MamM – Mährchen an meine Mutter Nr 0a bis 20
Überblick MamM 0a bis 20
0a Der Stein im Weg
0b Der Besuch (*3.-6.10.1997)
0c Des Ahorns Moritat (*9.10.1997)
1 Gackerschnabel und Reinhard Rotfuhs (*7.-10.10.1997; angebliche Variation zu KHM 2)
2 Markemanns Tochter (*11.10.1997; angebliche Variation zu KHM 19)
2a Schafsköppe (*12.10.1997)
3 Kann denn Liebe sterben? (*13.-16.10.1997; angebliche Variation zu KHM 16)
4 Hanne und Hans (17.+18.+20.+21.10.1997; angebliche Variation zu KHM 15)
5 Hakenschlags tragisches End' und Ehe (*21.-23.10.1997; angebliche Variation zu KHM 187)
6 Die Pechtrine (24.+25.+27.+28.+29.+31.10.+1.11.1997;
angebliche Variation zu KHM 83)
7 Die verwegene Hildegard (*7.-8.11.1997; angebliche Variation zu KHM 193)
8 Vater Wolf
9 Nachtmeister Stropps 1. Fall
10 Licht und Sonnenschein
11 Die Weihnachtskrone
12 Paul und Silvia
13 Rothlöckchen
13a Als er über die vielen Dogmen seufzte
14 Der gezähmte Wolf
15 Die Geschwister
16 Der Lumpenpeter
17 Der weise Hubert
18 Die Hutzelprinzessin
19 Prinzessin Stolzebein
20 Prinzessin Cara
MamM 0b Der Besuch
Hochwürden!
Bitte verzeiht, wenn ich meinen Namen verschweige und auch die Gemeinde, in der sich das Ungeheuerliche zugetragen hat, über das ich Euch berichten will. Es kostet mich bereits große Überwindung, Euch überhaupt zu schreiben, weiß ich doch, wie viele Lasten Euch aufgebürdet sind und welche Mühe Ihr
aufwendet, das Evangelium zu treiben. Allein – bereits St. Paulus warnet, daß etliche falsche Brüder neben eingeschlichen waren (vgl Galater 2:4), die es
nach St. Judas mit Stumpf und Stiel auszurotten gilt (vgl Judas
4-5).
Eigentlich fing alles hier ganz harmlos an. Es war Samstagabend, und ich saß gerade voller
Andacht über meinem Predigttext, da ertönte die Hausglocke. Ich ging also hinunter und öffnete die Türe. Draußen stand ein junger Mann, der mir von Anfang an nicht geheuer vorkam. Er mochte
um die 30 Jahre alt sein und hatte langes, strähniges Haar, von dem schon St. Paulus sagt, daß es dem Manne eine Unehre ist (vgl 1. Korinther 11:14). Gekleidet war er sehr altmodisch, eigentlich sogar schäbig, wenn auch der ungenähte Rock von einem guten Stoff sein mußte. Das Schuhwerk war arg strapaziert und mit Kot
bespritzt. Und der Mann roch nicht nur, er stank geradezu nach Schweiß.
Eigentlich wollte ich die Tür gleich wieder zuschlagen, denn ein jeder kennt ja dieses Gesindel.
Aber seine Gestalt war etwas verwachsen und sein Antlitz kränklich, so daß ich der Worte des ehrwürdigen Sirach gedachte:
Sobald der Elende ruft, so höret’s Gott (aus Sirach
21:6). Und tatsächlich: Er bettelte gleich um ein Stück Brot. Aber das kennen wir ja:
Geben wir ihm heute Brot, dann will er morgen Kuchen haben! Doch müssen wir mit solchen vorsichtig verfahren und dürfen sie nicht
direkt abweisen; denn sonst machen sie ein großes Geschrei, wecken die Nachbarschaft und schädigen das Ansehen der Kirche.
Also fragte ich ihn: „Gehörst du überhaupt zu meiner Gemeinde?“
Das mußte er natürlich verneinen, worauf ich ein bedauerndes Gesicht machte und ihm erklären durfte, daß ich den Weg der
Ordnung zu gehen habe und ihm leider nichts geben könne. Gebietet doch schon der weise Sirach: Behalte dein Brot vor ihm, und gib ihm nichts, daß er dadurch nicht gestärkt werde und dich untertrete (aus Sirach 12:5).
Damit schien die Sache erledigt zu sein; doch am nächsten Tag war er
wieder da, diesmal im Gottesdienst. Aber die Getreuen durchschauen das Böse gleich, wenn es auch in
Schafskleidern umgehet wie ein brüllender Löwe! Und so kam es, daß er eine ganze Kirchenbank für sich alleine
hatte. Das hätte ihn an und für sich nachdenklich stimmen müssen, doch weit gefehlt!
Denn als die Gemeinde die heilige Kommunion empfangen sollte, schritt auch er nach vorne, als wolle er vom Leib und Blut Christi
genießen. Ja, es schien sogar, als wolle er dazu etwas ergänzen und die heilige Andacht stören.
„Und für alle –“, hatte er bereits angesetzt, da trat ich in den Riß und wies meine Helfer an, ihn
zurückzuhalten. Warnt nicht schon St. Paulus, daß die ganze Gemeinde erkranke, wenn jemand
unwürdig isset und trinket? Und der HErr mahnet:
Es ist nicht fein, den Kindern ihr Brot zu nehmen und es vor die
Hunde zu werfen (vgl Matthäus 15:26). Freilich, ein Mietling wäre gewichen, doch Ihr habt mir diese Gemeinde als einem Hirten
anvertrauet, und als solcher durfte ich den Wolf nicht dulden.
Ansonsten hat er aber den Gottesdienst nicht gestört. Nur als die Gemeinde die Kirche verließ, wußte er sich
so zu setzen, daß er genau beobachten konnte, was ein jeder auf den Teller lege; denn auch wir haben natürlich einen solchen
aufgestellt, auf den ein jeder lege, was er erübrigen kann. Damit es ihn aber nicht gelüstete, zu sammeln, was er nicht gesäet, stellte ich mich in der Nähe des Tellers auf und behielt ihn genau im
Auge.
Endlich war die Kirche leer – bis auf ihn. Was hättet Ihr gemacht? Steht nicht geschrieben: Liebet eure Feinde, glühende Kohlen
auf ihr Haupt zu sammelt, in denen der Böse verbrennet (vgl
Römer 12:20–21)? Ich lud ihn also zu einem Bissen ins Pfarrhaus ein und hieß
Minna das Mittagessen warm stellen, bis er wieder gegangen war.
Aber wer hätte diese Undankbarkeit ahnen können! Denn kaum hatte ich es mir gemütlich gemacht und eine Zigarre
angezündet, da wollte mir doch dieser Bube die Leviten lesen. Und berufet sich wie Satan
auf die Schrift! St. Paulus habe gesagt, der Leib
sei ein Tempel des Heiligen Geistes.
„Freilich hat er das gesagt!“ trat ich ihm unentschrocken entgegen. „Und deshalb mußt du ihm
auch Gutes gönnen! Aber du Kind des Teufels, voller List und Galle, der du einhergehest
nach eigener Wahl und Geistlichkeit, davon du nichts verstehest, vernimmst es nicht und weißt es nicht! Warnte nicht einstens schon St. Paulus die Gemeinde vor dir (vgl Kolosser 2:16–23)? Der sich nicht hält an dem
Haupte! Frönet nicht auch unser unsträflicher Bischof den Tabakgenuß! Ist dem Dankbaren nicht alles rein, wie St. Paulus schreibet
(vgl 1. Timotheus 4:4)? Stammet deine Irrmeinung
nicht aus den Apokryphen (vgl Sirach 37:30) dunkelster
Herkunft? Jedermann sei untertan der Obrigkeit, wie St. Paulus saget (vgl Römer 13:1)! Und gebietet nicht der HErr selber, der Obrigkeit den billigen Schoß zu geben (vgl Lukas
20:22-25)?“
Da mußte er schweigen und blickte mich traurig ob seiner Niederlage an.
Allein – der HErr gebietet, dem Bruder zu vergeben, solange er nicht mehr als 7mal des Tages sündige (vgl Lukas 17:4); also müssen wir auch solchem Gesindel wenigstens eine 2. Chance geben. Und die bot sich am nächsten Sonntag, als ich ihn wiederum zu einem Bissen beschied. Leider liegt das Pfarrhaus fast eine ganze viertel Meile von der Kirche entfernt. Und
der Weg ist steil und beschwerlich. Auch kostet das Gehen viel Zeit, die uns dann fehlet, das
Evangelium zu treiben. Und der Weg ist staubig und kotig, daß wir unsere Sonntagskleidung nicht genug in acht nehmen
können. Also fahren wir aus dem Pfarrhause meistens mit unseren Wagen. Und
so war es auch an jenem Sonntag. Und weil der HErr geboten hat, daß ihr euch untereinander liebet {vgl Johannes 15:17}, wollte ich auch den
Fremden am Segen des Fortschritts teilhaftig werden lassen; Platz war ja
genug. Gibt er mir doch einen Korb und geht zu Fuß! Nun, ich habe Euch ja
schon sein Schuhwerk beschrieben. Vielleicht hat er sogar noch erwartet, daß ich ihm die Füße
wasche.
Aber das Schönste kommt noch! Kaum hatte ich das Tischgebet gesprochen, da schimpft er mich schon einen
Heuchler. Solch eine Unverschämtheit! Einerseits danke ich Gott mit den Lippen für seine Gaben, andererseits trete ich sie mit Füßen und verunglimpfe sie. Und als
Beispiel führte er an, wie oft ich unnützerweise mit dem Wagen fahre.
„Oh, du ungehorsamer Wicht!“ fuhr ich ihn an. „Sagt
nicht schon die Obrigkeit: Freie Fahrt für freie Bürger! Sind unsere Oberen nicht alles fromme Christen, die Gott segnet sichtbarlich? Du aber hast es noch zu nichts gebracht! Fährt nicht auch unser Bischof, dieser heilige Mann, einen großen Wagen? Heißt es
nicht, daß gerade die Wagen besonders freundlich zur Natur und Gottes Schöpfung seien? Hat das
jemals jemand über einen Wandersmann gesagt? Bist du es nicht, der Gottes
Schöpfung mit Füßen tritt? Ist etwa der HErr am Palmsonntag zu Fuß in Jerusalem eingezogen? Sind nicht gerade die Wanderer oft ein Hindernis, dem Gewerbe ein Schaden und den Menschen ein Dorn im Auge? Deshalb gehe in dich, du Racha, daß du kein Ärgernis
mehr bereitest; denn solchen ruft der HErr ein Wehe
zu (vgl Matthäus 18:7)!“ Und damit warf ich ihn wie
einen Judas hinaus.
Doch solches Ungeziefer ist zäh; am nächsten Sonntag war er wieder in der
Kirche. Diesmal lud ich ihn aber nicht mehr zu mir nach Hause ein, sondern wies ihn in einen Nebenraum der Kirche, falls er mich etwas
zu fragen hätte. Dies tat ich aber mit Bedacht, auf daß er keine Gemeinschaft mit den Getreuen pflege und etwa uns die Gemeinde scheu
mache. Auch wußte ich es stets so einzurichten, daß er von besonderen Gemeindefesten nichts erfuhr. Dies war nicht schwer, da er meist als einer der letzten die Kirche betrat. Um ihn
aber nicht mißtrauisch zu machen, ließ ich einige Feste auch in seiner Gegenwart ankündigen; doch waren diese mit Bedacht an einem
derart abgelegenen Ort angesetzt, daß ein Fußgänger unmöglich an ihnen hätte teilnehmen können.
Anfangs kam er zu den Gottesdiensten zwar spät, aber nicht auf die letzte Minute. Natürlich stellte ich ihn ob
seines späten Kommens zur Rede und ermahnte ihn aus Fürsorge für die Gemeinde, nicht die Andacht der anderen zu stören. Ich tat dies in
aller Liebe, denn schon St. Paulus erwartet von einem Knecht des HErrn, daß er die Bösen trage und strafe (vgl 2. Timotheus 2:24-25).
Doch was tat er? Er entgegnete mit einer Gotteslästerung, daß ihm auch die freie Natur ein Gottes- und
Vaterhaus sei.
„Hat denn der Bischof die Natur geweiht? Oder hat er dieses Gotteshaus geweiht?“ sprach ich darauf in der Kraft meines Geistes zu
ihm. „Hat denn der weise Salomo {vgl Matthäus 12:42} (der doch unendlich weiser sei als er) Gott in der Natur
angebetet oder in einem Tempel? Saget nicht schon der Prophet: Der HERR ist in seinem heiligen
Tempel (aus Habakuk 2:20)!“
Bezeichnend, daß er stille ward – wie die Welt!
Doch damit, daß er bald auf die letzte Minute kam, hatte es seine besondere Bewandtnis. Es begab sich nämlich,
daß einer unserer alten und ehrwürdigen Bauern, die bekanntlich viel für die Kirche spenden, sich auf seinem Hofe etwas Kot unter die Sohlen getreten hatte, bevor er seinen Wagen
bestiegen. Und dieser Kot hatte sich im Vorraum der Kirche wieder gelöst.
Als nun nach dem Gottesdienste einige würdige Matronen den Vorraum betraten und die Schändung des geweihten Fußbodens erblickten, waren sie ganz entsetzt. Von Herzen verständlich, daß sie sich in ihrer Aufregung alsbald dem Fremden zuwandten, denn er war der einzige Fußgänger.
Eigentlich hätte ich jetzt einschreiten und die Wahrheit aufdecken können. Doch 1. sollst du der Greise graues Haar achten und keine Schmach auf sie werfen; 2. sollst du die Fehler deines
Nächsten zudecken; und 3. machte der Fremde ein Gesicht, als wolle er alle Schuld auf sich nehmen.
Im stillen hoffte ich nun, der Fremde würde unsere Gemeinde fortan voller Scham meiden; doch leider
gefehlt! Künftig brachte er sich einfach ein 2. Paar Schuhe mit, das er demonstrativ vor der Kirche anzog und nur in den Kirchenräumen
trug, während er seine Straßenschuhe wie einen Schandfleck im Vorraum abstellte. Es bedurfte gar nicht erst des Winkes mit dem Zaunpfahl; denn unsere goldigen Kleinen
kamen von selbst darauf, welchen unschuldigen Spaß es bereitet, Schuhe zu verstecken. Aber auch das half leider nichts! Der Fremde kam eben, wie bereits berichtet, in Zukunft auf die letzte Minute und steckte seine bis in den
Himmel stinkenden Straßenschuhe in eine Tasche, die er mit in das geweihte Kirchenschiff nahm.
Überhaupt hatte er anfangs zu den Kindern ein fast schon herzliches Verhältnis, wie ja der Wolf ganz besonders die kleinen Lämmlein locket und liebet. Stellt Euch vor, manches Kind wollte in seiner Unwissenheit ihn auf dessen Fußweg begleiten. Ihr ahnet gewiß, daß es mancher Süßigkeiten und mancher Spielwagen bedurfte, die Kinder wieder zu entfremden und zur wahren Lehre zu
bekehren! Auch warnten wir die Kinder in der Sonntagsschule davor, daß sie nicht mehr mit dem Wagen fahren dürften, wenn es mehr von
der Sorte dieses Fremden gäbe. Und ich und die Eltern machten unsere lieben Kleinen liebevoll darauf aufmerksam, daß der Fremde kein
Vorbild der Gemeinde sei. Er stinke arg nach Schweiß und laufe herum wie ein Halunke; und sie wüßten ja schon aus den Märchen, daß so etwas eines Tages auf der Richtstätte ende und nicht im Himmel. Da machten die Kinder hinfort einen Bogen um den Fremden und hänselten ihn hinter seinem Rücken. –
Aber ich wollte Euch ja berichten, was der Fremde nach den Gottesdiensten alles im Nebenraum zu bemerken hatte. Mit einem Wort: Ketzerhaftes! Von Mal zu Mal ketzerhafter! Es hätte mir fast peinlich sein müssen, wie oft er das Gespräch mit mir suchte. Doch bevor
ich zu ihm in den Nebenraum trat, machte ich etwaigen Umstehenden durch Mimik und Gesten deutlich, was ich von dem Fremden halte und daß ich mit solch einem keine Gemeinschaft habe. Und war doch einmal jemand in Sorge, dann antwortete ich mit dem Liederdichter, daß Christi Kirche fest
gegründet und ich gleich einem Petrus wie ein Felsen stehe.
Gleich am Anfang fragte mich dieser Ketzer, weshalb ich mir so viel Sorgen um die Predigt mache und so viel ablese; denn es heiße in der Schrift: Sorget nicht, was ihr reden sollt.
„Soll ich etwa die Herde Christi mit Spreu abfertigen und in der Wüste weiden?“
herrschte ich ihn an. „Für Gottes Volk ist das Beste gerade gut genug; und
es kann Gott auf den Knien danken, daß nicht du es bist, der zu ihm predigt!“
Weshalb ich so oft über das Wort Gottes predige? Er
komme sich vor wie in einem Brotmuseum, wo das Brot in Glaskästen liege; versehen mit klugen Bemerkungen, wo es herkomme und wozu es
dienen könne; doch davon werde niemand satt. Weshalb ich nicht statt dessen
das frische Brot austeile und die Gemeinde speise; das Abendlied eines gewissen KLAUDII gebe ihm mehr denn 7 Predigten von mir.
Hochwürden, so etwas muß sich heutzutage ein treuer Knecht des HERRN sagen lassen! „Ist es nicht von Anfang an mein vordringlichstes Bestreben gewesen, so zu predigen, als wäre es der Bischof persönlich?“ rechtfertigte ich mich ganz und gar. „Ist es nicht die heilige Aufgabe eines rechten
Predigers, Gottes Wort zu rühmen und zu preisen? Warnet nicht schon St.
Paulus: Den Geist dämpfet nicht (vgl 1.
Thessalonicher 5:19)?
Aber es kam noch schöner! Weshalb ich so oft die Meinung eines Menschen höher achte denn die
Wahrheit? Ja, er brachte sogar die falsche Anschuldigung vor, ich passe die Wahrheit den Meinungen an, und begann, Beispiele aus meinen
gehaltvollen Predigten aufzuzählen.
Da erfaßte mich der Zorn Gottes, und ich ließ diesen Erzbösewicht nicht
weiterreden. „Der HERR strafe dich!“ rief ich wie einstens Michael (vgl Judas 9-10).
„Lästerst du alles, davon du nichts weißt? Ist nicht Gottes Wort
die Wahrheit (vgl Johannes 17:17), die kein Besserwisser umstoßen kann? Willst du wider Gott streiten, wovor sich selbst der weise Gamaliel
gescheuet (vgl Apostelgeschichte 5:39)?
Gott ist mein Zeuge, daß ich nie etwas anderes gepredigt habe denn Gottes Wort. Lese du erst einmal so eifrig wie ich in der Bibel! Und in den Predigten unseres
Bischofs und der alten Gottesmänner! Und dann komm wieder! Doch ich weiß,
daß du mit Schanden weichen müßtest.“
Der Gipfel aber war, als er mich fragte, ob er auch einmal bei uns predigen dürfe.
„Hast du denn Theologie studieret?“ forschte ich, was er verneinen mußte.
„Hast du überhaupt das Abiturium?“
Wieder mußte er verneinen. Ja, er hatte sogar die Unverfrorenheit, mich belehren zu wollen: St. Petrus und St. Johannes hätten auch kein Abiturium gehabt.
„Oh, du törichte Jungfrau!“ zürnete ich. „Gleich behauptest du auch noch, sogar unser HErr sei auf keinem Gymnasium gewesen! Ja, wer weiß, vielleicht gehörst du sogar zu jener Sekte, welche die Frauen auf die Kanzel lassen will, was schon St. Paulus untersaget (vgl 1. Korinther 14:34; 1.
Timotheus 2:12)!“
Und tatsächlich! Wandte er doch ein, daß zum Exempel Hanna bestimmt keine
stumme Prophetin gewesen sei.
„Dann mach du mich mal mit einer Christin namens Hanna bekannt!“ versetzte ich schlagfertig, was er
mir natürlich schuldig bleiben mußte. „Und wenn ein Prediger des Wortes Gottes keiner
Mindestbildung mehr bedarf“, warnte ich, „dann wollen bald auch die Kinder predigen!“
Da konnte er nichts mehr entgegenhalten und verstellte sein Angesicht mitleidig.
Allein – eine Bitte hatte er noch; und die kam uns gerade recht! Ob er einmal mit der Gemeinde beten dürfe; denn es lasse sein Herz unberührt, wenn
ich ein Gebet ablese und herunterleiere. Zum Glück unterdrückte ich meinen Zorn ob dieser Lästerung und versprach, sein Anliegen mit
dem Kirchenvorstand zu besprechen.
Dazu bot sich auch bald die Gelegenheit: in der nächsten Sitzung. Hauptpunkt war natürlich: Wie werden wir
diesen Fremden wieder los? Zunächst stellte ich einem jeden in der Runde die Frage, was er von dem Fremden halte. Die Antworten waren bezeichnend, und ich gebe Euch hier einige wieder:
„Ein Schürzenjäger! Denn ich habe an seinen Händen keinen Ring bemerkt.“
„Ein Trinker und Säufer! Denn niemand hat ihn je einen Wagen lenken gesehen. Und sind es nicht gerade die Fußgänger, nach denen Polizei und Zeitungen als erstes fahnden, sobald ein Mord geschehen oder eine Wechselbank
überfallen worden ist?“
„Ein Tagedieb! Arbeitsscheues Gesindel! Denn
niemand weiß, wo und was er eigentlich arbeitet!“
Und ich durfte noch hinzufügen: „Ein Unruhestifter, der wie einstens Korah gegen die göttliche Führung aufbegehret. Wehret deshalb den Anfängen!“ Und
ich entwickelte ihnen meinen Plan, dem Fremden durchaus ein Gebet zu gestatten. Denn nur so könnten wir ihn öffentlich der
Gotteslästerung überführen und für immer mundtot machen. Und als die andern meinen Plan hörten, wurden sie froh und nahmen ihn einstimmig an.
Am nächsten Sonntag rief ich den Fremden also kurz vor Ende des Gottesdienstes nach vorne. Doch daß er uns die Sache so leicht machen würde, hatte keiner von uns gedacht. Denn
kaum hatte er sein Gebet begonnen und die Worte „Papa, lieber Vater“ ausgesprochen (manche hatten auch „Abba, lieber Vater“ verstanden), da trat ihm die Gemeinde wie ein Mann entgegen und stieß ihn zur Tür hinaus.
„Es sei denn, daß ihr euch umkehrt und werdet –“ sollen seine letzten Worte gewesen sein, dann war er schon draußen und hat
sich seitdem nicht mehr getraut wiederzukommen.
Allein – es besteht die Gefahr, daß er nun in anderen Gemeinden sein unheiliges Treiben fortsetzt.
Deshalb wollte ich Hochwürden warnen etc. –
„Ackermann“, sagte Gothen, nachdem jener den Brief vorgelesen
hatte, „Grotesk! Aber ich achte, der Schreiber habe an sich gehalten, Sprache und Verhalten von Kirche, Amt und Personen zu trennen, so
daß er von den rechtschaffenen Geistlichen, die es zum Glück noch gibt, keinen kränken wird.“
© Stiftung Stückwerken, *3.-6.10.1997, freigegeben am 3.7.2024
Qouz-Note: 2
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MamM 0c Des Ahorns Moritat
Es war einmal ein Ahornbaum, der stand am Wege von Altenstadt gen Mitternacht. Er war bereits hoch und breit und in die Jahre gekommen und doch noch immer rüstig und stämmig.
Da begab es sich, daß in seiner Nachbarschaft sich eine Buche anschickte, ihren Kinderschuhen zu
entwachsen. Und als der Frühling neue Kleider austeilte, da war das Gewand der jungen Buche von
besonders zartem Grün.
„Welch eine Schönheit!“ staunte da der alte Ahorn und versuchte, mit seinen Zweigen die Buche zärtlich zu
streicheln. Doch die neigte sich leider zu der anderen Seite hin, wo ein junger Holunderstrauch winkte.
Dann kam der Sommer, und die Lieder von Nachtigall und Rotkehlchen wurden seltener. Statt dessen donnerte es zuweilen gewaltig im Gefolge unheimlicher Blitze. Und wer
die rechten Ohren hatte, konnte dann vernehmen, wie der alte Ahorn leise raunte: „Fürcht dich nicht, du liebe Buche. Ich schütze dich, ich schütze dich; und sollt’ ich mein Leben für dich lassen.“ Aber die junge Buche dankte es
nicht.
Und als der Herbst kam, da schickte der alte Ahorn seine Liebesbriefe ab, die wie die Flügel einer Windmühle durch die Luft
kreisten. Doch statt diese Briefe zu öffnen und sich zu freuen, schüttelte sich die stolze Buche und ließ alle Brieflein ungelesen zur
Erde fallen.
Darüber hätte nun der alte Ahorn verbittern können, allein – er sprach zu sich: „Bald wird es Winter und die Buche frieren. Deshalb will ich ihr auch meine Blätter geben.“ Und er senkte sie behutsam in das
Gezweig der Buche. Aber auch das mochte die Buche nicht leiden und warf alles wieder von sich.
Schließlich kam der Winter und mit ihm das letzte Gewitter des Jahres.
Und weil der alte Ahorn alle anderen Bäume überragte, ward er von einem gewaltigen Blitze auserwählt.
„Das kommt davon“, dachte die junge Buche über des Alten Fall, „wenn einer ein unverbesserlicher Schürzenjäger ist!“
© Stiftung Stückwerken, *9.10.1997, freigegeben am 12.9.2024
Qouz-Note: 5+ {5, weil es zu pessimistisch endet,
+, weil schon etwas Ramontik anklingt.}
***
MamM 1 Gackerschnabel und Reinhard Rotfuhs
Vor vielen, vielen Jahren lag an der Galis eine alte Wasserburg. Und wie es damals so Sitte, gehörte dazu natürlich auch ein standesgemäßer Hühnerhof.
Und wer war dort das schönste Huhn? Richtig! Das war Gackerschnabel von Galis. Es war so schön und wohlgestalt, daß es zwischen Wüstekeller und den Knautschbergen gar manchem stolzen Hahn im Traume erschien und er es für sein Leben gern heimgeführt hätte.
Doch war Gackerschnabel nicht nur schön, sondern wußte – wie es schon der Name sagt –auch so klug zu reden, daß es meist das letzte Wort behauptete.
Aber ach, wie nun immer mehr Hähne von Petrich, Schibhausen und anderen Dörfern ihre Aufwartung
machen wollten, ward Gackerschnabel gar bald eingebildet und wählerisch. Ja, es gluckste sogar vor Vergnügen, wenn es sah, wie die
jungen Hähne seinetwegen untereinander Händel anfingen.
„Gackerschnabel“, sprach das Huhn zu sich, „wer weiß, ob sich für dich nicht noch ein trefflicherer Bräutigam findet; für dich ist der beste gerade gut genug!“
Da begab es sich, daß Reinhard Rotfuhs den Höhberg hinabzog, um in der
Galiser Kirche zu beichten. Und dort, so beteuerte er später, sei ihm als Buße auferlegt worden,
auf einem Hühnerhof Spießruten zu laufen. Was lag da näher, als sich dazu den Hühnerhof bei der alten Wasserburg auszusuchen, zumal des
Fuchses Heimweg dort vorbeiführte.
Das Hühnervolk dort war arg verwundert, als es den frommen Büßer erblickte; aber auch Reinhard glaubte zu
träumen, als er Gackerschnabel gewahrte.
„Die muß mein werden!“ sprach er zu sich; laut aber:
„Hochedles Hühnervolk! Wie Ihr seht, hab’ ich all meinen finst’ren Pfaden und Schlichen entsagt und mich zu den lichten Wegen der
Heiligen bekehrt. War ich auch oft zu Unrecht übel beleumdet, so soll es, wenn ich bald sterbe, allenthalben heißen: Fürwahr, dieser ist ein frommer Fuchs gewesen! –
Doch ach,
das Fleisch ist schwach,
bedarf der festen Leitung
durch eine weibliche Begleitung.
Und weil als led’ger Mann
ich Schloß und Schätze nur besitze,
halt ich jetzt bei Euch an
um Gackerschnabels Flügelspitze.“
Das war trefflich vorgetragen, und als Gackerschnabels Eltern dieses hörten, waren sie natürlich hoch erfreut;
glaubten sie doch ihre Tochter nun gut versorgt. Und da Reinhard von einem nahen Ende gesprochen, hofften sie auch auf eine große
Erbschaft und ein Paradies außerhalb von Kochtopf und Hackklotz. Und was dachte Gackerschnabel?
„Gackerschnabel“, sprach es zu sich, „so einen findest du nicht wieder: so stark und so klug, gewandt in der Rede und gekleidet in kostbare Pelze; darüber hinaus im Hause zahm und fromm, den dummen Tucken und Gänsen aber ein Grauen und Schrecken. Ach, was werden mich alle beneiden!“ Doch ließ es sich nichts anmerken, damit von
Anfang an klar sei, wer als Huhn im Hause das Sagen habe.
Aber als Reinhard zur Eile drängte und von ungefähr seine scharfen Zähne blitzen ließ, hielt es seine Einwilligung nicht mehr zurück. Alsbald ward der Dompfaff geholt, und Gackerschnabel hieß hinfort Rotfuhs von
Höhberg geborene von Galis. Schnell nahm es noch ein paar Federn und Daunen als Aussteuer mit, und dann hielt das junge Paar Einzug in das sichere Schloß auf dem Höhberg.
Freilich mangelte es anfangs an Bediensteten, doch wußte Reinhard jeden Argwohn im Keime zu ersticken. Treue
Dienerschaft sei heute kaum noch zu finden, selbst Herr Grimbart wolle bereits Junker sein, Herr Lampe sei bekanntlich
stets flüchtig, und Herr Hinze sei, wie jeder wisse, ein Milch- und Mäusedieb. Außerdem sei das
Dienstpersonal für jede Herrschaft, die mit Leidenschaft und Schönheit gesegnet, eine ständige Versuchung und Verlockung. „Und“, schloß
Reinhard in seiner trefflichen Rechtfertigung, „so haben wir nur uns und unsere Liebe – und keine Zeugen.“
„Aber Reinhard“, wollte Gackerschnabel nun wissen, „warum ist es in deinen Schloß nur so finster? Ich kann ja
gar nicht deine Schätze bestaunen.“
„Ach, das tu’ ich mit Bedacht“, entgegnete Reinhard, „denn so wirst du durch nichts abgelenkt, und ich bin dein ein und alles und dein größter Schatz. Außerdem, Liebste, ist es ja jetzt auch dein Schloß“, und er gab seiner jungen Frau einen zärtlichen Kuß zwischen die Augen, um weiteren
Warum-Fragen galant zu entgehen.
Gackerschnabel glaubte sich nun im 7. Hühnerhimmel, und mährsächlich hatte es den Anschein, als wolle Reinhard seine Frau auf Pfoten tragen.
„Liebste“, sprach er bald zu ihr, „du weißt, die schwerste Arbeit ist im Hause und für junge Damen nicht schicklich. Geh du nur jeden Tag auf die Jagd und in unseren Garten und schaff Nahrung herbei, so will ich indes das Haus hüten.
Gackerschnabel war’s zufrieden, denn das Jagen und Picken hatte es von Kindesbeinen an gelernt und war ihm stets ein Vergnügen gewesen. Dagegen war der Hausputz niedrigster Mägdedienst gewesen und eines Huhnes nicht würdig.
Nun mag sich aber, was eine rechte Ehefrau ist, nicht mit einem einzigen Untertan im Hause begnügen, sondern sie will ihren Machtbereich ausdehnen. Und weil das Dienstpersonal weiterhin ausblieb, trat Gackerschnabel bald mit einer allerliebsten Bitte an den Gatten heran:
„Reinhardlein?“
„Ja“, antwortete dieser ahnungslos.
„Hörst du?“
„Was?“
„Reinhardlein“, und Gackerschnabel trat ganz nahe an des Gatten Ohr heran, „ich möchte so gerne ein Kind haben.“
„Mm“, knurrte Reinhard 2deutig.
„Wir wären dann eine richtige Familie“, fuhr Gackerschnabel fort. „Ach, Reinhardlein, sag ja.“
„Gut“, entgegnete dieser, „ich will gleich morgen die Bestellung beim Klapperstorch aufgeben.“
Ach, was war Gackerschnabel da glücklich! Und beinahe hätte es sogar den Reinhard geküßt, hätte der es nur
leiden wollen.
Da es in der Nacht geregnet hatte, ging Gackerschnabel am anderen Morgen auf die Jagd nach Regenwürmern. Schon früh kehrte es zurück, sehr gespannt darauf, was Reinhard erreicht hatte.
„Ach so“, knurrte dieser, als handle es sich um eine Nebensächlichkeit, „dein Kind? Ja, das ist
angekommen. Meister Adebar hatte noch eins über und hat es gleich gebracht.“
Da war Gackerschnabel ganz entzückt und wollte natürlich das Kindchen gleich in seine Flügel schließen. Doch
mußte es sich von Reinhard belehren lassen, daß kleine Kinder bis zu einem Alter von 3 Monaten keinen Umgang mit Hühnern haben dürften.
„Aber“, bat Gackerschnabel, „dann sag mir wenigstens, wie mein Kindchen heißt.“
„Arglos“, antwortete Reinhard, „und nun laß uns schlafen gehen; der Tag war anstrengend genug.“
Gackerschnabel mußte es zufrieden sein und sich in die Zeit schicken. Was macht aber ein Huhn, wenn nicht
alles nach seinem Willen läuft? Richtig! Es frißt und frißt! Und das tat Gackerschnabel in den folgenden Tagen. Und weil kein Hahn in der Nähe
stand, der es hätte zu sportlichen Übungen anhalten können, ward es bald dick, fett – und bequem. Ja, denk dir, während es sich selber
vollfraß, dachte es immer seltener an seinen Reinhard und brachte ihm von Tag zu Tag weniger zum Abendbrot nach Hause. Und wovon Arglos
leben sollte, schien ihm gänzlich gleichgültig zu sein.
So ging ein Monat ins Land; wieder hatte Reinhard anscheinend etwas von
Meister Adebar erhalten. Doch wollte er auch dieses Mal Gackerschnabel nicht zum Kindchen lassen, sondern verriet lediglich den Namen:
Lieblos solle es heißen.
Da fraß Gackerschnabel noch mehr und wurde noch fetter und bequemer, bis es schließlich seinem Reinhard gar kein Essen mehr ins Schloß brachte. Nun mußte Reinhard wohl verhungern, meinst du? Dann wäre er nicht Reinhard Rotfuhs
gewesen.
Wieder war ein Monat ins Land gegangen, da wachte Gackerschnabel eines Nachts auf. Langsam breitete es seine Flügel aus, doch der Platz neben ihm war leer. Wo war
Reinhard?
Auf einmal hörte es von ferne eine Stimme singen:
„Mäusebro-ot, Mäusebro-ot
eß ich bald beim Morgenro-ot.“
So schnell es konnte, erhob sich das fette Gackerschnabel und wankte zum Tor des Schlosses. Mährsächlich, das
war Reinhard, der da beim 1. Morgengrauen herbeitrollte. Na, dem würde es jetzt aber eine Szene
machen!
„Ich bin dir wohl nicht mehr gut genug!“ gackerte das Huhn los.
„Nein, mein Schatz, schon lange nicht“, pflichtete Reinhard bei. „Das heißt, ich hab’ dich natürlich noch
immer zum Fressen gern.“
„Was soll das heißen?“ zürnte Gackerschnabel.
„Was ich sagte. Aber nu’ beruhige dich doch. Ich hab’ dir übrigens wieder was vom Klapperstorch
mitgebracht“, log Reinhard.
Gackerschnabel wußte nicht, was es sagen sollte.
„Dieses Mal heißt es Leblos – genau wie die Mutter. Du
dummes Huhn, hast du denn wirklich an den Klapperstorch geglaubt? Wärst du wenigstens arglos geblieben, dann hätte ich dich vielleicht
vor Mitleid eines Tages davongejagt. Doch du wolltest mich verhungern lassen und mir sogar noch eine Szene machen. Da hast du deine Strafe!“ sprach Reinhard und fraß seine Gattin auf.
„Ja, die Liebe geht durch den Magen“, bestätigte Reinhard und strich sich über seinen vollen Bauch. Und
da er nun Witwer geworden, überlegte er sich, wo er eine neue Braut finden könne, die er zum Fressen gern haben wolle.
Und die Moral von der Geschicht’? – Betrüge keinen
Bösewicht!
© Stiftung Stückwerken, *7.-10.10.1997, angeblich als Variation zu KHM 2, freigegeben am 13.9.2024
Qouz-Note: 5+ {5, weil es tragisch endet und artur
anscheinend noch nicht das Rückgrat entwickelt hatte, der Vorlage (KHM 2) eine positive Wendung zu geben; +, weil schon etwas Ramontik anklingt.}
***
MamM 2 Markemanns Tochter
Das Blatt ist leer,
der Kopf so müd’,
und nichts fällt mehr
mir ins Gemüt?
Zwischen Bartputz und Saumast lag einstens ein altes Kloster, an dessen Außenmauer
sich eine kleine Kate lehnte. Mochte die Kate noch nicht so alt wie die Klostermauer sein, so stand sie dieser an Baufälligkeit in
nichts nach. Und doch wurde sie von 2 Menschen bewohnt, an denen aber auch schon manche Unwetter ihre Spuren hinterlassen
hatten. Freilich waren das nur selten solche, welche an den Balken und dem Strohdach rüttelten, sondern es waren meistens Unwetter, die
am Ehehimmel aufgezogen waren. Denn da die beiden keine Kinder hatten, mußten die Rollen im Familiendrama etwas anders verteilt werden,
als es gemeinhin üblich ist.
In den häusliche Szenen hatte der alte Nöler für sich die Rolle des Familienoberhauptes ausgesucht. Zwar war es kaum die Dauer seiner Erdenreise, die ihm die Würde eines Alten verliehen hatte, dafür aber hatten seinem Äußeren die schweren Sorgen
seiner ehelichen Regentschaft das nötige Gepräge gegeben. Und da die Regierungsgeschäfte seine Kräfte so stark zu beanspruchen
schienen, hatte er in den Szenen des Broterwerbes die Rolle des Kindes übernommen. So mußte also Serva in den häuslichen Szenen die Rolle des gehorsamen Kindes spielen, außer Haus jedoch der Ernährer sein.
Und weil der alte Nöler von der Küste zugewandert war, mußte er nicht lange überlegen, welcher Arbeit seine Frau nachzugehen hatte. So saß Serva fast jeden Tag an der Markebrücke und versuchte, Fische zu fangen. Hatte Sie mehr Fische an Land gezogen, als sie in der eigenen Küche brauchte, mußte sie den Rest zur Burg hinauftragen oder im Städtchen gegen
andere Nahrungsmittel eintauschen. Aber nicht der lange und beschwerliche Fußweg bereitete ihr Kummer, sondern die Augenblicke, in denen sie die Fische vom Leben zum Tode
befördern mußte. Aber sie war nun mal ihres Mannes Magd.
Da begab es sich eines Tages, daß Serva seit den Morgenstunden vergeblich an der Markebrücke gesessen hatte. Zur
Mittagszeit hatte sie sich gar nicht nach Hause getraut, denn sie wußte ja, was sie dort zu erwarten hatte. Nun war die Sonne bereits
hinter dem Plätenberg versunken. Was sollte nur werden?
Da ruckte plötzlich etwas an der Angelschnur, und Serva zog alsbald einen stattlichen Fisch ans Ufer. Aber wie
sie nun dieses zappelnde Leben gewahrte, das sich offensichtlich gar nicht am Haken verletzt hatte, da konnte es Severa nicht übers Herz bringen, den Fisch zu töten. Sie machte ihn los und warf ihn wieder in den Fluß zurück. „Ich kann’s nicht mehr“,
seufzte Serva; „mag mein Mann auch schimpfen.“
Doch was war das? Aus Gewohnheit hatte Serva auch die Angelschnur wieder in den Fluß geworfen, an der es nun
erneut zerrte und ruckte. Serva zog und zog und holte schließlich ein sonderbares Wesen auf das Ufer. Es trug ein Schilfkleid und war mit vielen Perlen geschmückt, schien ein Mädchen oder eine junge Frau zu sein, und doch wußte es sich auf dem
Lande nur sehr unbeholfen zu bewegen. Aber es hatte sich auch ganz in die Angelschnur verwickelt und mußte erst befreit
werden.
Serva wollte nun um Verzeihung bitten, aber das sonderbare Wesen kam ihr zuvor: „Du bist also die Serva, die mir schon unzählige meiner Freunde und Gespielen geraubt
hat. Doch du hast es aus Not getan. Und weil du heute einem das Leben
geschenkt hast, so will ich dir nicht nur verzeihen, sondern dir auch helfen. Ich kenne deinen Mann. Überlaß ihn mir!“
„Gnädige Frau“, entgegnete Serva verzweifelt, „was verlangt Ihr von mir! Sicher, seit dem Tage meiner Hochzeit
habe ich zu Hause keine glückliche Stunde mehr gehabt. Aber habe ich nicht versprochen, zu meinem Manne zu halten – in guten wie in
bösen Tagen?“
„Dann geh jetzt nach Hause“, lenkte das Wesen ein, „und tu, was dir dein Herz gebietet. Fürchte dich
nicht; es wird alles gut“; und nach diesen Worten glitt es wieder in den
Fluß.
Doch die Furcht war nicht so leicht zu überwinden; und zitternd und zagend kehrte Serva zu ihrem Mann
zurück. Der war natürlich furchtbar wütend, als er nichts Eßbares gewahrte.
Nachdem er aber Servas Erlebnisse gehört hatte, verzog sich sein Mund zu einem Grinsen. „Das ist bestimmt Unde gewesen, des Markemanns Tochter“, sprach er. „Na, da weiß ich, was wir jetzt machen. Paß auf, du gehst jetzt wieder an die Marke und rufst Unde herbei. Und dann wünschst
du dir als Belohnung, weil du sie befreit hast, einen Hecktaler.“
„Einen Hecktaler?“ fragte Serva verwundert.
„Ja, einen Hecktaler, du dumme Kuh! Das ist ein Taler, der ständig Junge bekommt, sooft ich in die Tasche
greife.“
Also ging Serva wieder zur Markebrücke und rief in die Dunkelheit:
„Unde, Unde, auf dem Grunde,
komm herauf zu dieser Stunde,
denn sonst macht mein Herr Gemahl
mir das Leben ganz zur Qual.“
Alsbald rauschte und brauste es in der Marke, eine Stimme rief: „Weiß schon, was er will“, eine glitschige Hand legte in die der Serva ein hartes rundes Etwas und
verschwand; dann war es wieder still.
Mit Grauen eilte Serva von dannen und nach Hause. Dort ward das runde Etwas vom alten Nöler gleich ausprobiert
und tatsächlich als einen Hecktaler erfunden. Zwar gab es an diesem Abend nichts mehr zu essen, dafür war aber in den folgenden Tagen
der Tisch um so reichlicher gedeckt. Und bald ward auch die Kate durch ein stattliches Haus ersetzt; nur an Serva schien der neue Reichtum fast spurlos vorüberzugehen. Zwar brauchte sie
nicht mehr hinaus an die Markebrücke; da jedoch der alte Nöler überzeugt war, mit seiner Frau keinen Staat machen zu können, er sie
aber auch nicht fortjagen wollte, steckte er sie in die Küche.
Nach und nach mußte der alte Nöler jedoch erkennen, daß mit dem Reichtum auch viele Sorgen verbunden waren.
Manches Mal war er schon übers Ohr gehauen worden und hatte für gutes Geld schlechte Leistung erhalten. Und was war, wenn er eines
Tages den Hecktaler verlor oder dieser gar gestohlen wurde? Solche Gedanken quälten den alten Nöler arg und raubten ihm manche Nacht
den Schlaf. Wem konnte er noch trauen? Auch gab es manchen Wunsch, der
nicht mit Geld zu erfüllen war. Ärzte konnte er zwar kaufen, aber keine Gesundheit. Und wenn er zufällig hörte, wie seit einiger Zeit seine Frau am Herde ein Liedchen sang, dann machte ihn das noch mürrischer und
neidisch. Sollte das der ganze Lohn sein dafür, daß Unde freigelassen worden war?
„Nein!“ sprach er eines Abends zu sich und rief Serva herbei. „Du gehst jetzt auf der Stelle an die Marke und wünschst dir von der Unde die Flasche mit dem Freudenwein!“
Serva mochte wollen oder nicht, sie mußte zur Markebrücke und dort ihr Sprüchlein aufsagen:
„Unde, Unde, auf dem Grunde,
komm herauf zu dieser Stunde,
denn sonst macht mein Herr Gemahl
mir das Leben ganz zur Qual.“
Und wieder rauschte und brauste es, wieder rief eine Stimme aus der Dunkelheit: „Weiß schon, was er will“, und eine Woge spülte der Serva eine Flasche in die
Hand.
Zu Hause angekommen, mußte Serva sofort ihrem Mann die Flasche aushändigen, der den Inhalt auch gleich probierte; Serva durfte zugucken. Ja, das war rechter Freudenwein, und die Flasche wurde nie leer.
Ei, was wurden fortan im Nölerhaus für Feste gefeiert! Von der Burg, von Jägerlingen, von Fürstenstolz, ja selbst von Kesselhof kamen die Kutschen
herbeigerollt. Alle lobten den Freudenwein, nur Serva nicht; denn sie bekam davon keinen Schluck und mußte weiterhin Küchendienste verrichten.
Und wenn gegen Mittag der alte Nöler von seinem Kater aufgesucht wurde und obendrein noch mit anhören mußte, wie seine Serva ihr Liedchen trällerte, da war’s mit der
Freude vorbei – so lange, bis der alte Nöler wieder zur Flasche griff.
Und noch etwas mußte er gewahren. Seine adligen Gäste besuchten zwar eifrig seine Feste, auch liehen sie sich
gerne Geld von ihm auf Nimmerwiederkehr; aber für standesgemäß hielten sie ihn nicht und machten sich hinter seinem Rücken obendrein
noch lustig über ihn.
Nein, das war kein Leben mehr! „Wär’ ich doch ein Gott!“ sprach der alte Nöler zu sich. „Ich könnt’ über Wind und Wetter gebieten, Berge
versetzen und Flüsse lenken; und ich könnte Menschen schaffen nach meinem Sinn!“ Und alsbald rief er Serva herbei und hieß sie an die Marke laufen: „Ich will ein Gott sein und unsterblich!“
Als Serva an der Markebrücke anlangte, wagte sie es gar nicht, ihr Sprüchlein aufzusagen. Ein heftiger Sturm
war aufgekommen und jagte im fahlen Mondlicht Wolkenfetzen vor sich her. Die Wasser der Marke traten bereits über die Ufer und zerrten
an den Knöcheln der zitternden Serva. Irgendwo schlug es Mitternacht.
Da erschien plötzlich Unde aus der Tiefe, und ihre Perlen schimmerten in einem unheimlichen Licht, als hätten sie den Schein des Mondes eingesogen. „Nimm das“, sprach Unde zu Serva und gab ihr eine Perle; „und eil sogleich hinauf zur
Burg! Und sieh nicht hinter dich! Und zeig am Morgen dem Kämmerer des
Grafen diese Perle! Und was er dir dafür geben will, das nimm!“ Und schon
war Unde wieder verschwunden.
Sogleich drehte sich Serva um und lief hinauf zur Burg. Immer stärker wurde das Brausen in der Tiefe, doch
Serva wagte es nicht, einzuhalten und sich umzudrehen. Erschöpft kam sie oben an und wurde in die Stube des Torwächters
gelassen.
Am anderen Morgen glitzerte dort, wo bisher das Kloster gestanden, ein See ganz friedlich im Sonnenlicht. Und wenn im Herbst die Wasser wieder sanken, versuchte mancher nach den Schätzen des alten Nöler zu tauchen und nach Undes Perlen. Doch niemand hat sie bisher gefunden.
Manche wollen aber um Mitternacht über den Wassern ein gebieterisches „Es werde!“ gehört haben, dem aus der Tiefe
dann ein weibliches Gelächter geantwortet habe. Ob es heute noch so ist, nachdem dort die Menschen so viel verändert haben? Und doch fürchtet sich dort noch mancher, jemals Undes Zorn auf sich zu ziehen.
Undes Segen aber wurde Serva zuteil. Sie erhielt für die Perle soviel ausbezahlt, daß sie ein neues Leben
beginnen konnte. Und wenn die Perle nicht weggekommen ist, dann müßte sie noch irgendwo auf jener Burg zu finden sein.
© Stiftung Stückwerken, *11.10.1997, angeblich als Variation zu KHM 19, freigegeben am 12.9.2024
Qouz-Note: 4-, da nichts Außergewöhnliches, sondern nur eine sagenhafte Etüde, wie sie jedermann möglich wäre
***
MamM 2a Schafsköppe
Es begab sich aber, daß eine Herde Schafe mit ihrem Hirten nicht mehr zufrieden war. „Immer sollen wir hinterhertrotten!“ blökten sie. „Nein, das machen wir nicht mehr mit! Wir sind alt genug und wissen selber, was uns guttut. Fortan gehen wir unsere eigenen
Wege.“
Und als sich nach einer Weile der Hirte einmal umwandte, weil er kein Blöken mehr vernahm, da war von seiner Herde niemand mehr zu erblicken. Nun hätte er natürlich alleine nach Frömmlingen hinabsteigen können, aber so etwas kann ein wahrer Hirte
nicht übers Herz bringen. Ein wahrer Hirte kehrt um und versucht zu retten, was noch zu retten ist. Und weil bekanntlich Schafe eine recht auffällige Spur hinterlassen, fiel es unserem Hirten nicht schwer, dieser zu folgen. Nach einigen Stunden gewahrte er die ersten Schafe. Ach, welch ein jämmerlicher
Anblick! Ängstlich drängten sich die Lämmchen an ihre Mutter, die ratlos um sich blickte. Endlich erkannte sie ihren Hirten und lief ihm blökend entgegen.
Wo aber waren die andern? Stockend berichtete die Schafmutter, wie sie alle kehrtgemacht hatten und bis zu
dieser Stelle zusammengeblieben waren. Da aber hier bereits alles abgeweidet war, fanden sie kein Futter mehr. Was jetzt? Die einen wollten hierhin, die andern dorthin; und weil keiner nachgab, zerstreute sich die Herde in alle Winde. Nur sie sei als
einziges Schaf mit ihren Kindern zurückgeblieben, weil sie gehofft habe, der Hirte werde seiner Herde nachgehen und verzeihen.
Und das tat er auch. Nach und nach trotteten auch noch andere Schafe müde und mit einem schlechten Gewissen
herbei; viele aber fanden nicht mehr zurück. Manche waren in den
Steinbrüchen abgestürzt, manche hatten sich verirrt und mußten jämmerlich verschmachten, manche wurden von wilden Tieren zerrissen und manche von rücksichtslosen Menschen umgebracht. So mußten sie ihre Torheit mit dem Leben bezahlen.
© Stiftung Stückwerken, *12.10.1997, freigegeben am 13.9.2024
Qouz-Note: 5-, nur von historischer Bedeutung, ansonsten vergeudete Lesezeit bzw Ermutigung, es besser zu machen
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MamM 3 Kann denn Liebe sterben?
Es hätte aber eine Königin einen einzigen Sohn. Der war gesegnet mit schönen Augen und – in allem, was er sprach und tat, – verständig
und liebevoll. Jedoch mußte er sich von Kindesbeinen an mit einem kränklichen Leib herumplagen. Das verdroß ihn zwar nicht, hielt aber viele schöne Prinzessinnen davon ab, ihn als Bräutigam ins Auge zu fassen.
Aber der Königssohn war doch reich, meinst du? Und seine Frau hätte doch nach seinem Tode alles
geerbt? Tscha, auf solche Gedanken hätte natürlich manche Grafentochter kommen können. Allein – der Königssohn war ja verständig und wollte niemandem zu einem glücklichen Witwenstande verhelfen.
Deshalb hatte er verkünden lassen: Die seine Frau werden wolle, müsse nach seinem Ableben wieder in ihren vorherigen Stand zurückkehren und auf das Erbe
verzichten. Denn er sprach zu sich: „Meine Frau soll mich nicht um meiner Krone, sondern um meiner selbst willen lieben.“ Ja, das ist das Kreuz der Könige, daß sie so viele Maskenfreunde haben, aber nur so wenige Herzensfreunde.
Da sei er bestimmt ledig geblieben? Na, wir wollen sehen. Es begab sich nämlich, daß der Königssohn alleine und unerkannt durch die Lande reiten wollte. Er ließ sich also einen wilden Bart wachsen, zog eines Morgens schlichte Kleider an und verließ seine Burg. Und als er wohl eine Meile gen Mitternacht geritten und der Tag am heißesten war, da dürstete den Königssohn. Es setzte sich also an einen Brunnen und wartete, ob ein Mädchen zu schöpfen käme.
Er hatte noch nicht lange so gesessen, da kam eine Jungfrau vom Dorfe herbei. Der Königssohn redete sie
freundlich an und bat, ihm zu trinken zu geben.
„So wird Euer Pferd noch mehr dürsten“, antwortete die Jungfrau, „denn es hat Euch tragen müssen. Deshalb will
ich es zuerst tränken.“
Der Königssohn verwunderte sich ihrer Rede; und als sie endlich auch ihm den Krug mit Wasser reichte, gab er
ihn sogleich zurück und sprach: „Nein; Ihr habt mich soeben die rechte Reihenfolge gelehrt; trinkt Ihr zuerst, denn auch Ihr werdet durstig sein.“ Und als er ihr den Krug geben
wollte, da fiel unbedacht und unbemerkt ein silberner Ring hinein.
Und kaum hatten beide aus dem gleichen Krug getrunken, da ward’s in ihren Herzen so freundlich und so warm;
und fortan konnte keiner mehr ohne den andern sein. Und weil Orpha weder Eltern
noch Vormund mehr fragen mußte, ward sie samt Krug vom Königssohn auf sein Pferd genommen und auf seine Burg gebracht. Und als Orpha
unterschrieben hatte, im Falle ihres Witwenstandes auf Krone und Erbe zu verzichten, ward die Hochzeit angesetzt und dann eine Woche lang gefeiert. So lebten beide glücklich und in Frieden; und ihre Liebe nahm zu von Tag zu
Tag.
Nach einiger Zeit dankte die Königin zugunsten ihres Sohnes ab, und dieser ward zum neuen König gekrönt. Doch
kaum war dies geschehen, da ward er auch schon von einer schweren Krankheit ergriffen.
Die Ärzte und Heilkundigen taten, was sie konnten und wußten; und doch brannte das Lebensflämmchen des Königs
schwächer und schwächer. Orpha war ganz verzweifelt; sollte sie so früh ihr
kurzes Lebensglück schon wieder lassen müssen? Und als ihr Gemahl in einen todesähnlichen Schlaf erstarrte, da wollte sie alles geben,
nur um sein Leben zu retten.
Da begab es sich, daß eine verschleierte Gestalt auf der Burg vorsprach und sich als der berühmte Doktor Salsa von
Sottenbad ausgab. Sie versprach, den König wiederzuerwecken, so sie alleine in seine Kammer gelassen werde. Dies wurde auch hoffnungsfroh bewilligt. Und kaum hatten alle den König verlassen, da
hob Doktor Salsa den Schleier, beugte sich über den Todkranken und gab ihm einen Kuß auf die Lippen. Alsbald begann der König zu
erwachen; langsam schlug er die Augen auf und blickte um sich. Doch niemand
war zu sehen, aber es war ihm, als habe ihm jemand gerade etwas Salzwasser eingeflößt. Der König rief nun nach seiner Frau und seinen
Bedienten, nahm wieder Speise zu sich und war nach wenigen Tagen völlig von seiner Krankheit genesen. Alle waren nun voller Freude und
wollte dem Arzte danken. Doch dieser blieb verschwunden, und in Sottenbad wollte niemand etwas von einem Doktor Salsa gehört
haben.
Am glücklichsten von allen schien Orpha zu sein. Allein – bald mußte sie sich eingestehen, daß des Königs
Augen nicht mehr so freundlich glänzten wie vor- und ehedem. Ja, es war ihr, als wolle sie ihr Gatte unter allen Umständen
meiden. Und trafen sich doch einmal ihre Blicke, so mußte sich Orpha an ihr Herz fassen, als wäre darüber gerade ein eisiger Schauer
gelaufen. Auch klagte der König, noch immer nicht seinen silbernen Ring wiedergefunden zu haben, den er seit seiner 1. Begegnung mit
Orpha vermisse. Und schon flüsterte es hinter den Türen und Tapeten: „Die junge Königin hat nur Krone und Reichtum, nicht aber ihren
Gemahl geliebt“; und das tat weh, sehr weh.
Anfangs hielt noch die Königsmutter zu ihrer Schwiegertochter. Doch als sich mit der Zeit auch jener Gebaren
wandelte, da sah Orpha keinen anderen Ausweg, als den Königshof zu verlassen. Doch ward ihr das nicht als Liebe ausgelegt, und die
Verleumdung folgte ihr ständig wie ein Schatten. Zwar kehrte sie mit ihrer wenigen Habe in ihr Dorf zurück, aber da ihr die Bauern Zins
und Zehnt verweigerten, mußte Orpha hinab nach Sottenbad ziehen und niedere Dienste annehmen. Doch
schien sie eine seltsame Neigung zu haben, in jeder Vollmondnacht hinauf zu jenem Brunnen zu wandern, an dem sie als Jungfrau ihrem Liebsten zum 1. Mal begegnet war. Und es war ihr, als werde ihr jedesmal neue Kraft, wenn sie dort mit einem wehmütigen Lied leise ihr Leid geklagt und mit ihrem Krug Wasser
geschöpft hatte.
Indessen schien der König nach Orphas Abschied von Tag zu Tag glücklicher zu werden, und es wurde gemunkelt, er habe schnell eine neue Liebe gefunden. Zwar dauerte es ein Jahr, bis die alte Ehe geschieden war; dann aber wurde auch bald Verlobung gefeiert und die Hochzeit mit der neuen Braut angesetzt. Diese war von auffallender Schönheit, doch schmeckten ihre Küsse etwas salzig. Aber
es schien, als wären es gerade diese Küsse, die den König an seine neue Braut banden. Bereits am Tage
ihrer Verlobung hatte sie auf der Königsburg Einzug gehalten, und der König ward fortan nicht mehr außerhalb seiner Burg angetroffen.
Da begab es sich, daß am Abend vor der angesetzten Hochzeit das Pferd des Königs aus dem Marstall ausbrach und zum Burgtor
hinausgaloppierte. Dem König war das Pferd sehr an das Herz gewachsen, und deshalb eilte er ihm sogleich hinterher. Er konnte es auch bald einholen, schwang sich auf den Pferderücken, doch – was war das? Das Pferd wollte einfach nicht gehorchen und galoppierte weiter gen Mitternacht.
Voll und schön ging gerade der Mond auf, als das edle Roß sich einem Brunnen zu nähern schien. Aus dem Galopp
wurde ein Traben, und schließlich blieb das edle Pferd stehen. Leise raunte der Abendwind durch die Blätter der
Brunnenlinde. Am Rande des Brunnens aber kauerte eine Gestalt, die alsbald zu singen begann. Sie hatte ihre Augen zum Monde erhoben und schien alles um sich vergessen zu haben.
Und ihre warme, wohlklingende Stimme wollte so gar nicht zu ihrer ärmlichen Kleidung passen. Sie sang aber wie folgt:
(Orphas Brunnenlied)
Es tät' ein Brünnlein rauschen
wohl in der lauen Nacht,
dem wollt’ ich sehnend lauschen,
bis ich müd’ gewacht.
Es klingt von alten Tagen,
als noch der Liebste mein
mich wollt’ auf Händen tragen,
mich herzen ganz allein.
Doch mit der Zeiten Wende –
ach, wird das Herz mir schwer –
war seine Lieb’ zu Ende,
liebt er mich nimmermehr?
Noch tät' das Brünnlein rauschen,
das Herz mir beinah’ bricht,
mag ihm nicht länger lauschen,
glaub’ nicht, was es verspricht.
Und meine Tränen fallen
im milden Mondeslicht,
da hör’ ich’s plötzlich hallen:
„Die Lieb’ kann sterben nicht!
Sollst deine Tränen tauschen
mit froher Zuversicht.“
Dank, Brünnlein, deinem Rauschen,
ich glaub’, was es verspricht.
Die Gestalt schien den König noch immer nicht zu gewahren. Aber kaum war ihre Weise verklungen, ließ sie auch
schon ihren Krug in den Brunnen hinab. Sie schöpfte das frische Wasser und trat mit dem vollen Krug, ohne zu erschrecken, auf das Pferd
zu. Nachdem dieses getrunken hatte, schöpfte die Gestalt erneut und reichte dem König stumm den Krug. Der König nahm den Krug, und als er den ersten Schluck trank, glaubte er ein leises Klingen aus dem Krug zu hören.
Da ward der König sehend. „Orpha!“ rief er
laut. „Ach, was habe ich getan! Nimmer könnt Ihr mir verzeihen!“
Doch Orpha fragte nur: „Kann denn Liebe sterben?“
„Wollt Ihr damit sagen, daß Ihr nie aufgehört habt, mich zu lieben?“ kam es dem König ungläubig über die
Lippen.
„Ihr habt in Wirklichkeit doch auch nicht aufgehört, mich zu lieben“, antwortete Orpha. „Mir scheint, es
lastete ein Zauber auf Euch –“
„– der hoffentlich nun seine Macht verloren hat“, ergänzte der König und schloß Orpha in seine Arme.
Als am anderen Morgen Orphas Rivalin wie von ungefähr aus dem Fenster blickte, gewahrte sie, wie der König nicht alleine zur
Königsburg zurückkehrte. War denn nicht heute ihr Hochzeitstag? Aber wen
hielt der König dort unten so zärtlich in seinen Armen? Nein, das durfte nicht wahr sein! Zutiefst erschrocken stürzte sie zu einer geheimen Seitenpforte, eilte wie von Sinnen von dannen und ward nie mehr gesehen. Es geht jedoch seither die Sage, daß in einer entlegenen Höhle eine Salzsäule verborgen sei, gestaltet wie eine entsetzte Frau.
Orpha aber ward mir Freuden empfangen und wieder als Königin und Gattin eingesetzt. Und wenn sie nicht
gestorben sind und du die rechten Augen hast, so kannst du ihnen in mancher Vollmondnacht an jenem Brunnen begegnen.
© Stiftung Stückwerken, *13.-16.10.1997, angeblich als Variation zu KHM 16 und auf Spuren von Wilhelm SPECK; freigegeben am 14.9.2024
Qouz-Note: 2-
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MamM 4 Hanne und Hans
In Altenstadt, unfern des alten Klosters, stand einst ein kleines Haus. Treffender müßte ich
eigentlich Hütte sagen; aber diese war immerhin so groß, daß an manchem Morgen ihr Schatten bis auf das andere Ufer des Mühlengrabens
fiel. Und so etwas konnte noch nicht einmal das alte Schloß auf dem Berge von sich behaupten. Und obendrein bot die Hütte ein Obdach für Hanne und Hans; und auch darin konnte das alte Schloß nicht mithalten.
Wer Hanne und Hans waren? Anfangs waren sie 2 kleine Kinder gewesen – so wie du und ich. Dann hatten sie einander liebgewonnen und geheiratet. Bald ward ihnen eine Tochter
geboren; die hatten sie großgezogen, bis auch sie eine Familie gegründet hatte und in die Gerbervorstadt gezogen war.
Nun waren Hanne und Hans in die Jahre gekommen; und als ihnen ob ihres Alters niemand mehr Arbeit geben
wollte, fingen die beiden an zu darben. „Was wird uns werden?“ fragten sie
sich. „Zum Sterben sind wir noch zu jung; denn unsre Augen sind nicht dunkel geworden, und unsre Kraft ist noch nicht ganz verfallen. Und doch will uns niemand mehr in
seine Dienste nehmen.“
Da hatte schließlich die Tochter ein Einsehen mit ihren Eltern, holte sie zu sich und wies ihnen ein kleines Kämmerchen über der Werkstatt ihres Mannes zu. Der war aber über die neuen Tischgäste gar nicht erfreut und schalt sie unnütze Esser und arbeitsscheues Gesindel. Ach, die beiden hatten es nicht einfach und trauten sich bei Tische kaum zuzulangen.
Obendrein kam nun auch noch eine Teuerung in das Land. Und weil der Eidam sich in seinen Vergnügungen und Leidenschaften nicht einschränken mochte, ward Hanne kurzerhand der ganze Haushalt übertragen
und ihre Tochter in die Sieche zur Arbeit geschickt.
Allein – all’ das gewährte nur einen kurzen Aufschub; und bald konnten die Einnahmen erneut mit den Ausgaben
nicht mehr Schritt halten. Da faßte der Gerber einen teuflischen Plan.
„Frau“, sprach er eines Abends in der Schlafkammer, „so kann es nicht weitergehen. Ob wir wollen oder nicht, wir müssen uns deiner
Eltern entledigen und entsorgen.“
„Aber Mann“, unterbrach ihn seine Frau, „was redest du!“
„Ja, soll ich etwa Schulden machen?“ entrüstete sich der Eidam. „Ich geh’ morgen auf die Jagd und nehm’ die beiden mit.“
„Du willst doch nicht etwa“, entsetzte sich die Frau, „die beiden –“
„– umbringen?“ ergänzte der Eidam. „Hältst du mich etwa für einen Mörder?“
„Du bist in der letzten Zeit so häufig auf der Jagd und mordest das Wild –“, wagte die Frau einzuwenden.
„Und so einer tötet auch Menschen?“ lachte der Eidam.
„Mal sehen, ob uns unser Weg auf den Glasberg führt, wo der alte Schäfer wohnt. Vielleicht können deine Eltern bei dem
bleiben. Na ja, jedenfalls so lange, bis die Geschäfte wieder besserlaufen und das Brot nicht mehr so teuer ist. Mach dir also keine Sorgen, wenn ich morgen abend alleine zurückkehre; deine Eltern
werden es dann besser haben.“
Die Frau mußte es zufrieden sein, konnte aber lange Zeit nicht einschlafen.
Und noch eine konnte nicht einschlafen. Richtig!
Die Hanne! Sie hatte nämlich nach einem Nachttopf gesucht und dabei das ganze Gespräch belauscht. Besser haben? Nein, Hanne traute ihrem Eidam nicht.
Am anderen Morgen tat der Eidam ganz freundlich und lud Hanne und Hans zu einem Jagdausflug ein. Die beiden wollten lange
nicht, denn sie hielten das Jagen und Hetzen für kein edles Handwerk, sondern für eine eitle Schinderleidenschaft.
Als aber der Eidam wie von ungefähr mit seiner Flinte zu spielen begann, da blieb den beiden nichts andres übrig, als mitzugehen. Seufzend nahmen sie von der
Tochter Abschied, die ihnen dabei nicht in die Augen sehen konnte. Was sollte nun werden?
Es war aber der Hanne in der Nacht eine alte Sage aus der Kinderzeit in den Sinn gekommen. Die hatte sie ihrem Mann am Morgen erzählt, und der hatte nur gemeint:
„Mach, was du willst. Es wird uns bestimmt nicht helfen, aber es wird uns auch nicht schaden.“
Da griff Hanne in ihr Nähkästchen, holte eine Garnrolle hervor und band das eine Garnende am Bettpfosten fest. Und als nun Hanne, Hans und ihr Eidam auf den
Waldrand zuschritten und immer tiefer in den Wald hinein, da ließ Hanne die Garnrolle abspulen. Und – du magst es glauben oder nicht – die Rolle spulte und spulte und spulte sich doch
nicht gänzlich ab, so weit die 3 auch gingen.
Endlich waren sie am Rande einer breiten Straße angelangt. „So!“ sprach der Eidam. „Ich will nun alleine weitergehen; denn ich weiß, ihr 2 mögt kein
Blut sehen. Ihr könnt einstweilen schon mal dieser Straße folgen, an deren Ende werden wir uns sicherlich dann treffen.“ Und der Eidam verschwand im Unterholz.
Hans wollte bereits auf die Straße treten, da riß ihn Hanne energisch zurück. „Hans, wo willst du hin?“ herrschte sie ihn an. „Auf! Eilend nach Haus,
ehe unser Eidam zurückkommt!“ Und alsbald ließ Hanne die Garnrolle sich wieder aufspulen, folgte ihr und gelangte endlich mit Hans zum Hause ihrer Tochter. Die war auch sehr erfreut,
ihre Eltern gesund wiederzusehen.
Wer aber nicht erfreut war, das war der Eidam, als er am späten Abend zurückkehrte. Zwar war ihm nicht viel anzumerken; doch glimmten seine Augen heimlich
auf, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Auch hatte er eine Häsin mitgebracht, die übel zugerichtet war und über deren Junge er keine Auskunft geben mochte. „Junge Hasen haben ohnehin
ein elendes Leben“, beendete er die lästige Fragerei. „Laßt uns jetzt zu Bette geh’n.“
Am andern Morgen mußten Hanne und Hans wieder mit auf die Jagd. Und als sie gerade aufbrechen wollten, da meinte der Eidam ganz
beiläufig zu Hanne: „Ach, da fällt mir ein, das Garn ist uns ausgegangen. Könntest du uns mit deiner Garnrolle aushelfen?“ Und als er wieder mit seiner Flinte spielte, da mußte Hanne
ihre Garnrolle abliefern.
Was jetzt? Ängstlich blickte Hans immer wieder seine Hanne an. Doch die schien gar nicht verzagt, sondern hielt auf der Wanderung mit ihrem Eidam hurtig
Schritt. Nur wenn dieser in einen Seitenweg einbog, bleib sie ein wenig zurück, als habe sich ein Zweiglein in ihren Haaren verfangen.
Und wieder gelangten sie an den Rand der breiten Straße, und wieder verließ sie der Eidam, und wieder wollte Hans auf die breite Straße treten und ward von Hanne
zurückgerissen. Aber wie wollten sie diesmal nach Hause finden? Ohne Garnrolle?
„Laß deine Frau nur machen“, versuchte Hanne ihren Mann zu beruhigen; und alsbald kehrten sie um. Und jedesmal, wenn die beiden an eine Wegkreuzung oder eine
Abzweigung kamen, schien Hanne etwas zu suchen. Und wenn sie nichts fand, blieben sie auf dem bisherigen Wege. Fand sie aber eine Haarnadel, so bogen die beiden in einen anderen Weg
ein. Freilich war der Rückweg heute etwas beschwerlicher als gestern; und beinahe wären die beiden gar von der Dunkelheit eingeholt worden. Aber da hatten sie schon den Waldrand
erreicht und langten endlich erschöpft bei ihrer Tochter an.
Wenig später kehrte auch der Eidam zurück. Zornig funkelten seine Augen, und diesmal schleppte er eine Ricke hinter sich her, der er den Garaus gemacht hatte.
Und die Frage nach den Kitzen überhörte er einfach.
Am anderen Morgen zog es den Eidam immer noch nicht in seine Werkstatt, sondern erneut auf die Jagd. Und wieder mußten Hanne
und Hans mit.
„Ach“, sprach der Eidam plötzlich an der Türschwelle zu Hanne, „du trugst ja gestern gegen Ende der Wanderung dein Haar ganz aufgelöst und hättest dich beinahe an den
Zweigen verfangen. Komm, ich will dir schnell die Haare scheren, auf daß dir kein Unglück begegnen kann.“ Und er hieß Hanne sich auf einen Stuhl setzen und schnitt das schöne Haar
ab; und ihre Haarnadeln mußte sie auch abgeben. Hanne wäre ihm am liebsten ins Gesicht gesprungen; doch ein Blick auf die Flinte mahnte sie, sich dem Schicksal zu fügen.
Allein – wozu hatte Hanne geheiratet? „Wenn ich nicht mehr weiterweiß“, sprach sie zu sich, „dann muß mein Mann Rat schaffen.“ Und mährsächlich! Hans
hatte eine schlaue Miene aufgesetzt und bedeutete Hanne heimlich, getrost alles in seine Hände zu legen.
Diesmal war es der Hans, der zuweilen etwas zurückblieb und der dann so tat, als habe er einen Stein im Schuh. Auch heute brachte der Eidam Hanne und Hans bis zur
Straße und verließ die beiden dort; und ein hämisches Grinsen machte ihn noch abschreckender.
„Na, dann wollen wir mal“, sprach Hans und warf sich mächtig in die Brust.
„Wenn die Frau nicht weiterweiß,
sie gar bald den Gatten preis“,
reimte er etwas knechtisch. Allein – Schritt für Schritt wurde er kleinlauter, und schließlich mußte er eingestehen, daß sie sich verirrt hatten. Da damals Haarnadeln bei den Männern
noch nicht in Mode waren, hatte er nämlich eine alte Zeitung zerrissen und deren Fetzen am Wege ausgestreut. Doch in der Zwischenzeit waren die Fetzen vom Winde und den Krähen und Elstern
längst davongetragen worden.
„Weißt du was, Frau“, versuchte Hans von seinem Ungeschick abzulenken, „ein richtiges Zuhause haben wir ja doch nicht mehr. Laß uns versuchen, die breite Straße
wiederzufinden. Irgendwo wird sie schon hinführen.“
Hanne wollte lange nicht, folgte aber dann doch schweren Herzens ihrem Mann. Schon bald gelangten sie zu der breiten Straße, aber Hanne ward von einer seltsamen
Bangigkeit erfaßt.
„Willst du etwa im Walde verschmachten?“ sprach ihr Mann. „Oder dich von den wilden Tieren fressen lassen? Schau nur, hier ist es gut zu wandern.“ Und
damit zog der Hans seine Frau auf die breite Straße.
Und alsbald war es ihnen, als liefen ihre Füße von alleine; immer weiter und weiter, ohne anzuhalten. Schon waren die beiden aus dem Walde hinausgehastet, als
sie vor sich auf einer Anhöhe ein gewaltiges Schloß erblickten. Seine Türme schienen bis an die Abendwolken zu reichen, und die Straße endete an seinem Tor. Es war Hanne, als stehe
etwas abseits der Straße ein Galgen, von dessen Fuße aus sich ein weites Feld erstreckte. Auf diesem Feld hantierte eine Gestalt mit einer Schaufel, und es war mit vielen Steinen
besät. Waren das Grabsteine? Schaufelte die Gestalt gerade ein Grab zu?
Hanne grauste es, doch vermochte sie nicht, stehenzubleiben, und konnte in der zunehmenden Dunkelheit nichts genau erkennen. Ganz außer Atem kamen die beiden am
Schlosse an, aber das Tor ward ihnen nicht geöffnet.
Plötzlich wurden sie von hinten angesprochen und nach ihrem Begehr gefragt. Hanne wandte sich um und – hätte beinahe laut aufgeschrieen. Das war – das war ja
ihr Eidam! Die gleiche Gestalt! Nur die Stimme schien freundlicher zu sein und frei von Häme und Tücke.
Hans hatte sich gar nicht erschrocken, sondern bat sogleich um ein Obdach für die Nacht.
Die fremde Gestalt zog schweigend einen großen Schlüssel hervor, öffnete das Tor und bat höflich, einzutreten und ihm als seine Gäste zunächst in den Speisesaal zu
folgen. Und als der Schein einer Laterne auf das Gesicht des Mannes fiel, beruhigte sich Hanne. Das konnte nicht ihr Eidam sein, denn dieser hatte keinen Bart getragen, keine blonden
Haare gehabt, und eine große Brille hatte sie auch noch nicht bei ihm gesehen. Doch nachdem das Schloßtor hinter ihnen wie von unsichtbarer Hand zugeschlagen war, da war’s ihr, als sei es
eine Kerkertür gewesen.
Nachdem Hanne und Hans sich satt gegessen hatten, ward ihnen eine Schlafkammer angewiesen. Doch während Hans alsbald in einen tiefen Schlaf fiel, ward Hanne von
bösen Träumen arg geplagt. Es war ihr, als griffen schwarze Raubvögel nach ihnen, aber Hanne fühlte sich viel zu schwach, sich ihrer zu erwehren, und mußte es leiden, daß die Vögel auf
ihrem linken Arm und ihrer rechten Hand herumhackten.
Am andern Morgen fanden sie den Schloßherren wieder im Speisesaal. Sie frühstückten gemeinsam, und anschließend fragte der
Schloßherr mit freundlicher Miene, ob er ihnen helfen könne.
Ach, tat das den beiden gut, endlich die Sorgen ihrer Herzen ausschütten zu können.
Der Schloßherr legte seinen Zeigefinger zwischen Nase und Mund und seinen Daumen unter sein Kinn und gab vor, aufmerksam und teilnehmend zuzuhören. Als Hans geendet
hatte, hatte, schien es, als denke der Schloßherr eine Weile angestrengt nach.
„Wisset“, sprach er schließlich, „daß ich ob meiner Kleidung Der schwarze Graf genannt werde und mir seit vielen
Jahren dieses Schloß und dieser Berg gehören. Dennoch bin ich kein reicher Mann, zumal wir hier oben unser Wasser nur in Zisternen sammeln können. Deshalb habe ich auch nichts zu
verschenken und kann Euch beiden nicht länger Gastfreundschaft erweisen. Allein – Euer Schicksal erregt mein tiefstes Mitleid. Und da es Euch an Arbeit mangelt, will ich Euch das
vortrefflichste Angebot machen: Tretet in meine Dienste. Ihr, Hanne, könntet in der Küche helfen, und Ihr, Hans, könntet in Haus, Hof und Garten behilflich sein. Und wenn Ihr mir
treulich dient, so will ich es Euch mit Obdach, Nahrung und Kleidung auf das billigste lohnen.“
Hans war von diesem Vorschlag hellauf begeistert und versprach sogleich, nach besten Kräften für den Grafen zu arbeiten. Allein – Hanne wollte sich Bedenkzeit
ausbitten; aber Hans wußte sie so lange zu bereden und zu beschwatzen, bis auch sie ihr Jawort gab. Wo hätte sie auch hingehen können? Und Hans in diesem Schloß allein
lassen? – Nimmermehr!
Der Graf holte also Pergament, Feder und Tinte und legte alles den beiden vor. Hanne verwunderte sich etwas, weil der Vertrag schon vorbereitet war und bereits in
schwarzer Schrift ihre beiden Namen und die Unterschrift des Grafen enthielt. Allein – Hans griff sogleich zur Feder, tunkte sie ein und unterschrieb sich mit seinem Namen. Aber die
Tinte war rot. Entsetzt schreckte Hanne zurück. Und stand nicht im Vertrag: „dem Schwarzen Grafen zu dienen mit allen Kräften und allem Vermögen und mit ganzer Seele“? Aber Hanne hatte keine Wahl; und als sie dem Grafen in die Augen geblickt
hatte, unterschrieb sie sich wie in einem Traum.
Die Augen aber des Grafen waren streng geworden, und die Stimme war nun die eines Mannes, der es gewohnt war zu befehlen und der keinen Widerspruch duldete. „Du,
Hanne“, verlangte er, „gehst sogleich in den Mägdebau und läßt dir deine neue Kleidung geben! Und du, Hans, holst dir deine Kleidung sofort im Knechtebau!“
Und fortan sah Hanne ihren Hans nur noch bei den Mahlzeiten oder wenn er etwas in der Küche abzuliefern hatte.
Nachdem Hanne ihre neuen Kleider empfangen hatte, zog sie sich um. Und dabei gewahrte sie einen roten Punkt auf ihrem rechten Unterarm und auch jeweils einen roten
Punkt auf ihrem rechten Daumen, Zeige- und Mittelfinger. Hatte das etwas mit ihrem Traum zu tun? Merkwürdig!
Und noch manches andere kam Hanne unheimlich vor. Auf ihre Arbeitskleidung war hinten ein schwarzes Dreieck aufgenäht, genau in Höhe des Herzens. Und wie
viele Mägde und Knechte es hier gab! Davon hatte sie am Abend ihrer Ankunft gar nichts bemerkt. Allerdings waren sie da nur in den Räumen des Herrenbaues gewesen.
Alle Mägde waren etwa in Hannes Alter, trugen die gleiche Kleidung und waren wohlgenährt. Auch bei den Männern war die Kleidung einheitlich und hinten mit dem
schwarzen Dreieck versehen. Doch waren die Männer mager, manche zitterten mit den Händen, und ihr Blick war dumpf und leer. Was war mit ihnen?
Das sollte Hanne bereits beim Mittagsmahl erfahren. Während die Mägde soviel essen durften, wie sie wollten, waren Speis’ und Trank für die Männer genau abgemessen
– je nachdem, für welche Arbeit sie eingeteilt waren. Da wollte Hanne ihrem Manne etwas von ihrem Mahl abgeben; aber kaum hatte sie dazu Anstalten gemacht, ward sie schon
zurückgehalten und vor allen ausgescholten.
Ja, Hanne durfte noch nicht einmal ihren Mann nach dessen Ergehen fragen, denn Gespräche waren grundsätzlich verboten. Gestattet waren nur Befehle, Rückmeldungen
und Singen.
Aber warum ließ sich das Gesinde so etwas gefallen? Tscha, es m u ß t e sich das alles gefallen lassen. Denn der Schwarze Graf
hatte sowohl unter den Mägden als auch unter den Knechten ein strenge Rangordnung eingeführt. Jeder hatte über sich einen Aufseher; und nur die Hauptaufseherin der Mägde und der
Hauptaufseher der Knechte waren direkt dem Grafen unterstellt. Und übertrat einer vom Gesinde irgendein Gebot, so hatte der jeweilige Aufseher die Pflicht, jenen zu bestrafen.
Versäumte aber ein Aufseher dies, so wurde er selbst bestraft. Du kannst dir vorstellen, daß da jeder Aufseher seine Untergebenen peinlich genau überwachte.
Und was für Strafen das waren! Hanne konnte darin anfangs keinen Sinn sehen. Denn ein Knecht wurde mit Essensentzug bestraft; während eine Magd dazu
gezwungen wurde, zur Strafe so viel zu essen, bis sie fast platzte.
Nach und nach wußte Hanne sich in ihre neuen Verhältnisse zu schicken und das Beste daraus zu machen. Schnell hatte sie gelernt, ihrem Hans heimlich ein paar Bissen
zuzustecken und ein paar tröstende Worte zu sagen. Und sie hatte auch bald herausgefunden, welche Magd einem Gespräch nicht abgeneigt war. Und kam doch einmal eine Aufseherin
unerwartet hinzu, so kam es nur darauf an, auch diese in das Gespräch zu ziehen. Nur der Graf durfte so etwas nicht merken. Nahte er, so schoben die Mägde schnell etwas Eßbares in den
Mund, kauten und schmatzten, so daß der Graf keinen Argwohn schöpfen konnte.
Allein – Hanne war vorsichtig; denn der Graf konnte ja Spitzel unter dem Gesinde haben. Deshalb hielt sie sich mit ihren Ansichten sehr zurück und beschränkte
sich darauf, die anderen Mägde behutsam auszufragen. So erfuhr sie, daß es allen ähnlich ergangen war wie ihr: Sie waren auf der breiten Straße zum Schlosse geeilt, hatten dann einen
Nacht im Herrenhause verbracht und waren am anderen Morgen in des Grafen Dienste getreten. Flucht? Nein, die Mauern waren hoch, das Tor fest verschlossen und der Graben tief.
Und warum fliehen? Ihnen ginge es doch gut: immer satt zu essen und keine schwere Arbeit. Dreckig ginge es nur den Männern, aber wozu wären die auch ein Mann!
Nur eins konnte ihnen angst machen. Immer wenn der Graf eine neue Magd in seine Dienste genommen habe, sei tags zuvor die wohlgenährteste unter den Mägden auf
nimmer Wiedersehen verschwunden. Der Graf ein Menschenfresser? Nein, wahrscheinlich bringe er jene Magd nach Altenstadt und zahle sie dort aus; denn der Graf käme jedesmal erst
am Abend in der Dunkelheit zurück, als habe er eine weite Reise hinter sich. Allerdings habe ihn nie jemand wegfahren gehört oder gesehen.
Hanne mußte an ihre Beobachtungen am Abend ihrer Ankunft denken. Doch auf den Galgen und das sonderbare, mit Steinen besäte Feld gingen am Schloß keine Fenster
hinaus. Gab es vielleicht noch einen geheimen Ausgang?
Und wie hier früher ausgesehen habe? Das müsse Hanne einen der Knechte frage; denn von den Mägden bleibe kaum eine länger als ein Jahr. Hanne erschrak:
Höchstens ein Jahr hatte sie Zeit, einen Rettungsweg zu finden. Denn das stand für sie fest: Hier mußte sie wieder raus! Lebend!
Hans hielt überhaupt nichts von einer Flucht. Schließlich hätten sie doch den Vertrag unterschreiben! Aber er wolle einmal heimlich nachforschen, wie es hier
früher gewesen sei.
„Hör zu, Hanne“, wußte er ihr bald unbemerkt zu erzählen, „die andern Knechte sind auch so wie wir auf der breiten Straße gekommen. Doch die ersten haben hier sogar
längere Zeit als Gäste wohnen dürfen, weil der Graf anfangs Gesinde aus der Stadt eingestellt hatte. Doch nach und nach hat der Graf seinem Gesinde den Lohn gekürzt. Ja, er hat sogar
verlangt, daß das Gesinde die erforderlichen Gerätschaften selbst besorge und bezahle. Das haben sich natürlich einige nicht gefallen lassen und sind davongelaufen. Und vom Rest heißt
es, die habe der Graf bald davongejagt. Da haben nun seine bisherigen Gäste in seine Dienste treten müssen, was er ihnen damals ganz besonders schmackhaft gemacht hat. Und bei dieser
Regelung ist es bis heute geblieben.“
Da begab es sich, daß der Graf einen Brunnen bauen lassen wollte und einer der Knechte sich weigerte, diese harte und gefährliche Arbeit zu verrichten. Dem Knecht
wurde alsbald das Essen entzogen, doch wollte er seinen Ungehorsam nicht aufgeben. Ja, es schien, als wolle er das ganze Gesinde gegen den Grafen aufwiegeln. Was würde der Graf
tun? Nun, er sonderte den Empörer kurzerhand von dem übrigen Gesinde ab und ließ ihn ein paar Tage weiterhungern. Schließlich wurde der Knecht wieder zur Arbeit geschickt, brach aber
dabei wenig später ohnmächtig zusammen. Der Graf hieß den Knecht aufheben und auf die Zinne des Wachturmes tragen. Am nächsten Tag ward durch den
Hauptaufseher das Gerücht verbreitet, den Knecht hätten die Englein geholt.
Und bald schien es so, als wolle sich noch manch anderer Knecht lieber von den Englein holen lassen, als die harte Fron leisten zu müssen. Allein – der Graf
wünschte natürlich nicht, einen neue Mode aufkommen zu lassen, und ließ ab dem nächsten Mal verbreiten, den Knecht hätte der Teufel geholt. Und der holte hinfort jeden, der bei der Arbeit
zusammenbrach oder aufbegehrte.
Hanne stand große Angst um ihren Hans aus und ermahnte ihn, ja vorsichtig zu sein. Und die Bissen, die sie ihm heimlich zustecken konnte, erneuerten stets die
verlorengegangenen Kräfte. Aber wie lange noch?
Da bemerkte Hanne, wie der Graf ein besonderes Auge auf sie zu werfen schien. Zwar hatte sie unter den Mägden nicht den größten Leibesumfang, aber eine Bohnenstange
war sie auch nicht, und ihre Haare waren wieder gewachsen und verschönerten ihr schmuckes Aussehen. Und schon bedeutete ihr der Graf, daß er bald eine neue Magd einstellen werde und Hanne
morgen in seine Gemächer kommen solle.
Jetzt mußte Hanne handeln. Noch beim Mittagsmahl gelang es ihr unbemerkt, Hans in ihren Plan einzuweihen. Hans hatte große Angst, doch seine Liebe zu Hanne
war größer; und er versprach, alles so zu tun, wie es Hanne von ihm erbeten hatte. Er ging also zurück auf seine Arbeit, doch kurz vor Einbruch der Dunkelheit sank er wie ohnmächtig
zusammen.
Der Hauptaufseher holte sogleich den Grafen, und der bestimmte, daß Hans von 2 Knechten wie gehabt auf den Wachturm getragen werden solle. Doch kaum hatten die
beiden Hans angefaßt, begann dieser sich schon zu regen. Er erhob sich, und als er den Grafen gewahrte, fing er plötzlich an, wütend auf diesen loszuschimpfen.
Inzwischen war auch Hanne herzugeeilt und tat, als wolle sie ihren Mann beschwichtigen. Allein – je mehr sie auf ihn einredete, desto wütender wurde Hans. Ja,
er verstieg sich sogar so weit, daß er auch noch auf Hanne loswetterte und sie vor allen bezichtigte, die Mätresse des Grafen zu sein. Da hatte aber Hanne endlich genug. Kurz
entschlossen hakte sie Hans unter und sprach zum Grafen: „Kommt, Herr Graf! Nicht lange gefackelt! Faßt Ihr den Hans am anderen Arm, und dann bringen wir ihn schleunigst auf den
Turm.“ Und als Hanne dem Grafen verstohlen zuzwinkerte, griff der ohne Zögern zu, und gemeinsam schleppten sie den zeternden Hans zum Turm. Im Turm war es freilich sehr eng, so daß
der Graf auf der Treppe vorangehen und Hans ziehen mußte, während Hanne als letzte folgte und ihren Mann schob.
Und so kam es, daß der Graf oben als erster die Zinne betreten mußte. Doch kaum hatte der Graf das getan, riß sich Hanne auch schon los und stieß zusammen mit Hans
die Turmtür zu. Geschafft! Wirklich geschafft?
Mit klopfenden Herzen lauschten die beiden. Da, ein Schrei! Und plötzlich schien das Schloß zu beben, und alle Türen und Tore sprangen auf.
„Komm“, sprach Hanne zu ihrem Hans, und schon eilten sie die Treppe hinab, über den Hof und durch das offene Tor auf die breite Straße. Weiter! Weiter!
Nur fort von hier! Endlich sahen sie vor sich einen schwachen Lichtschimmer. Und als sie näher kamen, gewahrten sie, daß sie auf dem Glasberg
waren und das Licht zur Schäferei gehörte. „Vor dem alten Schäfer brauchen wir keine Angst zu haben“, sprach Hanne, und schon bald klopften sie an dessen Tür. Freundlich wurden sie
hereingebeten und durften sogar am Nachtmahl teilnehmen.
Allein – als sie gegessen hatten, klopfte es erneut an die Tür, und herein traten 2 Jägerburschen mit einer Bahre, auf der unter dem Laken anscheinend ein Toter
lag. Wie von ungefähr trat Hanne herzu und deckte das Gesicht auf: Die beiden Hände waren zu Fäusten geballt und vor die Augen geschlagen; dennoch erkannte ihn Hanne. „Hans“,
rief sie entsetzt aus, „Das ist ja unser Eidam.“
Es war ihr Eidam; noch in der gleichen Nacht wurde er in die Gerbervorstadt gebracht und still und heimlich begraben.
Was aus dem Schloß und dem übrigen Gesinde geworden ist? Das Schloß ward von der Regierung eingezogen; denn als die Landjäger am nächsten Tag dort hinkamen,
fanden sie einen großen Schatz. Sie fanden aber auch viele Leichen. Die Knechte und Mägde mußten wohl über die Schätze des Grafen in Streit geraten sein und hatten sich – auch aus
angestautem Haß – gegenseitig erschlagen. Das Schloß wurde abgerissen, der Wald gerodet und von dem Schatz ein großer Kasten für alte Menschen gebaut. Daß der Schwarze Graf dort noch
immer als Geist umgehe, ist sicherlich nur ein Gerücht.
Hanne, Hans und ihre Tochter fanden aber beim Schäfer eine neue Bleibe und Arbeit und Brot. Und wenn sie nicht gestorben sind,
leben sie noch.
© Stiftung Stückwerken, *17.+18.+20.+21.10.1997, angeblich als Variation zu KHM 15, freigegeben am 18.9.2024
Qouz-Note: 3-
***
MamM 5 Hakenschlags tragisches End' und Ehe
Es wär’ einmal eine Häsin, die hatte ein Hase liebgewonnen. Und weil er ein geschickter Krieger und Läufer war, gab die Häsin nach
manchem Drängen endlich ihr Jawort, und beide wurden Mann und Frau. Allein – als die Flitterwochen vorüber waren, ward das
Süßholzraspeln eingestellt. Statt dessen wußte Frau Hakenschlag ihren Mann so zu behandeln, wie es die meisten Ehefrauen tun.
Dem Hasen mißfiel dies sehr. Was konnte er aber tun? Anfangs wollte er seine Frau eifersüchtig machen, doch ließ er gar bald wieder die Pfoten davon. Denn seiner Frau gebrach es nicht an Verehrern. Welch eine Schmach für einen Hasen,
es mit ansehen zu müssen, wie die eigene Frau mit anderen Hasen flirtete! Also versuchte Hakenschlag durch manche Gefälligkeit seine Frau in den Himmel der Flitterwochen zurückzuholen. Doch alles blieb vergeblich. Noch nicht einmal ein eigens gepflückter
Petersilienstrauß konnte Frau Hakenschlag besänftigen. Eine Scheidung wolle sie zwar nicht (sofern der
Herr Gemahl nicht die Ehe breche), aber die Herrin in Sassenhausen müsse sie sein und bleiben.
Tscha, was macht ein Mann, dem zu Hause die gehörige Achtung versagt wird? Richtig! Er sucht sie sich woanders. Und mancher hat sich schon mit seiner Arbeit verheiratet,
weil er zu Hause nicht mehr als Eheherr regieren durfte. Allein – in der Arbeit konnte Hakenschlag keinen ausreichenden Ersatz finden,
denn das Pflanzen und Pflegen hatte er gegen einen geringen Ernteanteil den Bauern überlassen. Und dem Müßiggang mochte er auch nichts
abgewinnen, denn einen Philosophen, wie Herrn Kauz, hielt er für nicht ganz richtig im Kopf und ging ihm geflissentlich aus dem
Wege.
Da begab es sich, daß ein Igel in das Kühlebachtal einwanderte und ein Wettbüro eröffnete. Anfangs war es ja nur ein ganz
natürlicher Wissensdrang gewesen, der Nachbar Hakenschlag in jenes Tal getrieben hatte. Nachdem er einige Male der Studien halber
gesetzt und gewonnen hatte, ward er jedoch vom Wettfieber gepackt. Dieses mochte er sich aber nicht eingestehen, sondern rechtfertigte sich vor seinem Gewissen damit, daß
er alles zum Wohle seiner Frau und seiner Kinder tue. Allein – zu Hause ward ihm seine Liebesmühe nicht mit Dank vergolten, sondern nur
mit lästigen Fragen und steigenden Erwartungen.
„Ihr müßt halt immer gewinnen, Herr Hakenschlag“, tröstete der Igel, „dann liegen Euch alle zu Füßen.“
Jedoch – plötzlich verließ den Hasen das Glück! Zwar gingen noch manches Mal die Heupferde, auf die
Hakenschlag gesetzt hatte, als 1. durchs Ziel; doch wurden sie stets gleich disqualifiziert, weil sie eine unerlaubte Abkürzung
genommen oder die anderen Wettkämpfer regelwidrig behindert hatten. Bald waren des Hasen Ersparnisse aufgezehrt, dennoch wettete
Hakenschlag weiter – und verlor. Ein Kartoffelacker ging an Familie Schwarzkittel, ein Kleefeld an die Witwe Rick Bock sel. nebst Kindern, ein Waldstück an den Friedensrichter
Reineke Rotrock und ein wertvolles Ufergrundstück an Frau und Herrn
Kar-Nickel; doch das meiste verlor er an das Wettbüro Stachelkugel &
Frau.
Zum Glück hatte Frau Hakenschlag rechtzeitig mit ihrem Mann Gütertrennung vereinbart und beim Friedensrichter ordnungsgemäß eintragen lassen. Und so kam es, daß Gerichtsvollzieher von Bachstelz mit gewichtiger Amtsmiene zwar viel
besehen, aber nichts pfänden konnte. Hakenschlag war pleite!
Kaum jemand wollte dem Hasen noch Kredit geben. Allenfalls Herr Maulwurf; aber die Auszahlung erfolgte in ausländischen Papieren, und die wurden von Herrn Stachelkugel nicht akzeptiert. Dennoch wollte Hakenschlag unbedingt weitermachen; irgendwann mußte doch die große
Wende kommen! Doch zu Hause kein Rückhalt. Dort war er nur noch geduldet,
gespeist mir verächtlichen Blicken. Niemand glaubte an ihn. Ach, diese
Schmach war kaum noch zu ertragen.
Da bot ihm Herr Stachelkugel seine Hilfe an. „Hakenschlag, du dauerst mich“, sprach er eines Tages.
„Leider kann ich dich nicht als Teilhaber aufnehmen, aber wie wäre es, wenn du dich als Wettkämpfer bei mir verdingtest? Du könntest so
nach und nach deine Schulden abarbeiten. Und wenn du mir getreulich dienst, so will ich dir in meiner Großzügigkeit obendrein noch jede
Woche einen Wett-Taler geben; den kannst du dann bei mir setzen und dein Glück damit machen.“
Hakenschlag hatte keine andere Wahl und heuchelte deshalb: „Ich dank’ Euch auch schön, edler Herr Stachelkugel.“ Tscha, so tief war der Hase inzwischen gesunken: einst ein geachteter Gutsherr, nun ein unterwürfiger Rennläufer!
Aber er war ein guter Rennläufer und gewann jeden Wettkampf. Anfangs ließ ihn Herr Stachelkugel auch gewähren,
doch bald verlangte er von Hakenschlag, nur noch so zu laufen, wie es dem Gewinne des Wettbüros zuträglich sei.
Nein, das war zuviel verlangt! Denn gerade hatte Frau Hakenschlag nach langer Zeit damit begonnen, ihrem
Gatten wieder etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken; und nun sollte er nicht mehr siegen dürfen?
„Was willst du machen, mein Teuerster?“ hielt ihm der Igel vor. „Wie willst du von deinen Schulden herunterkommen, wenn ich dich wegen Ungehorsams leider entlassen muß?“
„Soll ich etwa wider Ehre und Gewissen handeln?“ fragte der Hase zornig zurück. Doch da fiel ihm plötzlich ein Ausweg ein. „Wie wär’s“, schlug er vor, „wenn mal Ihr
mit mir um die Wette liefet? Ich will meine Ehre und mein Gewissen setzen, und Ihr haltet mit allen meinen Schulden dagegen.“ Gespannt wartete er auf die Antwort, denn er glaubte, besonders pfiffig gewesen zu sein. Und mährsächlich, der Igel willigte ohne Bedenken ein.
Tscha, über den Ausgang dieses denkwürdigen Rennens hat ja sogar der Buxtehuder Deichanzeiger berichtet, wenn auch der Hase
dabei nicht besonders gut weggekommen ist. Allein – der Kern der Meldung trifft zu: Der Hase ward betrogen und tot vom Platze
getragen.
Ach, war das ein Jammer in Sassenhausen! Als Frau Hakenschlag der so früh Verschiedene in den Hausflur
gebracht ward, stand ihr alsbald das Wasser in den Augen. Und es bestätigte sich aufs neue das Sprichwort: Aus garstigen Gattinnen
werden weinende Witwen. Auch regnete es gerade in Strömen, so daß kaum auszumachen war, wer jämmerlicher aussah: der Entschlafene
oder seine Witwe.
Frau Hakenschlag beantragte alsbald ein Staatsbegräbnis und wußte dies mit den außerordentlichen sportlichen Leistungen, aber auch mit dem tragischen Schicksal ihres
Mannes zu begründen. „Und“, schluchzte die Witwe, „er hatte ein so gutes Herz! Keinem Wolf, keinem Fuchs, ja, keiner Maus hat er jemals etwas zuleide getan.“
Da der König ins Exil an den Main gegangen war, wurde die Sache seinem Statthalter vorgelegt, doch Friedensrichter Reineke lehnte ein Staatsbegräbnis rundweg
ab. Ja, er besaß sogar die Unverfrorenheit, an die finanziellen Verhältnisse des Verblichenen zu erinnern. Ei, wenn Blicke töten könnten, hätte Frau Hakenschlag jetzt einen Mord begangen.
Zum Glück kam noch rechtzeitig das fromme Rotkehlchen herbeigeeilt und schlichtete den Streit. Zwar erhielt der Hase nun kein staatliches Begräbnis, aber es konnte fast fürstlich genannt werden. Feierlich ward der Leichnam zu seiner letzten Ruhestätte unter den Fichten getragen, die damals die alte Fischerhütte umstanden. Mit ergreifenden Worten hielt der Dompfaff die Grabrede. Und als der Maulwurf den 1. Heidesand in das offene Grab warf und sich von der Fischerhütte der köstliche Rauch ausbreitete, hatten alle von der
großen Trauergemeinde Tränen in den Augen.
Das Rotkehlchen trug nun noch eine eigens komponierte Trauerarie vor; und während die übrigen Trauergäste zum
Grabe schritten und dann den Hinterbliebenen ihr Beileid ausdrückten, tröstete der Gesangverein Lämmerspiel mit seinen ergreifenden Weisen. Anschließend hatte die Witwe zu einem Leichenschmaus in ihren Kohlgarten eingeladen, allein – die meisten Trauergäste wußten sich zu
entschuldigen. Der Friedensrichter hätte noch einem Kriminalfall nachzugehen, da in der Nähe seines Amtssitzes viele Mäuse- und
Entenknochen gefunden worden seien; das Rotkehlchen mußte zu seinen Jungen zurück; der Maulwurf hatte einen dringenden Auftrag als Landschaftsarchitekt erhalten; und
der Dompfaff hatte seine nächste Predigt vorzubereiten. Zurück blieb somit nur die nächste Verwandtschaft und die Sippe der
Kar-Nickels.
Als nun der 1. Hunger gestillt war, fragte die Witwe wie von ungefähr: „Hat eigentlich jemand von euch die beiden Stachelkugeln gesehen?“
Nein, die hatte niemand auf der Beerdigung gesehen.
„Aha!“ empörte sich da die junge Witwe. „Erst meinen
geliebten Gatten in den Tod hetzen, dann den Betrug als Heldentat feiern lassen und schließlich seinem treuesten und tüchtigsten Mitarbeiter das letzte Geleit verweigern! Das ist doch wohl der Gipfel!“
„Das fordert strengste Bestrafung!“ riefen die Kar-Nickels.
„Das fordert Rache und Genugtuung!“ riefen noch lauter die Anverwandten.
Und um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, schlugen die Trauergäste mit Stöcken und Steinen gegen die Zaunpfähle. „Nieder mit den Igeln! Nieder mit den Igeln!“ schallte es dem Eichelhäher entgegen, der gerade auf seinem Streifeflug vom Heidenhain herunterkam.
„Wollt ihr wohl sofort stille sein!“ schimpfte er zornig. „Oder soll ich den Friedensrichter holen?“
Nein, das wollten natürlich alle aus Angst vor den unwägbaren Folgen vermeiden. Und auch Witwe Hakenschlag
mahnte zu Ruhe und Besonnenheit. „Doch wäre ich euch dankbar“, bat sie, „wenn ihr mir helft, die beiden Igel auszugrenzen; das übrige überlaßt ruhig mir.“
Indessen ahnten Stachelkugels noch nichts von dem, was sich da über ihnen zusammenbraute. Im Gegenteil, denn durch
ihren Sieg waren sie weltberühmt geworden, Mensch und Tier priesen der Igel Witz und Weisheit, und die Geschäfte gingen gut. Allein
–die Grabrede des Dompfaffs war nicht ohne Wirkung geblieben, und es hätte nur eines geringen Anlasses bedurft, so wäre des Volkes Meinung umgeschlagen.
Noch aber fühlte sich Herr Stachelkugel in seinem Verhalten bestätigt, und das ließ ihn jegliche Vorsicht vergessen. Er hatte nämlich in seinen Büchern nachgeschlagen, wie hoch bei ihm der Hase an dessen Ende in der Kreide gestanden hatte. Und so beschloß der Igel, seine Außenstände bei der Witwe einzutreiben. Zwar gab es
dafür keine Rechtsgrundlagen mehr, „aber“, sprach der Igel siegesgewiß zu sich, „dem Recht kann nachgeholfen werden! Auf zum
Friedensrichter!“
Dieser war gar nicht von diesem Besuch erbaut, und das Recht beugen wollte er schon gar nicht. Aber als der
Igel nun andeutete, er wisse zufällig, wer die Knochen draußen vor dem Amtssitze „verloren“ habe, da wurde es dem Richter doch ziemlich mulmig. „Wenn ich Eure Sache bei rechtem Lichte betrachte“, lenkte er nun ein, „muß ich zugeben, daß ich eigentlich ganz Eurer Meinung bin. Allein – ich habe mir gerade meine Gänsefeder zerbrochen, so daß ich Euch leider im Augenblick nichts Schriftliches mitgeben kann. Seid aber meines Schutzes gewiß und geht unbesorgt; ich achte, das Recht wird mit dem
Tüchtigen sein.“
Kaum war aber der Igel fort, ließ der Richter auch schon den Eichelhäher kommen und wies ihn an, dem Igel zu folgen und des Volkes Meinung zu erkunden.
Seiner Sache völlig sicher tippelte der Igel also gen Sassenhausen, stellte aber erleichtert bald fest, daß er gar nicht so weit zu laufen brauche; denn schon hinter der alten Fischerhütte traf er auf die Gesuchte. Jedoch – die Witwe
war nicht allein. Sie hatte nämlich die Freunde des Hauses zu einer Gedenkstunde am Grabe eingeladen, und alle waren
gekommen.
Den Igel schreckte das überhaupt nicht; sondern unverfroren tippelte er auf die Witwe zu und begann ohne Gruß:
„Dein Gatte ist mir bekanntlich noch etwas schuldig. Ich hoffe, du hast genügend Geld zu Haus. Außerdem habe ich Auslagen –“
Weiter kam er nicht. Während die Witwe sich von einem Weinkrampf schütteln ließ, brüllte, blökte und zeterte
alles, was rechtschaffen und redlich war, auf den Igel ein. Und der Eichelhäher, der alles vom Dach der Fischerhütte genau verfolgt
hatte, konnte dem Friedensrichter melden, daß der Igel bald ängstlich davongeschlichen war. Die Laune des Friedensrichters besserte
sich, und er machte sich auf, einige wichtige Gespräche zu führen.
Nachdem der Igel mühsam zur Chaussee hinaufgetippelt und wieder unten im Kühlebachtal angelangt war, ging es auch mit seinen Geschäften bergab. Die Heupferde sprangen davon und wollten fortan musischen Interessen nachgehen. Die
Wettkunden blieben nach und nach aus, und die Schuldner zahlten weder Zins noch Tilgung. Schließlich kreuzte auch noch eine Abordnung
des mächtigen Igelverbandes bei Stachelkugel auf, ließ sich die Bücher zeigen, blickte flüchtig hinein und sprach den Ausschluß aus.
„Wir Igel sind zwar klug, aber nicht gerissen“, fand der Leiter der Abordnung deutliche Worte. „Auch sind wir
selbstbewußt, aber nicht rücksichtslos; sparsam, aber nicht habgierig. Und
wer uns Schande bereitet, den können wir nicht mehr unter uns dulden.“ Dann zog die Abordnung wieder fort, einer hinter dem
andern.
„Und wer ist an allem schuld?“ fragte sich der Igel nun.
„Die Hakenschlag!“
Und da stand sie auch schon vor ihm wie eine strafende Göttin. „Stachelkugel“, sprach sie sogleich, „ich fordere Ihn
hiermit auf, morgen gegen mich um seine Ehre zu laufen. Gewinnt Er, so darf Er hier wohnen bleiben; gewinne ich, so muß Er mit seiner Familie binnen 12 Stunden das Land verlassen.
Gelaufen wird auf der Chaussee von Dortwehr nach Feldgosse bis zum Sattel an der Zährenstraße.“
„Frechheit!“ zürnte der Igel. „Wie sprichst du überhaupt
mit mir? Wer gibt dir überhaupt das Recht –“, aber Frau Hakenschlag war längst verschwunden. „Auch gut!“ murmelte der Igel.
„Hilft die List beim 1. Mal, hilft sie auch ein 2. Mal.“ Und noch in der Nacht schickte er seine Gattin hinauf zur Zährenstraße.
Am anderen Morgen hatte sich bereits alles, was in der Tierwelt Rang und Namen besaß, am Startplatz eingefunden. Nur der Friedensrichter fehlte; denn er war gleich zum Ziel geeilt und hatte den
Eichelhäher damit beauftragt, das Startzeichen zu geben. Warum ansonsten alles am Start wartete und nicht am Ziel? Nun, welches hohe Tier geht schon zu Fuß einen Berg hinauf? Außerdem hatte es der
Friedensrichter so angeordnet.
Nachdem Wettkämpferin und Wettkämpfer sich genügend aufgewärmt hatten, gingen auch sie an den Start. Endlich
gab der Häher das Startzeichen, und Witwe Hakenschlag und Herr Stachelkugel sausten los.
Doch o weh! Plötzlich kam ein Wagen die Chaussee herabgerattert. Der Witwe gelang es noch rechtzeitig auszuweichen; aber Stachelkugel pochte auf
seinen Vorrang. Vorsichtshalber rollte er sich aber zu einer Kugel zusammen; allein – hier half ihm das gar nichts. Er war auf der Stelle tot.
Warum sollte die Witwe das Rennen alleine fortsetzen? Gemächlich hoppelte sie zum Start zurück. Endlich kam auch der Friedensrichter herabgewandelt, dem die Zeit wohl bedenklich lang geworden war. Aber warum waren an seiner Schnauze Blutspuren zu sehen? Und warum hinkte er mit
einer Vorderpfote? Hatte auch er Bekanntschaft mit dem Wagen gemacht?
Niemand wagte zu fragen.
Frau Stachelkugel ward nie mehr in der Gegend gesehen; und auch die sterblichen Überreste ihres Gatten waren
am nächsten Morgen spurlos verschwunden. Als aber eine Woche
später Witwe Hakenschlag beim Friedensrichter vorsprach, um ihm für Rat und Tat zu danken, gewahrte sie vor dem Amtstor 2 seltsame Fußmatten. Und da sie etwas wißbegierig war, sprach sie den Friedensrichter auf die robusten Matten an.
„Wollt Ihr’s wirklich wissen“, fragte der Friedensrichter, „wie ich zu den beiden Matten gekommen bin?“
Und als die Witwe eifrig nickte, bat er sie herein und erzählte ihr die entsprechende Geschichte. Ja, er
entdeckte ihr auch, was er über den Enten- und Mäusemord vor seiner Haustür wußte. Leider sorgte er aber auch dafür, daß es Witwe
Hakenschlag niemandem weitersagen konnte.
Bald zog ein neues Igelpaar in das Kühlebachtal, das war ehrbar und förderte nicht das Laster. Und es dauerte
nicht lange, da war das Ansehen des gesamten Igelvolkes wiederhergestellt.
Allein – solange Reineke Rotrock am Heidenhain noch immer Friedensrichter ist, leben dort manche Tiere gefährlich.
© Stiftung Stückwerken, *21.-23.10.1997, als angebliche Variation zu KHM 187,
freigegeben am 9.7.2024
Qouz-Note: 4- {artur habe sich später von seinen
wenigen MamM mit tragischem Ausgang distanziert. Deshalb verdient es keine bessere
Note; aber auch keine schlechtere, da es Eheleuten als warnendes und lehrreiches Beispiel dienen mag.}
***
MamM 6 Die Pechtrine
„Ach, was geht es mir doch schlecht!“ jammerte Trine einst in ihrer Kammer, als sich
der wohlverdiente Mittagsschlaf nicht einfinden wollte. „Vater ist auf dem Felde, Mutter im Stall oder in der Küche, während ich mich
kaum zu regen weiß. Immer nur schlafen und essen, schlafen und essen, – wer kann so etwas auf die Dauer aushalten!“
Endlich ward sie aber doch vom Schlaf großväterlich in die Arme genommen; und als sie nach 3 Stunden erwachte,
war es an der Zeit, sich an den gedeckten Kaffeetisch zu setzen. Hier wußte Trine wieder kräftig zuzulangen und überließ es dann
großherzig der Mutter, den Tisch abzuräumen und den Abwasch zu besorgen.
Indessen schleppte Trine ihren schweren Leib mit letzter Kraft zum Lehnstuhl, um sich dort von den Strapazen der Mahlzeit zu erholen und ächzend die Zeit des Nachtessens
zu erwarten. Dieses ward auch pünktlich von der Mutter aufgetragen. Aber
was war das? Da hatten ja die Eltern noch Meister Ellenschlag aus der Stadt eingeladen! Endlich einmal eine Abwechslung im eintönigen
Tagesablauf!
Wie es sich für einen anständigen Kavalier ziemt, fragte natürlich Herr Ellenschlag bald nach Trines Wohlbefinden.
„Schlecht, Herr Ellenschlag“, antwortete Trine seufzend. „Mir geht’s sehr schlecht!“
„Ei, das hör' ich aber gar nicht gerne“, sorgte sich Herr Ellenschlag. „Jungfer Trine, wo fehlt’s
denn?“
„Ach“, entgegnete Trine und schluckte einen großen Bissen hinunter, „Herr Ellenschlag, wenn Ihr wüßtet! Ach,
wenn Ihr wüßtet! Nun bin ich schon fast 20 Jahre alt, und mein Leben ist nicht köstlich gewesen, denn es war lauter Mühe und Anstrengung.“
„Ei, dann wird’s Zeit, daß Ihr endlich einmal das Faulenzen lernt“, wußte Herr Ellenschlag zu raten.
„Wißt Ihr was, tretet als Lernkraft in meine Schneiderei ein. 6 Jahre könnt Ihr bei mir lernen; Kost und Logis frei, und am Ende will ich Euch noch einen Extralohn zahlen. Das wäre
doch gelacht, wenn ich Euch das Faulenzen nicht beibringen könnte! Nun, was ist? Sagt ja, so will ich den Lehrvertrag heute nacht noch aufsetzen; und morgen früh
könnt Ihr schon bei mir anfangen.“
„Von – mff – Herzen – mff – gern“, rief da die Trine und hätte sich beinahe noch verschluckt. „Ach, ich hab’
es ja schon immer gewußt, daß Ihr mich einmal glücklich machen werdet.“
Und gleich nach dem Essen kehrte der Schneidermeister zufrieden in die Stadt zurück.
In dieser Nacht konnte Trine lange nicht einschlafen. Das Faulenzen sollte sie lernen? Das mußte eine schwere Kunst sein! „Aber“, war sich Trine sicher, „ich werd’ es darin
bestimmt zur Meisterschaft bringen!“ Und endlich fielen ihr die Augen zu, und sie träumte von Prinzen und Feen und Zauberern und
Schneidern – und vielleicht gar von dir?
„Aufwachen, Trine! Aufwachen! Herr Ellenschlag
wartet!“ rief jemand und klopfte unbarmherzig an die Kammertüre.
Trine blinzelte mit den Augen. „Träum’ ich, oder wach’ ich?“ sprach sie zu sich. „Ach, es wird gewiß ein Traum sein, denn so früh am Morgen steh’ ich noch nicht auf.“ Und Trine legte sich auf die andere Seite.
„Trine!“ rief jetzt auch eine Männerstimme, und dann bollerte es derart gegen die Kammertür, daß Trine – du magst es
glauben oder nicht – vor Schreck – Ja, so kann’s gehen! – aus dem Bett fiel.
Wums! Die Mutter und der Schneider kamen sogleich in die Kammer gestürzt und stellten Trine auf die Beine. Jedenfalls war sie jetzt wenigstens wach.
Trine ward also von der Mutter rasch angekleidet; und während dann die Mutter ein Bündel schnürte, versuchte
sich Trine am Frühstück. Ach, dieses war heute wirklich früh zu nennen und mochte Trine weder munden noch schmecken. Obendrein mahnte der Schneider zur Eile, so daß sich Trine dieses Mal mit 5 Schnitten und 4 Eiern begnügen mußte. So war sie natürlich nicht sattsam gestärkt für die weite Wanderung, die sie nun antreten mußte; aber jede Kunst fordert ihre Opfer, also auch die Kunst des Faulenzens.
Und da Trine ja ihrem Glück entgegenzugehen meinte, fiel ihr auch der Abschied von den Eltern nicht besonders schwer. Hurtig schritt sie gen Osten; allein – als der Weg nach Norden schwenkte und sie noch
einmal einen Blick auf Kleinhohntal werfen konnte, wollte sie unbedingt eine Rast einlegen.
„Ei, willst du dich wohl sputen!“ drängte Herr Ellenschlag. „Weißt du nicht, daß hier jeden Augenblick ein Wolf oder Räuber aus den finsteren Schluchten hervorbrechen kann?“
Oh weh! Zwar war Trine noch nie einem Wolf oder einem Räuber begegnet, doch aus ihren Märchenbüchern und
Träumen wußte sie, daß damit nicht zu spaßen war. Also weiter, weiter, weiter. Zum Glück ging es am Flusse abwärts; aber eine Meile ist lang für eine Jungfer, die
an den Lehnstuhl gewöhnt ist. Noch nicht einmal vor dem Steintore ward angehalten und ihr ein Schluck gegönnt. „Denn“, warnte der Schneider, „wer aus diesem Brunnen trinkt, muß nächtelang wandern“, und das wollte Trine
nun wirklich nicht.
Endlich gelangten sie in das Weberviertel, an dessen Rande Herr Ellenschlag seine Werkstatt eingerichtet hatte.
„So!“ sprach der Schneider, „nun wollen wir gleich mit dem Unterricht beginnen. Trine, sei so gut, hol schon mal Holz und Kohlen aus dem Keller und heiz den Ofen;
hier ist ja eine Kälte, daß einem die Zähne klappern können.“
„Ei, heizt doch selber!“ entgegnete Trine bockig. „Ist
es denn mein oder ist es Euer Ofen?“
„Auch gut!“ schmunzelte der Schneider. „Dann müssen wir
uns eben warmfaulenzen.“
Und so geschah es auch. Zwar durfte Trine noch keinen Faden führen; aber sie ward bald hierhin und bald dorthin geschickt und ständig in Trab gehalten.
Und hätte Trine nicht gehorcht, so hätte sie frieren müssen.
Schon lang ersehnt, kam die Mittagszeit herbei; und Trine fragte ungeduldig, ob sie sich nicht bald an den
gedeckten Tisch setzen dürfe.
„Ei, freilich!“ entgegnete der Schneider. „Geh nur in
die Küche, schäl die Kartoffeln, putz das Gemüse und mach Feuer im Herd. Ich komm' hier einstweilen alleine zurecht.“
„Das könnte Euch so passen“, bockte Trine wieder. „Lieber will ich hungern!“ Und das mußte sie nun auch.
Erst als draußen die Laternen angezündet wurden, hatte der Schneider ein Einsehen und bereitete selbst das Nachtessen. Und kaum war eine Woche vergangen, da hatte Trine bereits die Anfangsgründe des Faulenzens so gut begriffen,
daß sie sich die nötigen Aufgaben redlich mit Herrn Ellenschlag teilen konnte.
Was blieb ihr auch anderes übrig? Nach Hause laufen? Und dabei vielleicht den Wölfen und Räubern in die Hände fallen? Nein, davor gruselte
ihr. Und dann die Schmach! Alle täten sie auslachen. Und außerdem graute ihr auch immer vor der harten Arbeit in ihrem Elternhause. Da war
das Faulenzen doch schöner: Der Tag verging wie im Fluge, und Frau Langeweile mied die Schneiderwerkstatt wie die Pest; das Essen
schmeckte und war ein Vergnügen, am Abend fand sich noch Zeit für einen kleinen Verdauungsspaziergang, und der Schlaf war zwar kurz, aber tief und erholsam. Auch hatte Trine nicht vergessen, wie ihr der Schneider gleich am Anfang wie von ungefähr den Diebesturm
gezeigt und ihr darüber gar schaurige Geschichten erzählt hatte. Schon mancher habe gegen seinen Lehrherren aufbegehrt oder sei – welch
ein Vergehen! – davongelaufen; im Turme habe er dann sein Dasein fristen und
büßen müssen.
So zogen denn 6 Jahre zur Frau Holle hinauf, und Trine nahm ab an Trägheit und Taille und zu an Kennen und Können. Endlich kam der Tag, an dem ihr Herr Ellenschlag bescheinigen konnte, sie habe nun ausgelernt und er könne ihr im Faulenzen nichts mehr
beibringen.
„Und weil du mir treulich gedient hast“, sprach der Schneidermeister, „will ich dir neben einem Zehrpfennig auch den versprochenen Lohn auszahlen.“
Was wird das wohl für ein Lohn gewesen sein? Du rätst es nicht! Ein Hahn! Ein lebendiger Hahn – reich an Würde und an Jahren.
„Ja, Trine, so einen trefflichen Lohn hättest du nicht erwartet“, freute sich der Schneider. „Und hör nur,
welche Vorzüge er hat! Erstlich wird er dich jeden Morgen rechtzeitig zum Faulenzen wecken – und das zärtlich und mit lieblicher Stimme. Zweitens kannst du mit ihm ein Fürstentum begründen, sobald du ihm genug Hühner zugeführt hast. Und drittens ist er ein einzigartiger Figaro und Haarkünstler und mit dem Kamm groß geworden. Ei, wie werden dich da alle beneiden!“
Das gefiel Trine außerordentlich, und sie bedankte sich artig. Dann ward der Hahn in eine luftige Schachtel
gesetzt und Abschied genommen. Und schon zog Trine zum Tore hinaus.
„Ei, Trine“, sprach sie zu sich, „was hast du nur immer für ein Glück! Kaum glaubst du, den Gipfel erreicht zu
haben, so geht’s mit dir noch weiter hinauf!“
Allein – hast du schon einmal einen Hahn in einer Schachtel getragen? Siehst du, – die Trine auch
nicht! Und so schaffte sie es nur bis zum Brunnen und setzte sich im Schatten der Linde nieder. Doch weil der Schneider sie einst vor dem Wasser des Brunnens gewarnt hatte, traute sie sich nicht, davon zu trinken.
„Aber dem Tiere wird’s schon nicht schaden“, sprach sie zu sich, als der liebliche Rauch eines nahen Gartenfeuers dem Hahn arg in der Kehle kratzte. Sie öffnete also geschwind die Schachtel und ließ den armen Hahn trinken.
Weil sich aber Trine nicht zum Räucherschinken zubereiten lassen wollte, verschob sie ihre Heimreise auf den nächsten Tag und kehrte mit ihrer geheimnisvollen Schachtel
in einer Herberge vor dem Stadttor ein. Und was hättest du jetzt getan?
Tscha, wandern macht müde, und du hättest dich gewiß bald zur Ruhe begeben. Und gerade das tat Trine auch. Und als es von der Pfarrkirche 10 schlug, war Trine bereits eingeschlafen.
11 Uhr! 12 Uhr! 1 Uhr! 2 Uhr! – Kikeriki!
– 3 Uhr! – Kikeriki! – 4 Uhr! – Kikeriki! – Bum! – „Seid Ihr verrückt geworden?“
Schläfrig erhob sich Trine von ihrer Lagerstätte, schlurfte zur Türe und öffnete.
Stell dir vor, du hast gerade von einer rosigen Zukunft geträumt, und plötzlich steht vor dir zornfunkelnd ein Wirt im Nachtgewande. Und in dem Schein seines Talglichtes siehst du, daß er nicht alleine gekommen ist.
Tscha, jetzt weißt du, wie es Trine zumute war.
Nun, ich will’s kurz machen. Der Hahn ward sogleich des Hauses verwiesen; und weil sich Trine nicht von ihrem Lohne trennen wollte, mußte auch sie schleunigst das Haus verlassen. Da war jetzt freilich guter Rat teuer und nötig! Du hättest natürlich den Hahn gleich
wieder zum Schneider zurückgebracht. So schlau war die Trine auch; allein –
die Stadttore waren verschlossen. Und wie hatte der Schneider noch vor dem Brunnenwasser gewarnt?
„Ach“, jammerte die Trine, „hätte ich dem Hahn nur nicht von dem Wasser zu trinken gegeben! Nun muß er
nächtelang wandern – und ich mit! Ach, ich arme, arme Trine! Ständig werde
ich vom Pech verfolgt!“
Und wie sie sich nun ihr Leid klagte, da stand sie auf einmal wieder vor jenem Brunnen. Allein – der Platz
unter der Linde war besetzt! Du hättest dich bestimmt gefürchtet.
„Ei, guten Morgen!“ sprach eine männliche Stimme in der Dunkelheit. „So früh schon unterwegs?“
„Ach“, seufzte Trine, „was bleibt mir anderes übrig?“ Und weil die Stimme des Mannes einen vertrauten Klang
hatte, schüttete Trine ihm ihr Herz aus.
„Na, da werde ich Euch wohl helfen können“, tröstete der Mann. „Ich habe hier einen vortrefflichen Kater,
kundig in der Musik und in Schnurren, Sagen und Märchen. Der könnte Euch gut die Zeit vertreiben, sucht sich Speis’ und Trank selbst
und braucht nicht getragen zu werden. Und weil Ihr mich dauert, so will ich ihn gerne gegen Euren Hahn eintauschen.“
„Von Herzen gern!“ freute sich Trine, und alsbald ward der Tausch vollzogen.
Ach, nun ging es sich noch einmal so leicht; und hurtig schritt Trine dem Morgen entgegen, und hurtig trottete
der Kater hinterdrein.
„Was hab’ ich nur immer für ein Glück!“ jauchzte die Trine laut. Allein – wie Trine so sorglos dahinschritt, versäumte sie leider den Wegabzweig nach Kleinhohntal und verirrte sich in das Hagenbachtal. Was nun?
Zu allem Überfluß kam auch noch ein großer Hund angesprungen und schien sich sehr für den Kater zu interessieren. Der war aber nicht faul und sprang sogleich auf Trines Schulter, als hätte er einen sicheren Baum gefunden. Und dann begann das Konzert! Trine hätte gerne auf ihre Freikarte verzichtet, und
schon fing sie wieder an zu jammern: „Kaum glaub’ ich, ein kleines Glück gefunden zu haben, da schlägt es auch schon zum Unglück aus. Ach, was hab’ ich doch immer für ein Pech!“
„Dann wird’s Zeit, daß Ihr das ändert!“ sprach plötzlich eine Stimme. „Gebt mir Euren Kater, so will ich Euch diesen Hund hier lassen. Der wird Euch
niemals belästigen, ist treu und untertänig und weiß Euch zu beschützen.“
Seltsam, auch diese Stimme kam Trine vertraut vor, obwohl sie den Mann, der da vor ihr stand, nicht kannte. Es
fiel ihr somit nicht schwer, den Vorschlag anzunehmen, denn es konnte ihr ja nur bessergehen. Oder wärst du gerne mit einem Kater durch
die Lande gezogen, der dir ständig auf die Schulter springt?
Trine ließ sich also den Kater vom Halse schaffen, erhielt eine Hundeleine in die Hand, und weiter ging’s das Tal hinauf. Tscha, das war nun ein leichtes Wandern, sich vom Hund ziehen zu lassen; und wir
könnten uns trefflich darüber streiten, wer wen an der Leine hatte.
„Und ich bin doch ein Glückskind!“ jauchzte Trine und trällerte ein Lied nach dem andern. Dabei hatte sie in ihrem Glück ganz vergessen, nach dem rechten Weg zu fragen.
Da begab es sich, daß eine Schar frommer Kühe des Weges wandelte, als wolle sie in Westeralden zur Messe gehen. Nahezu schwarz war ihr Pilgerkleid und eintönig der Gesang. Trine trat ehrfürchtig
zur Seite, ließ den Büßerinnenzug vorbei und harrte des Kuhtreibers. Sie hätte nämlich gar zu gerne gewußt, zu welchem Kloster diese
Kühe gehörten, zumal sonst hier alles protestantisch war. Allein – der Treiber kam nicht. War ihm etwa ein Unglück zugestoßen?
Vorsichtig setzte Trine ihren Weg fort und hielt sich tapfer 3 Schritte hinter ihrem Hunde. Kaum waren sie um
eine Waldecke gebogen, da zerrte auch schon der Hund heftig an der Leine. Und plötzlich –
Na, du wärst natürlich gleich in Ohnmacht gefallen oder schreiend davongelaufen. Nicht aber Trine! Kein Schrei kam über ihre Lippen, kein blankes Entsetzen putzte ihr Gesicht. Fest
hielt sie die Leine in den Händen und schritt – wie ein kühner Feldherr dem Frontkämpfer folgend, – auf den Gegner zu.
Der war ein fürchterlicher Fuchs! Er hatte wohl die Weide zu seinem Revier erklärt, die Kühe als
Landstörzerinnen erkannt und sie kurzerhand überredet, in die Stadt zur Beichte zu gehen. Sicher, ganz sauber waren die Kühe nicht mehr
gewesen, sondern mit manchem Unrat beladen, – aber welch ein Frevel! Was Hochwürden in Westeralden
wohl für ein Gesicht gemacht hat? Nein, so durfte Heiliges nicht verlästert werden – und dann noch aus niedrigen Beweggründen:
aus der Jagdlust, unschuldige Mäuse zu morden! Nein, so mochte der Hund gedacht haben, das fordert harte Bestrafung! Und er nahm alsbald seinerseits die Jagd auf.
Bist du schon mal mit einem Hund auf Fuchsjagd gewesen? Nicht zu Pferd, sondern zu Fuß, die Hundeleine in der
Hand? Nein? Dann wünsch dir so etwas auch nicht. Jedenfalls ging es jetzt über Stock und Stein: zuerst der Fuchs, dann der Hund und hinter ihm die tapfere Trine. Den Hang hinauf: zuerst der Fuchs, dann der Hund und hinter ihm die tapfere Trine.
Dann zum Pumpenberg hinauf: zuerst der Fuchs, dann der Hund und hinter ihm die tapfere Trine. Und
als es wieder auf einer Bergnase hinabgeht, da stolpert plötzlich die Trine: Weg ist der Fuchs, laut bellt der Hund, und unten liegt die Trine. Da schleifte der Hund die Jungfer einfach weiter, als wäre sie ein abgefallener Ast, so daß die Gegend dort heute noch das Hunderücken heißt.
Wer wollte es der Trine verdenken, daß sie nun Zeter und Mordio schrie? Allein – der Hund trabte derhalben nur
noch schneller; denn er mochte sich sagen: Gefällt’s ihr nicht, so braucht sie nur die Leine loszulassen. Und weiter ging’s querwaldhinab. Endlich kam ein kleines Häuschen in Sicht, aus dem
gerade ein Mann trat, der dem Hunde Einhalt gebot.
Ach, was war die Trine zerschunden! Und weinend klagte sie dem Manne ihr Pech.
„Na, da werdet Ihr schwerlich auf Schusters Rappen weiterreiten können. Ihr müßt halt das Reittier
wechseln. Wißt Ihr was, ich habe da noch ein Grautier hinter dem Haus, von edler Gesinnung und in mancherlei Sprachen
bewandert; das will ich Euch für Euren Hund lassen.“
Der Trine dünkte das wieder ein Glücksfall zu sein; und weil auch dieser fremde Mann so eine vertraute Stimme
hatte, willigte sie in das Tauschgeschäft ein.
Und schon siehst du die Trine auf dem Eselsrücken. Ob es sich auf einem Esel gut reiten läßt? Da mußt du schon die Trine fragen. Jedenfalls ging es nicht nach Hause, sondern
weiter am Hagenbach entlang. Fröhlich trällerte die Trine wieder ihre Lieder und freute sich ihres
Glückes. Allein – du darfst nicht singen, wenn ein Esel zuhört! Denn wie
schnell glaubt er, daß sein Gesangstalent noch größer ist als deines und er es als Sänger weiter bringen könne denn als Lasttier.
Trines Esel blieb also stehen, begann zwar zunächst in der Begleitstimme, wußte aber bald die Führung zu übernehmen. Zwar war der Text nicht zu verstehen, doch vergrößert so etwas bekanntlich das Ansehen eines Esels.
Trine hatte ihr Konzert schnell beendet und war in das Fach einer Zuhörerin gewechselt. Aber welche Frau kann
schon geduldig zuhören?
„Du dummes Tier!“, zeterte Trine bald. „Ich will
weiter!“
„I a“, stimmte der Esel auf Bayerisch zu.
„Na, denn los!“ befahl Trine.
„Ija“, bestätigte der Esel friedfertig, ließ aber offen, wann er vom Wollen zur Tat schreiten werde.
„Ei, bin ich denn blöd, daß ich mir so etwas gefallen lasse!“
„Ija!“
„Ich will dich lehren, ungehorsam zu sein!“
„I a“, versprach der Esel in seinem Dialekt und schritt tatsächlich fürbaß.
Aber – kannst du dich noch erinnern, wie du als kleines Kind auf dem Schaukelpferd gesessen hast? Du hast
wahrscheinlich damals vor Vergnügen gekräht. Aber für die Trine war dieser Schaukelritt gar kein Vergnügen, und ihr vergingen Hören,
Sehen und Sprechen.
So kamen die beiden nach Richhausen, wo zu der Zeit nur noch ein frommer Klausner wohnte. Der trat gerade aus seiner Hütte, brachte den Esel zum Stehen und half Trine abzusteigen.
„Nie und nimmer setz’ ich mich noch mal auf einen Esel!“ jammerte die Trine. „Warum muß so etwas immer mir passieren?“
„Das werdet Ihr wohl noch erfahren“, tröstete der Klausner sonderbar vertraut. „Was haltet Ihr davon, wenn ich
Euch den Esel abkaufe?“
„Oh“, rief da die Trine, „das wollt Ihr wirklich tun? Liebend gern, guter Mann, will ich Euch den Esel
lassen.“
Und als der Klausner ihr 30 Dukaten bot, wußte Trine kaum, was sie sagen sollte: „So viel Geld?“
„Ei, ist es in der Welt wirklich so selten, daß ein Esel mit Dukaten aufgewogen wird?“ wunderte sich der
Klausner. „Und hier im Hain gibt es Dukaten genug; du mußt sie nur zu
finden wissen.“
Der Handel ward also abgeschlossen; und als Trine weiterzog, hielt sie sich für eine reiche Frau. „Was hab’ ich doch nur immer für ein Glück!“ freute sich die Trine; und was spielte es da schon für eine Rolle, wohin sie sich jetzt wandte? Mal ging sie
links, mal ging sie rechts; mal ging’s bergauf, mal ging’s bergab; und schließlich gewahrte Trine, daß auch die Sonne nicht stehengeblieben war. Und sie bemerkte noch etwas: Trine hatte Hunger.
Hast du schon mal versucht, Dukaten zu essen? Nein? Dann versuch’s auch nicht. Du könntest dir daran die Zähne ausbeißen. Oder du bekommst Schluckbeschwerden. Oder du wirst fortan für einen Goldesel
gehalten. Satt wirst du jedenfalls nicht davon.
„Ach“, jammerte die Trine, „was hab’ ich nur immer für ein Pech! Nun bin ich endlich reich und muß doch darben
und schmachten. Ach, ich arme, arme Trine!“
Da gewahrte sie plötzlich einen schwachen Lichtschein zwischen den Baumstämmen schimmern. Sie schritt also
tapfer auf das Licht zu und kam ihm näher und näher. Und plötzlich stand Trine vor einem düsteren Gemäuer, das einmal eine ramontische
Burg gewesen sein mochte. Ein Räubernest? Der Schneider hatte ja einst
davon gesprochen, erinnerte sich die zitternde Trine. Ob Wachen aufgestellt waren? – Keine zu sehen. Aber wenn nun ein Hund – Trine wagte gar nicht
weiterzudenken. Und mit Hunden hatte sie ja bereits ihre Erfahrungen gemacht. Aber hungern wollte sie auch nicht. Und die Nacht alleine im Walde
verbringen? Von Wölfen angefallen werden? Nein, das wollte Trine auch
nicht.
Vorsichtig schlich sie zum Fenster und – blickte hinein. Ja, da lag ein Mensch auf einer Lagerstatt, von dem
sie aber nur die in eine Decke eingehüllten Beine sehen konnte. Doch wenn das ein Räuber war, dann mußte er in seinem Gewerbe bereits
lange Zweit erfolglos sein. Auf dem Fußboden lagen einige dicke Folianten, die anscheinend als Schreibtisch angestellt
waren. Hinter dem Ofen lugte ein Stiefelknecht hervor, und von der Ofenröhre grüßte ein schäbiger Zylinder. Unter der Decke hing ein Handtuch, das auch gute Dienste als Scheuerlappen geleistet haben mochte; und die Wände zierten seltsame Häkchen und Striche. Nein, hier wohnte bestimmt kein
Räuber! Aber vielleicht ein Zauberer?
„Egal! Dann soll er mir gefälligst etwas zu essen herbeizaubern!“ sprach Trine zu sich
entschlossen und klopfte an das Fenster. Was mochte wohl jetzt geschehen?
Nichts! Trine klopfte erneut. Wieder geschah nichts.
„Wohnt hier denn Dornröschen?“ schimpfte Trine und schlug derart gegen das Fenster, daß du bestimmt vom Stuhl
gefallen wärest. Jedenfalls geriet jetzt drinnen einiges in Bewegung. Der
Foliantenschreibtisch verlor seine Fassung, der Stiefelknecht schlug Purzelbaum, und der Zylinder klappte zusammen, weil er als anstößig empfunden wurde. Dann ward kräftig am Fenster gerüttelt; und als dieses endlich der Klügere war, gab
es Raum für einen wunderliche Gestalt.
Auf dem Kopfe knickste eifrig eine Zipfelmütze, darunter mühten sich 2 Augen, die Dämmerung zu durchdringen, und vorne auf der Nase schien eine große Brille zu reiten,
hinter deren Bügel eine Gänsefeder ängstlich Zuflucht gesucht hatte. Über einem außergewöhnlichen Halstuch tat sich nun eine gewaltige
Öffnung auf, – doch brauchst du deinen Atem nicht länger anzuhalten; es war kein Wolf.
Denn die Gestalt hob alsbald an zu sprechen:
„Wer klopfet so spät noch in der Nacht
und hat mich um mein Gedicht gebracht?“
„Ach, verzeiht“, sprach Trine beherzt, „ich hab’ mich im Walde verirrt und leide argen Hunger. Könnt Ihr mir
nicht ein Obdach für die Nacht und einen Bissen für den Magen geben?“
Die Gestalt holte nun ein Talglicht herbei und musterte mißtrauisch die junge Frau, die draußen stand. Endlich
tat sich wieder die gewaltige Öffnung auf:
„Da Ihr geklopfet und seid kein Mann,
so sehe ich’s Eurer Nase an:
Ihr werdet mein Rezensent nicht sein.
So geht zur Türe und tretet ein.“
Das war aber ein wunderlicher Empfang! Jedenfalls hatte Trine nun gar keine Angst mehr und tat, wie ihr
geheißen.
Tscha, ein üppiges Nachtessen ward der Trine nicht vorgesetzt, denn der wunderliche Kauz mit der Zipfelmütze und dem mächtigen Mundwerk schien in sehr bescheidenen
Verhältnissen sein Dasein zu fristen. Aber dem Magenknurren konnte abgeholfen werden, und Trine hatte jemanden gefunden, dem sie ihr
Herz ausschütten konnte. Griesgrämig hörte der Gastgeber zu; doch als Trine
von den 30 Dukaten erzählte, hellten sich seine Gesichtszüge zunehmend auf. Und schließlich öffnete sich wieder das breite Mundwerk:
„Das Geld hat Euch nur Pech gebracht!
So gebt denn auf den Vorschlag acht,
den Euch zu machen ich geruh’,
und sagt dann Euer Ja dazu.
Ich bin ein Dichter, ein Genie,
ein König dank der Poesie,
doch leider noch in diesem Land
nur ungenügend erst bekannt.
Denn ich bin arm, wie Ihr ja seht.
Und wie’s den Armen so ergeht,
sie finden keine Sympathie,
ein jeder gleich verachtet sie.
Derhalben wär’ es nun nicht schlecht,
wenn Ihr mir gebt das Sorgerecht
für Euer Geld. Ach, denkt nur, wie
Ihr dientet so der Poesie!
Und gar zum Lohne, welch ein Glück,
wird Euch vom Ruhm zuteil ein Stück,
der mir dann sicher und gewiß,
wenn Ihr mir seid kein Hindernis.“
Wer hätte da nein sagen können! Du bestimmt nicht und – Trine auch nicht. Berühmt werden? Über den Tod hinaus berühmt? Welch ein einzigartiges Glück! Das mußte Trine sofort beim Schopfe fassen!
„Von Herzen gern, guter Mann“, sprach sie sogleich, „will ich Euch die Dukaten geben.“ Und alsbald zählte sie
das Geld auf den Tisch.
Sie wurden nun einig, daß Trine in dem Gemäuer eine Kammer beziehen und fortan dem Dichter den Haushalt führen solle. Und in einem Jahr wollten sie Mann und Frau werden, denn dann habe sich der Ruhm gewiß längst eingestellt.
Frohgemut ging Trine auf ihre Kammer, die zwar recht kühl und zugig war, dafür wärmte aber die Freude desto mehr. Ausgeruht stand Trine am anderen Morgen auf und begann mit einem lustigen Liedchen ihre Arbeit.
Aber – hast du schon mal einem Dichter den Haushalt geführt? Sehn dich nicht danach! Mal ist er mürrisch, weil er zu früh aufgestanden ist und deshalb am Tage neue Gedanken nicht recht sammeln kann. Mal ist er mürrisch, weil er zu spät aufgestanden ist und damit die beste Zeit des Tages verschlafen hat. Mal ist er zu einem Frühlingsgedicht aufgelegt, aber das Fenster ist vom Herbstnebel eingehüllt. Mal will er ein Totenlied dichten, doch draußen singen die Vögel ihr Brautlieder. Mal
glaubst du, endlich mit ihm ein paar vernünftige Worte reden zu können, da springt er schon auf und geht wie ein Schlafwandler zu seinem Schreibgerät. Überall liegen Notizblätter herum, aber nie findet er das wieder, was er gerade benötigt. Natürlich bist du dann die Schuldige und mußt Dir eine Gardinenpredigt anhören. Und
wehe dir, du hast tatsächlich einmal eines seiner Heiligtümer dem Lumpensammler gegeben!
Tscha, Trine hatte es nicht leicht, und von Glück mochte sie auch nicht mehr reden. Das aber hatte sich dem
Dichter zugewandt. Der hatte endlich den rechten Verleger und den Geschmack der Zeit getroffen. Bald ward er gefeiert, bald konnte er sich sogar eine Kutsche leisten, und bald war er nur noch sehr selten daheim.
Und ganz besonders schienen seine Gedichte den höheren Töchtern zu gefallen, so daß sich manche Frau Mama damit auszuzeichnen suchte, ihn in ihren Salon
einzuladen. Und wenn er von einer solche Reise wieder nach Hause zurückkehrte und Trine zaghaft das Wort „Hochzeit“ in den Mund nahm,
winkte er schnell ab: später, später!
Hin und wieder erhielt aber auch der Dichter Besuch aus der wachsenden Gemeinde seiner Verehrerinnen und – Neider. Denn manche wollten gerne den Schreibtisch sehen, an dem die weltbekannten Natur- und Wanderlieder erdacht und empfunden worden waren.
Da begab es sich eines Abends, daß Trine gerade den Tisch decken wollte und dabei wie von ungefähr Zeuge wurde, wie sich der Dichter im Nebenraum mit seinem Besuch
unterhielt. Trine stutzte. Sprechen die über mich? Tatsächlich! Sie habe von der Poesie keinen blassen Schimmer und tauge nur für die
Küche. „Und wenn ich bald in die Hauptstadt gehe“, lachte der Dichter, „werde ich sie einfach davonjagen.“
Trine war entsetzt! War das der Dank? Und
morgen jährte sich der Tag, an dem der Dichter ihr die Ehe versprochen hatte! Schnell huschte sie
auf ihre Kammer.
„Immer hab’ ich Pech!“ schluchzte sie und warf sich auf ihre Lagerstatt. Bald aber stand sie wieder auf und trat an das Fenster. Und als sie ihre Augen
aufhob, da funkelten ihr so freundlich und traut die Sterne entgegen, und auf den Wipfeln der Bäume lag ein feiner, sanfter Schleier.
Da fielen ihr auf einmal die Abende mit dem Schneider ein, wie er so manches Mal auf den Sternenhimmel gedeutet und zärtlich gesagt hatte: „Gelte ich auch nur für einen
armen Schneider, so bin ich doch unendlich reich und reicher als Baron und Graf; denn alle diese Edelsteine sind dem gegeben, der sich
darüber noch zu freuen weiß.“
Und dann sprach er von manchem traulichen Liedchen, das einstens ein Bothe gefunden und weitergegeben hatte.
Und Trine sehnte sich danach.
Da gab sie sich einen Ruck, packte eilend ihre wenigen Sachen und huschte hinaus. Und sie wanderte und
wanderte, und es war ihr, als wüßten ihre Füße von alleine den rechten Weg; und sie stießen an keinen
Stein.
Plötzlich stand Trine vor einem Stadttor, aber es war bereits verschlossen. Aber bald ward eine Lücke in der
alten Stadtmauer gefunden; und als der Hahn krähte, da klopfte Trine an eine Türe. Diese ward sogleich geöffnet, und dann lag Trine in den Armen ihres Schneidermeisters.
„Bist du endlich heimgekehrt!“ freute sich der Schneider.
„Ja“, bestätigte Trine, „doch ist mein Lohn vertan, und ich kann Euch nichts mehr geben denn mich selber.“
„Ist das nicht genug?“ flüsterte der Schneider. „Ich
kann dir auch nicht mehr geben, falls du’s überhaupt haben willst.“
„Du und ich!“ murmelte Trine. „Hab’ ich doch noch mein
Glück gefunden!“
Bald ward in Westeralden Hochzeit gehalten, und falls die beiden nicht gestorben sind, so faulenzen sie noch heute. Und wenn du des Abends auf zu den Sternen blickst, dann gib acht, ob es dir ähnlich ergeht wie ...
© Stiftung Stückwerken, *24.+25.+27.+28.+29.+31.10.+1.11.1997, angeblich als eine Variation zu KHM 83 aus den linden Werragegenden mitgebracht, freigegeben am 11.7.2024
Qouz-Note: 3+
***
MamM 7 Die verwegene Hildegard
Es wär’ einmal ein Mädchen, das hatte 2 Pferde. Und weil es außer Haus nicht anders als zu Pferde gesehen ward, sagten ihm böse Zungen
nach, es sei eine gefährliche Amazone, den Männern feind und so unordentlich, daß ihr Haus einem Pferdestall gleiche. Ja, so kann’s
gehen in der Welt, wenn du selber keine böse Zunge hast.
Aber zum Glück gibt es ja noch ein paar Menschen, die nicht alles glauben, was gedruckt und geschwätzt wird, und die freuten sich, wenn sie der Hilde begegneten, denn diese war schön von Gestalt und Angesicht und hatte ehrliche Augen.
Da begab es sich, daß Hilde mit ihren beiden Pferden an den Pelikanteich kam und auf dem Ufer ein schneeweißes, kostbares Gewand
gewahrte. Flink stieg sie vom Pferd, hob das Gewand auf, und siehe da, es war so leicht, als wäre es aus Federn und Daunen
gearbeitet. Schon wollte sie es anprobieren, da hörte sie plötzlich hinter sich eine entsetzte Stimme. –
Aber nun fragst du dich sicherlich: Was hat in diesem Mährchen ein Pelikanteich zu suchen, wo es doch hierzulande gar keine Pelikane gibt? Tscha, das hab’ ich auch gedacht, aber die Môdernstädter sind ja schon oft gar seltsam bedacht
worden.
Es hatten nämlich die Stadtväter den kühnen Plan gefaßt, die Môdernstädter mit einem großen Teich zu beglücken, weil es damals so Mode war. Allein – sie konnten sich nicht auf des Teiches Gestalt einigen. Da begab es sich,
daß der Bürgermeister für einen Tag in die Maingegenden reiste, dort mit einem Besuch den Tiergarten beehrte und diesem wieder glücklich entkommen
konnte. Und auf diesem Besuch muß er wohl einen Pelikan oder dessen Bild gesehen haben, denn er stellte nach seiner Rückkehr sogleich
den Antrag, dem neuen Môdernstädter Teiche die Gestalt eines Pelikans zu geben.
„Und wenn“, so ereiferte er sich, „die Pelikane auf ihre große Reise gehen und unseren Teich erblicken, so wird er ihnen derart vertraut erscheinen, daß sie
sich hier niederlassen; und alle Welt wird unsere Stadt besuchen wollen, um dieses Wunder zu bestaunen.“
Das leuchtete den Stadtvätern ein; und weil sich mancher von ihnen von den herbeiströmenden Fremden einen
klirrenden Vorteil versprach, ward der Antrag angenommen und der Beschluß bald in die Tat umgesetzt. Nur die Pelikane sind bis heute
ausgeblieben, und die Stadtväter mußten sich woanders Ihren Vorteil suchen.
Nun ahnst du sicherlich bereits, daß die Stimme hinter der Hilde nicht von einem Pelikan stammen konnte.
„Laßt ab! Laßt ab!“ sprach die Stimme. „Ihr werdet sonst in einen Schwan verwandelt.“ Und schon griff eine Hand nach dem
wundersamen Gewand.
Hilde hob alsbald ihre Augen auf und gewahrte einen stattlichen jungen Mann. Doch kaum hatte er selber damit
begonnen, das weiße Gewand anzuziehen, verwandelte er sich mehr und mehr in – einen Schwan! Schon hatte nur noch der Kopf ein
menschliches Ansehen.
Da faßte sich Hilde ein Herz und rief: „Aber jetzt müßt Ihr ja leiden! Kann ich Euch helfen
und erretten?“
„Der böse Zauberer Otterich –“ waren die letzten Worte des jungen Mannes, und schon lief er über das Wasser, schwang sich in die Lüfte und entschwand Hildes
Blicken. Was nun?
Weißt du, wo der böse Zauberer Otterich wohnt? Denn der hatte bestimmt den lieben Schwan in seiner
Gewalt. Hilde hatte auch noch nichts von ihm gehört. Da näherte sich ihr
auf einmal eine wunderliche Gestalt. Klein von Wuchs, gekleidet wie ein reicher Couponschneider; und Augen, die klug und kurzsichtig durch eine Gelehrtenbrille blickten. Und als er
ganz herbeigeschlurft war, gewahrte Hilde, daß er ein Freund von weichgekochten Hühnereiern sein mußte.
„Gnädige Frau will auch die Enten füttern, häh?“ sprach alsbald das Männchen, kramte einen Brotbeutel hervor und
warf eine Menge Brotbröckchen vor sich hin. Sogleich ward die Luft angefüllt mit einem Schnattern und Schnottern: Das Entenvolk setzte
sich zur Tafel.
„Hört nur, was sie sich zu erzählen haben!“ sprach das Männchen. „Doch nur wenige Menschen sind so verständig, diese Sprache zu beherrschen.“
„Gehört Ihr etwa zu diesen Menschen?“ fragte Hilde hastig.
„Freilich!“ antwortete das Männchen. „Nicht umsonst
nennen mich die Menschen den Entenphilosophen. Ich –“
„Wißt Ihr“, unterbrach ihn Hilde, „wo der böse Zauberer Otterich wohnt?“
„Natürlich nicht, gnädige Frau!“ entrüstete sich der Entenphilosoph. „Was geht mich ein Otterich an? Ich ergründe –“
Mehr hörte Hilde nicht mehr, denn sie hatte sich flink auf ihr Pferd geschwungen und ritt von dannen; das
andere Pferd trabte munter hinterdrein.
Kaum hatte Hilde das kleine Flüßchen überquert und das Ufer eines weiteren Teiches erreicht, da kam ihr ein anderer Mann entgegen, gekleidet in einen langen, lehmfarbenen
Mantel und auf dem Kopf ein schwarzes Barett, wie es damals die Richter trugen.
„Aufhängen würde ich sie!“ zürnte der Mann. „Aufhängen
–“
„Wißt Ihr“, fragte Hilde unbekümmert, „wo der böse Zauberer Otterich wohnt?“
„Was geht mich Euer Otterich an!“ entgegnete der Mann.
„Aber habt Ihr schon gehört, sie wissen jetzt, wer es war. Ich sollte jetzt Richter sein! Ich würde alle auf–“ Aber Hilde war bereits weitergeritten.
Nun gewahrte sie auf dem jenseitigen Ufer einen weiteren Mann, der dort auf einer Bank saß und Enten fütterte.
Bald hatte sie ihn erreicht, und sie verwunderte sich, daß er so ganz dem Bilde entsprach, das sie sich von jungen englischen Lords gemacht hatte: gewellte Haare, Schnäuzer und lässig
gekleidet.
„Ach, ich bin zu nichts mehr nutze“, seufzte der Lord. Allein – er war kein Lord, sondern hatte dem
Reichsverweser im Heere gedient und war, als dieser das Kriegsspiel befohlen hatte, am Kopfe verwundet worden und hatte seinen Abschied erhalten.
Hilde tat der junge Mann leid, doch versäumte sie es nicht, auch ihn nach dem Zauberer zu fragen. Aber diese
Frage mußte sie noch 2mal wiederholen, ehe sie dem jungen Mann bewußt wurde.
„Nein“, sprach er traurig, „ich weiß nicht, wo Euer Otterich wohnt. Aber fragt einmal die Anne in der
Nähstube. Die ist nett und gescheit. Die kann Euch vielleicht
weiterhelfen. Ach, ich bin zu nichts mehr nutze.“
„Wer sagt denn das?“ tröstete Hilde freundlich.
„Vielleicht hilft mir Euer Rat wirklich weiter, und dann seid Ihr doch zu etwas nütze gewesen.“ Und Hilde reichte ihm die Hand und ritt
weiter zur Nähstube.
Ja, die Anne war wirklich nett und gescheit; aber vor
allem war sie gutmütig. Und das hatte mancher reiche Kaufmann auszunutzen gewußt und ihr für gute Arbeit schlechtes Geld
gegeben. Und weil die Anne viele Jahre ihre kranke Mutter zu betreuen und ihren Sohn alleine großzuziehen hatte, mußte sie versuchen,
das nötige Geld durch Mehrarbeit zu verdienen; einen Notgroschen oder gar etwas für das Alter hatte Anne nicht zurücklegen
können. Und als ihr Nachbar, ein reicher Roßtäuscher, seine Stallungen erweiterte, schien auch keine Sonne mehr zu ihrem Fenster
herein.
Als Hilde in die Nähstube trat, erblickte sie im spärlichen Lampenschein eine Frau, durch manchen Gram vor der Zeit gealtert, tief gebückt über ihre Arbeit und doch
bereit, einen freundlichen Gruß sogleich mit einem Lächeln zu erwidern. Die Anne hättest auch du bestimmt gleich ins Herz
geschlossen. Hilde fiel es somit nicht schwer, ihr Anliegen vorzubringen.
„Was? Zum Otterich willst du?“ entsetzte sich die
Anne. „Kind! Paß gut acht, daß du das nicht mit dem Leben bezahlen
mußt! Ei, darf ich dir da überhaupt verraten, wo der Otterich zu finden ist?“
„Aber wer soll denn sonst den Schwan erlösen“, fragte Hilde energisch, „wenn nicht ich?“
„Da hast du recht!“ mußte Anne zugeben. „So ein mutiges
Mädchen ist mir wohl noch nicht begegnet. Also paß acht! Du reitest von
hier immer gegen Morgen. Nach etwa einer Meile kommst du an den Schwätzerwald; da mußt du geschwind deine Ohren verstopfen. Denn kaum bist du in den Wald
hineingeritten, so wird dich schon ein altes Weib ansprechen. Hörst du ihr nur einen Augenblick zu, so bist du verloren und kannst dich
nicht mehr aus eigener Kraft losreißen. Hast du aber deine Ohren verstopft, so kannst du sie getrost nach dem Wege fragen. Achte dabei nur auf ihre Gebärden, so wirst du nicht fehlgehen. Und bist du an das
Ende des Waldes gelangt, so brauchst du deine Ohren nicht mehr zu verstopfen. Nach einer weiteren Meile wirst du an einen kleinen Berg
kommen und dort der jungen Witwe eines Kalendermachers begegnen. Was du mit ihr zu sprechen hast, wird dir schon dein Herz
eingeben. Und bist du dann noch eine weitere Meile gen Morgen geritten, so kommst du auf den Galgenberg und wirst dort 3 Kreuze
erblicken. Lies, was dort geschrieben steht; und dann reite wieder hinab,
so wirst du den Ort nicht verfehlen, wo Otterich seine Residenz hat. Mehr kann ich dir nicht sagen. Gott beschütze dich, mein Kind!“
Hilde dankte für den Rat, verabschiedete sich und ritt mit ihren beiden Pferden von dannen. Ob sie sich da
nicht zuviel zugemutet hatte? Doch dieser Gedanke kam ihr gar nicht; sie
dachte nur an ihren Schwan, und es konnte ihr gar nicht schnell genug gehen.
Schon war sie an dem Walde angelangt, vor dem Anne sie gewarnt hatte. Geschwind verstopfte sie ihre Ohren,
ritt in den Wald hinein, und bald kam ihr eine rundliche Frau entgegen. Ihr Mund war so groß und weit, daß er hätte ein ganzes Brot
verschlingen können, und ständig in Bewegung. Hilde hätte beinahe laut losgelacht, als die Frau den Mund tüchtig benutzte, ohne daß
etwas zu hören war; aber noch rechtzeitig besann sie sich auf ihre Aufgabe und fragte nach dem rechten Weg. Noch immer war das Mundwerk der Schwätzerin in Bewegung, doch nun fuchtelte sie auch noch mit ihren Armen umher und deutete immer gen
Morgen.
Hilde bedankte sich artig und ritt so plötzlich von dannen, daß die Schwätzerin gar nicht auf den Gedanken kommen konnte, das andere Pferd von Hilde zu
besteigen. Kaum war Hilde eine weitere Meile geritten, da gelangte sie auf einen kleinen Berg. Dort stand ein kleines Haus, und vor diesem Haus saß einen junge Frau, gekleidet in Trauergewänder, die Hände vor das Gesicht geschlagen und
leise vor sich hinschluchzend.
Hilde stieg alsbald vom Pferd, setzte sich neben die junge Frau und nahm sie behutsam in die Arme. Und dann
hörte Hilde geduldig zu, bis sich die junge Frau ihren Kummer von der Seele geredet hatte.
„Ach, und nun hat mein Leben keinen Sinn mehr“, seufzte die Witwe.
„Sagt das nicht!“ entgegnete Hilde. „Das Leben ist ein
Geben und Nehmen. Auch für Euch wird noch die Zeit kommen, da Ihr jemanden findet, dem Ihr wieder gut sein könnt. Einstweilen aber gedenket, was Euch Euer lieber Mann für einen Schatz hinterlassen hat; den kann Euch niemand mehr nehmen; doch – habt Ihr ihn schon gänzlich
gehoben? Gedenket aber auch meiner, daß ich mein Abenteuer glücklich bestehe; so will ich
wiederkommen, und es soll nicht Euer Schaden sein.“
Die Witwe nahm sich vor, in ihren Gebeten Hilde nicht vergessen zu wollen, reichte ihr zum Abschied die Hand, und schon ritt Hilde nachdenklich weiter gegen
Morgen.
Nach einer Meile gelangte Hilde auf den Galgenberg. Der Galgen war leer
und keine Menschenseele zu sehen. Aber um den Galgen standen in einer geheimnisvollen Ordnung 3 Holzkreuze, von denen sich gerade 3
unheimliche Totenvögel erhoben und gen Morgen verschwanden. Dir hätte es bestimmt gegruselt, aber Hilde wußte gar nicht, was Gruseln
ist. Sie stieg flink vom Pferd und versuchte, die Inschriften der Kreuze zu entziffern.
Auf dem 1. Kreuze standen viele Namen und oben als Überschrift:
HIER WURDEN
VOM LEBEN ZUM TODE GEBRACHT,
DIE EDLER WAREN
DENN IHRE RICHTER
UND HENKER.
Auf dem 2. Kreuze standen auch einige Namen, aber weniger als auf dem ersten; und die Überschrift lautete:
HIER WURDEN GERICHTET
VON IHRESGLEICHEN.
Und auf dem 3. Kreuz war nur eine Überschrift zu lesen:
HIER ERHIELTEN
IHRE VERDIENTE STRAFE
ÜBER DEN TOD HINAUS.
Still faltete Hilde ihre Hände und verharrte eine kleine Weile. Dann stieg sie wieder auf ihr Pferd und ritt
vom Berge hinab. Sie war noch keine halbe Meile geritten, da war der Weg plötzlich zu Ende, und vor ihr gähnte ein tiefer, tiefer
Abgrund. Hilde sprang sogleich vom Pferd, legte sich auf den Bauch und kroch vorsichtig zur Felskante. Jäh fielen die Felswände hinab; dir hätte bestimmt geschwindelt. Tief unten war es bereits so dunkel, daß Hilde nur einen schwachen Lichtschein und vage die Umrisse eines festen Gebäudes erkennen
konnte.
War Hilde am Ziel? Doch wie hinabkommen? Weit und
breit weder Weg noch Treppe, noch Leiter zu sehen. Alles vergeblich?
Nein! Sonst wollte Hilde nicht mehr Hildegard heißen! Rasch erhob sie sich. Hätte sie doch bloß ein Seil mitgenommen!
Da gewahrte sie mit einem Mal, wie sich ein paar Schritte abseits des Weges eine Frau und ein Mann in den Haaren lagen.
„Willst du wohl loslassen!“ brüllte der Mann.
„Laß du doch los!“ brüllte die Frau zurück.
Beherzt trat Hilde zu den beiden und fragte nach der Ursache des Streites.
„Ei, sie will die Seilwinde nicht hergeben“, antwortete der Mann.
„Weil es eine besondere Seilwinde ist!“ ergänzte die Frau, um das letzte Wort zu haben. „Denn sprecht Ihr: «Spul dich ab!» so spult sie das Seil ab, solange ihr wollt. Sprecht Ihr: «Spul dich auf!» so tut sie auch das. Fügt Ihr aber ungeduldig ein
«Geschwind!» hinzu und haltet Euch am Seile fest, so reißt sie Euch in die Lüfte, daß Euch Hören und Sehen vergehen.“
Hilde bedankte sich für die Auskunft und bot sich als Schlichterin an: „Wißt Ihr was, lauft doch einfach um die Wette; und wer Sieger bleibt, der soll die Seilwinde haben. Du bist die Frau und bekommst 20
Schritte Vorsprung; und auf los! geht’s los.“
Die beiden waren mit dem Vorschlag einverstanden; bald rief Hilde: „Achtung, fertig, los!“ und schon rannten die beiden von dannen. Und wenn dir einmal eine Frau begegnet, der ein
Mann hinterherläuft, dann kannst du ihnen ja dieses Mährchen erzählen.
Hilde jedenfalls wartete und wartete; und als es langsam dunkel wurde und die beiden noch immer nicht
zurückgekehrt waren, sprach Hilde zu sich: „Du willst doch einmal gucken, ob dir die Frau die Wahrheit gesagt hat.“
Sie nahm also die Seilwinde und stellte sie wenige Schritte vom Abgrunde auf. Und als Hilde sprach: „Spul dich
ab!“ kroch auch schon das eine Seilende hervor, huschte wie eine Schlange zum Abgrund und glitt lautlos in die Tiefe, als müßte es so
sein. Nach einer Weile hörte die Seilwinde auf, sich zu drehen; doch konnte
Hilde nicht mehr erkennen, ob das Seil auf einen Felsvorsprung gestoßen war oder bis zur Sohle hinab reichte.
„Was soll’s?“ sprach Hilde zu sich. „Ich werd’s noch
rechtzeitig genug erfahren.“
Zunächst führte Hilde ihre beiden Pferde abseits, wo diese ungestört grasen konnten, stärkte sich mit dem, was sie in den Satteltaschen fand, hing sich einen langen
Mantel um und kehrte zum Seil zurück. Ohne zu zaudern, schwang sie sich über die Felskante und kletterte tiefer und tiefer. Endlich spürte sie festen Boden unter den Füßen und wandte sich vorsichtig um. Kam da
nicht eine Fackel näher und näher? Otterich? Dann durfte er das Seil nicht
sehen!
Schnell lief Hilde der Fackel entgegen und erkannte bald eine große männliche Gestalt. Auf dem Kopfe saß ein
hoher spitzer Hut; Körper, Arme und Beine waren fast gänzlich in einen Mantel mit weiten Ärmeln und einem Sternenmuster
gehüllt; und die Brust bedeckte ein langer, eisgrauer Bart. Der
Zauberer!
„Ich habe dich schon erwartet“, sprach Otterich, „doch hast du sicherlich Verständnis dafür, daß meine Studierstube
kein Gasthaus ist. Allein – der Bock ist außer Haus, da magst du so lange mit dem Stall fürliebnehmen. Morgen kannst du dann in meine Dienste treten, falls du nicht schon vorher vor Angst wieder davongelaufen bist.“
Hilde sprach kein Wort, ließ sich den Stall zeigen, hüllte sich in ihren Mantel ein und schlief fast bis zum Morgen, als läge sie
daheim in ihrem Bette. Und als sie ausgeruht aus dem Stalle trat, kam ihr auch schon der Zauberer entgegen.
Schweigend hörte sie ihre 1. Aufgabe. „Dort drüben steht ein großer Wald. Alle Bäume sind kahl und
erstorben, denn ich habe das Wasser abgegraben. Sieh zu, daß du ihn heute wieder zu neuem Leben erweckst; anderenfalls wird es dir schlecht ergehen.“
Sobald Otterich wieder in sein Haus getreten war, eilte Hilde geschwind zu ihrem Seil, sprach: „Spul dich auf!“ und
ließ sich in die Höhe ziehen.
Ihre beiden Pferde wieherten Hilde freudig entgegen. Doch seltsam – in den Satteltaschen fand sie Brot und
Wein, obwohl sie sicher gewesen war, kaum noch einen Mundvorrat vorzufinden. Nachdem sie sich gestärkt hatte, suchte sie den toten
Wald. Mährsächlich, da war er; ein richtiges Jammerbild! Was war da zu tun? Sollte sie einen Brunnen graben? Auch wenn es noch so aussichtslos war, Hilde hob einen Ast auf, der ein breites Ende hatte, und grub und grub, als gelte es ihr Leben.
„Ich muß nur an den lieben Schwan denken, dann wird’s schon irgendwie gehen“, ermunterte sie sich. Doch kaum
war es Mittag, da entglitt der Ast ihren zerschundenen Händen, und Hilde sank ohnmächtig zur Erde.
Da träumte ihr, es sei ein Singen und Klingen in der Luft und alles sei gut. Und als sie die Augen aufschlug,
da versank gerade die Abendsonne hinter einem grünenden Wald, als wäre es ein Frühlingsabend; und es war kein kahles Zweiglein mehr zu
sehen.
„Danke“, stammelte Hilde, „wer immer du gewesen bist.“
„Wie im Traume kehrte Hilde zu ihren Pferden zurück, und erneut fand sie in den Satteltaschen Brot und Wein.
Dann kletterte sie wieder hinab und verbiß sich die Schmerzen, als das Seil durch ihre zerschundenen Hände glitt. Unten begab sie sich
gleich in den Stall und verwunderte sich, dort eine Salbe für ihre Hände zu finden. Und als sie am
anderen Morgen erwachte, waren die Wunden an ihren Händen verheilt.
Otterich war heute noch mürrischer als gestern. „Einmal ist es dir geglückt“, sprach er zu der schweigenden
Hilde, „aber heute wirst du deine Aufgabe bestimmt nicht lösen. Du hast vermutlich nicht bemerkt, daß in dem toten Walde gar keine
Vögel gesungen haben; ich habe sie nämlich alle weggefangen und eingesperrt und will sie demnächst in alle Welt verkaufen. Nun sieh zu, daß du den Vogelgesang noch heute in den Wald zurückbringst;
anderenfalls wird es dir schlecht ergehen.“
Als der Zauberer wieder in sein Haus getreten war, blickte sich Hilde vorsichtig um. Wo mochten wohl die
vielen Vögel geblieben sein? Das mußten ja Tausende sein! Und sie hatte
hier unten doch noch keinen einzigen Vogel gehört.
Da gewahrte sie an der einen Felswand ein riesiges schwarzes Tuch. Ob die Vögel dahinter gefangen
waren? Doch das Tuch war weder von unten noch von oben zu erreichen. Aber
irgend etwas mußte Hilde doch tun!
Also ging sie zu der Felswand und versuchte mit einem Stein eine Treppe zu hauen. Aber sie kam kaum voran, und
schon bald mußte es Mittag sein.
Von oben versuchen? Hastig lief Hilde zu ihrem Seil und ließ sich nach oben ziehen. Nach ihren Pferden zu sehen, dazu glaubte sie keine Zeit mehr zu haben. Schnell
ergriff sie die Seilwinde, trug sie zu der Felskante oberhalb des schwarzen Tuches und ließ sich wieder hinab. Allein – die Felskante
stand etwas über, so daß Hilde das Tuch nicht erreichen konnte. Sie turnte und strampelte, und endlich glaubte Hilde das Tuch bei der
nächsten Schwingung erreichen zu können. Da entglitt ihr plötzlich das Seil aus den Händen; Hilde stürzte in die Tiefe, und ihr vergingen die Sinne.
Ist das Mährchen jetzt zu Ende? Nein, denn bevor Hilde ohnmächtig wurde, hörte sie noch ein Singen und Klingen
in der Luft. Und als sie wieder zu sich kam, lag sie am Rande des ehemals toten Waldes, und viele, viele Vögel brachten der Sonne ein
Abendständchen.
„Danke“, murmelte Hilde. Und da lag neben ihr ja auch die aufgerollte Seilwinde! Und als Hilde zu ihren Pferden ging, wo sie schon sehnsüchtig erwartet wurde, fand sie in den Satteltaschen die doppelte Menge an Brot und
Wein. Gestärkt kletterte Hilde wieder hinab und legte sich schlafen.
Am 3. Morgen sprühten die Augen des Zauberers vor Zorn. „Noch einmal wird
es dir nicht gelingen!“ schimpfte Otterich. „Jenseits des toten Waldes liegt ein
totes Dorf. Die Dorfältesten hatte mich einst zu ihrem Lehrmeister erkoren, und ich habe ihnen beigebracht, wie sie steinerne Häuser
bauen, Gärten anlegen und Felder bestellen können. Haha, nun ist das Dorf menschenleer, und wer nicht gestorben ist, der ist
ausgewandert. Sieh zu, daß du das Dorf noch heute in ein lebendiges verwandelst; sonst wird es dir schlecht ergehen.“
Schweigend wandte sich Hilde ab; und nachdem Otterich wieder in sein Haus getreten war, eilte Hilde zu ihrem
Seil, ließ sich nach oben ziehen und stärkte sich bei ihren Pferden mit Brot und Wein. Dann bestieg sie eines der Pferde und ritt durch
den Wald; das andere Pferd trabte getreulich hinterdrein. Ach, war das eine
Lust, den Vögeln zu lauschen!
Doch kaum hatte Hilde den Wald verlassen, war es wieder still. Zunächst führte der Weg an niedergebrannten
Stoppelfeldern vorbei, aus denen giftige Dämpfe emporstiegen. Dann kam schon das Dorf, in dem aber bis vor kurzem noch Menschen
gewohnt haben mußten. Denn alles schien sauber und ordentlich. Doch
die Häuser hatten keine Gesichter, in den Vorgärten blühten keine Blumen, und die Stimme der Sänger und der Braut war nicht mehr zu hören.
Hilde erschrak – wohl zum 1. Male in ihrem Leben. Wer hätte hier noch leben können? Und wo konnte sie anfangen, neues Leben möglich zu machen? Sie konnte doch nicht
einfach alle Häuser niederreißen! Aber sie konnte wenigstens die Steine in den Vorgärten beiseite räumen und diese eintönigen
Grasteppiche umgraben! Gedacht, getan? Zumindest begonnen! Und die Zeit drängte!
In der Ferne läutete es bereits zur Mittagsstunde, da brach Hilde wieder völlig erschöpft und ohnmächtig zusammen. Und wieder war es ihr, als höre sie ein Singen und Klingen in der Luft. Und als Hilde
erwachte, da traute sie ihren Augen und Ohren kaum. Schmucke Häuschen boten der Sonne freundlich ihren Abendgruß, bunte Blumen wiegten
sich im Abendwinde, und von der Landstraße rasselten große Leiterwagen herbei, beladen mit Menschen und Hausrat. Kinder sangen ihre
Lieder, und irgendwo jubelte eine Stimme: „Morgen soll Hochzeit sein!“ Und als die Glocken des Dorfkirchleins läuteten, ritt Hilde an
umgepflügten Feldern vorbei und durch einen Wald voller Leben.
„Danke“, murmelte Hilde glücklich, griff in die Satteltasche und stärkte sich mit Brot und Wein.
Heute abend begab sich Hilde aber nicht in ihren Stall, sondern schritt verwegen zum Haus des Zauberers und pochte laut gegen die Türe.
Mit einem Mal öffnete sich diese, und heraus trat ein junger Mann und sprach: „Hilde, du hast mich erlöst! Nun
ist alles –“
„Noch lange nicht!“ ließ sich plötzlich Otterich hören.
„Zwar hab’ ich über euch keine Gewalt mehr, aber ihr sollt hier jämmerlich verschmachten!“ Und schon eilte er zu Hildes
Seil.
„Spul dich auf!“ befahl er, und die Seilwinde gehorchte.
Hilde hätte nun „Geschwind!“ rufen können, doch brachte sie das verhängnisvolle Wort einfach nicht über ihre
Lippen. Allein – Otterich schien es nicht schnell genug zu gehen, denn er war es, der nun „Geschwind!“ rief. Da schoß er plötzlich wie ein Pfeil in die Höhe. Schon war die Felskante erreicht, aber Otterich stieg noch weiter und immer schneller in die Höhe, als wolle er zum Monde fliegen, der gerade
neugierig emporgeschritten war. Und Otterich ward nicht mehr gesehen.
Und Hilde und ihr Schwanenmann? Die fanden im Hause des Zauberers allerlei Schätze; und weil überall vermerkt war, wem diese geraubt worden waren, nahmen die beiden alles an sich, um es zurückzugeben. Sogar Annes Name fand sich bei einigen Dukatenrollen und in einen kostbaren Ring eingeritzt.
Aber wie die steilen Felswände erklimmen? Da gewahrten die beiden am anderen
Morgen draußen einen Sägebock nahe der Türe stehen. Wie von ungefähr setzten sich die beiden darauf, und Hilde seufzte laut:
„Ach, wären wir doch erst wieder oben.“ Kaum hatte sie das gesagt, da erhob sich auch schon der Bock und trug die beiden bis zur
Felskante empor. Und als die beiden abgestiegen waren, da ergriff Hilde den Sägebock und schleuderte ihn mit aller Kraft in die
Tiefe. „Damit aller Spuk endlich ein Ende hat!“ rief sie ihm
hinterher. Plötzlich gab es einen lauten Knall, und drüben stürzte ein Teil der Felswand in die Tiefe und begrub die Gebäude des
Zauberers unter sich.
In Gedanken versunken, gingen die beiden zu den Pferden. Hilde wies dem jungen Mann das ledige Pferd
zu; aber sobald er im Sattel saß, stürmte das Pferd auch schon von dannen.
„Nun müssen wir auch noch dein Brüderchen suchen“, seufzte Hilde und streichelte traurig ihr Pferd. Dann
schwang auch sie sich in den Sattel und galoppierte zum Galgenberg hinauf.
Oben standen noch immer die 3 Kreuze. „Hier seid ihr doch zu nichts nutze“, sprach Hilde, „denn wer nimmt sich
die Zeit, eure Inschriften zu lesen? Ich wüßte aber jemanden, dem ihr helfen könnt.“ Und schon hob Hilde die Kreuze heraus und
nahm sie mit sich. „Aber wo sind der junge Mann und dein Brüderchen geblieben?“
sprach sie zu ihrem Pferd, und weiter ging der Ritt.
Nach einer Meile gelangte sie wieder auf jenen kleinen Berg, und auch dieses Mal saß die junge Witwe vor dem Hause. Beinahe wäre sie von Hilde nicht erkannt worden, denn die Trauerkleidung war abgelegt.
„Sehe ich Euch endlich wieder!“ freute sich die Witwe.
„9 Monate habe ich vergeblich nach Euch ausgeblickt, doch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben.“
„9 Monate?“ wunderte sich Hilde.
„Ja, am Ende des Februars seid Ihr hier vorbeigekommen, und nun neigt sich bereits der November zur Neige. Und denkt Euch nur, ich habe Euren Rat beherzigt und nach den Schätzen meines Mannes gegraben. Und im nächsten Jahr möchte ich einen Kalender herausgeben; Sprüche und Regeln habe
ich ja genug, nur fehlt es mir noch an schönen Geschichten.“
„Da kann ich Euch wohl wieder weiterhelfen“, freute sich unsere Hilde. „Nur sagt, habt Ihr einen jungen Mann
auf einem Pferd – wie dieses hier – vorbeireiten gesehen?“
„Und ob!“ antwortete die junge Witwe. „Er wollte sogar
anhalten, aber das Pferd wollte nicht.“
„Seltsam!“ wunderte sich Hilde. „Es ist sonst so
friedlich. Aber ich wollte Euch ja helfen. Schließt also Euer Haus ab, und
steigt zu mir aufs Pferd; das Weitere wird sich finden.“
Und eine kleine Weile später siehst du die beiden bereits am Schwätzerwalde. Gerade noch rechtzeitig erinnerte sich Hilde an Annes Warnung und verstopfte der Witwe und sich die Ohren. Und weiter ging’s! Aber da war ja schon die Schwätzerin! Und da war ja auch der ehemalige Schwan! Ha, du hast dir
wohl nicht die Ohren verstopft? Typisch Mann! Na, der wird noch was
erleben!
Und kaum hatte Hilde die beiden erreicht, herrschte sie auch schon den jungen Mann an, die Schwätzerin aufs Pferd zu nehmen und ihr, Hilde, auf der Stelle zu
folgen.
Die Schwätzerin wehrte sich natürlich mit Händen und Füßen, aber es half ihr alles nichts. Da gewahrte Hilde,
daß der junge Mann weder Schuhe noch Stiefel trug; und seine Hacken waren derart gestaltet, als sei ihnen jeweils ein Sporn
angewachsen. Und kaum hatten seine Hacken wie von ungefähr das Pferd berührt, da schoß es bereits wie ein Pfeil von dannen. Also hatte Hilde ihm zu Unrecht gezürnt? Anscheinend!
Kurz vor Môdernstadt holte sie die beiden ein, und gemeinsam gelangten sie zu Annes Nähstube. Hilde ging alleine hinein; und als sie wieder herauskam, wurde ein Schild an die Türe
gehängt: Ich trete ab heute in den Ruhestand und danke meiner verehrten Kundschaft. Dann ritten die 4 weiter.
Am Schwanenteich saß wieder der Mann, der aussah wie ein Lord. Hilde
deutete heimlich auf ihn und sagte zu ihrer Begleiterin: „Frag den mal, ob er dir Geschichten für deinen Kalender erzählen kann.“
Die junge Witwe stieg ab, und als sich Hilde beim Weiterreiten noch einmal umwandte, sah sie beide bereits in einem Gespräch vertieft. Und wenn du im nächsten Jahr in deinem Kalender nachblätterst – wer weiß, wer weiß.
Auch der strenge Mann, der gerne Richter sein wollte, ging wieder zwischen Teich und Flüßchen spazieren und wurde mit den 3 Kreuzen bedacht. Und vielleicht wird einmal der Tag kommen, wo niemand mehr henken und hinrichten will.
Und schließlich ward auch der Entenphilosoph wiedergefunden und mit der Schwätzerin beglückt. Denn wer bei
lauter Entengeschnatter noch philosophieren kann, der kann durch eine Frau nur an Weisheit zunehmen.
Die restlichen Schätze des Zauberers wurden aber den Stadtvätern überreicht. Die gaben zurück, was sie konnten
und wollten, und ließen sich für das, was übrigblieb, ein Denkmal setzen.
Und Hilde und ihr Schwan wurden ein Paar und kümmerten sich nicht darum, was böse Zungen schwätzten. Und wenn
sie nicht gestorben sind, dann freuen sie sich noch heute.
© Stiftung Stückwerken, *7.-8.11.1997, als angebliche Variation zu KHM 193,
freigegeben am 20.11.2023
Qouz-Note: 4+
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