  Und du da kommst als Komplizin gleich –  Aber wo ist sie nur?
     Tscha, die Schildkröte hatte sich unbemerkt aus dem Staube gemacht.  Nicht aus Feigheit, wie wir noch sehen werden.  Aber für unseren Igel sah die Lage sehr trostlos aus.  Allein – wenn du denkst, es geht nicht mehr,
     Jedenfalls – kaum begann die Sonne ihr Kinn auf den Horizont zu legen, da ließ der Friedensrichter im Vorhof seiner Burg den Angeklagten vorführen.  Alle Zuschauerplätze waren besetzt, denn die Tiere waren gespannt, ob es dieses Mal klappen würde.  Was?  Nun, wer unseren Stropp schon etwas länger kennt, weiß, daß ihn schon mancher Friedensrichter verurteilen wollte und bisher noch jeder dabei den kürzeren gezogen hatte.
     Mit gewichtiger Miene hieß Reinbert alle Tiere aufstehen, verlas die kurze Anklageschrift und wollte gerade das Urteil fällen, da entstand unter den Zuschauern plötzlich eine nicht geringe Unruhe: Eine Schildkröte, ein Waschbär, der irgend etwas verborgen hielt, ja, drängten nach vorne, an der Spitze jedoch eine Igeldame;  und – aus der Luft unterstützt durch einen Schwarzdrosselmann.
     „Er ist unschuldig!  Er ist unschuldig!“ rief aufgeregt die Iglin, in der Eingeweihte zu Recht Frau Struppe vermutet haben.  „Es war gar kein Mord!  Es gab auch keine Leiche!  Hier, Frau Schlichensiepen kann’s bestätigen.
     Sogleich ließ Wastel die Blindschleiche zum Vorschein kommen;  und sie und der Schwarzdrosselmann erzählten nun, daß erstere lediglich um ihren Schwanz gekommen sei.
     „Ja“, gab unser Stropp zu Hause zu, „das war es, was ich mir zu den Blindschleichen merken wollte: Sie können auch ohne Schwanz weiterleben.  Ach, Struppe, wenn ich dich nicht hätte!  Wie hast du das alles nur herausgefunden?
     „Och“, gab sich die Eheliebste bescheiden, „Frau Emma und ich brauchten nur das zu tun, was du ohnehin vorgehabt hattest: uns am Tatort zu verstecken und zu warten.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 29.11.2023

Qouz-Note: 3-

 

 

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MamM 1.030  Jäger und Sammler


Es wär’ einmal ein Prinz, der hieß Robespierre.  Warum?  Auf Warum-Fragen gibt es nie eine hinreichende Antwort.  Also: wozu?  Ich vermute mal: um das Beste daraus zu machen.  Das kann im Laufe der Zeit Wandlungen unterworfen sein.  Als unser Prinz das Sprechen lernte, nannte er sich nämlich Hops.  Daraus wurde bald Robs, und was weiter dazu zu sagen ist, erzähle ich später.  Wenn ich’s nicht vergesse!
     Jedenfalls war Robespierre nicht der Kronprinz und mußte deshalb nicht soviel Rücksicht nehmen auf das, was die Leute über ihn redeten.  Bei seinem älteren Bruder war der Vater da wesentlich strenger.  Und als habe es von Anfang an in ihm gesteckt, entwickelte sich Robespierre zu einem wilden jungen Mann.  Im Reiten, Fechten, Schießen hätte ihm wohl kaum jemand das Wasser reichen können.
     Du hättest ihn nur mal auf der Fuchsjagd sehen sollen.  Oder beim Hetzen von Hirsch und Rehbock.  Oder beim Schießen auf den Adler.  Zartbesaitet hättest du allerdings nicht sein dürfen oder gar eine wahrhafte Tierfreundin.  Denn wiewohl Robespierre von einem fairen Wettkampf sprach, stand der Sieger stets bereits vorher fest.  Und es ist nicht bekannt, daß ein einziges Tier jemals ein Gewehr gegen den Prinzen aufgehoben, geschweige ihn angeschossen hätte.  Und daß Robespierre nicht zum Nahrungserwerb jagte, sondern um Ehre einzulegen, brauche ich wohl nicht besonders zu betonen.
     Tscha, womit du deine Zeit verbringst, das prägt dich.  Das war auch an Robespierre zu sehen, als er die Schönheit entdeckte und daß sie zwischen Weiblein und Männlein sehr ungleich verteilt ist.  Und so begann der Prinz, schöne Frauenzimmer zu jagen.  Ganz besonders solche mit blauen Augen, gedeutet als Ehrlichkeit, und pechschwarzem Haar, gedeutet als leidenschaftliche Liebe.  Allein – es kam, wie es kommen mußte!  Die blauen Augen versprachen mehr, als sie hielten, und die schwarzen Haare auch.  Die Beute entpuppte sich immer wieder als Göttin, die ausschließliche Anbetung und Opfer forderte und – verkannte, daß Robespierre für eine geistige Laufbahn gar nicht geeignet war.  Er war reitender Jäger, ständig auf neues Wild aus;  und kein behäbiger Tempelpriester.
     Und das Wild spielte mit!  Schnell war des Prinzen Vorliebe bekannt.  Und da sein frisches Gesicht nicht durch Sorgen um das tägliche Brot durchfurcht war, so etwas auch nicht für die Zukunft zu erwarten war, ja, halt dich fest!  Da gingen die Frauenzimmer doch tatsächlich zu den Hexen und Zauberern und ließen sich die Augen blau und die Haare schwarz färben.
     Jedoch – Robespierre entdeckte diesen Betrug schnell.  Impulsiv, wie er war, stieß er wüste Beschimpfungen aus, es kam zu Händeln, Verwundungen, ja, angeblich hielt sogar der Tod Ernte.  Nicht bei Robespierre, aber der mußte fliehen;  und sein Vater hielt ihn weder zurück noch verborgen.
     Wo landet ein wilder Jäger, der sein Jagdrecht nicht mitnehmen kann?  Bei andern Wilden, die jagen, worauf sie kein Recht haben!  So wurde aus Robespierre bald der Räuberpitter, ein weit berüchtigter Hauptmann einer Bande loser Leute.  Allein – die Gendarmerie deckt zwar nicht jedes Verbrechen auf, entlarvt aber in der Regel jeden Verbrecher.  Wieso?  Weil dieser nicht aufhören kann und irgendwann einen entscheidenden Fehler macht.  So auch hier!  Der Hauptmann und etliche aus seiner Bande wurden verraten und gefaßt, und der Richter stellte sie vor die Wahl: ehrloser Tod durch den Strang oder Ehre als Soldat.
     Den Tod könnten sie immer noch wählen, sprachen die Räuber und ließen sich als Soldaten einkleiden.  Sie bekamen sogar Handgeld, doch nur, um sie in Schulden zu halten.  Und den Sold, das wurde gleich beim 1. Kriegseinsatz sichtbar, den sollten sie sich nicht beim eigenen Zahlmeister abholen, sondern aus der Beute beim Feind.
     Wer dem Kriegshandwerker Ehre verspricht, dem bleibe das verwüstete Schlachtfeld vor Augen, dem bleibe das Geschrei der Sterbenden in den Ohren, dem bleibe der Gestank der Verwesung in der Nase!  Viel mehr will ich zu den Kriegseinsätzen des Königssohnes nicht sagen;  nur noch erzählen, wie sie endeten.
     Einmal kam er von ungefähr hinzu, wie einer seiner sogenannten Kameraden gerade die Pistole auf einen kleinen Jungen richtete, der irgend etwas hinter dem Rücken schützend in Händen hielt.  Der Soldat dachte wohl, es wäre Schmuck oder Gold, da es dem Jungen so viel zu bedeuten schien.  Habgierig forderte der Soldat die Herausgabe, aber der Junge weigerte sich beharrlich: Lieber wolle er sterben, als sein Liebstes und Letztes zu opfern.  Da wurde es dem Soldaten zu bunt, der Hahn knackte und –  Beherzt schlug Robespierre gegen den Lauf der Pistole, und der Schuß ging daneben.
     Als wäre er aus einem bösen Traum erwacht, gewahrte der Königssohn mit einem Mal, wo er gelandet war und daß seines Bleibens hier nicht länger sein konnte.  Er ging zu dem Jungen, mahnte ihn, mitzukommen, aber nichts zu besorgen;  er, Robespierre, meine es gut mit ihm.  Da faßte der Junge Vertrauen, reichte dem Prinzen die linke Hand und ging mit, in der rechten Hand aber seinen Schatz: einen kleinen braunen Stoffbären.
     Der Prinz aber war das Jagen derart leid, daß er alle seine Schußwaffen von sich warf.  Allein – wovon leben?  Wasser gab es an den Quellen: kostenlos und frisch.  Getreidekörner, Beeren und Obst am Wegesrand, doch nicht übers ganze Jahr.  Also sammeln, aufbewahren und – tauschen.  Tausche Lumpen, die ich gesammelt habe, gegen Brot, Butter und Obdach!  Ja, wenn Robespierre nur hätte für sich allein sorgen müssen!  Aber könntest du es ruhig mit ansehen, wenn dich ein kleiner Junge hungrig um eine Scheibe Brot bittet?
     Allerdings – die Zeit bringt Erfahrung.  Und was die Menschen alles wegwerfen!  Nicht nur Lumpen für die Papiermühle, sondern Möbel, Geschirr, Bücher, Blumen, Gemüseabfälle und –  Nun, eine empfindliche Nase darfst du dabei nicht haben.  Jedenfalls konnte der Prinz schon bald einen Garten pachten und Kompost ansetzen.  Und von den Büchern verkaufte er nicht alle sofort weiter, sondern nutzte sie, um den Jungen zu unterrichten.  Der bald auf seine Weise zu sammeln begann: Er entwickelte sich zu einem begabten Zeichner.
     Da wurde der Junge plötzlich sehr krank, so daß der Prinz das Schlimmste befürchten mußte.  Aber wie von ungefähr war da plötzlich eine schlichte Frau.  Eine Kräutersammlerin.  Die wußte zu helfen.  Und als der Junge einmal kurz aus seinem Genesungsschlaf erwachte, da flüsterte er glücklich einen Namen.  Welchen?  Geh einmal in dein eigenes Paradiesgärtlein, dort magst du ihn finden und wohl auch, wie das Mährchen weitergeht.
© Stiftung Stückwerken, *2.8.2019, freigegeben am 23.3.2024
Qouz-Note: 2

 


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MamM 1.031  Nachtmeister Stropp und der Fall Bruhno

„Mußt du schon wieder los?“ maulte Frau Struppe.
     „Dienst ist Dienst!“ rechtfertigte sich unser Stropp amtsbeflissen.
     „Manchmal glaube ich“, sah’s die Eheliebste etwas anders, „du bist nicht mit mir verheiratet, sondern mit –“
     „Wie kannst du so etwas denken, meine Liebe?“ beeilte sich unser Held.  „Ich hab’ doch keinen Harem!
     „Eben!“ nahm’s die Igelin nicht als Einwand.  „Du bist nur mit deiner Arbeit –“
     „Nein, nein, nein!“ widersprach unser Igel energisch.  „Ich liebe nur dich!  Und –“
     „Siehst du!“ nahm’s Frau Struppe gleich als Wasser auf ihre Mühle.  „Huhuhu!  Er liebt eine –“
     „– unsere Kinder“, war unser Nachtmeister noch in Fahrt,  „und unsere Enkelkinder.  Erst der Höchste, dann der Nächste, dann die Arbeit, dann erst –“
     „Schön wär’s!“ zweifelte die Eheliebste schniefend.  „Fast 10 Stunden wirst du nun wieder fort sein –“
     „– und über 14 Stunden mit dir zusammen“, ergänzte unser Stropp geschickt.
     „Von denen du aber weit mehr als die Hälfte verschläfst“, übertrumpfte die weibliche Argumentationskunst.
     „Dann komm doch einfach –“, wollte unser Held vorschlagen.
     „Herr Nachtmeister!  Herr Nachtmeister!“ wurde er jedoch durch eine aufgeregte Stimme von oben unterbrochen.  „Ein Mord!  Ein Mord!  Dort draußen!  An der Chaussee!
     „Von Menschen überfahren?“ unterstellte unser Igel ein wenig voreilig.  „So was gilt bei denen nicht als Mord, sondern als Tribut.  Als Tribut, den wir Tiere leisten müssen, damit die Menschen auf der Chaussee in ihren –“
     „Aber die Leiche liegt gar nicht auf der Chaussee, sondern auf dem Gehweg“, stellte die Stimme richtig.  „Vielleicht war’s ja dieser Schlender–, wie heißt er noch mal?
     „Ausgeschlossen, Herr Tirilie!“ war sich unser Nachtmeister sicher, „der Schlendertünnes achtet ja sogar darauf, keine Ameisen zu zertreten.
     „Aber eine Feldmaus ist keine Ameise“, beharrte das Rotkehlchen auf seinem Argwohn.  „Und viele Menschen lassen sich bekanntlich jeden Morgen von ihrer Katze eine frische Maus bringen.
     „Aber nicht der Schlendertünnes!“ nahm unser Stropp seinen Freund in Schutz.  „Der hat gar keine Katze.
     „Deswegen muß er sie eben selber zertreten“, ließ sich Herr Tirilie nicht abbringen.  „Ich mein’ die Maus.“
     „Gut, ich komme“, lenkte unser Held ein.
     „Siehste, schon wieder ist dir etwas wichtiger als ich“, maulte die Igelin, ohne es sich bewußt zu machen, daß sie so stärker vertrieb, als festhielt.
     „Hier liegt –“, wollte das Rotkehlchen etwas später den Fundort zeigen, mußte sich aber sogleich verbessern, „hier – lag die Leiche.  Ich hab’ sie mit eigenen Augen gesehen!  –  Merkwürdig!
     „Sucht ihr was?“ fragte unvermittelt eine krächzende Stimme.
     „Ja“, antwortete Herr Tirilie.  „Eine Leiche.
     „Dann müßt ihr zum Friedhof fliegen“, erteilte die krächzende Stimme bereitwillig Rat.  „Immer gegen Mitternacht halten, dann könnt ihr’s nicht verfehlen.
     „Aber es war hier“, ging das Rotkehlchen des Rates müßig, „wo eben noch die Leiche lag.  Hast du keine –?
     „Du?“ schien’s die krächzende Stimme übelzunehmen.  „Für dich immer noch: Euer Gnaden!  Also, – eh, ja, wenn ich recht überlege, ja, es war ein brauner Bär;  der hat den Mord begangen.
     „Woher wißt Ihr, daß es Mord war?“ hakte unser Igel sogleich mißtrauisch ein.
     „Köpfchen, Köpfchen, Stropp!“ meinte es die edle krächzende Stimme als Eigenlob.  „Du suchst eine Leiche, und du bist von der Polizei.  Also?
     „Außerdem gibt es hier gar keine Bären“, war der Verdacht unseres scharfsinnigen Freundes noch nicht ausgeräumt.
     „Oh, doch!“ lag in der krächzenden Stimme Sicherheit.  „Gegenwärtigt wohnt er beim Galgen von Feldgosse.  Und es wird Zeit, daß er dort bald baumelt!
     „Irgendwie glaub’ ich das alles nicht“, blieb Frau Struppe skeptisch, zu der unser Nachtmeister sogleich zurückgekehrt war.
     Warum?  –  Darauf gibt’s bekanntlich keine hinreichenden Antworten.  Aber auf wozu!  Erstlich um die Meinung einer erfahrenen Dame einzuholen.  Und zweitens, um sie einzuladen, Stropp auf einer Dienstreise zu begleiten.  Das nahm die Eheliebste auf der Stelle an, und so mußte mal wieder Wastel als Reittier dienen;  denn eine Stecke von über 20 Igelmeilen ist kein Pappenstiel und nur einem Waschbären zuzumuten.
     Da die Sonne inzwischen untergegangen war, flog das Rotkehlchen nicht mit, und so mußten Ehepaar und Hausfreund in Feldgosse eben alleine auf die Suche gehen.  Endlich war der Galgen erreicht, doch weit und breit war nichts von einem Bären zu sehen, zu hören oder zu riechen.
     „Dacht’ ich mir’s doch!“ hielt Frau Struppe mit ihrem Vorhergewußt nicht hinterm Berg.  „Die Krähe hat dich gewiß veräppelt!
     „Das will ich nicht bestreiten“, ließ unser Stropp langjährige Eheerfahrung einfließen, „allein – wie käme sie aber darauf, uns einen Bären aufzubinden?  Irgendeinen Anlaß muß es da doch –“
     „Ich hab’ ihn!“ triumphierte der Waschbär.
     Schnell eilten Igelin und Igel herbei, und unser Nachtmeister donnerte bereits: „Im Namen des Gesetzes, Ihr seid –“, als er sich anders besann und ihm entfuhr: „Wie siehst du denn aus?
     „Jämmerlich!“ kam’s kläglich von einem jungen Apfelbäumchen herunter.  „Mein Ziehvater hat mich aus seinem Kinderwägelchen geworfen;  denn die zickige Puppe hat ihm einen Floh ins Ohr gesetzt.
     „Einen Floh?“ wunderte sich Frau Nachtmeister.
     „Ja“, bestätigte der kleine Bär.  „Diese Gewitterhexe hat ihm nämlich gesagt, es zieme sich nicht für einen jungen Mann, noch mit Stoffbären zu spielen.  Er sei doch kein Mädchen.  Und schon lag ich am Wegesrand, und die gehässige Puppe hat mir eine Nase gedreht.  Na, und dann ging das Elend erst an!  Immer wieder mußte ich gegen einen großen schwarzen Vogel kämpfen.  Der wollte mich wohl in sein Nest entführen.  Ich aber hab’ ihn endlich in die Flucht geschlagen.  Doch hat er mir gedroht, er werde mich noch an den Galgen bringen!  Ach, ich armer Bruhno!
     „Aha!“ kombinierte unser Held messerscharf.  „Deshalb die Mäuseleiche und deren Verschwinden!  Damit ich nicht die Todesursache –“
     „Ach, du Ärmster!“ zog nun jedoch die Eheliebste alle Aufmerksamkeit auf sich.  „Weißt du was?  Am besten kommst du jetzt mit zu uns und wohnst da einige Zeit.  Dann werden wir weitersehen.
     Was und wie?  –  Vielleicht gibt’s bald einen neuen Fall, – wenn ihr artig seid.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 23.1.2024
Qouz-Note 4+



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MamM 1.032  Erst die Familie?

„Ich seh’ ihn ja kaum noch“, erleichterte sich Donna Gluck, „allenfalls zum Frühstück;  und beim Abendessen ist’s meist wie am 1. Passahfest.
     „Ja, ja, um die Lenden gegürtet“, zitierte der Alte von der Halbinsel frei, „Schuhe an den Füßen und den Stab in der Hand, als wolle er hinwegeilen.
     „Das sind doch keine Zustände!“ meinte die Besucherin mehr, als sie sagte.  „So habe ich mir meine Ehe nicht vorgestellt.
     „Tscha“, konnte sich der alte Junggeselle eines Schmunzelns nicht erwehren, „wo du hingehst, da will ich auch hingehen, ist kein eindeutiger Trautext, denn wer ist ich, und wer ist du?
     „Aber das ist doch selbstverständlich“, hatte Donna Gluck dazu gesicherte Erkenntnisse, „daß ich zuerst für meine Familie da bin!  Erst danach kommt der Beruf.  Und wenn dann noch Zeit ist, kann einer meinetwegen ein Ehrenamt übernehmen.
     „Wenn das so einfach wäre!“ blieb der Alte skeptisch.  „Wie viele werden in ihrem Beruf erpreßt?  Entweder Mehrarbeit oder Arbeitslosigkeit.  Dann die Ansprüche der Familienmitglieder!  Oft sehr naiv: Die Eltern sollen Geld herbeischaffen, aber trotzdem genügend freie Zeit in der Familie verbringen.  Für manchen eine Zwickmühle und Hölle.
     „Aber dann darf ich mir nicht auch noch ein Ehrenamt anlachen“, setzte die Besucherin ihre Verbotslinie.
     „Ist es wirklich immer ein Anlachen?“ verneinte der Alte.  „Und eine Ehre?  Wie oft ist’s eine Eselei: Einer muß ja die Lasten tragen“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein König, der hieß Wilfried.  Und diesem Wilfried lag seine Frau auch ständig in den Ohren: Er kümmere sich viel zu sehr um seine Amtsgeschäfte und viel zu wenig um seine Familie.  Sie, Mirjam, müsse denken, er sei nicht mit ihr verheiratet, sondern mit seiner Krone.
     Da fühlte sich der König mehr und mehr wie ein Feldherr, dem der Feind ins Hinterland eingefallen war.  Woher noch Nachschub bekommen?  Wohin sich zurückziehen, wenn es Winter wird?
     Schließlich war er derart niedergeschlagen, daß er zu seiner Fee ging, um diese um Rat zu fragen.
     Die Fee hörte sich ruhig an, was Wilfried auf dem Herzen hatte, und gab dann eine sonderbare Antwort: „Wenn einem seine Schuhe nicht mehr passen, muß er sie eben gegen andere eintauschen.  Leb wohl!
     Tscha, eigentlich war der König nun genauso schlau wie vorher, allenfalls auf höherem Niveau.  Allein – Wörter sind wie Steine, Worte dagegen wie Samenkörner, und nur aus letzteren wächst neues Leben.  Und so ließ Wilfried über die Worte der Fee Sonnenschein, Wind und Regen gehen, tat auch etwas von seinem Kompost dazu, und siehe da: Endlich grünte etwas.
     Nun ja, eigentlich hätte sich der König vorher mit seiner Eheliebsten absprechen müssen;  aber anscheinend war er das Regieren zu sehr gewohnt.  Oder – doch da fragst du besser erfahrene Eheleute.  Jedenfalls gab er Hof und Volk bekannt, daß er sich ab dem nächsten Monatsersten von Thron und Amtsgeschäften zurückziehen und sich ganz der königlichen Familie widmen werde.  An seiner Statt werde künftig Königin Mirjam regieren.  Was sagste nu’!
     Die Königin sagte erst einmal gar nichts;  aber du kennst ja die Leute.  Kein König kann es allen immer recht machen;  und so versprach sich das Volk von der neuen Herrscherin viel, nämlich jeder für sich Verbesserungen.  Deshalb ward der neuen Regentin eifrig zugejubelt – gleich einer Meereswelle, die dich in die Höhe trägt.  Wie hätte Mirjam da nein sagen können?
     Tscha, so nahmen also ab jenem Monatsersten die Tage für 2 Menschen einen anderen Verlauf.  Du meinst, ein Königshaus habe mit seinem privaten Haushalt nicht viel Arbeit, sondern für alles seine Leute?  Wenn du dich da mal nicht gehörig täuschst!
     Waschen und ankleiden, das machst du wohl auch als König lieber selber.  Oder willst du dir von deinem Kammerdiener ständig vorhalten lassen, deine Jacke sei zu schäbig und deine Hose sei längst abgetragen?  Was ein richtiger Hausvater ist, der zieht am liebsten jeden Tag das gleiche an.
     Oder nimm die Wäsche.  Oberbekleidung kannst du weggeben, zumindest wenn du aus dem Alter des Kleckerns heraus und noch nicht wieder hineingekommen bist.  Aber Unterwäsche?  Bettwäsche?  Schlafanzüge?  Nee, auch so schon leidet an Gerede selbst ein König keinen Mangel.
     Na ja, und so geht es weiter: bei Essen machen, aufräumen, Kinder erziehen.  Willst du Einfluß nehmen, mußt du dich schon selbst drum kümmern.
     Und die neue Regentin?  Die mußte sich erst einmal umsehen, sich umhören und – viel reisen.  Hier mußte etwas eingeweiht werden, dort mußte ein Jubiläum gewürdigt werden, und alles galt als so wichtig, daß die Königin höchstpersönlich die Festrede halten mußte.  Gut, so eine Rede kannst du dir schreiben lassen, aber einstudieren und halten mußt du sie schon selber.
     Dann das Militär.  Das kannst du nicht vom Schreibtisch aus leiten, das kannst du auch nicht vorladen, sondern du mußt zu ihm reiten, absteigen und für jeden einzelnen Soldaten eine gute Figur machen.  Erst dann gehen sie für dich durchs Feuer.
     Die meiste Zeit aber kostet dich die Bittstellerei – im weitesten Sinne.  Denn oft ergeht es dir so, wie’s schon der Philosoph gesagt hat: Egal, ob du’s tust oder nicht tust, du wirst es bereuen.  Und schon verfolgt dich so etwas bis zum Abendessen, bis in die Nacht, und am Morgen bist du nicht klüger, aber müde.  Damit aber die Reue nie zu groß würde, schaffte Königin Mirjam die Todesstrafe –
     „Aber das ist doch alles Jacke wie Hose!“ konnte sich Donna Gluck nicht länger zurückhalten.  „Wenn ich mit meinem Mann tauschen täte, ja, dann wären wir bald verhungert und verschlampt, so ungeschickt ist der!
     „Danke“, griff’s der Alte auf.  „Der Tausch der Geschäfte war auch nicht für die Ewigkeit gedacht.  Auch Mirjam und Wilfried hatten unterschiedliche Begabungen.  Und nach diesen Begabungen teilten sie endlich ihre Aufgaben auf: Mirjam übernahm das, was sie gut und gerne machte, Wilfried entsprechend, und manches machten sie fortan auch gemeinsam in Gottes großer Familie.  Tscha, vielleicht ist es gerade dieser Acker, den wir zu leichtfertig bestellen“, und er geleitete die Besucherin hinaus.
© Stiftung Stückwerken, *16.8.2019, freigegeben am 23.3.2024
Qouz-Note: 2

 


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MamM 1.033  Nachtmeister Stropp und der Fall Faucheline

Es gibt Ereignisse, die trennen mit einem Schlag das Morgen vom Gestern.  Und solch ein Ereignis war für unsere Freunde auf der großen Halbinsel der Lene sicherlich der Einzug von Bruhno.  Denn einen Stoffbären zählten sie – soweit ich mich recht erinnere – bisher noch nicht zu ihren Gefährten.  Da gab’s die Eheliebste unseres Nachtmeisters, Frau Struppe, ihren Gatten, unsern Stropp, da gab’s die Schildkröte Frau Emma von Nowotny, den Waschbären Wastel, einen Friedensrichter, der aber hin und wieder durch einen neuen ersetzt oder vertreten wurde und dessen Name mit Rein begann, – aber ich will nicht zu weit abschweifen.  Es gab Rehe, Wildschweine, Rotkehlchen, Mäuse, aber alle aus Fleisch und Blut und für irgend jemanden genießbar.  Tscha, und jetzt dieser Bruhno!
     Obwohl – wie wir wissen –  auch er Feinde hatte.  Und wie er aussah!  Kaum war er bei Frau Struppe eingezogen, wurde ihm erst einmal ein warmes Bad verordnet.  Und während er also fröhlich im Wasser planschte, wurde nach Dr. Reigel geschickt.  Der untersuchte den kleinen Bären gründlich und fand mancherlei Blessuren.  Von den Kämpfen mit der Krähe?  Von der Behandlung durch seinen – Bruhnos – Ziehvater?  Oder durch diese zickige Puppe?  Ach, Bruhno wollte mit der Vergangenheit abschließen und bat, von Strafverfolgung und Rache abzusehen.  Er wolle ein neues Leben beginnen.
     Freilich – die Narben erinnerten noch an das alte Leben.  Und die Augenklappe!  Die hatte Dr. Reigel dem kleinen Bären vorsorglich verordnet und gab diesem ein verwegenes Aussehen.  Ansonsten ließen die neuen Freundinnen und Freunde Bruhno mährsächlich neu aufleben.
     Allein – glaub jetzt bloß nicht, Frau Struppe hätte ihren neuen Schutzbefohlenen verzärtelt und verdorben.  Bereits in den 1. Tagen brachte sie zur Sprache, welchen Beruf sich der kleine Bär vorstellen könne.  Also – für sich selbst.  Und da ihm unser
Stropp doch sehr imponierte, äußerte Bruhno den Wunsch, das Nachtmeistern zu erlernen, um –  Tscha, da lag die Rübe im Pfeffer, denn der kleine Bär hatte ja bisher unter Menschen gelebt.  Und da war’s die Regel gewesen, tagsüber munter zu sein und des Nachts zu schlafen.  Außerdem wollte er unsern Stropp keineswegs eines Nachts aus dem Amte drängen.  Ob er, Bruhno, nicht nach abgeschlossener Lehre als Tag-, eh, Taggeselle arbeiten könne?
     „Kommt Zeit, kommt Rat“, kommentierte unser Igel dieses Ansinnen.  „Auf jeden Fall wirst du das, was du bei uns lernst, in deinem Leben gebrauchen können.
     Und das Igelpaar freute sich über diesen Berufswunsch derart, daß es gar so etwas wie einen Sattel baute, damit der kleine Bär auf unserm Stropp reiten konnte, ohne sich an den Stacheln zu verletzen.  Ja, Bruhno dachte sogar noch weiter: Ein guter Nachtmeister müsse nicht nur ein guter Reiter sein, sondern auch wehrhaft.  Und da es ja immer Menschen gibt, die ihren Abfall in den Wald werfen, fanden sich für den Lehrling auch bald eine Lanze, ein Schwert und ein {?} Schild.
     So war der kleine Bär zwar trefflich ausgerüstet, aber der Anfang war dennoch sehr schwer.  Denn – du hast es dir bestimmt schon gedacht – Bruhno nickte anfangs des Nachts sehr schnell ein.  Was halfen da die guten Ratschläge und Exempel eines so scharfsinnigen und erfahrenen Lehrherrn, wenn sie durch laute Schnarchtöne daran gehindert wurden, beherzigt zu werden!  Ach ja, da mußte sich das Igelpaar schon manches einfallen lassen.  Zum Beispiel den kleinen Bären tagsüber in den Schlaf zu wiegen und nachts hin und wieder aus dem Sattel zu werfen.  Aber bevor der Herbst seine Farben aus der Malwerkstatt geholt hatte, war die Umstellung sozusagen gelungen.
     Eines Morgens waren Lehrherr und Lehrling bereits auf dem Heimweg, als unser Igel plötzlich innehielt.
     „Wie riecht das hier?  Wie riecht das hier?“ schnupperte er aufmerksam, ehe er sein Gesicht verzog.  „Igitt!  Wenn ich mal muß, dann geh’ ich bei uns aufs Klo oder auf die Waldtoilette, aber ich mach’ mein Geschäft doch nicht mitten auf dem Weg!  Sitten sind das!
     „Müssen wir das eigentlich jetzt auch aufklären?“ fragte Bruhno.  „Ist es überhaupt ein Verbrechen?
     „Selbstverständlich ist das ein Verbrechen!“ schimpfte unser Stropp.  „Ein Verbrechen gegen die Tierlichkeit, den guten Geruch und gegen die Schönheit!  Frag dich nur mal: Was wäre, wenn es jeder täte?
     „Aha“, folgerte der kleine Bär beflissen, „was jeder tun darf, ist kein Verbrechen;  was aber nicht jeder tun darf, das ist also ein Verbrechen und muß von uns Ordnungshütern verfolgt werden.  Aber – ist dann auch das Nachtmeistern ein Verbrechen?  Denn das darf auch nicht jeder ausüben;  und du hast mir gesagt, eigentlich müßtest du für meine Ausbildung sogar die Erlaubnis des Friedensrichters einholen.
     „Das wäre ja noch schöner“, meinte unser Nachtmeister das Gegenteil, „wenn wir Verbrecher wären!  Nein, allgemein ist’s schon richtig: Handle immer so, daß es ein allgemeines Gesetz für alle sein kann.  Aber diese Richtlinie stammt von den Menschen und ist deshalb nur Stückwerk.  Es gibt eben auch Aufgaben, die kann nicht jeder bewältigen;  und dennoch ist’s gut für alle, wenn einige diese Aufgaben übernehmen.  Aber auf den Weg zu – Halt!  Ich höre Stimmen.  Von wo weht der Wind?  –  Also, hierhin, hinter diesen Laubhaufen!
     „Auguste Wilhelmine Viktoria, bei Fuß!
     „O weh!“ flüsterte es hinter dem Laubhaufen.  „Gleich 3 Köter!
     „Ich komm’ gleich wieder“, flüsterte eine andere Stimme etwas brummiger.
     Indessen erschien jedoch nur ein Angehöriger jener weitverbreiteten Raubtierfamilie, trottete zu der Quelle jenes Duftes, den unser Held beanstandet hatte, und schickte sich an, diese Quelle deutlich zu vermehren.  Da nun auch Frauchen herbeigekommen war, reichte ein Blick des Einverständnisses, um das Geschäft zu beginnen.  Allein –
     „Hau!  Hau!“ begann das kleine Raubtier zu fauchen, denn ein grünes Geschoß hatte ihn an seinem Allerwertesten getroffen.
     „Hau!  Hau!“ – die Antwort auf einen weiteren Treffer.
     „Wer wirft denn hier mit grünen Augustäpfeln?“ entsetzte sich Frauchen.
     „Ich“, lautete die Antwort, und unsere beiden Freunde brachen aus der Deckung.
     „Ich glaub’, ich spinne!“ verstand Frauchen die Welt nicht mehr.  „Ein Bär auf einem –“, und schon hatte sie sich niedergesetzt und sank in Ohnmacht.
     „Faucheline von Koten“, bewies Bruhno, wieviel er schon gelernt hatte, „wir verdonnern dich dazu, auf der Stelle den ganzen Weg von deinem Unrat zu säubern sowie zu 10 Nachtstunden gemeinnütziger Arbeit!
     „Faucheline von Koten – was für ein Name!“ wunderte sich wenig später Frau Struppe beim gemeinsamen Spätstück.
     „Och“, tag Bruhno unschuldig, „das eine nach ihrem Gebell, das andere nach ihrem Verbrechen.
     „Und welche gemeinnützige Arbeit habt ihr für sie vorgesehen?“ fragte die Igelin weiter.
     „Na“, brauchte unser Stropp nicht lange zu überlegen, „zum Beispiel die Mäuse vor Feinden zu warnen.   Die, also die Mäuse, können’s gewiß gebrauchen.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 24.1.2024
Qouz-Note 4+

 


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MamM 1.034  Nachtmeister Stropp und der Fall Eier-Johann

„Möchte noch jemand etwas von dem Salat?“, zeigte sich Frau Struppe mitteilsam.
     „Könnt ihr euch denn kein Frühstücksei leisten?“ fragte eine Stimme von einem Ast herab, mehr mit Arroganz gewürzt denn mit Mitleid.
     „Guten Morgen, Herr Johann“, ließ sich unser Stropp seine Höflichkeit nicht verstimmen.  „Erstlich –“
     Ach, wie ich so etwas liebe!  Die Gelehrten nennen diese Wortwahl veraltet und – merken nicht, wieviel Bewährtes, Heimatliches und Trautes da mitschwingt und mitklingt.
     Also: „Erstlich sitzen wir hier beim Spätstück;  und zweitens halten wir uns nicht für so wichtig, auf Kosten anderer der Feinschmeckerei zu frönen.  Erst recht nicht, wenn dafür andere ihr Leben lassen –“
     „Papperlapapp!“ tat’s der junge Eichkater ab.  „Das ist gelebter Naturschutz, wenn wir Eier sammeln!  Stellt euch mal vor, aus jedem gelegten Ei täte ein Vogel schlüpfen!  Und jeder dieser Vögel wächst und frißt und wächst und frißt und – sorgt für weiteren Nachwuchs.  Das wäre in wenigen Jahren – das wäre der Weltuntergang!
     „So reden die Jäger auch“, beteiligte sich nun auch Bruhno an diesem Streitgespräch.  „Ich möchte jedenfalls kein –“
     „Und sie haben recht!“ fuhr Johann dazwischen.  „Vor allem, wenn sie Eulen, Habichte und Marder jagen!  Dieses Gesindel nähme sonst überhand!   Und meinetwegen könnten sie auch Menschen jagen;  insbesondere diese verdammten Kutscher!
     „Ist Jäger und Kutscher nicht dasselbe?“ entfuhr es Frau Struppe, anscheinend gespeist aus langjähriger Lebenserfahrung.
     „Na und?“ focht es den Eichkater nicht an.  „Hauptsache, sie erschießen auch viele Kutscher!
     „Das ist mir zu hoch“, scheute sich unser Nachtmeister nicht, Grenzen zuzugeben.  „Wenn Euch unsere bescheidene pflanzliche Kost nicht als zu gering erscheint, könnt Ihr Euch gerne noch zu uns setzen;  wir rücken –“
     „Ph!“ ritt der Eichkater ein hohes Roß.  „Behaltet euren Fraß für euch selbst!  Das ist mir alles zu labberig.  »Johann«, pflegte mein Vater zu sagen, »wir haben unsere Zähne vom lieben Gott bekommen, um sie auch zu gebrauchen!«  Da lob’ ich mir meinen Nußgarten und – eben auch Eier.  Primitives Pack!“  Damit huschte er von dannen.
     „War der aber ungehobelt!“ ließ es der kleine Bär nachwirken.  „Ist der immer so?
     „Rücksichtsvoll ist er wohl nicht zu nennen“, räumte unser Igel ein, „allein – der liebe Gott habe angeblich alles dazu geschaffen, daß es zu etwas gut ist.
     „Schafft der Teufel eigentlich auch?“ war die Eheliebste mehr freidenkend denn orthodox.  „Bei manchen Tieren und bei den Menschen könnte ich mir das schon –“
     „Na, na, na!“ fühlte sich unser Held als Haushaltsvorstand auch für das Seelenheil seiner Angehörigen verantwortlich.  „Menschen können auch gut –“
     „Könnten, mein lieber Mann“, stellte die Igelin richtig.  „Könnten!  Aber in Wahrheit sind sie die reinsten Massenmörder!  Stell dich nur mal unten an den Rand der Chaussee.  Ich möchte nicht wissen, wie viele Tiere auf dem Gewissen dieser Kutscher liegen!  Zählen kann das wohl keiner mehr.  Und ich brauch’ keine Prophetin zu sein: Bis zum Abend liegen dort unten wieder zig neue Leichen.  Huah, nun gute Tagruhe!  Wer übernimmt den Abwasch?
     Nun ja, in diese Familienangelegenheiten wollen wir uns jetzt nicht einmischen;  denn sonst dienten wir vielleicht noch der Benachteiligung von Männern, die nach anstrengender Nachtschicht auch noch die Hausarbeit übernehmen müssen.  Aber – mit ihrer Prophezeiung hatte die Igeldame leider recht.
     Denn kaum hatte Frau Sonne wieder den Horizont geküßt, da wurde unser Nachtmeister schon wieder an einen Tatort gerufen.  Ja, du ahnst richtig: unten an der Chaussee!
     Genauer: auf der Chaussee.  Dort lag in seinem Blute: der junge Eier-Johann von heute morgen.  Wahrlich kein schöner Anblick!  Und wer so etwas immer wieder sehen muß, kann unseren Helden verstehen, als der sich angewidert abwendete und sich für nicht zuständig erklärte.
     „Menschliche Verbrechen!“ rechtfertigte er sich.  „Das gehört vor die menschlichen Gerichte –“
     „Also vor niemanden?“  Waren das 1. Anzeichen von bitterem Zynismus?  Von wem hatte Bruhno das?  Allein – vergessen wir nicht seine traurigen Erfahrungen mit seinem Ziehvater.  Auch da hätte ihm kein menschliches Gericht Recht gesprochen.  Aber – plötzlich stutzte er: „Sonderbar!
     „Halt!  Paß auf!  Wo willst du hin?“  Damit konnte unser Held gerade noch rechtzeitig eine Unüberlegtheit verhindern, die schlimme Folgen hätte haben können.
     Aber nun sah auch er es: Bei der Leiche lagen etliche Nüsse.  Aber weder hüben der Chaussee noch drüben standen Nußbäume.  Gut, am alten Schmugglerweg gab’s einige, aber –.  Schnell eilten die beiden Freunde auf diesem Weg ein Stück hinauf und ließen einige Nüsse hinunterkullern.  Aber keiner dieser Nüsse landete in der Nähe der Leiche.  Und selbst wenn die beiden Freunde in Betracht zogen, daß der Eier-Johann bei seinem Tod durch die Luft geschleudert worden war, stand es fest: Die Nüsse bei der Leiche stammten nicht von hier!
     „Aber er wollte doch in seinen Nußgarten“, gab Bruhno zu bedenken.
     „Und dann nimmt er die Nüsse mit an die Chaussee, wo drüben gleich der Fluß fließt?“ zweifelte unser Igel sehr.  „Äußerst unwahrscheinlich!
     „Du meinst“, versuchte der kleine Bär zu deuten, „die Nüsse wurden von jemandem auf die Chaussee gelegt, um –?
     „Von jemandem, der vermutlich selber keine Angst vor rasenden Wagen zu haben braucht“, folgerte das detektivische Meistergehirn.  „Um Johann dorthin –“
     „Wer könnte so etwas Hinterhältiges tun?“ rätselte Bruhno.
     „Jemand, der seinen Köcher mit List und Tücke gefüllt hat“, gab’s unser Stropp beim nächsten Spätstück für seine Eheliebste wieder.  „Und ein Feind aus Rache oder – ein selbsternannter Lynchrichter.  Immer, wenn ein Verdächtiger vorbeikam –“
     „Oder flog“, ergänzte der kleine Bär.
     „– haben wir dann etwas auf die Chaussee geworfen.  Und siehe da, endlich kam ein großer schwarzer Vogel und fragte uns, ob wir’s von ihm abgeguckt hätten.
     „Ja, und dann –“, übernahm Bruhno eifrig, „wollte ihn Stropp verhaften.  Aber er hat uns als fiese Stiere oder so beschimpft und sogar angegriffen.  Wir schnell hinter einen Spiegel, den wir gefunden und uns zurechtgelegt hatten, und der Bösewicht hackt wütend auf das Glas ein.  Und schon hatten wir ihn in einem Netz gefangen.  Aber der Friedensrichter hat ihn leider freigelassen.
     „Da müßten wir den Übeltäter eigentlich fürchten“, folgerte die Igelin, „aber kommt Zeit, kommt Rat!
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 25.1.2024
Qouz-Note 4

 


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MamM 1.035  Der Lehenszins

„Und wir seien dazu aufgefordert“, berichtete Donna Severa vom letzten Sonntag, „Gott zu preisen und zu loben.
     „So?“ schien’s der Alte von der Halbinsel etwas anders zu sehen.  „Wer sagt das?
     „Na, der Herr Pfarrer“, antwortete die Besucherin.  „Der muß es doch wissen.
     „Wissen?“ zweifelte der Alte sehr.  „Welcher Mensch weiß schon was?
     „Na, steht’s nicht so bereits in der Bibel?“ meinte Donna Severa zu wissen.  „Spricht nicht der Prophet David im Namen Gottes: Opfere Gott Dank, so sollst du mich preisen?
     „So ähnlich steht’s in einem Psalm des Asaphs“, stellte der Alte richtig.  „Aber was wächst auf dem Acker des Sollens?  –  Allenfalls Blumen!  Schön anzusehen, aber nähren kannst du dich davon nicht.
     „Aber Blumen sind doch nützlich“, gab die Besucherin zu bedenken, „und machen Freude, –“
     „– solange du keinen Hunger hast“, schränkte der Alte rücksichtslos ein.  „Mein Gott sagt zu mir: Du darfst mit deiner Dankbarkeit zu mir kommen;  du darfst sie mit mir teilen;  und es wird dir zu einer Freude werden.
     „Und das Tedeum?“ führte Donna Severa an.  „Soll das nicht jeder Christ regelmäßig anstimmen?  Ist’s nicht unsere Pflicht?
     „Und dabei zeigen, wie gut er Bescheid weiß?“ ging der Alte weiter.  „In der Engelwelt?  Im Totenreich?  Als tönend’ Erz und klingende Schelle?  Ist Gott denn ein heidnischer Götze, dem wir schöntun müssen?“  Und er begann zu erzählen:
     Ein König aber hätte 3 Söhne.  Normalerweise hätte einst Lanz als ältester Sohn Reich, Thron und Krone erben müssen;  doch wußte der Vater von ihm, daß dieser nicht nur Stärken, sondern auch Schwächen hatte.  Und bei Franz und Hans war’s leider auch nicht anders.  Wer war aber nun der richtige Thronanwärter?
     Um das herauszufinden, sonderte der König 3 Gebiete von seinem Reiche ab und gab sie seinen 3 Söhnen zum Lehen.  Da gingen sie nun hin und übernahmen die Verwaltung ihres Besitzes.
     Lanz reiste in seine Hauptstadt und nannte sie wie auch sein Land Lanzingen.
     Und alsbald sprach er zu sich: „Mein Vater soll mir dieses Land nicht umsonst gegeben haben.  Ich will ihm regelmäßig einen Zins schicken.  Gewiß wird das ihn mir zuneigen.
     Allein – wer einem andern etwas geben will, der muß es zuvor nehmen;  entweder von sich oder von andern.  Von sich – nein, von sich wollte Lanz nichts nehmen, da wäre er ja von Mal zu Mal ärmer geworden.  Nützlicher war es da für ihn, den Zins von andern zu nehmen, nämlich von seinem Volk.
     Und er machte es sich dienstbar, daß der Bauer das Land bestellen mußte, als wäre er des Prinzen Tagelöhner.  So auch der Müller, der Bäcker und der Metzger mit ihrem Handwerk.  Und wurden dann Brot und Fleisch an den Krämer verkauft, so erhielt zuerst der König den Zehnten, dann die Hälfte der Prinz, und der Rest wurde an die Tagelöhner ausgezahlt.  Da blieb für letztere meist nicht allzuviel übrig, und dennoch ließen sie es sich gefallen.  Ja, nicht nur dennoch, sondern gerade deshalb.  Denn um nicht hungern zu müssen, mußt du eben noch mehr und noch sorgfältiger arbeiten und hast weder Zeit noch Kraft, dir aufrührerische Gedanken zu machen.  Und wenn der König dann noch strenge Aufseher hat, die sich auch untereinander beobachten, wird niemand es wagen, gegen ihn aufzubegehren.  Und wenn er dann noch vielstufige Rangordnungen einführt, werden seine Untertanen ihn nachahmen und vielleicht nach unten noch viel stärker treten.
     Auch der 2. Sohn dachte darüber nach, wie er das Herz des Vaters zu sich neigen könne.  Auch er kam zu der Erkenntnis, dem Vater regelmäßig einen Zins überbringen zu lassen;  doch ging er dazu einen anderen Weg denn sein älterer Bruder.  Franz machte sein Volk nicht dienstbar, sondern trieb den Zins als Steuern ein.  Heißa, was kann dir dazu alles einfallen!  Ein Grenzzoll.  Ein Torzoll.  Eine Salzsteuer.  Eine Grundsteuer.  Eine Geldwechselsteuer.  Und – und – und.  Und alles freiwillig – sozusagen.  Es gehörte nämlich zum guten Ton und steigerte das Ansehen, seine Steuern reichlich zu entrichten.  Und wenn du als König das geschickt machst, wirst du dein Volk durch die Steuern sogar noch antreiben.  Denn es wird versuchen, seine Abgaben durch Mehrarbeit wieder auszugleichen.  Tscha, stell dir vor, Franz konnte mährsächlich seinem Vater regelmäßig einen höheren Zins abliefern lassen denn sein älterer Bruder;  und obendrein auch noch mehr in seine eigene Schatulle abzweigen.
     Und Hans?  Der jüngste Sohn?  Der war wohl etwas einfältig;  viele hielten ihn sogar für faul.  Und das war gar nicht so abwegig.  Denn Hans wanderte in seine Hauptstadt und ließ erst einmal alles beim alten.  Gut, seiner Residenzstadt gab er den Namen Vaterstätten;  aber warum, das wußte er wohl selber nicht zu sagen.
     Einmal ging Hans über den Markt, da begegnete er wie von ungefähr einer jungen Frau.  In Lumpen war sie nicht gehüllt, aber der Prinz hielt sie dennoch für eine Bettlerin und gab ihr einige Dukaten.  Die junge Frau bedankte sich, ging davon, saß aber  –  Ja, mährsächlich: Als der Prinz das nächste Mal über den Markt ging, begegnete er ihr wieder.
     „Aber ich hab’ Ihr doch genug Geld gegeben“, sprach der Prinz sie an.  „Wieso ist Sie wieder hier?  Kann Sie nicht wirtschaften?
     „Ich hab’ deine Dukaten weitergegeben“, erklärte die junge Frau.  „So muß es doch sein:  Ein jeder gibt, was er hat.  Was tätest du denn machen, wenn ich dir etwas schenkte?
     „Für mich behalten“, antwortete der Prinz, als wär’s selbstverständlich, „oder mir etwas dafür kaufen.
     „Und die Freude?“ hakte die junge Frau nach.  „Wie kann sich denn da Freude ausbreiten, wenn du nichts –“
     „Eben!“ konnte sich Donna Severa nicht länger zurückhalten, auch wenn’s nicht das passende Wort war.  „Der Prinz hatte doch was gegeben.
     „Ja“, gab der Alte zu, „aber stillschweigend mit Auflagen.  Da kommt nicht viel Freude auf.  Aber da der Prinz eine gute Lehrmeisterin gefunden hatte, gab er bald weiter ohne feste Erwartungen.  Und immer seltener: Geld.  Dafür immer mehr Zeit, Freude, Herzlichkeit.  Und sein Land begann zu blühen und Früchte zu tragen, daß es nur so eine Art hatte.  Das war so recht nach dem Herzens des Vaters, so daß er bestimmte, –“
     Aber da merkte der Alte, daß er alleine war.
© Stiftung Stückwerken, *7.9.2019, freigegeben am 25.3.2024
Qouz-Note: 2-

 


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MamM 1.036  Nachtmeister Stropp und der Fall Dunkeldieter

 

Stropp von Dortwehr zu Dortwehr im Hessenland
ein Apfelbäumchen in einem Garten fand,
und kam die goldene Erntezeit,
die Äpfel leuchteten weit und breit,
da kamen auch Bruhno und Stropp daher,
und ihr Mund, der wässerte ihnen sehr,
als vom Turme die Morgenstunde scholl,
und sie stopften sich alle Taschen –“,

 

abrupt hielt der große Dichter inne, ehe er fragte: „Sag mal, Bruhno, hast du eine Tasche dabei?
     „Nö“, gestand der kleine Bär ein, „ich kann doch nicht an alles denken.
     „Da hast du recht“, mußte der Igel zugeben, „ich auch nicht.  Und was nun?
     „Wenn wir schon mal hier sind“, schlug der Lehrling vor, „könnte ich kurz raufklettern und einige Äpfel runterwerfen.  Und dann kommen wir morgen früh wieder hierhin, bringen eine Tasche mit oder einen Rucksack und brauchen die Äpfel nur noch aufzusammeln, einzupacken und nach Hause zu bringen.
     Und das war das Schöne an Bruhno: Er hielt sich nicht lange mit Reden auf, sondern – hast du nicht gesehen, war er auf dem Apfelbaum und warf Äpfel hinunter.
     „Nicht alle!“ mußte unser Stropp Einhalt gebieten.  „Vielleicht reifen einige Äpfel noch nach und werden noch größer.  –  So, jetzt ist’s genug!
     Und schon war Bruhno wieder hinuntergeklettert.  Erstaunlich, wie behende er war – trotz seiner schweren Verwundungen.  Er hob einen Apfel auf und steckte ihn seinem Lehrherren auf dessen Stacheln.  Einen weiteren Apfel nahm er in seine linke Tatze und wandte sich zum Gehen.
     Typisch Junggeselle! dachte unser Held und erinnerte seinen Lehrling daran, daß zu Hause noch eine Eheliebste warte, die sich gewiß auch über einen Apfel zum Nachtisch freuen täte.  Und Wastel, den Waschbären, und Emma von Nowotny, die Schildkröte, dürften sie auch nicht vergessen.
     Und dann trotteten die beiden heimwärts.  Hast du mal beobachtet, wie Menschen nach Hause gehen?  Also, unser Nachtmeister hätte daraus manche Schlüsse ziehen können.  Da siehst du einen Jungen, der gegen jeden Stein treten muß, als wäre es ein Ball.  Ja, manchen Schritt läuft er sogar zurück.  Ob er sich gar nicht darauf freut, nach Hause zu kommen?  Vielleicht muß er eine schlechte Note beichten;  oder eine Strafarbeit.  Hoffentlich erfährt Papa davon nichts!
     Und die kleine Susi bleibt alle paar Schritte stehen und guckt in die Weltgeschichte.  Und ihre Mundwinkel sind gar nicht auf Fröhlichkeit gerichtet.  Vielleicht wartet auf sie zu Hause niemand.  Oder viel Hausarbeit.
     Aber es gibt auch manche Mama und manchen Papa, die nicht gerne nach Hause kommen.  Vielleicht hätten auch sie etwas zu beichten.  Hoffentlich erfahren die Kinder davon nichts!  Oder zu Hause wartet niemand.  Oder es warten Vorwürfe und Sorgen.
     Nun ja, Frau Struppe hatte nicht immer ihre Samthandschuhe an, aber eigentlich zog unser Igel gerne nach Hause, leichten Schrittes und vergnügt.  Aber Bruhno, der trödelte heute.  Ob er irgend etwas auf dem Herzen hatte?
     Unser Stropp sprach ihn darauf an, und nach und nach rückte der kleine Bär mit der Sprache heraus: Wie groß seine Aussichten seien, doch noch ein Zuhause bei den Menschenkindern zu finden?
     Gut, von unserem Igel wissen wir, daß er höflich war;  aber ein Diplomat?  Nein, davon ist nichts bekannt;  und so war seine Reaktion auf Bruhnos Kummer nicht sehr schonend: „Aufgrund deiner Verletzungen giltst du unter Jungen nicht mehr als kriegstauglich.  Da kannst du dich so geschickt anstellen, wie du willst.  Stets werden sie an dir sehen, daß Krieg nicht harmlos ist.
     „Aber die Mädchen!“ hoffte der kleine Bär.
     „Tscha“, blieb unser Nachtmeister skeptisch, „da gibt’s so einige, die finden einen Bären mit Verwundungen interessant;  insbesondere wenn sie später einen Heilberuf ergreifen wollen.  Aber –“
     „Na also!“ sah Bruhno zuversichtlicher drein.
     „Freu dich nicht zu früh!“ warnte unser Stropp.  „Was ist, wenn sie dir den Bauch aufschneiden und an dir das Operieren lernen wollen?  Oder dich in Mull einhüllen, als wärest du eine Mumie?  Oder gar eingipsen?
     „So was tun die?“ entsetzte sich der kleine Bär.
     „Menschen ist alles zuzutrauen“, rechtfertigte unser Held seine schlimmen Befürchtungen.  „Deshalb bleib besser bei uns;  da hast du Freunde, denen du vertrauen kannst.
     „Und wenn – wenn – wenn ihr“, begann Bruhno, aber ihm fiel nichts ein, was er von seinen neuen Freunden an Bösem zu gewärtigen gehabt hätte.
     Doch ich weiche zu sehr vom Faden ab!  Die Äpfel lösten zu Hause Freude aus, 2 Rucksäcke wurden gefunden, und am folgenden Morgen näherten sich die beiden Freunde erwartungsvoll ihrem Apfelbäumchen.
     Allein – rings um den Apfelbaum lag kein einziger Apfel!
     „Träum’ ich?“ fragte der Lehrmeister und rieb sich die Augen.  „Du hattest doch gestern so viele Äpfel hinuntergeworfen.  Und was ist die Wiese hier plötzlich so hügelig?  –  Ah!  Ob da ein Zusammenhang besteht?
     „Das waren bestimmt Kinder“, sah’s der Lehrling anders.  „Die bauen einfach ihre Burgen in die Landschaft und vergessen –“
     Aber durch solche Einwände ließ sich der treffliche Scharfsinn unseres Helden nicht ablenken.  Der hatte bereits einen Plan entwickelt und bat den kleinen Bären, auf den Apfelbaum zu steigen und feste mit Äpfeln zu werfen;  vor allem auf diese wunderlichen Hügel.
     Tscha, was soll ich sagen?  Der Plan ging auf!  Ein Hügel bewegte sich, ein Loch öffnete sich, heraus stieg ein wohlbeleibtes Wesen in samtenem Pelz und stürzte sich auf den nächsten Apfel.
     „Dunkeldieter, du bist verhaftet!“ wurde unser Nachtmeister dienstlich.  „Und zwar wegen schweren Diebstahls unserer Äpfel!
     „Oho!“ widersprach der Maulwurf.  „Das sind meine Äpfel!  Sie sind auf mein Land gefallen!
     „Tscha“, berichtete unser Igel hinterher seiner Eheliebsten, „das war eine mißliche Sache!  Denn das Kataster wird vom Friedensrichter hierzulande sau–, eh, menschenmäßig geführt.  Anscheinend gilt da nach alter Sitte noch immer das Recht des Stärkeren.  Allein – ohne uns wäre der Dunkeldieter ganz schön aufgeschmissen!  Wir haben uns also geeinigt, daß wir weiterhin Äpfel hinabwerfen, wir dann mit ihm teilen und er sogar einige Äpfel für uns vorübergehend verwahrt.
     „Und wenn er betrügt?“ gab Frau Struppe zu bedenken.
     „Dann haben wir ihn!“ schmunzelte unser Held mit pfiffigem Blick.  „Und können ihn festnehmen.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 26.1.2024
Qouz-Note 4+


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MamM 1.037  Muß denn Liebe wissen?

„Habt Ihr das auch mitbekommen, was unser Herr Bischof gesagt haben soll?“  Aber Donna Schafling wartete keine Antwort ab, sondern fuhr gleich fort, als müsse sie ein heißes Eisen weiterreichen: „Eva und Adam habe es nie gegeben, auch keine sprechende Schlange –“
     „Und das Paradies auch nicht?“ fragte der Alte von der Halbinsel.
     „Darauf ist der Herr Pfarrer jetzt nicht eingegangen“, mußte die Besucherin einräumen, „aber jedenfalls sei das alles eine Erfindung eines Erzählers;  anscheinend also auch das Paradies.
     „Dann muß sich Jesus wohl versprochen haben“, folgerte der Alte, „als er am Kreuz einem Hingerichteten verheißen hat, dieser werde ihn noch am gleichen Tag ins Paradies begleiten.  Oder der Evangelist hat etwas falsch verstanden, oder es ist falsch abgeschrieben worden;  oder falsch übersetzt –“
     „Aber wem sollen wir denn jetzt glauben“, schien Donna Schafling in Nöten zu sein: „dem Herrn Bischof oder der Bibel?“
     „Sollen?“ rieb sich der Alte wieder an seinem Reizwort.  „Niemand soll etwas.  Liebe Frau, wir Menschen sind Pilger auf dieser Erde und wandern durch ein Weiß-nicht-Land –“
     „Aber Jesus soll tatsächlich gelebt haben“, fuhr die Besucherin dazwischen, „da sei sich der Herr Bischof sicher.
     „Weiß er’s?“ zweifelte der Alte sehr.  „Kann er’s beweisen?  Er kann’s noch nicht einmal beweisen, daß es Eva und Adam nicht gegeben hätte.  Also weiß er’s nicht, sondern glaubt es.  Doch was hat er davon?  Das gleiche wie Eva und Adam, als sie vom Baume der Erkenntnis gegessen hatten: Sie fühlten sich Gott ebenbürtiger, denn sie hatten sich von ihm entfernt.  Und so ist es noch heute: Je mehr sich die Menschen von Gott entfernen, desto kleiner wird er;  bis sie ihn nicht mehr sehen, und das nehmen sie dann als Beweis, daß es ihn nicht gibt und nie gegeben hat.  Tscha, das bewirkt der Genuß der Früchte vom Baume der Erkenntnis“, und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal eine Prinzessin, die – die hieß Edelweiß.  Zugegeben: ein merkwürdiger Name.  Und es klingt soviel mit: vornehm, selten, rein, Ausdauer, Geheimnis, aber auch –
     Jedenfalls war Edelweiß einem Prinzen versprochen, der sogar 1. Anwärter auf den Thron seines Vaters war.  Nun ja, wem ist es schon gleichgültig, mit wem sie oder er den Rest oder zumindest den größten Teil seines restlichen Lebens verbringen wird?  Es lag also nahe (zumal die Prinzessin dieses Mährchen noch gar nicht kannte), Erkundigungen über diesen Philemon einzuziehen.
     Tscha, und dabei erfuhr Edelweiß, daß der Prinz in seiner Kindheit einmal vom Pferd gefallen sei.  Das war keine erfreuliche Botschaft.  Womöglich hatte der Prinz dabei bleibende Schäden davongetragen.  Vielleicht war er seitdem nicht mehr ganz richtig im Kopf.  Ein bißchen wunderlich kam er ihr schon vor.  Und sie begann, sich die Zukunft auszumalen;  mit grauen Farben.
     So etwas betrübt, so daß es der Prinz ihr bei der nächsten Begegnung gleich abmerkte.  Er sprach sie darauf an, und Edelweiß erzählte ihm ihren Kummer.
     „Aber wozu mußt du das denn wissen?“ wunderte sich der Prinz.  „Ja, es heißt, ich sei als Kind mal mit meinem Schaukelpferd umgefallen.  Aber das gehört doch zu unserem Leben.  Und wie du siehst, bin ich wieder aufgestanden.
     Allein – die Prinzessin stellte weitere Nachforschungen an, und dabei ward ihr berichtet, der Prinz sei durch eine wichtige Prüfung gefallen.  Und wieder bekümmerte sie sich: Philemon ein Dummkopf?
     Als der Prinz davon erfuhr, lachte er: „Wozu mußt du das denn wissen?  Ja, ich bin durch eine Prüfung gefallen, weil mich der Lehrer nach Dingen gefragt hat, die er im Unterricht nie behandelt hatte.  Doch was belegt eine bestandene Prüfung?  Kreativität?  Oder gute Anpassung und gutes Auswendiglernen?
     Doch die Prinzessin forschte weiter, und dabei wurde ihr hinterbracht, daß Philemon einstmals einem Duell ferngeblieben war.  Philemon also ein Feigling?
     Auch von diesem Kummer erfuhr der Prinz und entgegnete: „Wozu mußt du das denn wissen?  Hat es dich glücklicher gemacht?  Ja, es stimmt, ich habe einmal eine Duellforderung nicht angenommen;  denn du magst es drehen und wenden, wie du willst: Aus einem Duell kommt nie etwas Gutes, und selbst wenn, so wäre der Preis viel zu hoch.
     Nun ja, vollständig geheilt war die Prinzessin von ihrem Erkenntnisdrang noch immer nicht, aber die Hochzeit ward dennoch in aller Pracht gefeiert, und nach einigen Jahren ward Edelweiß Königin, Philemon König.
     Damals war es noch so, daß der König auch oberster Richter in seinem Reiche war.  So etwas konnte verhängnisvoll sein, wenn ein König seine Macht mißbrauchte;  es konnte aber auch ein Segen sein, wenn’s zum Leben diente.  Philemon wollte letzteres, und deshalb stellte er sich nicht über Recht und Gesetz, sondern darunter.  Freilich – das sahen viele Menschen anders;  vor allem, wenn sie irgendwie durch ein Verbrechen als Opfer zu Schaden gekommen waren.
     Auch Edelweiß befremdete das Verhalten ihres Gatten, als sie auf dessen ausdrücklicher Einladung hin Zeugin davon wurde, wie Philemon Strafprozesse führte.  Und eines Abends sprach sie ihn darauf an.
     „Warum ich so wenig auf das Wissen verwende?“ griff’s der König auf.  „Zu wissen, wer der Täter ist?  Warum er’s getan hat?  Weil es müßig ist, vergeudete Kraft, vertane Zeit.  Ich werde es ja doch nie wissen –“
     „Aber das täte ja die ganze Rechtsprechung aus den Angeln heben!“ konnte sich Donna Schafling nicht länger zurückhalten.  „Jeder Täter muß seine verdiente Strafe erhalten!
     „Verdient?“ zweifelte der Alte sehr.  „Und immer von oben herab?  Von einem irrenden Menschen, der arrogant auf diesen sogenannten Täter hinabblickt?  Und nie alles weiß?  Und nie alles fassen kann?  Philemon nutzte alles anders.  Ein Prozeß diente ihm dazu, Menschen näher kennenzulernen.  Ihre Mängel;  dann mußte ihnen etwas gegeben werden.  Ihre Gaben;  dann mußten daraus Aufgaben werden.  Und Edelweiß begann zu ahnen: Selbst wenn du wüßtest, woher ein Mensch kommt, sagt es dir nicht hinreichend, wohin er geht.  Aber entscheidend ist doch das Wohin.  Für die, welche lieben.  Muß denn Liebe wissen?  Sie will aber kennenlernen;  und dann ist’s keine Frucht vom Baume der Erkenntnis, sondern des Lebens.
© Stiftung Stückwerken, *21.9.2019, freigegeben am 26.3.2024
Qouz-Note: 3-

 


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MamM 1.038  Nachtmeister Stropp und der Fall Markojewski

„Was ist denn das für ein Heidenlärm?“ schimpfte Frau Struppe mehr, denn sie fragte.  „Mitten am Tage!  Und das zu tagschlafender Zeit!  Stropp?  Strohopp?  Stropp!  Steh auf und schau sofort nach!
     O weh!  Mit einem solchen Ton war nicht zu spaßen.  Und schon war unser Igel auf allen Beinen, draußen und bald wieder drinnen.
     „Nichts zu machen“, urteilte er.  „Baulärm!  Menschenlärm!
     „Das wagst du mir zu sagen?“ nahn’s die Eheliebste nicht wohlwollend auf.  „Wozu hab’ ich dich wohl geheiratet?  Hä?"
     „Na, um mich lieb und gern zu haben“, mußte unser Held nicht lange überlegen.
     Doch ehe die Igelin geharnischt antworten konnte, sorgte eine 3. Stimme für neue Aufregung: „Herr Nachtmeister!  Herr Nachtmeister!  Feurio!  Mordio!  Ich bin bestohlen worden!
     Die gewohnte Ruhe bewahrend, trat der Genannte vor die Türe.  „Guten Tag, Herr Johannesius.  Was denn nun?  Braucht Ihr die Feuerwehr?  Oder einen Leichenbestatter?  Oder –“
     „Ich bin bestohlen worden!“ wiederholte der Eichkater.  „Grausamst bestohlen worden!
     „Wo?  Wann?  Was?  Von wem?“ wurde unser Stropp sogleich dienstlich und präzise.
     „Dort drüben“, arbeitete Johannesius vorbildlich mit, „unter der dicken Eiche.  Eben.  Eicheln.  Wenn ich’s wüßte, wär' ich nicht hier.
     „Na, dann gehen wir mal mehr in die Einzelheiten“, war’s unserm Igel nun doch etwas zu knapp.  „Euch sind also von jener Eiche Früchte gestohlen worden.  Gehört Euch der Baum?
     „Nein“, mußte der Eichkater zugeben, „der gehört doch uns allen.  Wer zuerst kommt, pflückt zuerst.
     „Aha“, versuchte unser Nachtmeister alles für seinen trefflichen Scharfsinn aufzubereiten.  „Ihr wart also zuerst da, habt gepflückt, und dann seid Ihr überfallen worden.  War der Täter maskiert?
     „Nein, nein, nein“, versuchte Johannesius richtigzustellen.  „Das heißt: Von einer Maske weiß ich nichts.  Gepflückt hab’ ich, ja, aber ich konnte doch nicht alles auf einmal nach Hause tragen.  Deshalb hab’ ich ein Häuflein zurückgelassen;  doch als ich wiederkam, war alles fort.
     „Wurdet Ihr beobachtet?“ hakte unser Igel nach.
     „Vielleicht.  Was weiß ich?
     „Und alles heute morgen?
     „Ja.
     „Dann waren’s jedenfalls keine Schwarzkittel“, schloß unser Held messerscharf, gab aber der Wahrheit zuliebe zu: „Zumindest ist es sehr unwahrscheinlich;  jedenfalls hier, wo tagsüber ständig Menschen gehen.
     Und wenig später teilte er seiner Eheliebsten mit, daß er am nächsten Morgen etwas später nach Hause kommen werde.
     „Ja, ja“, brummte Frau Struppe, „deine Diensttätigkeit geht dir über alles!  Als wärest du damit verheiratet.  Aber mit mir nicht!  Vielweiberei ist verboten!  Und glaub bloß nicht, daß ich mich jemals von dir scheiden lasse!
     Damit verriet sie jedoch auch, daß unser Nachtmeister am nächsten Morgen nicht das Schlimmste zu befürchten hatte.  Tscha, was wäre wohl für ihn das Schlimmste gewesen?
     Jedenfalls trafen sich am nächsten Tag in aller Frühe 3 Gestalten unter jener Eiche.  3 Gestalten?  Jaha 3;  oder glaubst du, Bruhno hätte vor Angst gekniffen?  Herr Johannesius stieg also auf den Baum, warf etliche Eicheln herunter, kletterte schließlich herab, nahm einige Eicheln mit nach Hause und ließ den Rest zurück.
     Nun versteckten sich Igel und Bär, und mährsächlich: Die Berechnung ging auf!  Schon bald donnerte es: „Im Namen des Gesetzes: Ihr seid verhaftet!
     Allein – der Übeltäter schien sich keiner Schuld bewußt zu sein.  Nein, er habe sogar lobenswert gehandelt.  Als ordentlich bestellter Gendarm habe er einen Fund sichergestellt und aufs Fundbüro bringen wollen.
     „Also in Euren Magen, Herr Markojewski, – wie bereits gestern“, deutete unser Stropp anscheinend sehr treffend.  „Das ist Mißbrauch von Amtsbefugnissen und äußerst –“
     „Aber ich hab’ die Eicheln doch gar nicht gefressen“, beteuerte der Häher.  „Und gestern auch nicht.
     „Und wo sind sie jetzt?“ ließ unser Igel nicht locker.
     „Eh, abgenommen“, klang’s eher wie eine Ausrede.  „Sie sind mir abgenommen worden.
     „Ein Gendarm läßt sich bestehlen?“ zweifelte unser Held sehr.  „Und von wem?
     „Das darf, eh, kann ich nicht sagen“, lautete die zögernde Antwort.
     „Ich geb’ Euch 24 Stunden Zeit“, urteilte unser Nachtmeister in einem dienstlichen Ton, der keine weiteren Diskussionen zuließ.  „Präsentiert Ihr mir bis dahin weder Eicheln noch Täter, muß ich es unverzüglich dem Friedensrichter melden.  Also bis dann!
     Nun ja, unser Freund war inzwischen rechtschaffen müde und wurde ja von seiner Eheliebsten erwartet;  Bruhno jedoch war bekanntlich kein geborenes Nachttier und bat, noch ein wenig aufbleiben zu dürfen.
     Tscha, und als am nächsten Abend der kleine Bär zum Igelhaus kam, um seinen Lehrmeister abzuholen, da gab’s Wichtiges zu berichten!
     Er, Bruhno, sei dem Eichelhäher heimlich gefolgt und wisse nun, wo die Eicheln geblieben seien.  Verspielt!  Denn Markojewski trete gegen jenen großen schwarzen Vogel im Eichelwerfen an, der wohl hier die ganze Gegend unsicher mache und schon ihm, Bruhno, in Feldgosse das Leben schwergemacht habe.  Der sei ein Erzbetrüger und habe auch den Häher jedes Mal reingelegt.  Denn während der Häher zur Abwurfstelle gehüpft sei, habe der schwarze Vogel heimlich eine Eichel abgelegt, und zwar so weit vom Abwurf fort, daß es Markojewski selbst mit seinem besten Wurf nie hätte erreichen können.  So habe der schwarze Vogel schließlich alle Eicheln gewonnen.  Auch heute.  Aber der Häher habe weiterspielen wollen und habe, hier stockte Bruhno, ehe er fortfuhr: die Eier des nächsten Hähergeleges gesetzt und – verspielt!
     „Dieser Rabenvater ist des Todes!“ war unser Stropp außer sich.  „Oder zumindest des strengsten Kerkers!  Ich werde heute noch zum –“
     „Wirst du nicht!“ hielt sich Frau Struppe für eine bessere Prophetin.  „Der Häher ist krank, und ihm muß geholfen werden.  Spielsucht ist heilbar –“
     „Stimmt!“ bestätigte unser Held.  „Jener Schriftsteller hat es schließlich auch geschafft.
     „Und durch was?“ fragte die Igelin rhetorisch.  „Durch Hinrichtung etwa?  Oder Kerker?  Nein, durch eheliche Liebe.  Am besten, ich nehme das mal in die Hand und sprech’ mit den beiden Eheleuten.  Und ihre Eier mag er ruhig diesem Unhold abliefern, aber nur die Schalen!
     Na, du kannst dir wohl denken, daß dieses Untier ob der Schalen dann fürchterliche Rache schwor.
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MamM 1.039  Nachtmeister Stropp und der Fall Hasel


„Bunt sind schon die Blätter.
Struppe ihist viel fe– netter,
Herbst, der stehellt sich ein.
Lustiges Gepfeife,
Bruhno, Strohopp geh’n Streife;
lahaßt uns fröhölich –“

 

Aufgrund ihrer genossenen Erziehung hielten die beiden tapferen Sänger inne, verbeugten sich und sprachen: „Guten Morgen, Herr Johannesius;  wollt Ihr das Nachtwerk erst so spät angreifen?
     „Dummes Geschwätz!“ schimpfte der Eichkater.  „Ordentliche Leute schlafen des Nachts und haben kein Nachtwerk, sondern ein Tagwerk!
     „Und ungehobelte keinen Gruß“, entfuhr es unserem Igel, bevor er hinzusetzte: „Ja, das Einfühlungsvermögen!  Da hapert’s bei mir noch etwas.  Ich bitte um Entschuldigung.
     „Wird auch langsam Zeit!“ pflegte Herr Johannesius seine üble Laune.  „So, ich hab’ zu tun!  Andere legen sich ja gerne auf die faule Haut und verschlafen den lieben langen –“
     „Ah, ich sehe“, nahm unser Nachtmeister nach seiner Gewohnheit wie von ungefähr erste Ermittlungen auf, „Ihr seid reichlich mit Nüssen bepackt.  Habt Ihr heute zu einem Gastmahl geladen?
     „Ph!“ war für das Eichhörnchen dieser Gedanke völlig abwegig.  „Bin ich etwa ein Verschwender?  Die sind alle für den Winter –“
     „Frißt der denn so was?“ gab sich unser Stropp ahnungslos.
     „Idiot!“  fühlte Herr Johannesius bedeutende Überlegenheit.  „Die sind für mich, damit ich auch im Winter was zu fressen habe.  Spare vor der Zeit, dann hast du in der Not!“
     „Ach so“, hüllte sich der Scharfsinn unseres Helden in Langsamkeit.  „Und nun tragt Ihr alles in Euren Vorratskeller –“
     „Wie wir Eichhörnchen wohnen, davon hast du wohl keinen blassen Schimmer“, folgerte der Eichkater abschätzig.
     „Mich hat noch keins zu sich nach Hause eingeladen“, rechtfertigte sich unser Igel.
     „Kein Wunder“, ritt Herr Johannesius weiter auf hohem Roß, „mit Dummköpfen geben wir uns eben nicht ab.
     „Pfff!“ machte der kleine Bär unwillkürlich auf sich aufmerksam.
     „Ist dir nicht gut?“ fragte das Eichhörnchen, doch ohne Mitgefühl.
     „Doch, doch“, stellte Bruhno richtig.  „Aber hier muß sich irgendwo jemand sehr aufgeblasen –“
     „Können wir Euch bis zu Eurem Hause tragen helfen?“ versuchte unser Nachtmeister Streit zu vermeiden.
     „Um mich heimlich zu berauben?  Was?  Wie?“ argwöhnte der Eichkater.  „Außerdem wär’ ich schön dumm, alles nach Hause zu tragen.  Soll’s etwa von meiner Tusnelda aufgefressen werden?  Selbst ist der Mann –“
     „– und geizig“, ergänzte unser Stropp, als er wenig später zu Hause seiner Eheliebsten Bericht erstattete, „und eines Tages ein sehr willkommener Erblasser.  Falls sich seinen Schätze wiederfinden lassen.
     „Und sehr unglücklich verheiratet“, zog Frau Struppe eine ihrer namhaften Schlußfolgerungen.
     „Jedenfalls verbat sich der Eichkater, ihm zu folgen“, setzte unser Held seinen Bericht fort, „und war plötzlich verschwunden.
     Am nächsten Morgen tauchte der Besagte jedoch unversehens wieder auf.  Das Igelpaar wollte sich gerade in sein Schlafgemach begeben, als sich draußen lautes Zetergeschrei erhob: „Alarm!  Feurio!  Mordio!  Zu Hilfe!
     Geschwind eilten Igelin und Igel zur Haustüre, öffneten, traten hinaus und – mußten sich erst einmal eine Schimpfkanonade anhören.
     „Ich bin bestohlen worden“, ereiferte sich Herr Johannesius, „und ihr legt euch seelenruhig zum Schlafen nieder?  Was?  Wie?  Was sind das für Sitten?  Und so etwas ist Beamter!  Eine Schlaf–“
     „Moment!“ gebot Frau Struppe energisch Einhalt.  „Mein ehrenwerter Gatte ist  N a c h t meister!  Nicht Tagmeister!  Und jetzt entschuldigt –“
     „Ich soll mich entschuldigen?  Was?  Wie?“ hatte das Eichhörnchen offensichtlich nicht aufmerksam genug zugehört.  „Das ist ja wohl der Gipfel!
     „Dann kommt mal langsam wieder herunter“, versuchte unser Stropp den Streit einzudämmen.  „Tatort?  Tatzeit?  Täter?
     „Das müßt ihr ja wohl am besten wissen“, sah Herr Johannesius auch Bruhno funkelnd an, der ob des Lärms herbeigelaufen war.  „Gewiß seid ihr mir gestern morgen heimlich gefolgt und habt dann mein Versteck ratzekahl ausgeräumt!
     „Mein lieber Gatte kam gestern nicht mit Nüssen nach Hause“, mischte sich die Igelin resolut ein.  „Und er war pünktlich!
     „Dann war’s eben heute nacht“, hatte das Eichhörnchen sein Pulver noch nicht verschossen, „oder dieser Krüppel hier –“
     „Vorsicht!“ warnte Frau Struppe.  „Bruhno ist sehr begabt und steht unter meinem besonderen Schutz!  Verstanden?
     „Vielleicht waren’s ja auch die Wildschweine“, lenkte der Eichkater ein.  „Kommt nur mit, ich zeig’ euch ihre Spuren.
     Um des lieben Friedens willen gingen zumindest unser Held und der kleine Bär mit.
     „Da!“ zeigte Herr Johannesius auf umgewühlte Wegränder.
     „Und hier hatten Sie gestern Ihre Nüsse vergraben?“ wunderte sich Bruhno.  „Direkt am Weg?
     „Vermutlich eher nicht“, war sich das Eichhörnchen nicht so recht sicher.  „Ich glaub’, es war eher in einem Garten.  Ja, mit so roten Zwergbäumen, auf die sich schlecht klettern läßt.
     „Na, dann wollen wir mal die Gärten hier in der Umgebung absuchen“, schlug unser Igel vor;  und das taten die 3 dann auch.
     „Tscha“, berichtete unser Stropp wenig später zu Hause, „das Ende vom Lied war: Diese Zwergbäume waren inzwischen verschwunden, so daß wichtige Orientierungspunkte fehlten.  Also mußten wir erst einmal danach fahnden, wo sie ursprünglich gestanden hatten.  Bruhno hat’s schließlich gefunden und – auch noch ein paar Haselnüsse.  –“
     „Und der Täter?“ wollte die Eheliebste wissen.
     „Menschen“, antwortete unser Nachtmeister.  „Sie haben vermutlich Gladiolenzwiebeln ausgegraben und sind dabei auf die Haselnüsse gestoßen.  Tscha, sie säen nicht, sie ernten nicht und werden dennoch versorgt.  Nun, für die Verbrechen der Menschen bin ich nicht zuständig.  Deshalb hab’ ich dem Eichhörnchen geraten, in den Gärten der Menschen nichts mehr zu verstecken, was diese für eßbar halten, sondern Eicheln, meinetwegen auch Fichtenzapfen –“
     „Da hätte er auch selbst draufkommen können“, urteilte Frau Struppe.  „und so einer glaubt dich hochnäsig beschimpfen zu müssen.  Nun ja, Hauptsache, ich weiß, was ich an dir habe!
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MamM 1.040  Ein Abend im Frieden Gottes

„Ich muß sagen“, war Donna Mußscheider ihr eigener Herr, „ich bin enttäuscht!  Schwer enttäuscht!  Wirklich schwer enttäuscht!  Ein Geistlicher soll ein Vorbild –“
     „Soll?“ rieb sich der Alte von der Halbinsel mal wieder an seinem Reizwort.  „Niemand soll etwas.  Wir –“
     „Und die Gebote?“ hielt die Besucherin dagegen.
     „Sind Ratschläge zur Lebenskunst“, nahm’s der Alte in sein Prokrustesbett.  „Gesetzmäßigkeiten: Bleibst du drinnen, bleibst du beschützt;  überquerst du die Grenzen, bist du draußen und verlierst Frieden, Freude und Freiheit. –“
     „Jedenfalls darf so etwas einem Geistlichen nicht passieren“, ließ sich Donna Mußscheider nicht auf ein Nebengleis lenken.  „Er muß –“
     „– ein Vorbild sein“, ergänzte der Alte, „und darf kein Mensch sein?
     „Aber nicht so!“ blieb die Besucherin unerbittlich.  „Eine Schande für das ganze Christentum!  Wie sollen wir an einen Gott glauben, werden sie sagen, wenn sein Wort noch nicht einmal an seinen eigenen Priestern eine positive Wirkung zeigt?
     „Und das ist noch nicht einmal das Schlimmste“, schien’s der Alte aufgreifen zu wollen, „wenn Glaube und Predigt und Sakrament an mir selbst so wirkungslos sind!  Ein Glück und ein Segen, daß die Bibel da offener ist denn heutige Biographien und Fehler und Fehltritte nicht unter den Teppich kehrt.  Und dann das Gleichnis von dem Weizen und dem Unkraut.  Kennst du ein Stück Erde ohne Unkraut?  Und aus was ist der Mensch geschaffen?“  Und er begann zu erzählen:
     Es wär’ einmal ein Prinz, der hieß Michail, und – der war auch aus Erde.  Ob er deshalb kein Stubenhocker war?  Dann müßten wir eigentlich alle –
     Nun, Michail war jedenfalls lieber draußen als drinnen und durchstreifte die Gärten und Wälder, die das väterliche Schloß umgaben.  Und dabei entdeckte er unbewußt bereits in jungen Jahren das Geheimnis der Namen.
     Der Name ist gleich einem Schlüssel zu einer Schatzkammer.  Nur wer ihn hat und gebraucht, kann die Schätze in Besitz nehmen.  Der Name ist auch gleich einer Brücke, die verbindet.  Und er ist eine Biothek: eine Sammlung von Leben und Erinnerungen.
     Und so war Michail sehr darauf bedacht, alles, was er sah, hörte und wahrnahm, mit Namen zu kennen.  Keine einfache Arbeit, aber reich.  Gut, wenn’s um die Buche oder Eiche geht, dann brauchst du nur deinen Lehrer an die Hand zu nehmen, ihn zu dem betreffenden Baum zu führen und ihn zu fragen.  Aber bei den Sträuchern, da weiß auch mancher Lehrer nicht mehr weiter.  Oder er ist zu bequem.  Dann mußt du eben lernen, das, was du wahrgenommen hast, zu beschreiben und zu, ja, zu kennzeichnen.  Denn du mußt das Wesentliche aufspüren.  Dann mußt du in Büchern nachschlagen und hoffen, daß die Gelehrten sorgfältig waren und das, was sie schildern, auch selbst gesehen und wahrgenommen haben.  Und manchmal mußt du eben selber einen Namen vergeben, damit dir zum Beispiel eine Pflanze als „grünes Gefiedergras“ einzig wird und du mit ihr Freundschaft schließen kannst und Austausch.
     Nun wirst du vermutlich denken: Wenn einer so aufwächst, dann muß aus ihm etwas besonders Gutes werden.  Allein – auch in Michail hatte der Feind Unkraut ausgesät.  Tscha, und wenn so etwas Wurzeln geschlagen hat, dann wächst es.  Michail wohnte nun mal in einem Schloß und war ein Königssohn.  Da mußte er auch an den Schloßbällen teilnehmen, und da er dem Tanzen anfangs nichts abgewinnen konnte, schaute er sich in den Nebensälen um und geriet dabei auch in den Spielsalon.  War das interessant!  Die Neugier war geweckt, und eine alte Tante hielt sich für so großzügig, ihm etwas Geld zu schenken.  Und so öffnete sich die Tür zu einem Labyrinth, wo das Eindringen ein Kinderspiel ist gegenüber dem Entrinnen.
     Allein – Bilder sind keine Skulpturen, und selbst wenn der Maler einen Spiegel verwendet, können wir Menschen nie alle Seiten gleichzeitig gewahren.  Also, Michail ist nicht Tag und Nacht im Spielsalon geblieben.  Denn wenn er alles verspielt hatte und niemand mehr Kredit geben wollte, dann mußte er gehen.  Aber sobald er wieder Geld hatte und Gelegenheit, war er erneut beim Spiele.
     Das machte ihn für boshafte Menschen beherrschbar.  Spielschulden seien Ehrenschulden, hielten sie Michail vor, um ihre Ansprüche abzusichern.  Seinen Eltern bereitete er große Sorgen;  und als er auch noch seinen Thronanspruch an seinen jüngeren Bruder verspielte, mußte er Schloß und Reich verlassen.
     Lange irrte er in der Fremde umher, bis sich eine Gartenkünstlerin seiner erbarmte.  Schon bald entdeckte Serenita seine Begabungen und bildete sie weiter, so daß sich nach 3 Jahren auch Michail Gartenkünstler nennen konnte.
     „Und wenn du nicht mehr weiterweißt, dann ruf 3mal meinen Namen“, sagte ihm seine Lehrmeisterin zum Abschied.
     Michail rief sie zu jeder seiner Arbeiten, damit sie aus seinem „gut“ ein „sehr gut“ machte.  Ach, was gibt es bei der Anlage eines Landschaftsgartens alles zu bedenken!  Das Gelände, die bereits vorhandenen und erhaltungswerten Bauten, die vorherrschende Windrichtung, der Boden, die Ortsgeschichte und – die eigenen Erfahrungen.  Welche Pflanzen vertragen sich miteinander?  Welche Farben zeigen sich im Jahreslauf?  Welche Farben im Tagesgang?  Welche Stimmen?  Welche Düfte?  Welches Leben schenken sie dem Verweilenden?
     Ja, Leben und Verweilen, darauf verstand sich Serenita am besten.
     „Straßen sind für die Wagen“, pflegte sie zu sagen, „und sind deshalb gerade.  Aber die Wege tragen den Wanderer und führen ihn zu den Rastbänken des Innehaltens und sind deshalb verschlungen;  verschlungen mit den Farben, Klängen und Düften.
     „Und was hat das jetzt mit jenem Geistlichen zu tun“, konnte sich Donna Mußscheider nicht länger zurückhalten, „der nicht mehr tragbar ist?
     „Jeder Garten wurde mit einem Fest eingeweiht“, schien’s der Alte überhört zu haben, „und mit einem Nebengemach, in dem ein Spieltisch stand.  Und schnell sprach es sich unter den Schloßherren herum, wie leicht sie einen neuen Gartenkünstler für ihre Dienste verpflichten konnten, nämlich Michail.  Und so war seine Spielsucht eigentlich mitverantwortlich für seine Meisterwerke.  Aber immer mehr gingen in ihm Ableger aus Serenitas Herzen auf, bis er nach vielen Jahren endlich gegen seinen Feind spielte.  Und Serenita riet ihm, seine ganze Spielsucht zu setzen, und er tat’s und – verlor.  Selig sind, die einen haben, der sie niemals aufgibt;  denn sie werden schließlich Frieden finden.
     Allein – die Besucherin war inzwischen gegangen.
© Stiftung Stückwerken, *19.10.2019, freigegeben am 27.3.2024
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