MamM – Mährchen an meine Mutter Nr 1.001 bis 1.020
Überblick MamM 1.001 bis 1.020
1.001 Was wollte ich lieber, denn es lebte schon
1.002 Fürglauben
1.003 Edith und Eduard und - Alltag
1.004 Fritz und seine Weise
1.005 Nachtmeister Stropp und der Fall Rizinuß
1.006 Wir machen unser Kreuz und Leid
1.007 Der Schmähstein
1.008 Kyndäll
1.009 Der fröhliche Friedelin
1.010 Eine königliche Ehe
1.011 Götterdämmerung
1.012 Wendeling
1.013 Die ungenannte Xenia
1.014 Nachtmeister Stropp und der Fall vom Stein
1.015 Gerneherz und Gernegroß
1.016 Die Leierkastenfrau
1.017 Nachtmeister Stropp und der Fall Schoko
1.018 Vom unbequemen Leben
1.019 Des Zornes und der Barmherzigkeit Gefäße (*9.5.2019)
1.020 Schuld & Clown (*16.5.2019)
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MamM 1.019 Des Zornes und der Barmherzigkeit
Gefäße
„Der HERR lasse es dem Aufrechten gelingen, hieß es am Sonntag“, berichtete Donna Augenschein.
„Sicher?“ zweifelte der Alte von der Halbinsel. „Nicht den Aufrichtigen?“
„Da bin ich mir ganz sicher!“ bekräftigte die Besucherin. „Ich hab’s doch mit meinen eigenen Ohren gehört! Aber – ist das nicht das gleiche?“
„Bei mir nicht“, antwortete der Alte. „Jenes bezeichnet eine äußere Haltung; dieses eine innere Einstellung. Und ich kenne manchen, der sich um eine
aufrechte Haltung bemüht hat, aber nicht aufrichtig war; und manchen Gebeugten, der dennoch aufrichtig war. Allein – Genauigkeit ist nicht unsres Pfarrers – Nein, da mach’ ich wohl
was verkehrt. –“
„Er hat sehr eindringlich gepredigt“, schien’s, als wolle Donna Augenschein die Verteidigung übernehmen, „und mit einer Haltung, der anzusehen ist, daß er Jahrzehnte
Militärgeistlicher war. Von dem könntet Ihr Euch noch eine Scheibe –“
„Danke, danke“, lehnte der Alte lachend ab, „ich bin kein Kannibale. –“
„Und dann hat er gegen die gewettert“, fuhr die Besucherin fort, „die keine Zeit haben –“
„– und sich selber übersehen“, ergänzte der Alte. „Aber mir geht’s nicht anders: Wie oft ich noch immer Fehlverhalten personalisiere! Und dann sehe ich
nur den Splitter; und bin eigentlich froh darüber, daß es diesen Splitter gibt. Denn ich wähne, viel größer zu sein als mein
Bruder. Und gewahre dabei nicht meinen Balken. Ach, dieses ständige Richten ist schon ein Jammer“, und er begann zu erzählen:
Es wär’ einmal ein junger Mann, der kannte weder seine Mutter noch seinen Vater. Kaum entwöhnt, war er vor der Pforte eines Nonnenklosters abgelegt worden.
Und das einzige, was die Nonnen über ihn in Erfahrung bringen konnten, war sein Name: Thomas. Denn der stand auf einem Zettel, woraus die Nonnen
schlossen, daß der Knabe wohl am Thomastag geboren sei. Aber Gewißheit gab’s darüber nicht, da alle Nachforschungen vergeblich blieben.
Indessen ward Thomas von den Nonnen großgezogen und schließlich in das nächste Mönchskloster abgeschoben, um dort auf eine geistliche Laufbahn vorbereitet zu
werden. Allein – Geheimnisse machen einen Menschen zwar interessant, aber für den Preis, ein Fremder zu bleiben. Wie ein tiefer Graben, den Thomas durch das Gelübde des Gehorsams
überbrücken sollte. Aber für diese Brücke fehlte ihm der Mörtel, nämlich Vertrauen. Und als nun der Tag nahte, da Thomas etwas gegen den eigenen Willen hätte geloben sollen, da
verließ der junge Mann heimlich das Kloster.
Jedoch – dort waren Kost und Logis frei gewesen. Nun mußte er sich das durch Arbeit verdienen – gleich einer Pflanze, die aus dem Treibhaus in die rauhe Natur
versetzt wird. Ein Handwerk hatte er nicht gelernt, und um eines zu erlernen, dazu fehlte ihm das nötige Lehrgeld. Als Knecht wollte ihn auch niemand haben, dazu zeige er nicht die
nötige Körperhaltung; ein Mangel, der ihm auch die militärische Laufbahn verschloß. Und für den Staatsdienst fehlten ihm die einflußreichen Vettern.
Dennoch – für einen staatlichen Auftrag war er gut genug: das Amt des Henkers. Denn dieses galt als ehrlos und war seit einiger Zeit unbesetzt. Und da deshalb
die Stockhäuser überbelegt waren, fragte unsern Thomas niemand nach dem Woher und Wohin, sondern Richter, Kerker- und Wachtmeister waren froh, endlich jemanden für jene Aufgabe gefunden zu
haben.
Tscha, der Broterwerb war damit für Thomas gesichert; aber für was für einen Preis? Wider tat sich ein
tiefer Graben auf, den der junge Mann mit seinen Gedanken zu überbrücken suchte. Aber es ward nur eine Mauer daraus. Er sollte gegen das 5. Gebot verstoßen, und das sei
rechtens? So behaupteten es die Menschen. Aber das Gebot sei doch von Gott. Also
setzten sich Menschen über Gott hinweg. Durfte ihnen da Gehorsam geleistet werden?
Und schon wurde die 1. Hinrichtung angesetzt. Unter dem Vorwand, Maß nehmen zu müssen, ließ sich Thomas am Vorabend in die Todeszelle führen. Als er diese
wieder verließ, war eines sicher: Nie und nimmer konnte Thomas diesen Menschen töten. Und er hatte auch schon einen Plan.
Am andern Morgen setzte sich eine trostlose Prozession in Richtung Galgen in Bewegung. Dort angekommen, ging jedoch alles ganz schnell. Viel zu schnell.
Der Todeskandidat hatte darauf verzichtet, sich die Augen verbinden zu lassen. Kaum lag die Schlinge um seinen Hals, wurden ihm sämtliche Ketten abgenommen. Dann ein Ruck.
Entsetzen. Der Strick war gerissen! Und ehe sich Wächter, Richter und Arzt recht besonnen hatten, waren Todeskandidat und Henker davongesprungen.
Gut, Thomas hatte nicht getötet; aber wovon sollte er jetzt leben? Gewiß würde er bezichtigt, mit dem
zum Tode Verurteilten gemeinsame Sache gemacht zu haben. Somit würden sie ihn steckbrieflich im ganzen Lande suchen. Also?
Doch noch ehe er während seines Laufens einen Ausweg gefunden hatte, hielt neben ihm eine Kutsche. Er wurde sogleich in das Innere gezogen, festgehalten und mußte sich die Augen verbinden
lassen.
Gefaßt? Ab in den Kerker? Oder gar zum
Galgen? Dafür war die Kutsche zu lange unterwegs. Erst nach Stunden durfte er aussteigen. Als ihm die Augenbinde wieder
abgenommen wurde, war es bereits Nacht. Wie hatten die Pferde so lange –
Er sei jetzt außer Landes, hieß es kurz und knapp. Der Beutel hier sei für ihn. Voller Goldstücke. Keine Fragen! Und schon fuhr die Kutsche
weiter.
Der Beutel enthielt tatsächlich keine Wackersteine, sondern glänzendes Gold. Damit konnte Thomas an der Universität des Landes die Rechtswissenschaften
studieren. Denn er glaubte, als Richter dem Unrecht der Todesstrafe ein Ende bereiten zu –
„Aber was hat das mit Aufrichtigkeit zu tun?“ konnte sich Donna Augenschein nicht länger zurückhalten.
„Eh“, schien’s. als werde es dem Alten jetzt bewußt, sich in seinem Mährchenland mal wieder verlaufen zu haben. „Weil sich Thomas um Aufrichtigkeit bemühte,
gelangte er dahin, eh, zu einem weiteren tiefen Graben: Wie kann ein Mensch über Unrecht zu Gericht sitzen, der selber nicht frei von Unrecht ist? Kann ihm dazu etwa sein Wissen das Recht geben? Und Thomas fand keinen Unterschied
zwischen Richter und Angeklagtem, der wesentlich war. Also? Also wurde Thomas kein Richter, sondern sattelte um auf die
Heilkunde. Und wenn er auch den Tod nie endgültig besiegen konnte, so konnte er doch vieles Leid lindern. Und da war er nun nicht mehr fremd, sondern zu Hause angelangt – ein
gebeugter Mann vom vielen Helfen.“ Und der Alte geleitete die Besucherin hinaus.
© Stiftung Stückwerken, freigegeben am 17.11.2023
Qouz-Note: 3
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MamM 1.020 Schuld & Clown
„Ich frage mich manches Mal“, äußerte der Alte von der Halbinsel: „Was wäre von Joseph überliefert worden, wenn er nicht
zum zweitmächtigsten Mann Ägyptens aufgestiegen wäre? Eine Notiz in den Gerichtsakten? Zügelloser Sklave? Verbrecher? Unhold?“
„Aber es steht doch so in der Bibel“, konnte Donna Anegrund nicht folgen.
„Weil Joseph die Macht hatte“, ergänzte der Alte, „sich rehabilitieren –“
„Nein“, gab sich die Besucherin strenggläubig, „weil Gott sich des Gerechten annimmt; und Recht muß doch zuletzt Recht bleiben, so steht’s in der Bibel, und so glauben
–“
„Fast“ schränkte der Alte nachsichtig ein, „und selbst wenn’s richtig zitiert wäre, wird dieses Recht für manchen Menschen erst sehr spät sichtbar. Tscha, was wird
aus diesen Menschen, denen Unrecht widerfahren ist, aber die bis über ihren Tod hinaus –“
„Dann waren’s eben keine Gerechten“, leichtfertigte Donna Anegrund, „und hatten alles wegen einer anderen Sache verdient, die nicht ans Licht gekommen ist.“
„So?“ fragte der Alte verneinend. „Gewiß sind wir alle schuldig, aber ich begehre nicht, da Richter zu sein“,
und er begann zu erzählen:
Es wär’ einmal ein junger Mann, der hieß – Gustel. Jedenfalls wurde er so genannt. Er hatte Stärken und Schwächen,
Begabungen und Vorbelastungen und trachtete danach, sein Glück zu machen; wie’s wohl alle Menschen vor Augen haben.
Allein – wir Menschen haben hier keine bleibende Statt, so wir’s recht
bedenken. Und haben wir eine Glücksoase gefunden, so heißt es bald wieder Abschied nehmen. Vielleicht können wir noch etwas Dörrobst mitnehmen, aber irgendwann ist auch das
aufgezehrt.
Eine solche Oase glaubte auch Gustel gefunden zu haben, aber da erhielt er bereits den Räumungsbefehl, ja, noch schlimmer: Er wurde verhaftet und in den Kerker
geworfen. Was war geschehen?
Eigentlich eine Frage, die das Gericht hätte interessieren müssen. Jedoch – der vorsitzende Richter war bereits alt und nickenden Wesens, vor allem nach dem
Mittagessen. Und die Verhandlung gegen Gustel fand an einem frühen Nachmittage statt. Gustel war des schweren Raubes angeklagt, da er eine Postkutsche überfallen habe.
Das habe er nicht, widersprach der junge Mann.
Doch, hielt der Richter zornig entgegen, er solle endlich gestehen.
Aber er sei doch unschuldig; wie könne er da –
Er leugne etwa, ereiferte sich der Richter, sehr unwillig darüber, derart bei seiner Verdauungsarbeit gestört zu werden. Indizien und Zeugenaussagen seien
erdrückend.
„Erkennt Er in diesem Angeklagten den Anführer der Räuber jenes Überfalls?“ herrschte der Richter den 1. Zeugen
an. „Antworte Er!“
„Wo – Wo Sie’s sagen“, gehorchte der Zeuge zitternd, „wenn ich ihn mir recht betrachte, so könnte –“
„Ja oder nein?“ donnerte der Richter ungeduldig.
„Jawohl, Herr Richter“, beeilte sich der Zeuge.
Die andern Zeugen reagierten nicht anders, auch wenn dabei durchschimmerte, alle Räuber seien bei dem Überfall maskiert gewesen und es sei alles sehr schnell
gegangen.
Und dann die Beweisstücke! Unter Gustels Papieren sei ein Wechsel gefunden worden, den die Posthalterei eindeutig identifiziert hatte: Er müsse sich an jenem Tage
in dem geraubten Postsack befunden haben. Daß dieser Wechsel jedoch erst 2 Tage nach jenem Überfall ausgestellt worden war, befremdete niemanden.
Und schließlich Gustels widersetzliches Verhalten am Tag der Festnahme. Ein Unschuldiger hätte gewiß keinen Widerstand geleistet.
So erging in dem Namen des Herrschenden folgendes Urteil: Der Angeklagte sei schuldig, und zwar des Todes. Gustel glaubte, in einem schlimmen Traum zu sein.
Er sei doch unschuldig, versuchte Gustel aufzubegehren.
Der Richter verbat ihm jedoch jegliches weitere Wort und ließ den Verurteilten unverzüglich in den Kerker zurückbringen. Und der Kerkermeister äffte nur: „»Ich bin
unschuldig!« sagte der Wolf. »Denn ich hab’ die meisten Schafe leben lassen.«“
Doch noch ehe das Urteil vollstreckt werden konnte, beging der König des Landes einen Jahrestag und erließ deshalb eine besondere Amnestie: Jeder 10. Gefangene solle
freigelassen werden. Und zu diesen Glücklichen zählte auch Gustel.
Glücklich? Frei? War Gustel denn
rehabilitiert? Den Kerker hatte Gustel zwar verlassen dürfen, aber es war ihm, als sei am Tage der Urteilsverkündigung eine schwere
Eisenkugel an seinem Fuß befestigt worden, und diese Eisenkugel hatte ihm niemand abgenommen.
Er brauchte nur zu versuchen, sich irgendwo niederzulassen. In seiner Heimat wagte er es gar nicht erst. Und woanders ward er bald gefragt: Haben über dich
nicht mal die Zeitungen berichtet?
Er änderte seinen Namen; aber auch das half nichts. Irgendwann holte ihn die Vergangenheit wieder ein. Die amtliche Vergangenheit! Allenfalls noch
ausgeschmückt mit weiteren Untaten.
So etwas kann verbittern. Auf jeden Fall sondert es ab. Bei jedem Menschen, dem du begegnest, mußt du befürchten, er werde dich bald für einen Verbrecher
halten. Und du kannst es ihm nicht verdenken. Tscha, das war die Kugel, die Gustel mit sich durchs Leben schleppte. Leben?
Wäre es ein Leben gewesen, wenn er die wahren Räuber gesucht, gefunden und zur Strecke gebracht hätte?
Vielleicht wär’s ein Traum gewesen; aber Leben? Hätte er dazu nicht selber zum Verbrecher werden müssen? Gut, wenn ihn alle für einen solchen hielten, warum nicht auch so einer sein? Aber –
hätte ihn das wirklich befreit?
Nein, Gustel wählte diesen Weg nicht, aber wie eine Schnecke zog er sich in sich zurück, und seine Augen blickten nicht mehr. Und dennoch drang eines Tages etwas in
sein Herz. Durch seine Ohren. Ein Lachen. Ein unbeschwertes Lachen.
„Du siehst aber komisch aus!“ rief eine Stimme.
„Meinst – Meinst du mich?“ Verwundert blickte Gustel auf und gewahrte ein junges –
„Und wenn sie nicht gestorben sind“, versuchte eine sich langweilende Donna Anegrund abzukürzen, „dann –“
„Das ist eine schöne Annahme“, griff’s der Alte sogleich auf. „Denn Clara ermunterte den armen Gustel, Clown zu werden.
Erstens habe er ein trauriges Gesicht, zweitens täte ihn, geschminkt und verkleidet, niemand wiedererkennen; und drittens wisse er ja aus eigener Erfahrung, wie sehr sich ein
beschwertes Herz nach einem erleichternden Lachen sehne. Und mährsächlich – als hätte alles dazu dienen müssen, Gustel auf diesen Beruf vorzubereiten. Und klein und groß schlossen
ihren Gustelino in ihr Herz, manches Auge blickte wieder, und niemand ahnte –“
Hier brach der Alte ab, denn die Besucherin war inzwischen gegangen.
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Qouz-Note: 2
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